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Die Trinksitten der Gegenwart

Es gibt keinen seichteren Einwand gegen die Grundsätze der Enthaltsamen als den so oft ins Feld geführten: gesoffen wurde immer, ja es gab Zeiträume, in denen die Trunksucht viel ärger wütete als jetzt, und trotzdem ist die Menschheit nicht ausgestorben und nicht entartet. Die Deutschen haben schon seit Tacitus »immer noch eins getrunken« und sind trotzdem das mächtigste und höchstkultivierte Volk der Erde geworden; es folgt daraus, daß es mit den Gefahren des Trunkes lange nicht so arg ist wie die fanatischen Wasserapostel der Welt einreden möchten.

Oberflächlich und einseitig! Freilich haben manche Völker arg ausgeartet – aber das geschah zur Zeit ihres Verfalls und sie find dann auch zu Grunde gegangen, andere nüchterne Nationen haben ihr Erbe angetreten. In der ganzen Weltgeschichte jedoch finden wir kein Gegenstück zu dem heutigen Zustande, der uns bei den Hauptträgern der christlichen Kultur gleicher Weise Vergiftung aller Volksschichten zeigt, über die Verhältnisse bei den Deutschen im Mittelalter haben wir schon im vorigen Abschnitte gesprochen; sie ließen sich mit den gegenwärtigen keinesfalls vergleichen.

Ausschreitungen? Gewaltleistungen im Suffe, die zur Vernichtung des Organismus und des Geschlechtes führen? Nicht sie find das gefährlichste! Sie merzen aus, langsam wohl und keineswegs immer in rassenbiologisch günstigem Sinne, denn gar nicht selten werden die Tüchtigsten dahingerafft: aber sie führen dennoch rascher oder langsamer zur Ausrottung der Trinkerfamilien. Weit bedenklicher ist die moderne Trinksitte, die Ausschweifungen verpönt und dem Übermaße mit gesellschaftlicher Ächtung entgegentreten will – ein Versuch, der einstweilen freilich noch in den Kinderschuhen steckt – hingegen die sanfte, fast unfühlbare, fortwährende Betäubung anempfiehlt. Als vorbildlich hierfür können wir die Trinksitten der Romanen, besonders der Franzosen betrachten. Sie gelten als nüchtern und in der Tat sind schwere Ausschreitungen, Berauschungen bis zur Bewußtlosigkeit, wüste Straßenszenen, Festschwelgereien u. dgl. bei ihnen zwar nicht etwa durchaus unbekannt, doch aber selten und mißachtet. Der Fremde bekommt den Eindruck, daß dieses Volk wenig trinkt, da er selten Betrunkene zu Gesicht bekommt; und doch hat eben dieses Volk den größten Alkoholverbrauch der ganzen Welt und eilt der dadurch hervorgerufenen Entartung mit Riesenschritten entgegen. Der Franzose genießt etwa viermal so viel Spiritus wie der Schwede auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, Frauen, Kinder und Kranke mitgezählt, so daß der erwachsene Mann wohl das zehnfache verbrauchen wird! Trotzdem wird man in den Straßen Stockholms mehr Betrunkene finden als in denen Lyons oder Bordeauxs, weil der französische Arbeiter sich zwar selten betrinkt, aber täglich seine 2–3 l Wein vertilgt, der schwedische aber die ganze Woche nichts trinkt, dafür aber Sonnabends in ein bis zwei Stunden ein paar Runden abmacht, die genügen, um seine Laune etwas radaulustig werden zu lassen.

Die Sitten der früheren Zeiten erinnerten in manchen Stücken an die des russischen Muschiks, der auch Wochen lang enthaltsam lebt – weil er sich nichts kaufen kann, bei irgend einem kirchlichen oder vaterländischen Feste aber ein paar Tage fortsäuft, bis er in der Gosse liegen bleibt, um nach Wiedergenesung aus der schweren Alkoholvergiftung gleich einem Lasttiere wieder wochenlang dumpf unter dem Joche dahinzukeuchen. Diese regelmäßig wiederkehrenden Ausschweifungen, von denen uns aus dem deutschen Mittelalter so viel berichtet wird, sind ohne Zweifel scheußlich und fordern Opfer genug; es kann aber gar nicht bezweifelt werden, daß sie für den Organismus und die Nachkommenschaft weit weniger verhängnisvoll sind als die oben geschilderten salonmäßigeren Gewohnheiten des Franzosen.

