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1.

Wohl dem, der den Herrn fürchtet und auf seinen Wegen gehet.

(Ps. 128,1.)

 

Im südwestliches Theile des Badener Landes liegt, unweit der Ausmündung des engen Wehrathals, das Dörfchen Dossenbach. Die kleine Häusergruppe bietet nichts Anziehendes, macht sogar einen ärmlichen Eindruck: um so romantischer ist das Panorama rings um den Ort. Schroffe Porphyrkegel steigen im Osten auf, während sich im Westen die Muschelkalkhügel des Dinkelbergs erheben; der Norden zeigt das tiefe Blauschwarz des Schwarzwalds mit seinen Schluchten und Thälern, der Süden dagegen eröffnet einen Ausblick in das Land der Berge und Matten, der herrlichen Schweiz. Ernst grüßen aus nebelgrauer Ferne die Riesen des Berner Oberlands herüber, hin und wieder grelle Blitze entsendend, wenn ein voller Sonnenstrahl die ewige Schneedecke streift, welche die Gipfel der Felsen umgiebt. Immer und immer wieder wendet sich der Blick diesem, die Größe und Allmacht Gottes verkündenden Bilde zu, von dem sich zu trennen Jedermann schwer fallen dürfte, in dessen Brust ein warmes, für die Schönheiten der Natur empfängliches Herz schlägt.

In demselben Falle schien sich ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren zu befinden, der an einem Sonntagnachmittag des Frühlings 1857 auf einem der Hügel des Dinkelbergs sich niedergelassen hatte und unverwandt nach den schneeigen Häuptern des Berner Oberlands blickte. Seine Kleidung verrieth den Bauersmann; ein weiter Hemdkragen bedeckte den obern Theil der rothen Weste, an welche sich eine lange, schwarze Jacke schloß; kurze, gefältete Pumphosen von derselben Farbe, weiße Strümpfe, Schuhe mit rothen Bändern und endlich ein breitrandiger, niedriger Filzhut vollendeten den schmucken Anzug des im Anschauen der Landschaft versunkenen Bauernburschen. Sein Gesicht war nicht schön zu nennen, denn es trug mehr oder weniger die groben Züge seiner Abstammung; aus den tiefblauen Augen aber sprühte ein edles Jugendfeuer, sprach ein biederes, treuherziges Wesen, sowie eine unbegrenzte Verehrung und Dankbarkeit gegen Gott, den Schöpfer aller Dinge.

Andreas, wie unser neuer Bekannter heißt, mochte länger als eine Stunde auf dem moosigen Gesteine gelegen haben, als sich plötzlich von der nahe vorbeiziehenden Straße her ein lustiger Singsang vernehmen ließ und bald nachher mehrere Burschen auftauchten, welche, die Arme kreuzweise um des Andern Nacken geschlungen, eine feste Kette bildeten und regelrecht daher marschirt kamen.

Eben stimmten sie ein neues Lied an:

»s Bäumli blüeiht und 's Brünnli springt.
Potz Tausig los, wie 's Vögeli singt!
Me het si Freud und frohe Mueth,
Und 's Pfifli, nei, wie schmeckt's so guet!«

Die letzte Strophe war kaum gesungen, als sie auch schon den Worten die That folgen ließen und ein Jeder aus der Jacke einen kurzen Pfeifenstummel hervorzog, dessen Inhalt schnell in Brand gesetzt wurde.

Diese kurze Unterbrechung im Weitermarschiren trug die Schuld, daß die fidelen Bursche den seitwärts lagernden Andreas bemerkten.

»Da schau hin,« rief der Aelteste dem Mittleren zu, »dort sitzt der Bruder Pfarrer und heckt eben eine neue Predigt aus.«

»Ist mir gleichgiltig,« lautete die Antwort, »meinetwegen mag er thun, was er will, – sobald er nur mich mit seinem Gesalbader in Ruhe läßt.«

»Leider sprichst Du die Wahrheit, Ruppert,« ergriff jetzt der geschmähte Andreas das Wort. »Du hassest mich in Deinem Herzen, weil ich Deinem Lebenswandel entgegen bin; ach, und dennoch habe ich Dich so herzlich lieb, wie nur ein Bruder den andern lieben kann.«

»Paßt auf,« höhnte Ruppert, »jetzt wird er gleich eine Stelle aus der Bibel aufschlagen und beginnen: ›Und es stehet geschrieben –‹... hahaha!«

Die Kameraden stimmten in das Lachen ein, während die Augen von Andreas sich mit Thränen füllten, die das Panorama, welches vor ihm lag, tief verschleierten.

»Laß das Kopfhängen sein,« redete ihn der Jüngste an, welcher gleichzeitig der Gutmüthigste der drei Burschen war. »Mach's wie wir und sei lustig und guter Dinge; das Trübsalblasen führt ja doch zu nichts.«

»Ich lasse weder den Kopf hängen, Christof, noch blase ich Trübsal,« widersprach Andreas, »sondern freue mich meines Lebens so sehr, wie Du, ja, vielleicht noch ein gut Theil mehr.«

»Wenn dem so ist,« hub der Aelteste an, »warum machst Da Dich alsdann so rar and sonderst Dich von den Burschen im Dorfe ab?«

»Weil er sich auf seine Frömmigkeit etwas einbildet,« fiel Ruppert höhnisch ein, »weil der Hochmuthsteufel in ihn gefahren ist und ihn stolz gemacht hat.«

»Das lügst Du!« rief der Bruder in gerechtem Zorn, »Du weißt am Besten, wie gern ich in Gesellschaft von Freunden und Kameraden bin und mich freuen würde, den Sonntag mit ihnen zu verbringen; allein meine Mittel sind zu beschränkt, so daß ich nicht daran denken darf, im Wirthshaus Bier und Wein zu trinken, wie Alle es thun. Meine Pflicht erheischt es, für meine arme, alte Mutter zu sorgen und ich danke Gott für diese Gnade, welche er mir noch recht lange gewähren möge.«

Diese Rede stimmte die Burschen, mit Ausnahme Ruppert's, ernst; der rohe Bruder aber fuhr fort, über Andreas seine Glossen zu machen und ruhte nicht eher, als bis die beiden Kameraden in sein höhnisches Lachen von Neuem einstimmten.

