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8.

Der Herr tödtet und macht lebendig, führt in die Hölle und wieder heraus.

(Sam. 2, 6.)

 

Der Telegraph war schneller gewesen, als der Bruder Pfälzer, und hatte die Kunde des außerordentlichen Unglücks bereits in die weitesten Fernen gebracht. Somit langte sie auch in Dossenbach früher an, als unser Freund Nadler. Ruppert hatte von der Hiobsbotschaft im Wirthshause Kenntniß erhalten, woselbst einer der Gäste das mit der Zeitung angelangte Telegramm laut vorlas. Dem Bruder Leichtsinn war gerade an diesem Tage das Glück insofern günstig gewesen, als einer der Bauernburschen ihm einen Sechsbätzner geliehen und dadurch die Mittel an die Hand gegeben hatte, sich einen vergnügten Abend zu verschaffen. Ruppert ließ es denn auch nicht fehlen, seine durstige Kehle mit dem Markgräfler zu benetzen, nach dem er sich so lange vergebens gesehnt. Die Wirkung blieb nicht aus und bald begannen die Weingeister in dem Kopfe des unverbesserlichen Burschen zu spuken. Er wurde fidel, sehr fidel sogar; er wurde ausgelassen und stieß in seinem Taumel laute Jauchzer aus ... da vernahm er das Telegramm, da brauste es in seinen Ohren: daß zweiundfünfzig Arbeiter im Hauensteintunnel verschüttet worden seien und man nur wenig Hoffnung habe, sie retten zu können. Der leichtsinnige Gesell saß eine geraume Weile wie versteinert da; die Augen stierten vor sich hin, die Nasennüstern waren weit geöffnet, der Mund halb offen und die Arme hingen schlaff herab. Die grauenvolle Kunde hatte wie ein Donnerschlag auf Ruppert gewirkt. Noch eine Minute zuvor war er glücklich in dem Gedanken gewesen, daß er die Moralpredigt von Andreas nicht zu fürchten brauche; und nun auf einmal erbebte sein Herz unter der bangen Frage: befindet sich Dein Bruder unter den Verschütteten oder nicht?

Was alle Ermahnungen und Schläge des Schicksals nicht vermocht, war dieser urplötzlichen Hiobsbotschaft gelungen: in Ruppert's Brust begann sich die Reue zu regen und bittere Vorwürfe stürmten auf ihn ein. Andreas stieg im Geiste vor ihm auf und seine treuen, blauen Augen sahen ihn wehmüthig und schmerzlich an, als ob sie sagen wollten: »Jetzt bist Du vor Deinem Bruder auf alle ewigen Zeiten sicher und wirst keine Moralpredigt mehr von ihm zu hören bekommen. Du kannst nun thun, was Dir beliebt, er wird Dir nicht mehr hindernd in den Weg treten, denn er schläft den tiefen Schlaf, bei welchem kein Erwachen ist, im schaurigen Bergesinnern. Also trinke, Ruppert, und sei lustig und guter Dinge!«

Die schlaff herabhängenden Hände Ruppert's ballten sich jetzt, er biß die Lippen fest zusammen, und unter den drohenden Stirnfalten ließ er zwei Augen sehen, welche eine entsetzliche Verzweiflung verkündeten.

Die Gäste schielten nach ihm hin und einer der Bauern trat zu ihm heran und sagte:

»Na, Ruppert, wahrscheinlich geht nun für Dich die gute Zeit an, da man mit ziemlicher Sicherheit annehmen kann, daß Dein Bruder Andreas, der ja stets dort war, wo gearbeitet wurde, sich unter den im Hauenstein Verschütteten befindet.«

»Haltet um Gotteswillen ein!« schrie Ruppert auf und seine Augen rollten wild umher, »oder ich werde rasend!«

Der Bauer fuhr bei diesem Anblick erschrocken zurück und alle Gäste thaten dasselbe.

Ruppert war aufgesprungen und zog den Geldbeutel heraus, um seine Zeche zu bezahlen.

»Du kannst's ja bis zum nächsten Male lassen,« äußerte der Wirth zu ihm, der sich gleichfalls hinter der Einschenke sicherer fühlte, als in des erregten Burschen Nähe.