In jüngster Zeit sehen wir freilich, daß allmählich selbst der russische Bauer von der Kultur beleckt wird und sich nicht mehr mit dem zeitweisen Suffe begnügt, sondern auch an Sonn- und Arbeitstagen seinen Schnaps verlangt. Mit väterlicher Fürsorge erzieht der Staat den Untertanen zu fortschrittlicheren Manieren und setzt ihm auf Schritt und Tritt eine Monopolbude vor die Nase, damit er dort das Nützliche mit dem Angenehmen verbinde, Väterchens Kasse fülle und sich dabei ein Vergnügen bereite. In Rußland, wo die Regierung gleichzeitig der gewaltige und konkurrenzlose Alkoholkapitalist ist, wird von der Behörde jene Aufgabe erfüllt, die in unseren Landen dem privaten weinfabrizierenden, bierbrauenden und branntweinbrennenden Interessenten zugefallen ist: die Ausbreitung des Trunkes mit allen Kräften zu fördern, sich mit der Sucht nach den betäubenden Giften zu verbünden und dadurch den Genuß der geistigen Getränke bis zu solchem Grade mit den Lebensgewohnheiten der Deutschen zu verflechten, daß tatsächlich eine nicht ganz unbeträchtliche Willensstärke und Widerstandsfähigkeit dazu gehört, um sich dieser fast gewalttätigen Beeinflussung zu entziehen.

Zum Mittelpunkte des Lebens ist für Millionen Menschen die Schankstätte geworden, in der Kneipe spielt sich für einen Großteil der Deutschen Geselligkeit, Politik, selbst Fortbildung und Kunstgenuß ab. Die stürmische Entwicklung und Umwandlung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse während des 19. Jahrhunderts haben ein so großes Bedürfnis nach Stätten zur Befriedigung dieser Erfordernisse geschaffen, daß die Menschen mit dem ersten besten vorlieb nahmen, daß sich ihnen bot – und das war das Wirtshaus, daß sich mit der Geschmeidigkeit des gewinnsüchtigen Kapitals rasch allen Wünschen anzupassen verstand, ja sogar bald Bedürfnisse künstlich wachrief, um das Geschäft zu fördern. Den wie die Pilze emporschießenden Vereinen bot sich – um nur ein Beispiel anzuführen – kaum eine andere Möglichkeit als die, ihre Tätigkeit ins Gasthaus zu verlegen, wo gesungen, geturnt, stenographiert, geredet und, um die Hauptsache nicht zu vergessen, nach Herzenslust gewählt werden konnte; sobald aber die Wirte dahinter kamen, daß die Vereinstätigkeit eine Säule ihres Geschäftes sei, förderten sie die Gründung derartiger Gebilde nach Kräften und halfen im Notfalle mit Freibier u. dgl. Anziehungen nach; Pfeifen- und Skatklubs und was solch geisttötender Unfug mehr ist, danken gewöhnlich dem Interesse des Schänkers ihr Dasein, der auch die sogenannten Unterhaltungen und Feste lebhaft begönnert: bestehen sie doch im wesentlichen in nichts anderem als in einer für ihn höchst erfreulichen bedeutenden Steigerung des sonntäglichen Ausschanks.

Auf demselben Wege hat sich das Alkoholkapital in die Mehrzahl der geselligen und festlichen Unternehmungen Eingang verschafft und es so weit gebracht, daß es für diese ganz unentbehrlich geworden ist. Die großen Volksfeste werden ebenso von den Bierbrauern oder Gastwirten »finanziert« wie Ausstellungen, Vergnügungsreisen und dergleichen. Es gibt wohl keinen greifbareren Beweis für diese beschämende Tatsache, als die Rolle, die das Alkoholkapital auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden im Jahre 1911 gespielt hat. Dieses unvergleichliche Unternehmen, dessen Großartigkeit mit vollem Rechte auf dem ganzen Erdenrunde bewundert wurde, mußte dem Zeitgeiste in Bezug auf die Trinkgewohnheiten weitgehendste Rechnung tragen; es wimmelte dort von Schankstätten aller Art, ganze Ströme von Wein, Bier und Schnaps wurden vertilgt, bis in die spätesten Nachtstunden wurde der gesundheitswidrigsten Unmäßigkeit gehuldigt, die Erzeuger von gegorenen und gebrannten Getränken wurden für diese ihre Erzeugnisse mit den höchsten Ausstellungspreisen ausgezeichnet; freilich flossen auch ungeheure Pachtsummen für die Restaurationen, Kosthallen usw. in die Taschen der Ausstellungsleitung, die damit die gewaltigen Kosten der Ausstellung decken half.

