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Wie Schildkröte des Königs Schwiegersohn
ward.

1. Der Wettlauf zwischen Schildkröte und Wildbock.

Der König hatte ein großes Fest veranstaltet. Das Tor der Hauptstadt wimmelte von schwarzbraunen Menschenkindern. In mächtigen irdenen Töpfen kochte am offenen Herdfeuer das Ochsenfleisch. Ringsum lagerten die Männer; große irdene Biertöpfe standen in ihrer Mitte. Der Schöpflöffel, aus einem langstieligen Kürbis geschnitzt, machte fleißig die Runde. Jeder empfing den vollen, bis zum Rande gefüllten Schöpflöffel mit Händeklatschen und: »Danke, o Löwe, Untier, Krokodil!« worauf er ihn dann bedächtig leerte bis zum letzten Tropfen. Feierlich wanderte darauf das Trinkgefäß von Hand zu Hand, wie es gekommen, die lange Reihe der Männer hinauf zum Mundschenk, der es seinerseits noch einmal zum Munde führte, prüfend, ob nicht doch eine Hefe zurückgeblieben. Dann schöpft er von neuem, und so wandert der Bierlöffel auf und ab, während die wie Krähen auf der Erde sitzenden Zecher munter schwatzen. Zuletzt trug man auch in Holzwannen das Fleisch auf; das Festessen begann. Dem Rinderbraten schenkte man volle Aufmerksamkeit. Der gleichfalls in hölzernen Schüsseln aufgetragene Hirsebrei dagegen fand weniger Beachtung. Dafür feierte man auch ein Fest auf der Hauptstadt.