»Nein,« entgegnete Ruppert entschieden, »Ihr werdet mich nie wieder als Gast bei Euch sehen.«

»Ei, und warum denn nicht?« fragte der Wirth verwundert, »was habe ich Dir denn gethan?«

Ruppert wollte antworten, allein der Schmerz, den er um seinen verunglückten Bruder empfand, stieg ihm bis in die Kehle. Er warf den Sechsbätzner auf den Tisch und eilte zur Thüre hinaus. Der Mond stand voll und klar am Himmel und hauchte ringsum die Landschaft mit seinem Silberlicht an. Ruppert ließ das Dorf hinter sich und hatte bald jenen Hügel des Dinkelbergs erreicht, von welchem aus Andreas vorzugsweise so gern in das Land geschaut. Der reuige Bruder erinnerte sich jenes Sonntagnachmittags, wo der Verunglückte dort gesessen und freundliche Worte der Ermahnung an ihn gerichtet hatte. Noch lag der ganze Frühlingsschmelz über der Natur ausgebreitet, genau so, wie damals; aber das Lieblingsplätzchen des armen Andreas war leer und umsonst fächelte der leise Nachtwind Kühlung zu. Der dieser wundersam erfrischenden Gottesluft jetzt so sehr bedürftig war, verweilte in dem düstern Bergesschacht und rang vielleicht in dem nämlichen Augenblick mit dem Erstickungstod.

Dies Alles und noch weit mehr fühlte Ruppert, als er auf dem Hügel des Dinkelbergs stand; seine Brust wogte, er raufte sich das Haar und stürzte mit dem Schmerzensrufe: »O mein Gott, schenke mir meinen Bruder wieder – habe ich doch bis heute nicht gewußt, daß ich ihn so unendlich liebe!« auf die Kniee.

Die Thränen brachen aus seinen Augen hervor, ohne jedoch das Weh des Herzens zu lindern, und als er der Mutter gedachte, deren ganzes Glück der treusorgende Andreas war, bemächtigte sich seiner von Neuem die Verzweiflung. Ruppert verbrachte einen großen Theil der Nacht in der stillen Einsamkeit des Dinkelbergs, denn er fürchtete sich vor dem Momente, wo die Mutter aus seinem Munde die schreckliche Hiobsbotschaft vernehmen würde. Als der Morgen dämmerte, schlich er vor das Häuschen, ohne indessen den Muth zu haben, die Thüre zu öffnen. Er stürmte wieder hinaus vor das Dorf und die Sonne leuchtete bereits am Himmel, als er zum zweiten Male nach der Hütte zurückkehrte, um endlich die Mutter von dem Vorgefallenen in Kenntniß zusetzen. Schon hatte er die Hausthüre geöffnet und schon stand sein Fuß auf der schmalen Flur, allein wie von Furien getrieben flüchtete er abermals stillen Winkeln zu, wo er vor jedweder Begegnung mit irgend einem Menschen sicher war. Die kleine Glocke des Dorfkirchthurms begann ihr Mittagsgeläute und Ruppert wußte, daß um diese Zeit die Mutter sich regelmäßig nach dem Gotteshause begab, um dort in der Stille niederzuknieen und für das Wohl ihres Andreas zu beten.

»Das ist der günstigste Augenblick, nach Hause zurückzukehren,« murmelte Ruppert vor sich hin, »es wird mir viel leichter werden, wenn ich sie daheim erwarten kann, und einmal ... einmal ... muß es ja doch sein!«

Er führte seinen Entschluß rasch aus. Wie groß aber war sein Erstaunen, als er beim Oeffnen der Stubenthüre die Mutter weinend und die Hände ringend in dem kleinen Gemache auf- und abgehen sah, während ein fremder Mann sich vergebens bemühte, sie zu trösten.

»Ruppert!« rief die arme alte Frau mit vor Schmerz halberstickter Stimme aus. »Wir haben unsern Andreas verloren!«

»Ich weiß es,« entgegnete der Sohn und große Tropfen rannen über seine Wangen. Die Mutter blickte ihn erstaunt an und sagte:

»Du weinst?«

»Und warum nicht?« gab Ruppert fragend zurück. »Ich bin nicht mehr der leichtsinnige Bursche, der Dir und – – o Gott, Gott, ich vermag seinen Namen nicht auszusprechen, – der Schmerz um ihn ist ja zu groß.«

Ein neuer Thränenstrom entquoll seinen Augen, dann fuhr er fort: »Nein, Mutter, ich bin nicht mehr jener Elende, der den Seinigen nur Sorgen und Kummer verursacht. Eine einzige Viertelstunde genügte, aus mir einen ganz andern Menschen zu machen, und doch, doch fühle ich mich so namenlos elend, doch muß ich verzweifeln, da ich der Mörder meines Bruders bin!«

Mit diesem Ausrufe sank er vor der alten Frau auf die Kniee, mit seinen Händen die ihrigen erfassend und seine heiße Stirne gegen sie pressend.