Das soll kein Vorwurf gegen die Veranstalter der Ausstellung sein: sie taten nur, was als selbstverständlich angesehen wird und wohl auch gar nicht zu vermeiden war. Aber es ist für unsere Kulturverhältnisse bezeichnend und sicher wird es einstmal als Beleg für die schmachvolle Rückständigkeit unserer Sitten betrachtet werden, daß ein dem Wohle und der Gesundheit des Volkes geweihtes Unternehmen Gelegenheit und Verleitung zur Völlerei bot.

Die wahrhaft erschreckende Zunahme des Verbrauchs an geistigen Getränken ist noch keineswegs sehr alt; sie steht in unmittelbarem Zusammenhange mit Geldwirtschaft, Industrialisierung und Steuersystem. Fabrik, Gewerbetreibender und Staatskasse verbünden sich, um aus dem Alkohol so viel Gewinn wie nur möglich zu ziehen; es liegt auf der Hand, daß sie zur Erreichung dieses edlen Zweckes alle Hebel in Bewegung setzen, um die Neigung zum Trinken zu erhöhen und die Gelegenheit dafür zu schaffen: erleichtert wird ihnen dies Beginnen freilich durch die untilgbare Sucht der Deutschen nach dem mit dem Trunke verknüpften Behagen. In dieser Hinsicht marschieren sie ohne Zweifel an der Spitze der Nationen, und bei keiner wird das Trinken mit einem solchen Strahlenglanze umgeben, nirgends genießt es einen solchen Grad der Verehrung wie bei ihnen.

Das bezeichnendste Merkmal für diese Verhimmelung ist die studentische Trinksitte mit dem Komment, der Kneipe und dem Trinklied: sie erfordern einen so hohen Grad von Selbstentäußerung, Verzicht auf Freiheit und Eigenwille, eine so unerhörte Knechtschaft und Sklavenmut, daß man desgleichen bei jungen, gebildeten, gesunden Männern irgend eines anderen Volkes aller Zeiten nicht leicht finden wird. Kommers- und Bierlieder gibt es, bei denen jedem, der sich nicht schon im Zustande weitgehender Betäubung befindet, die Schamröte aufsteigt: und diese Lieder werden von der Blüte der Nation mit »Begeisterung« gesungen. Der Wahn, es sei ein Zeichen der Kraft und der Reckenhaftigkeit, einer nach vielen Litern zählenden Menge des als »ehrlich« anerkannten Stoffes Widerstand leisten zu können, ohne die »Direktion« zu verlieren, spukt auch heute noch in den Köpfen eines Teiles unserer akademisch Gebildeten, leider besonders gerade dort, wo die Anwärter auf die höchsten Ämter erzogen werden. Sich mit einem Geist und Körper untergrabenden Giftgetränke bis zum Überlaufen vollzupumpen, im Zwerg Perkeo und dem Rodensteiner, den vielbesungenen Helden Scheffelscher Trinklieder, nacheifernswerte Vorbilder zu erblicken, stundenlang Unsinn zu plappern und sich dabei noch als Verkörperung des Germanentums zu betrachten, ist bis vor wenigen Jahren der Beruf der deutschen Verbindungsstudenten gewesen; daß es in den letzten Jahren ein wenig besser zu werden beginnt und Freistudententum, Freischaren, Freilandbewegung, Akademische Gemeinschaften einen zwar immer noch mißtrauisch beobachteten, aber unwiderstehlichen Einfluß auf studentische Denkungsart ausüben, sei dankbarst anerkannt. Der Einfluß aber, den das studentische Vorbild auf die Sitten des ganzen Volkes ausgeübt hat, wird selbstverständlich nicht so rasch erschüttert werden können, dazu ist er zu tief in die Vorstellungen und Gebräuche eingedrungen. Vor allem deshalb, weil sich bei den Deutschen eine verhängnisvolle Wechselbeziehung zwischen Trunk und Liebe zum Volke herausgebildet hat, die so weit geht, daß der Kämpfer gegen die Trinkunsitten beinahe als Schädiger des Deutschtums und Verderber völkischer Eigenart gebrandmarkt wird. Das Trinken ist zur völkischen Tugend und das Bier zum völkischen Getränk geworden und je nationaler der Deutsche sich gebärdet, desto gewaltiger ist sein Durst und desto erbitterter sein Grimm gegen jeden, der nicht mitzutrinken oder gar die Herrlichkeit des Kneipwesens anzutasten sich vermißt. Das ungeheure Trinkhorn ist noch immer und mehr denn je ein Sinnbild echt völkischer Denkungsart und die Begeisterung bei den Turn-, Gesangs- und anderen Volksfesten wird danach bemessen, wie viel Maß Bier auf den Kopf der Teilnehmer gerechnet werden können. Und erst die urwüchsigen, auf die arbeitenden und gewerbetreibenden Klassen berechneten sogenannten Volksfeste, Dresdner Vogelwiese, Münchener Oktoberfest und ihre zahllosen Nachahmungen! Man denke den Massenverbrauch geistiger Getränke fort und frage sich, ob das, was übrig bleibt, überhaupt erträglich wäre. Aber gerade diese wüsten Ausschreitungen gelten im In- und Auslande als bezeichnend für deutsches Wesen, der Fremde besucht sie, um dort unsere »Eigenart« zu studieren und tatsächlich wird man nirgends auf der Welt ähnliches finden, es wäre denn vielleicht in einigen Städten der Vereinigten Staaten, wo die Deutschen den Ton angeben.