Das Mahl war beendet. Messer, Gabel oder Löffel gab's nicht abzuwaschen. Selbst die Finger fanden nur notdürftige Reinigung. Man schüttete sich gerade eine Prise auf den Rücken der ausgestreckten Rechten, da erschien der König. Eine Stille trat ein. Der König wollte sprechen. »Männer meiner Stadt,« begann er durch seinen Mund – den Ratsherrn –, »zwei sind es, die um meine Tochter werben, Schildkröte und Wildbock. Zum Zeichen, daß ich erstere nicht verachte, will ich ein Wettrennen veranstalten. Beide sollen hinaus ins Feld gehen und von einem bestimmten Punkte aus den Wettlauf beginnen. Wer zuerst das Tor der Hauptstadt betritt, der hat den Preis errungen und erhält meine Tochter!« »Herr, Untier, du hast die volle Wahrheit geredet!« so tönte es aus dem Munde der auf der Erde hockenden Männer. Ein Gemurmel des Beifalls summte von Biertopf zu Biertopf, von Fleischschüssel zu Fleischschüssel. Und Wildbock und Schildkröte sanken halb in die Knie, klappten mit den Händen und riefen: »Großer Herr!« Dann machten sie sich sofort auf den Weg hin zum Ausgangspunkt des Wettlaufes. Der Wildbock war sich seiner Sache natürlich gewiß, und weil er ein so feiner Bursch war und aus vornehmer Familie, gab ihm der König selbstverständlich den Vorzug. Die Schildkröte war allerdings nur ein häßliches Geschöpf und niemand mochte sie leiden. Deshalb freute man sich auch über die Weisheit des Häuptlings, der mit diesem Wettlauf sich auf eine seine Weise des unbeliebten Gesellen entledigen wollte. Schildkröte jedoch war zwar häßlich, besaß aber viel Verstand und machte mit ihrer List alle anderen zuschanden. Als sie nämlich in Gemeinschaft mit dem Wildbock dahinging zum Ausgangspunkt des Rennens, blieb sie immer ein wenig hinten, legte ein Ei und nach einer kurzen Strecke wieder eins und noch eins, bis sie zu ihrem Ziel kamen. »Auf nun zum Dauerlauf!« sprach Wildbock. Und nun ging's los. Der flinke Bursch brauchte sich gar nicht anzustrengen, denn die bepanzerte Schildkröte hampelte nur äußerst schwerfällig hinter dem Leichtfüßigen her, der gar bald ausrief: »Schildkröte, ich bin dir voraus!« Doch horch, da ganz vorn antwortete die Stimme derselben: »Wildbock,« sagte sie, »nein, ich bin dir voraus!« Es waren die Eier des Panzertiers, welche dasselbe klugerweise den Herweg entlang heimlich gelegt hatte. Das Gras war hoch. Da dachte der Wildbock, ei, so ist mir der Schlauberger vorbeigeschlichen, ganz unbemerkt, während ich so langsam ging. Und hurtig sprang er auf seine Beine und flog nur so dahin. »Schildkröte, ich bin dir weit voraus!« rief er alsbald wieder und wandte dabei sein Haupt nach rückwärts. »Oho, ich bin dir weit voraus!« antwortete von vorn her die Stimme der Schildkröte. Der Bock erschrak; er wußte nicht, daß es abermals nur die Eier waren, welche die Antwort gaben. Nun sauste er nur so dahin. »Dies ungelenke Tier, jetzt will ich ihm beweisen, was ich kann,« sagte er. Als er dann einen Augenblick wieder verschnaufte, rief er – diesmal schon atemlos – zurück: »Schildkröte, jetzt bin ich dir aber weit voraus!« »Nein, ich bin dir weit voraus!« ertönte deren Stimme von vorn her. Es waren natürlich wieder nur die Eierlein. Der Wildbock aber sprang auf seine Füße und raste davon durch Busch und Feld, über Stock und Stein. Des Häuptlings Kraal winkte bereits in der Ferne. Vorwärts stürmt der flotte Renner. Endlich ist er nahe am Tor. Da hält er noch einmal, aber sein Siegesruf erstirbt ihm auf den Lippen; denn Freudenjubel erfüllt plötzlich die Luft. Das Volk hat die Stimme der Schildkröte gehört: »Wildbock, ich bin dir weit voraus, bin am Ziel!« Der Bock war besiegt durch List. Als geraume Zeit vergangen war, kroch der Vater der klugen Eier wie von ungefähr hinter einer Hütte hervor und tat, als wolle er sich nun erst der Öffentlichkeit zeigen. Ein Beifallsrauschen empfing ihn. Es war, als wollte der Jubel kein Ende nehmen. Die Stimmung hatte sich scheinbar zugunsten der Schildkröte verändert; denn der König mußte ja nun sein Wort halten und gab ihr seine Tochter zum Weibe.

2. Des Wildbocks mißglückte Rache.

Wildbocks ganzes Sinnen und Denken ging fortan daraufhin, wie er den verhaßten Sieger aus dem Wege räumen könnte. Da ersann er eine List. Er lud ihn zu einer Wette ein. »Laß uns ein großes Feuer anzünden,« sprach er zur Schildkröte, »und sehen, wer von uns beiden am besten springen kann.« »Über das Feuer springen, das wird meinerseits nicht gehen,« antwortete dieselbe. »Gut,« erwiderte darauf Wildbock, »so will ich springen, und du kannst ja durch das Feuer hindurchkriechen; aber du mußt den Anfang machen.« »Das will ich tun,« sagte das Panzertier, und marschierte gerade auf das Feuer los, kroch dann aber seitwärts unbemerkt ins Gras und warf von dort aus zwei wilde Äpfel in die Glut. Piff, paff! platzten die Äpfel im Feuer. Wildbock sah, wie sie dabei hochgeworfen wurden. »Aha,« rief er aus, »das waren Schildkrötes Augen; das Feuer hat sie also richtig gefressen; sie ist tot.« Sprach's und ging davon. Am nächsten Morgen kam er wieder. Die große Glut war erloschen. Da nahm er einen langen Stab und sagte: »Jetzt werde ich meinen toten Feind aus der Asche ziehen.« Aber er mußte lange suchen; endlich fand er ihn. »Schildkröte,« rief der Wildbock und klopfte dabei auf den Panzer, »heute esse ich dich!« O weh, wie erschrak er, als der vermeintliche Tote antwortete: »Du kannst mich nicht essen; denn noch lebe ich!«