Die wilde Verzweiflung Ruppert's brachte den Schmerz der Mutter zu einer Art von Stillstand; sie gedachte so mancher Nächte, wo der Schlaf ihre Augen geflohen und sie wiederholt Gott gebeten hatte, den leichtsinnigen Sohn auf den rechten Weg zurückzuführen. Und siehe da, endlich hatte der himmlische Vater ihr inniges Gebet doch erhört, aber mit Hilfe eines für sie entsetzlichen Verlustes. Und als sie desselben gedachte, bemächtigte sich auch ihrer von Neuem der Schmerz und eine geraume Weile vernahm man in dem kleinen Stübchen nur Schluchzen und Töne des Jammers. Der ehrliche Nadler, dessen Herz, wie wir wissen, auch in treuer Liebe für Andreas erglühte, konnte gleichfalls nicht Trost zusprechen; wie hätte er das auch vermocht, da er des Zuspruchs selbst bedürftig war? Endlich erklangen von den Lippen der alten Resi die Worte:

»Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt! Amen!«

Und verklärt blickte die fromme alte Frau zum Himmel empor, wenn schon ihr Herz unter der Wucht des Schmerzes erbebte.

Eine derartige Ergebung in den Willen des Höchsten war Ruppert fremd und entsetzt blickte er die Mutter an.

»Wie kannst Du so reden!« rief er ihr keuchend zu. »Noch wissen wir ja nicht bestimmt, ob Andreas sich unter den Verunglückten befindet.«

»Ich weiß es,« entgegnete, die Hände noch immer über der Brust gefaltet, leise die alte Frau. »Der Freund unseres armen Andreas hat mir die Kunde überbracht.«

Der Athem Ruppert's ward immer keuchender, seine Augen schienen die Höhlen verlassen zu wollen, und unter Aechzen entwand sich ihm die bange, an den Pfälzer gerichtete Frage: »Ist – das – wahr?«

Nadler neigte stumm das Haupt.

»Nun denn, so fahre Gottes Blitz auf mich nieder,« schrie Ruppert, zu Boden sinkend, »denn ich bin ein neuer Kain, der seinen Bruder gemordet hat.«

»Versündige Dich nicht an dem Herrn,« flehte die Mutter, »und bürde Dir nicht unnütz eine entsetzliche Sünde auf.«

»Wie?!« rief Ruppert in wilder Aufregung, »trage ich etwa keine Schuld an dem Tode meines armen, armen Bruders? War es nicht mein Leichtsinn, der ihn forttrieb aus der Heimath, jenem Teufelsberge zu, der sein fürchterliches Grab wurde? Jubelte ich etwa nicht, als er ging? Mußte Gott nicht seinen Zorn auf mich herabschleudern, und mußte er nicht zu dem Aeußersten greifen, um mein leichtsinniges Herz in seinen innersten Tiefen erbeben zu machen? Nein, nein, ich habe meinen Bruder gemordet und die einzige Gnade wird für mich darin bestehen, daß der himmlische Rächer mich alsbald den Tod finden läßt.«

»Und Eure arme, alte Mutter?« äußerte jetzt Nadler vorwurfsvoll. »Hat sie nicht schon genug des Kummers ausgestanden? Soll sie in ihren alten Tagen auch noch der letzten Stütze beraubt werden und der Barmherzigkeit der Menschen preisgegeben sein?«

Diese Worte leuchteten Ruppert ein, und zum ersten Male nach vielen Jahren schlang er in zärtlicher Sohnesliebe die Arme um den Hals der Greisin, drückte sie fest an sein Herz und sagte mit einer Zärtlichkeit, die man bisher bei ihm vergebens gesucht:

»Gott ist gerecht, aber auch barmherzig. Er wird mich Dir leben lassen, gute treue Mutter, und ich werde von früh bis spät arbeiten, nur um Dir Dein Alter so leicht wie möglich zu machen. Wenn er aber dereinst Dich von hier abruft und Dich mit unserm Andreas in seinem himmlischen Reich wieder zusammenführt, dann werdet Ihr vereint bitten, daß er den Fluch von meinem Haupte nimmt und mich gleichfalls zu einem seligen Engel macht. O Gott, Gott, wenn doch dieser Augenblick schon erschienen wäre!«

Dieses sehnsüchtige Gefühl seines Herzens führte Ruppert's Schmerz auf sanftere Bahnen, und obgleich die Thränen unaufhaltsam aus seinen Augen drangen, wirkten sie dennoch gleich Balsam auf sein verstörtes Gemüth.