Schenke und Trunk sind nicht nur bei den Festen aller Art die Hauptsache geworden, sie sind auch der Mittelpunkt aller Zerstreuungen und Vergnügungen der breiten Volksschichten, das Um und Auf der Genüsse für die weitaus überwiegende Mehrheit, die unentbehrliche Ergänzung jeder Abweichung vom geregelten Gange des Lebens. Der Dorfbewohner muß in die Stadt zu Gericht oder der Geschäfte wegen: in drei bis vier Vormittagsstunden könnte das erledigt sein, zu Hause fiele es ihm gar nicht ein, selbst bei schwerer Arbeit an die Notwendigkeit einer »Stärkung« zu denken; aber aus der Stadt ohne Wirtshausbesuch wieder heimzukehren würde er als unerhört betrachten. Eine kleine Reise mit der Eisenbahn, nur vier, fünf Stationen; unmöglich, ohne inzwischen ein oder mehrere Glas Bier getrunken zu haben. Im Zirkus, Theater, Variété – Bier; der sogenannte Ausflug ist nichts als ein der Scheinsitte halber etwas verlängerter Weg ins Wirtshaus. Kauf und Verkauf, Freud und Leid, Haß und Liebe, sie alle müssen ordentlich begossen werden. So hat sich der Trunk in das Innerste des Lebens gedrängt und zum unentbehrlichen Begleiter aufgeworfen, der zuletzt selbst bei der Berufsarbeit nicht mehr entbehrt werden konnte. In die Werkstatt und Fabrik, auf den Bau und die Lokomotive, in die Schreibstube und das Parlament sind tausende von Kanälen geleitet worden, aus denen sich unversiegbare Ströme von Wein, Bier und Branntwein ergießen. Der Arbeiter trinkt auf dem Wege zum mühseligen Tagewerke, der Beamte bekommt zum Frühstück sein Glas Wein auf den Tisch gestellt, die Reichsboten verkürzen sich die anstrengenden Sitzungen durch Leeren mancher Flasche vaterländischen Moselweins. Man trinkt nicht nur zur Zeit der Erholung, die Sorgen und Lasten des Alltages zu vergessen, nein, man beginnt das Tagewerk damit, daß man sich betäubt, wiederholt dies beim Frühschoppen, Mittagsbrot und Vesperimbiß, im Banne des unerschütterlichen Massenglaubens stehend, damit etwas Hergebrachtes, allgemein Anerkanntes und darum auch Nützliches zu tun.