Nun versuchte der Wildbock noch einmal, ob er nicht dennoch seinen Feind auf listige Weile aus dem Leben schaffen könnte. »Freund, sprach er deshalb, »unsere Wette ist noch nicht zu Ende. Laß sie uns zu Ende führen. Erst gehst du durchs Feuer, dann folge ich hinterher.« »Warum nicht,« antwortete der Angeredete, der wohl merkte, worauf es hinausging; »aber diesmal mußt du den Anfang machen.« Wildbock ging darauf ein. Bald prasselte ein fürchterliches Feuer von Ästen und Reisig. Dem Bock klopfte zwar das Herz dabei, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, daß er ein guter Springer sei. Und so machte er einen tüchtigen Anlauf, sprang und – sprang zu kurz. Da lag er nun mitten im Feuer, er, der seinen Gefährten gern darin gewußt hätte. Piff, paff! knallte es aus den Flammen heraus. »Da platzen Wildbocks Augen,« murmelte Schildkröte und kroch langsam nach Hause. Am anderen Morgen stellte sie sich wieder ein, mit einem langen Haken bewaffnet, durchwühlte die Brandstätte, fand den verkohlten Wettlustigen und klopfte ihm mit dem Haken auf den Rücken und sprach: »Wildbock, heute esse ich dich!« Doch keine Antwort kam zurück; er war wirklich tot. Da aß Schildkröte den Wildbock. Aber aus den Gebeinen löste sie einige Knöchelchen, machte daraus eine Flöte und blies:

»Tü, tü, Wildbock ist nicht mehr hie!
Tü, tü, das Feuer fraß ihn gestern früh!
Tü, tü, Wildbock, du warst ein dummes Vieh!«

So flötend zog die Schildkröte von dannen. Der ihn verderben wollte, war selbst ins Verderben gefallen und mußte nun noch nach seinem Ableben dem anderen zur Kurzweil dienen.

3. Wiedererlangung der geraubten Flöte und endliches
Glück.

»Tü, tü, der mich töten wollte, ist nicht mehr hie!
Tü, tü, sein Feuer fraß ihn gestern früh!
Tü, tü, Wildbock, du warft ein dummes Vieh!«

so blies Schildkröte auf dem Heimwege. Aus dem breiten Fluß aber steckte das Krokodil seinen häßlichen Kopf heraus. Die Flöte gefiel ihm: »Das ist ein prächtiges Ding, Freund, leih mir doch einmal dein Flötelein!« »Ach du,« antwortete Schildkröte, »du willst sie mir doch nur wegnehmen.« »Bewahre, nein,« gab der Wasserbewohner zurück; »laß mal sehen, was du hast.« Da reichte ihm der Kahlkopf die Flöte.

»Tain, tain, ich nehme dich mit ins Wässerlein!
Tain, tain, ich nehme dich mit ins Wässerlein!«

blies das Krokodil. »Gib mir nur meine Flöte wieder her,« rief erstere auf die verdächtigen Töne hin. »Was habe ich denn gesagt?« heuchelte der Gefragte. »Singst du nicht, daß du die Flöte mit in die Tiefe nehmen willst? Darum her mit meinem Eigentum!« sprach die am Ufer Stehende. »Tain, tain,« klang es noch einmal kurz – da war der Dieb auch schon mit der Wildbockflöte in der Tiefe verschwunden, und der eigentliche Besitzer hatte das Nachsehen. Aber Schildkröte ließ den Mut nicht sinken. Am anderen Morgen stand sie wieder vor der Untiefe. Eine Taube hatte den Raub mit angesehen und warf sich nun zum Verbündeten des Beraubten auf. Von ihrem hohen Sitze aus konnte sie alles besser überschauen als die im hohen Grase dahinkriechende Schildkröte. »Da hinten liegt das Krokodil und sonnt sich auf einer Sandbank; wessen Fleisch will es heute wohl fressen?« gurrte die Taube. Aber eine zweite Taube hielt es mit dem Krokodil und gurrte laut und warnend:

»Huckuth, tauch in die Flut!
Huckuth, tauch in die Flut!«

Da verschwand es in der Tiefe. Schildkröte aber wußte neuen Rat, machte die Futterstelle der feindlichen Taube ausfindig und streute die Hacheln der Disteln dorthin. Die Taube aber schluckte sie unversehens mit hinunter. Als sie nun am anderen Morgen das Krokodil vor der Schildkröte warnen wollte, konnte sie nicht gurren, weil ihr die Disteln im Halse saßen. Nun hatte die erste Taube gewonnen und gurrte laut in den heißen Sommertag hinein:

»Huckuth, die Sonne meint's gut,
Huckuth, heraus aus der Flut!«

Da steckte Krokodil seinen Kopf aus dem Wasser, kroch hervor und begab sich auf die weiche Sandbank. Das war das Zeichen für die Schildkröte. So schnell, wie es nur der schwere Panzer erlaubte, kam der Kahlkopf heran, und ehe sich's Krokodil versah, war ihm die Flöte vom rechtmäßigen Eigentümer wieder abgenommen.

Doch war es dem Herrscher der Tiefe nicht gelungen, Schildkröte ihres Siegeszeichens zu berauben, so versuchte es jetzt der Herrscher der Lüfte, der Reiher. Schildkröte, froh, ihre Wildbockflöte wieder in ihren Künden zu haben, zog fröhlich flötend von dannen:

»Tü, tü, der Wildbock ist nicht mehr hie!
Tü, tü, das Feuer zahlt ihm seine Müh!
Tü, tü, solch einen Dummkopf sah ich nie!«

Das hörte der Reiher und stieg herab aus den Lüften. »Ei,« sagte er, »wie schön das klingt! laß mich doch auch einmal auf deiner herrlichen Flöte blasen!« »Ach du,« lautete die Antwort, »du bist nicht besser als das Krokodil; du reißt nachher auch mit meiner Flöte aus.« Der Reiher aber schmeichelte und bat. Da erhielt er das Instrument.

»Tö, tö, dich nehm' ich mit zur Höh'!
Tö, tö, dich nehm' ich mit zur Höh'!«

blies er. »Da haben wir's,« sagte das Panzertierchen, »gib mir nur schnell meine Flöte wieder!« »Sei kein Tor,« erwiderte der Angeredete, »fällt mir ja gar nicht ein, das Ding mit in die Lüfte zu nehmen. Tö tö,« blies er wieder, »tö, tö, auf, auf zur Höh!« und da schwebte er auch schon davon. »Das habe ich nun von meiner Gutmütigkeit,« sagte die zum zweiten Male Getäuschte. Dann ging sie zur Spinne und bestellte sich eine lange Schnur, die bis in die Wolken reichte. Hinauf kletterte sie nun, empor zu den Höhen des Diebes. Da konnte sich dieser nicht mehr wehren und gab das Entwendete zurück.

Aber als sich nun Schildkröte anschickte, wieder zur Erde zurückzukehren, riefen etliche Leute, die da oben gerade einen Ochsen geschlachtet hatten: »Heda, Freund, wie gedenkst du denn wieder nach unten zu gelangen? Da haben sie ja das Ende abgeschnitten von deiner langen Schnur!« Schildkröte wußte aber auch diesmal Rat. In einem unbewachten Augenblick kroch sie ins Ochsenfell und legte sich zwischen das frische Fleisch, das darin eingewickelt war. So trugen sie die Leute, ohne es zu wissen, auf ihrem Rücken nach der Erde. Als sie, unten angelangt, das Fell auseinanderfalteten, marschierte Schildkröte heraus und ging »tü, tü!« nach Hause zu ihrer Königstochter und lebte mit ihr heiter und vergnügt bis ins Alter.


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