»Noch dürfen wir nicht alle Hoffnung aufgeben,« ergriff der Bruder Pfälzer abermals das Wort, »denn noch ist es möglich, daß Einzelne der Verschütteten gerettet werden und unter diesem kleinen Häuflein sich Andreas befindet. Ihr müßt nicht verneinend die Köpfe schütteln, denn Gott allein ist's, der tödtet und lebendig macht, der in die Hölle führt und wieder heraus. Zudem sind Andreas und seine Kameraden ja nur eingeschlossen und nicht verschüttet, und der Raum, in dem sie sich befinden, ist lang und auch ziemlich hoch. Somit können sie ohne Beschwerde athmen, selbst wenn man erst nach zehn Tagen zu ihnen gelangen sollte. Fließt ja doch durch diesen Theil des Tunnels auch ein Bach, der ein gesundes Trinkwasser liefert und zudem die Luft erfrischt.«

»Ihr habt gut reden,« wendete Ruppert ein, »daß der Mensch aber auch im finstern Bergesinnern vom Hunger heimgesucht wird, daran dachtet Ihr nicht.«

»O, beruhigt Euch,« tröstete der gutherzige Pfälzer. »Die Eingeschlossenen sind mit Nahrungsmitteln, wie Brod, Thee, Rum und Milch versehen; kein Arbeiter geht ohne dieselben in den Tunnel. Sie haben außerdem eine große Anzahl Kerzen und Oel mitgenommen; im äußersten Nothfall können sie sich mit diesem Talg und Oel das Leben fristen, wenn sie nicht vorziehen, einige der Pferde zu schlachten, welche mit ihnen eingeschlossen sind. Nein, nein, vertrauen wir Gott und lassen wir nicht die Hoffnungslosigkeit in unser Herz einziehen.«

»Ich muß Gewißheit haben!« rief Ruppert. »Und deshalb will ich zum Hauenstein hin und Tag und Nacht vor dem unglückseligen Eingang sitzen und harren, bis – o mein Gott! – bis –« er vermochte in seinem Schmerze den Satz nicht zu vollenden.

»Auch Eure Mutter hat den Wunsch ausgesprochen, die Stätte des Unglücks aufzusuchen,« entgegnete der Bruder Pfälzer, »und ich werde mich jetzt bemühen, im Dorfe einen Wagen aufzutreiben, der uns schnell an das traurige Reiseziel bringen soll.«

Der gutherzige Nadler mußte während der ganzen Fahrt immer nur auf neue Trostgründe sinnen, um dem Schmerz und der Verzweiflung der alten Resi und Ruppert's zu steuern. Ach! und in dem treuen Freundesherzen, das so warm für Andreas schlug, sah es selbst trostlos aus und es hätte in der That der Aufmunterung dringend bedurft.

Ein stiller klarer Samstagabend hatte sich herabgesenkt, als die drei Leidtragenden vor dem finstern Tunneleingange des Hauensteins anlangten. Im sanften Abendlichte prangten ringsum die üppig bewaldeten Berghalden und zwischen denselben leuchtete das schöne Schweizerland und sein strahlendes Gebirge. Vor dem Tunneleingang hatte sich eine ansehnliche Zahl von Müttern, Schwestern, Brüdern, Söhnen und Töchtern eingefunden, die Alle ein Liebes in dem entsetzlichen Bergesgrab hatten, dessen Zugang endlich geöffnet worden war. Kein einziger der starren, schmerzlichen Blicke, welche die Hinterlassenen entsandten, galt der entzückenden friedlichen Landschaft; – nicht das dort allüberall pulsirende Leben, sondern der Tod war es, dem man die gespannteste Aufmerksamkeit widmete. Sarg auf Sarg wurde auf einem Rollwagen aus dem gewölbten, hohen Tunnelthore herausgebracht, wie aus einer unterirdischen Stadt des Todes. Von einem jeden der Särge ward der Deckel gehoben, damit die Verwandten noch einmal das Antlitz ihres geliebten Todten sehen und Abschied nehmen konnten. Die Mehrzahl der Letzteren wurde denn auch erkannt und unter heißen Thränen die erkaltete Hand und Stirn zum letzten Male segnend berührt.

Die zuerst aufgefundenen Leichen waren dagegen durchaus unkenntlich gewesen. Da Einige von ihnen noch ihr Werkzeug in den Händen hielten, konnte man mit Recht annehmen, daß sie sich bemüht gehabt, den Schuttkegel zu durchgraben, infolge der in den vorderen Räumen des Tunnels herrschenden Pestluft aber erstickt waren.