Kein Wunder, daß diese zum Gemeingute gewordenen Einführungen die Beurteilung des Trinkens und seiner Wirkungen aufs tiefste beeinflußt haben. Es ging nicht mehr an, die geistigen Getränke bloß als »Sorgenbrecher« zu preisen und zu verteidigen, wenn man sie vor und bei der Arbeit genoß, da mußten andere günstige Wirkungen als Gründe gesucht, gefunden und im schlimmsten Falle erfunden werden. Daß der Alkohol nährt, stärkt und wärmt, bei schwerer körperlicher Arbeit, in Hitze und Kälte unentbehrlich ist, die Verdauung fördert und eine Reihe anderer Tätigkeiten des Organismus belebt, wurde mit Unterstützung der auf Irrwege geratenen medizinischen Wissenschaft – gar mancher ihrer Vertreter stand selbst unter der Selbsttäuschung des Liebhabers eines »guten Tropfens« – zum Glaubenssatze erhoben und um so lieber angenommen und geglaubt, als es den eigenen Wünschen gar bequem entgegen kam und überdies von den die Vorteile der Sachlage erfassenden Nutznießern in Wort und Schrift bis zum Ueberdrusse wiederholt und dem P. T. Publikum in allen Tonarten vorausgesungen wurde.

Und nun vollzog sich der letzte Akt des Trauerspiels: der Trunk fand den Eingang ins Haus, in die Familie, in die Kinderstube. Warum sollte man so nützliche Dinge, die da nähren, wärmen, stärken usw., nicht auch den lieben Kleinen geben, die ihrer oft so notwendig bedürfen? Warum soll die Hausfrau, die häufig nicht minder schwere Arbeit zu leisten hat wie der brotschaffende Gatte, nicht auch »ihr« Bier oder »ihren« Wein haben, besonders wenn sie in gesegneten Umständen ist oder ein Kind an ihrer Brust stillt? Vielleicht weil die notwendigen Getränke im Hause nicht leicht und wohlfeil genug beschafft werden können? Oh, welch' unberechtigtes Mißtrauen in die Fürsorge des neuzeitlichen Alkoholkapitals. Es liefert das Flaschenbier bis in die Küche und läßt die geleerten Flaschen selbst wieder abholen; es erzeugt Blut-, Kraft-, Eisen-, China-, Condurango- und alle anderen möglichen und unmöglichen Medizinalweine oder Biere oder selbst Schnäpse, die den Kindern rote Backen, Appetit und alles nur wünschenswerte verschaffen; so steht es wenigstens in den spannenlangen Ankündigungen und Reklamezetteln. Freilich erklären die boshaften Kinderärzte, für die Kinder sei jeder Tropfen Alkohol Gift, sie müßten unbedingt bis zur Vollendung der körperlichen Entwicklung enthaltsam erzogen werden und es sei ein Verbrechen, ihnen aus welchem Grunde immer ein geistiges Getränk zu reichen. Das hindert aber nicht, daß der allergrößte Teil der Schulkinder, wie genaue Erhebungen in zahlreichen Städten aller Länder erwiesen haben, regelmäßig einmal oder selbst zweimal im Tage zu trinken bekommt, daß sie bei Taufen und Hochzeiten und Ausflügen bis zur Berauschung mittrinken dürfen und die Apotheker sich an den alkoholhaltigen Medikamenten für Kinder bereichern. Die Trinksitten machen eben nirgends Halt, sie dringen in alle Kreise und Stände und Altersklassen, die Verehrung, die den Rauschgetränken in deutschen Landen erwiesen wird, zwingt alt und jung zum Dienste vor ihren Altären, und ungeheuer sind dementsprechend auch die ihnen jahraus jahrein dargebrachten Opfer.

Schon oben war die Rede davon, daß sich Regierungen und Staatskassen zum Bundesgenossen der menschlichen Sucht nach den Genußgiften gemacht haben und in furchtbarem Verkennen des eigenen Vorteils zum mächtigsten Förderer der Trinksitte geworden sind. Die allermeisten Staaten ziehen aus dem Verbrauche der geistigen Getränke ungeheure Einnahmen, die sie da und dort mit den Gemeinden teilen: sei es nun, daß sie sich mit einer kräftigen Besteuerung begnügen oder auf dem zu immer größerer Beliebtheit gelangenden Wege der Monopolisierung auch den Erzeugungs- oder Verkaufsgewinn einstecken, sie gehören auf jeden Fall zu den gewaltigsten Nutznießern und müssen daher, ob gerne oder ungern, ob eingestanden oder nicht, den Verbrauch zu steigern, die Trinksitte zu festigen suchen. Das geschieht denn auch in Mitteleuropa überall in größtem Maßstäbe. Verbündet mit den Erzeugern der geistigen Getränke lassen die Behörden es zu, daß die Schankstätten ins ungemessene vermehrt werden, der Verführung zum Trunke wird nicht nur kein ernstes Hindernis in den Weg gelegt, sondern man begönnert nach das Kneipwesen durch mildeste Auslegung der bestehenden Verordnungen und tatenlosen Widerstand gegen alle Maßnahmen, die dem »Geschäfte« Abbruch tun könnten.

