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Thakane und Thakanjane.

Wie das Holzlesemädchen dem Löwen entrann.

Die Sonne sandte ihre ersten Strahlen über die kahlen Felsenberge, und es versprach ein heißer Tag zu werden. Da sah man eine kleine Schar junger Kaffermädchen im Gänsemarsch jodelnd den Kraal verlassen. Ein jedes hatte einen langen Ochsenriemen zusammengerollt in der Hand. Sie gingen hinaus zu den dichten Büschen, Reisig zu sammeln. Der Weg, den sie einschlugen, war just so breit, daß sie einen Fuß vor den anderen setzen konnten. Links und rechts hohes Gras, das manchmal mit seinen langen Stengeln den schmalen Pfad ganz und gar verdecken wollte, so daß Thakanjane, die voran ging, plötzlich über einen Felsstein stolperte. Lautes Geschrei erhob sich. Die jungen Mädchen machten sich, mit großen Steinen bewaffnet, über den im Wege liegenden Stein des Anstoßes her und warfen solange nach ihm, bis er in zwei Stücke sprang. Dann liefen sie in die dichten Holzbüsche und sammelten fleißig Reisig. Eine jede band ihr Bündel mit dem Ochsenriemen zusammen, den sie mitgebracht hatten. Dann kehrten sie nach Hause um. Jodelnd und tänzelnd, das Reisigbündel auf dem Krauskopf, zogen sie im Gänsemarsch wieder ab. Aber siehe da, als sie wieder bei dem Stein des Anstoßes angekommen, versperrte derselbe den Weg. Da wurden sie sehr traurig und fingen unter Tränen an, den Stein zu besingen:

»Felssteinchen, zerbrochen im Wege,
Laß freundlich mich, bitte, vorbei.
Ich habe dich ja nicht zerbrochen;
Thakanjane schlug dich entzwei.«

Da hob sich der Stein und schob sich ein wenig an die Seite, ließ das erste Mädchen vorbei und rollte dann wieder in die Mitte des Weges zurück. Da huben die Mädchen abermals an zu weinen und sangen:

»Felssteinchen, zerbrochen im Wege,
Laß freundlich mich vorbei.
Ich habe dich ja nicht zerbrochen;
Thakanjane schlug dich entzwei.«