Die arme Resi und Ruppert hatten von dem Bruder Pfälzer erfahren, daß Andreas in der hintersten Tunnelabtheilung beschäftigt gewesen war, zu welcher man erst an dem in Rede stehenden Samstagabend gelangte; somit konnten sie ruhig sein, daß der Heißgeliebte sich nicht unter jenen Einunddreißig befunden, deren irdische Ueberreste man bereits auf dem Trimbacher Kirchhofe begraben hatte.

Sarg um Sarg schwankte aus dem Mauerthore und immer ängstlicher klopften die Herzen unserer drei Freunde, denn schon standen auf dem zum Friedhofe abwärts führenden Wege neunzehn der armseligen kleinen schwarzen Bretterhäuser.

Immer frischer wurde das Aussehen der aufgefundenen Leichen, und bei den zuletzt an's Tageslicht gebrachten war es zweifellos, daß die Seele erst vor wenigen Stunden sich vom Körper getrennt hatte.

Der zwanzigste Sarg erschien in dem schaurigen Halbdunkel des Tunneleingangs.

Resi, Ruppert und der Bruder Pfälzer wagten kaum zu athmen. Jetzt wurde der Deckel in die Höhe gehoben und im nächsten Augenblicke drang der Schmerzensschrei dreier Menschen zum stillen Abendhimmel empor, denn der im Sarge Liegende war – der arme Andreas.

»Um Christi Barmherzigkeit Willen, – Bruder! Schlage die Augen auf!« rief Ruppert in seiner Verzweiflung, während die Mutter und Nadler zu beiden Seiten des Sargs niederknieten und den so lange zurückgehaltenen Thränen freien Lauf ließen. Im nächsten Augenblick warf sich Ruppert auf den leblosen Körper des Bruders, küßte die über der Brust gefalteten Hände und fuhr in seinem Jammer fort:

»Andreas, gelt, es ist nur ein banger, schwerer Traum und Du bist nicht todt? Wie wäre dies auch möglich. Dein Antlitz sieht ja so frisch und blühend aus. Du – Du – bist nur erschöpft, aber nicht todt, – nicht wahr? Und ich habe mich gebessert, Herzensandreas, und Du wirst fortan Deine Freude an mir haben und – und – aber, Andreas, liege nicht so starr und leblos da, sondern gieb mir ein Zeichen, sei es auch noch so unbedeutend, daß Du meine Worte vernommen und das Leben nicht aus Deinem Körper entflohen ist!«

Ein Jeder von den Umstehenden hatte mit dem eigenen Weh und Schmerz im Herzen zu thun, dennoch rührte dieser entsetzliche Jammer Ruppert's Alle derart, daß ringsum ein lautes Schluchzen vernehmbar wurde.

Endlich trat der Werkführer auf den unglücklichen Bruder zu, legte theilnehmend seine Hand auf dessen Schulter und sagte im Tone des Mitleids:

»Fassung, lieber Freund! Stört nicht die Ruhe des Todten!«

»Ader er ist nicht todt!« schrie Ruppert. »Er lebt

»Gebt keiner falschen Hoffnung Raum,« ermahnte der Werkführer. »Ehe Euer armer Bruder im Tunnel in den Sarg gelegt wurde, ist von ärztlicher Seite Alles geschehen, um ihn in's Leben zurückzurufen – allein umsonst.«

»Weil die frische Gottesluft seine Schläfe nicht umfächelte,« entgegnete Ruppert, »hier aber, wo der lebensvolle Odem ihn anhaucht, wird auch sein Geist wieder erwachen. Nicht wahr, Vater im Himmel,« begann jetzt der reuige Bruder zu beten, indem er niederkniete und die Hände erhob, »Du wirst mir meinen Andreas von Neuem schenken, zumal ich ja erst jetzt einsehen gelernt, was für ein treues, warmfühlendes Bruderherz in seiner Brust schlug! Ich will ja so gerne für ihn arbeiten, von früh bis zur sinkenden Nacht, für ihn und die Mutter, – und allen Vergnügungen und Genüssen für immer Lebewohl sagen. Nur gieb mir den Bruder zurück, Herrgott, – erbarme Dich meiner und fluche mir nicht.«