Ist der Staat durch eine nicht ganz vermeidbare Rücksicht auf seine sozialen Aufgaben gezwungen, seiner ichsüchtigen Habgier ein Mäntelchen umzuhängen, so lassen die Privatinteressenten ihrem Gewinnhunger um so freieren Lauf und suchen ihren Absatz mit allen Mitteln zu vergrößern. Die Erzeuger vor allem, in deren Händen ein ungeheueres Kapital vereinigt ist, die Bierbrauer und Branntweinbrenner, haben die Alkoholisierung des Volkes in ein glänzend wirkendes System gebracht, das mit riesigen Mitteln arbeitet und sich die Herrschaft über so viele einflußreiche Stellen gesichert hat, daß es nur mit schwerer Mühe zu erschüttern sein wird. Brauer und Weinhändler haben sich zu Herren und Gebietern der Wirte gemacht, rechtlich oder tatsächlich verfügen sie über die Schankstätten und erzwingen dadurch die Fortdauer des jetzt bestehenden ungesunden Verhältnisses, durch das jedes Gasthaus zum Trinkhause wird. Sie tragen die Schuld daran, daß die Ersatzgetränke für Bier oder Wein nur zu unerschwinglichen Preisen feilgeboten werden, der Wirt an den geistigen Getränken verdienen muß, die Hektoliterwut des Brauereibesitzers das Wirtshaus zur Animierkneipe umwandelt. Sie errichten die großartigen Restaurants für Tausende von Menschen, in denen täglich Ströme von Bier und Wein verbraucht, gewaltige Summen auf überflüssige Genüsse verausgabt werden, in denen Samtdivans und glänzende Beleuchtung, elektrische Orchestrions und goldstrotzende Türsteher im Volke den Hang zu falschen Bedürfnissen und verderblichem Wohlleben großziehen. Aber sie scheuen sich auch nicht, ihren Gewinn aus den entsetzlichen Spelunken der Hamburger Niedernstraße zu ziehen, glänzende Dividenden zu verteilen, an denen Schweiß und Blut der Allerärmsten klebt.

Die deutschen Trinksitten der Gegenwart sind zur dräuenden Gefahr für das Volk, für Deutschlands Zukunft geworden; sie wüten in allen Schichten und Ständen, weder Stadt noch Land, weder Arbeiterschaft noch Bürgertum, Bauernschaft oder Adel hat sich von ihnen freizuhalten verstanden. Einen furchtbaren Blick in die entsetzlichen Tiefen dieses Schlammstrudels hat das Massensterben jener unglückseligen Asylisten zu werfen gestattet, die durch den giftigen Methylalkohol zu Grunde gegangen sein sollen. Methylalkohol? Oh, nein! Sie starben an der verhängnisvollen Trinksitte, an der Sucht zu trinken, die durch den Staat, – er muß ja von den Branntweinsteuererträgnissen Kriegsschiffe bauen! – durch die gewinngierigen Brenner und Brauer, die ihrer sozialen Pflichten uneingedenken Ärzte, Lehrer, Priester und Staatsmänner, durch das verderbliche Vorbild der Gebildeten und Wohlhabenden geweckt und gefestigt wird. An dem Tode jener Unglücklichen, an dem unnennbaren Elend, das der Fusel in den Niederungen des Volkes anstiftet, an all den verkommenen, zerstörten, aus ihrer Bahn geschleuderten Lebensläufen, an den dreieinhalb Milliarden, die das Deutsche Volk alljährlich für einen überflüssigen, schädlichen und verderblichen Genuß vergeudet, tragen die Wissenden und Denkenden die Schuld, die durch ihr Vorbild verantwortlich werden für das Tun und Lassen ihres Volkes. Schmäht ihr den Trunkenbold in der Gosse, verachtet ihr den Säufer, der Weib und Kind hungern läßt? Die Trinksitte ist es, die sie zu Lumpen gemacht hat und durch euer Pilsner, eueren Bordeaux, eueren Kognak und Chartreuse wird sie gestützt und erhalten.


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