Und siehe da, der Stein ließ sich erweichen und machte auch zum zweiten Male Platz für eins der Mädchen. So tat er auch beim nächsten und übernächsten Male, bis nur noch Thakanjane und Thakane übrigblieben. Die wollte der Felsstein aber beide nicht durchlassen. Als aber Thakane nicht aufhörte mit Weinen und Singen, ließ er sie zuletzt auch noch vorbei. Thakanjane blieb nun ganz allein zurück. Doch so schön sie auch sang und so heiße Tränen sie vergoß, der Stein blieb hart. Die Sonne war schon längst untergegangen und die anderen Mädchen lange weggelaufen, siehe, da hob sich der bisher so grausam harte und unbarmherzige Stein ein klein, klein wenig. Hurtig sprang nun Thakanjane durch die entstandene Öffnung. Aber der Felsstein war hinterlistig genug und klappte so kräftig zurück, daß er das Mädchen arg verletzte. Aber sie fühlte es kaum vor Freude, daß sie endlich erlöst war. Doch war es mittlerweile so dunkel geworden, daß sie sich nicht mehr nach Hause fand. Plötzlich sah sie ein Feuerlein brennen. »Ach,« sagte sie, »nun sehe ich endlich Licht; ich bin gewiß gleich zu Hause.« Und richtig, eine runde Hütte mit niedrigem Strohdach tauchte in ihren Umrissen aus dem Dunkel auf. Sofort eilte Thakanjane vorwärts. Doch siehe da, es war nichts, denn eine einzelne runde Hütte; dazu konnte sie nirgends den Eingang finden. Da rief sie laut: »Wie kommt man denn hier hinein?« Und ganz tiefe Baßstimmen antworteten: »Steig aufs Dach und komm herein, mein Kind!« Sie aber rief noch lauter: »Wie kommt man denn hier hinein?« Zuletzt erschien eine alte Frau und tat ihr die Hütte auf. Sie schaute sich das junge Mädchen von oben bis unten an und sprach mit leiser, mitleidiger Stimme: »Mein Kind, wie bist du hierhergekommen! Weißt du denn nicht, daß dies die Hütte der menschenfressenden Löwen ist? O, wie viele haben die schon aufgefressen! Auch mich haben sie gefangen und hätten mich gern schon lange aufgefressen; aber sie sagen: Ich sei ihnen zu runzlig und mager; das gebe doch keinen vernünftigen Braten; sie wollten mir das Leben schenken; ich solle ihnen nur immer die fetten Menschenbraten gut herrichten!« Die Alte konnte nicht weiter fortfahren, denn schon erschienen die Löwen: »Ah, welch saftiges Fleisch!« rief einer, »laßt sie uns sofort verspeisen!« Ein anderer aber sagte: »Wir werden sie bis morgen aufheben, dann wollen wir sie essen!« Dann ließen sie das erschreckte Mädchen bei der alten Köchin. Die aber tröstete das arme Kind und flüsterte ihr zu: »Sei stille; in der Nacht zeige ich dir, wie du entfliehen kannst.« Und richtig, zur Mitternacht, als die Löwen im tiefsten Schlaf lagen und laut um die Wette schnarchten, ließ die Alte das Mädchen zur Tür hinaus. Da lief sie, was ihre Füße sie tragen wollten. Doch einer der Löwen wurde plötzlich munter. Es war fast noch ganz dunkel. Und nun kam ihm in den Sinn, daß der gestern abend eingelaufene Braten vielleicht doch noch entwischen könnte, während sie alle so sorglos schliefen. Er sah nach, und wirklich, das Mädchen war nicht mehr da. »Das Fleisch ist weggelaufen!« schrie er laut; »das Fleisch ist weggelaufen!« Alle Löwen wurden wach, und etliche nahmen sich nicht erst einmal Zeit, sich die Augen auszureiben, sondern sprangen auf ihre Füße, husch, hinaus und dem armen Mädchen nach. Die Dämmerung brach an. Nun erblickten sie auch den Flüchtling weit in der Ferne, wie sie sich bereits dem Fluß näherte. Da sprangen die Bestien, wie sie noch nie gesprungen waren, in langen Sätzen dem armen Opfer nach. Thakanjane war aber indessen glücklich schon beim Fluß angelangt und sang in ihrer Herzensangst:

»Fröschlein, Fröschlein,
Hab' Erbarmen mit mir Armen;
Trink den Fluß aus, trink den Fluß aus,
Daß ich hurtig durchgeh'n kann!«

Da kam der Frosch und trank ganz schnell den Fluß aus, und die Verfolgte ging trockenen Fußes hindurch. Da kamen aber auch schon die wilden Löwen angesprungen und wollten ihr nach. Thakanjane aber sang in großer Angst:

»Fröschlein, Fröschlein,
Hab' Erbarmen mit mir Armen;
Spei den Fluß aus, spei den Fluß aus,
Daß der Feind nicht durchgeh'n kann!«

Da spie der freundliche Frosch den Fluß wieder aus und blies dabei so heftig, daß die Wellen hoch aufspritzten. Die blutgierigen Löwen aber mußten mit leerem Rachen am vollen Fluß umkehren. Thakanjane kam wohlbehalten bei ihrer Mutter an, hat aber in ihrem Leben nie vergessen, welche Angst sie ausgestanden und wie sie so wunderbar errettet wurde.

siehe Bildunterschrift

Märchen: Thakane und Thakanjane.
Thakanjane aber sang in großer Angst: Fröschlein, Fröschlein, Hab Erbarmen mit mir Armen! Spei den Fluß aus, daß der Feind nicht durchgehn kann.


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