Einen Augenblick verharrte Ruppert in seiner knieenden Stellung, dann sprang er auf und eilte an den Sarg, sich zu dem leblosen Körper von Andreas herabbeugend. Tiefes Schweigen herrschte ringsum, nur unterbrochen von dem leisen Aufschluchzen weinender Mütter, Schwestern und Kinder. Da dringt urplötzlich ein gellender Freudenschrei in die Luft, ein kurzes Lachen folgt und Ruppert ruft:

»Der Herrgott hat geholfen, Andreas ist nicht todt, sein Herz beginnt wieder zu schlagen!«

Alle Umstehenden hielten dies für eine entsetzliche Täuschung, der sich der unglückliche Bruder in seiner Verzweiflung hingegeben; als aber unmittelbar nachher einer der anwesenden Aerzte, von dem Werkführer herbeigerufen, an den Sarg trat und nach einer genauen Untersuchung erklärte, daß Andreas allerdings noch athme und möglicher Weise in's Leben zurückgebracht werden könne, da entstand in den Reihen der versammelten Menge eine namenlose Unruhe, zum Theil von der Freude herrührend, die viele der Arbeiter über die Rettung des Andreas empfanden, zum Theil aber auch in Folge des Schmerzes, der jetzt Jene doppelt ergriffen, welche irgend ein Liebes bei der Verschüttung des Schachtes eingebüßt hatten.

»Warum konnte Gott dasselbe Wunder nicht an unser'm Vater thun?« jammerte eine arme Wittwe, ihre fünf kleinen Kinder umfassend. »Der Andreas war freilich ein braver Bursch, aber er hinterließ kein Weib und keine Waisen.«

Diese und andere egoistische Aeußerungen wurden nach einander laut, und dennoch muß man Denen, die sich zu solcher Lieblosigkeit hinreißen ließen, vergeben, bildete sie ja doch den besten Beweis ihrer unbegrenzten Zuneigung und Hingebung für den theuern Gatten oder Vater, den der Tod so plötzlich den Seinen entrissen hatte.

Der feinfühlende Arzt ordnete an, daß der ohnmächtige Andreas aus dem Sarge genommen, auf eine mit Betten bedeckte Bahre gelegt und nach dem Dorfe Hauenstein hinauf getragen werde.

»Die Nachtluft ist nicht kalt, sondern angenehm und in dieser wird er alsbald zum Bewußtsein zurückkehren,« äußerte er zu dem, nunmehr vor seligster Freude stumm gewordenen Bruder, dem Freunde und der alten Mutter. »Der arme Bursche bedarf freilich der aufopferndsten Pflege, ehe an eine Wiedergenesung gedacht werden kann, doch bin ich fest überzeugt, daß von Seiten der Seinen Alles für ihn geschehen wird.«

Und der Arzt hatte damit den Nagel auf den Kopf getroffen; entstand zwischen der alten Resi, Nadler und Ruppert ja doch ein edler Wettstreit betreffs der Pflege des geretteten Andreas, welche ein Jedes übernehmen wollte. Namentlich war es Ruppert, der Tag und Nacht allein bei Andreas wachen wollte, bis er nach vielem Hin- und Herreden sich endlich damit zufrieden erklärte, während der Nacht an dem Lager des heißgeliebten Bruders zu verweilen, am Tage dagegen der Mutter und Nadler seinen Posten einzuräumen. Demgemäß wurde Andreas nach seiner kleinen Wohnung verbracht, woselbst Ruppert sofort seine Wache begann.

Wie so unendlich groß erschien doch die Wandlung, welche urplötzlich mit dem ehemals so leichtsinnigen Ruppert vorgegangen war; mit welcher Inbrunst liebte er jetzt seinen Bruder, den er bisher gehaßt; in welch' neuem Lichte erschien ihm überhaupt die Welt und das Leben, und wie so deutlich trat ihm jetzt die Bestimmung des Menschen vor die Seele, nach dem Besten und Edelsten zu ringen und zu streben!

» Arbeit ist der Segen, den Gott uns Erdenpilgern gegeben,« sagte, in tiefe Gedanken versunken, Ruppert leise vor sich hin, um den ruhig athmenden, aber noch immer schlafenden Andreas nicht zu stören, an dessen Lager er Platz genommen. »Welche Zufriedenheit zieht in der Seele ein, wenn man sich bewußt ist, seine Pflicht gethan zu haben, und wie so süß schmeckt dann die Ruhe! Ja, ja, ich war ein verblendeter Mensch, aber Gott der Allgütige hat mich errettet aus der Finsterniß, wie er es mit Andreas gethan; ach, möchte es in seiner Gnade nur auch liegen, daß er den treuen Bruder mir erhält!«

Ruppert warf einen liebenden Blick auf den Schlafenden und trat an das kleine Fenster. In dem Silberglanze des Monds lag die entzückende Landschaft vor ihm und die fernen Bergesriesen grüßten ernst herüber. Ein namenloses Glück zog in Ruppert's Herzen ein und eine Dankbarkeit gegen den gütigen Geist, der dies Alles erschaffen, das vor ihm lag und so mächtig auf seine Seele wirkte. Inmitten des heitern Landschaftsbildes tauchte aber auch der an die irdische Vergänglichkeit mahnende Finger Gottes auf, denn seitwärts der Trimbacher Kirche erglänzten im Mondenscheine die weißen Kreuze, mit denen die Gräber der im Hauenstein Verunglückten geziert worden waren; auch vermochte Ruppert die Särge zu sehen, welche während der Nacht am Fuße des Berges stehen gelassen worden waren, in der schwachen Hoffnung, daß doch vielleicht Einer oder der Andere der darin Liegenden von der linden Nachtluft zum Leben wieder erweckt werden könne. Wie so leicht konnte Andreas sich unter ihnen befinden, während er in Wahrheit in seinem Kämmerchen auf seinem Lager ruhte und ruhig athmete!

Und abermals faltete Ruppert die Hände zum frommen Dankgebet, ungehindert die Freudenthränen rinnen lassend, welche seine Augen füllten, als er wieder an das Lager des Bruders zurück trat und leise küssend dessen Stirn berührte.

War es der heiße Bruderkuß. oder die auf seine Stirne geflossene Thräne, welche ganz plötzlich Andreas erwachen ließ? Kurzum, er schlug die Augen auf und blickte verwundert um sich, offenbar nicht wissend, wo er sich befand. Zunächst waren seine Blicke dem Fenster zugekehrt, welches von dem Lichte des Mondes voll beleuchtet ward.

»Was ist das?« murmelte der noch immer seiner Sinne nicht ganz mächtige Andreas. »Der Mond? Ja, können wir ihn denn schauen in dem finstern Tunnel?«

»Du befindest Dich nicht mehr in jenem schrecklichen Gefängniß, Herzensandreas.« entgegnete Ruppert mit bebender Stimme, »sondern in Deinem Kämmerlein.«

»Mein Gott,« rief jetzt Andreas, »ist das nicht Ruppert's Stimme? Ach, und wie lieb und freundlich er zu mir spricht? ... Bruder, hassest Du mich denn nicht mehr?«

Ruppert war überwältigt und keiner Antwort fähig; sein Herz aber sehnte sich nach dem Ausdruck unwandelbarster Bruderliebe, und so sank er denn schluchzend in die Kniee und legte das Haupt auf die am Rande des Bettes ruhende Hand von Andreas.

Allmälig kehrte die Erinnerung des Letztern zurück und ein Schauder ging durch seinen Körper, denn er gedachte der furchtbaren Tage und Nächte, welche er lebend in dem Bergessarge verbracht. Ruppert, den der Arzt darauf aufmerksam gemacht, daß jede Erregung bei dem kranken Bruder zu vermeiden sei, bot seine ganze Ueberredungskraft auf, Andreas ruhiger zu stimmen, was ihm denn endlich auch gelang. Freilich vermochte er den Thränen, welche der warm fühlende Jüngling um die verunglückten Arbeitsgenossen vergoß, nicht Einhalt zu thun, zudem erleichterten sie das Herz des Patienten.

Nach kurzer Zeit verfiel er wiederum in einen erquickenden Schlaf, aus dem er erst am nächsten Morgen erwachte.

Es war der Trinitatis-Sonntag und die Junisonne strahlte segnend auf Berg und Thal herab.

Abermals dauerte es eine geraume Weile, ehe Andreas mit seinem Bewußtsein sich zurecht fand.

»Träume oder wache ich?« rief er endlich verwundert. »War es mir doch, als hätte Ruppert dort am Fenster gestanden, und jetzt sehe ich, daß es Nadler ist und ich mich also getäuscht habe.«

»Du hast beide Male recht gesehen, herzlieber Andreas,« entgegnete der treue Freund, den Kranken innig küssend. »Am Tage verweilen Deine gute Mutter und ich an Deinem Lager, während der Nacht aber der Ruppert, mit dem eine ganz sonderbare Wandlung vorgegangen ist.«

Hierauf theilte Nadler dem Freunde das Nöthigste mit und Andreas faltete gerührt die Hände, leise ausrufend: »Oh, mein Gott, das ist zu viel des Glücks! ... Aber,« unterbrach er sich, »Du erwähntest meine Mutter, – ist sie denn gleichfalls hier?«

Nadler nickte und erwiederte: »Das kannst Du Dir ja doch denken, daß sie, die Dich über Alles liebt, nicht in ihrem Dörfchen zurückzuhalten war.«

»Ach, mein Herrgott, welche Freude wird mir zu Theil!« sagte Andreas gerührt. »Warum ist die gute, alte Frau aber nicht zur Stelle? Wo weilt sie, – und wo ist Ruppert?«

Ein tiefes, ernstes Geläute schlug an des Kranken Ohr, der sich, mit Nadler's unterstützender Hilfe, im Bett ein wenig aufrichtete. Er lauschte. Das Geläute nahm an Stärke mehr und mehr zu und es schien, als ob es ringsum von den Bergen käme.

»Was bedeutet das?« fragte Andreas ahnungsvoll, und als er die stille Wehmuth auf dem Antlitze des Freundes sah, der, die Hände faltend, ans Fenster trat, – da bedurfte es nicht erst der Antwort, sondern Andreas wußte, daß jetzt auf dem Trimbacher Friedhofe ein großes, großes Begräbniß stattfand und alle Glocken der Umgegend ihre letzten, segnenden Grüße den abgeschiedenen Seelen sandten. Er wußte jetzt auch, warum die Mutter und Ruppert nicht anwesend waren. Sie folgten der Stimme ihres Herzens und schlossen sich dem großen Trauerzuge an, tief in ihrem Innern denkend: »Es ist Gottes Barmherzigkeit, daß unser Andreas nicht in einem der Särge liegt, sondern zu einem neuen Leben erstand und uns erhalten wurde!«

In dem kleinen Stübchen, hoch oben auf dem Hauenstein, war es mäuschenstill. Ein jeder der beiden Freunde hing seinen Gedanken nach. Andreas folgte im Geiste dem langgestreckten Leichenzuge, der am Fenster stehende Nadler aber begleitete ihn mit seinen Blicken. Das Läuten der nahen und fernen Kirchenglocken dauerte fort, und jetzt mischte sich in diese ernsten Klänge ein feierlicher Grabgesang:

»Nicht fern bin ich von meinem Grabe,
So denken will ich jeden Tag.
Die Zeit, die ich auf Erden habe.
Eilt schnell dahin. Ein Blitz, ein Schlag,
Ein Zufall, den kein Mensch gedacht,
Hat Viele schnell in's Grab gebracht.«

Endlich ward es auch draußen still und Andreas fühlte, daß der Augenblick gekommen war, wo die todten Kameraden in das kühle Grab gesenkt wurden. Er vermochte gegen die Thränen nicht länger mehr anzukämpfen und überließ sich dem Schmerze, den er um die Dahingeschiedenen, sowie um deren Hinterbliebene empfand. Aber auch der treue Pfälzer weinte wie ein Kind, und wahrlich, solche Thränen schänden den Mann nicht, denn es sind edle Perlen, im Herzen erzeugt.

Als eine Stunde später sich die Stubenthüre öffnete und die Mutter und Ruppert, von ihrem ernsten Gange zurückgekehrt, in's Zimmer traten, fand eine Scene des Wiedersehens statt, die zum Mindesten so ergreifend war, als jene des Abschieds, die sich kurz zuvor auf dem Friedhofe im Thal abgespielt.

Und als Andreas endlich Worte gefunden und in der zärtlichsten Weise Mutter, Bruder und Freund zum so und so vielsten Male an sein klopfendes Herz gedrückt, wandte er den Blick zum Himmel empor und betete, während die Andern leise niederknieten:

»Mit welchem Dank, o Gott,
        Soll Dich mein Lied erheben?
Nur Deine Vaterhuld
        Erhielt mir noch das Leben.
Dem Tode war ich nah';
        Schon sah' ich für mein Leben
Mit trübem Thränenblick
        Verwandt' und Freunde beben.
Doch Du belebtest, Herr,
        Von Neuem meine Glieder;
So gabst Du nochmals mich
        Den lieben Meinen wieder.
Nur durch dies Leben selbst
        Will ich Dir Dank beweisen,
Mit meinem Geiste Dich
        In diesem Leben preisen;
Dir jeden Augenblick
        Von meinen Tagen weih'n,
Um ewig einst bei Dir
        Des Lebens werth zu sein!«

Und: »Amen! ... Amen! ... Amen!« erklang es andachtsvoll von den Lippen dreier glücklicher, Gott so überaus dankbarer Menschen.


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