»Na, wie steht's,« fragte endlich Christof, »willst Du mit uns nach dem Wirthshaus kommen, Andreas, wenn wir Dich einladen, unser Gast zu sein? Oder willst Du nach wie vor hier auf dem Steine liegen bleiben und in die Luft gucken?«

»Ich danke Dir für Deine Einladung,« versetzte Andreas freundlich, »allein ich vermag mich von der herrlichen Aussicht nicht zu trennen; darum zieht Eures Wegs und seid fröhlich.«

»Hahaha,« lachte Ruppert und fügte mit einer spöttischen Handbewegung hinzu: »Adieu, Ihro Ehrwürden, Herr Pfarrer.«

Unter allgemeinem Halloh schlangen die Drei ihre Arme wieder um die Nacken und im Weitergehen ertönte es von ihren Lippen:

»'ne G'sang in Ehre,
Wer will's verwehre?
E freie frohe Mueth,
E g'sund und fröhlich Bluet
Goht über Geld und Guet.«

Andreas blickte ihnen mit einem schmerzlichen Lächeln nach, bis der nächste Hügel sie seinem Gesichtskreis entzog, dann wandte er die tiefblauen Augen wieder der grauen Ferne zu, wo die Gletscher in ihrer hohen Majestät thronten. So saß er lange, lange da, bis die Sonne sich zur Rüste anschickte und die Gipfel der Bergriesen in ihr Feuermeer tauchte, auf diese Weise gleichsam den Abendsegen über die gesammte Natur aussprechend. Und Andreas empfand den religiösen Hauch, der durch Gottes Schöpfung ging, und faltete seine Hände zu einem kurzen, aber innigen Gebete, dabei unausgesetzt nach den fernen Bergen blickend, von denen er sich nicht zu trennen vermochte, bis endlich die Schatten des Thals die steilen Höhen erklommen und das paradiesische Bild in tiefe Dämmerung hüllten. Da erhob sich der Jüngling und schritt dem Dörfchen zu. Am Eingange desselben stand das Wirthshaus, aus dessen Innerm lärmende Stimmen ertönten. Andreas unterschied aufs Deutlichste die Stimme seines Bruders, welche jetzt jene Heiserkeit angenommen hatte, wie sie der übertriebene Genuß geistiger Getränke mit sich zu bringen pflegt. Andreas zuckte schmerzlich zusammen, seufzte tief auf und schritt langsam weiter, bis er endlich die armselige Hütte erreicht hatte, welche sein Heim barg. In der Kammer, denn Stube konnte man den engen Raum unmöglich nennen, herrschte bereits vollkommene Dunkelheit, dennoch ging der Jüngling mit einer Sicherheit, als ob es lichter Tag sei, nach der entgegengesetzten Eck, woselbst er einer unsichtbaren Person in herzlichstem Tone »guten Abend« bot.

»Schon da, Andreas?« erwiederte eine weibliche, etwas zitternde Stimme, »hab' gedacht, daß Du heut' einmal lustig sein und zu Tanz gehen würdest, o es thät Dir wirklich Noth, armer Schelm, da Du ja nur einmal im Monat einen freien Sonntagnachmittag hast.«

»Ei Mutter,« entgegnete Andreas, »ich habe heute mehr Genuß gehabt, als wenn ich auf dem Tanzboden gewesen wäre.«

»Kann mir's schon denken, Du warst wieder auf Deinem alten Plätzchen, am Dinkelberg, und hast da hinausgeschaut nach den fernen Bergen. Ach ja, ich möchte sie wol auch sehen, allein meine Augen sind mit den Jahren blöde geworden und erkennen kaum mehr, was zwei Schritte vor ihnen liegt.«

Diesen Worten folgte ein Seufzer und dann das Geknister eines angezündeten Schwefelholzes; wenige Sekunden später wurde die Kammer von einer ärmlichen Oellampe nothdürftig erhellt. Bei ihrem Scheine erwies sich jetzt, daß Andreas nicht zu viel gesagt, wenn er von seiner »armen« Mutter gesprochen hatte; die Greisin mit den welken Zügen, der schlaffen Haut und dem humpelnden Gang war allerdings der Unterstützung mehr als bedürftig. Noch vor wenigen Jahren hatte sie sich einer blühenden Gesundheit erfreut, und mit ihrem bescheidenen Loose zufrieden, wohlgemuth in die Welt geblickt; plötzlich und unverhofft aber war der Trost ihres Herzens, der Vater ihrer beiden Söhne, durch den unerbittlichen Tod ihr entrissen worden. Er war nur ein einfacher Mann gewesen, so schlicht wie sie, allein in seinem Herzen hatte der Engel der Liebe gethront, jener Genius, der häufiger in der Hütte der Armuth, als in den Palästen der Reichen zu finden ist, und unter seinem Schutz und Schirm waren die beiden Herzen der Ehegatten in eines zusammengeschmolzen und keines vermochte ohne das Andere zu leben. Da kam der Tod und drückte Andreas' Vater die müden Augen zu und seine treue Resi weinte und jammerte und umschlang noch den leblosen Körper, als er bereits im Sarge lag; sie konnte sich nicht von ihm trennen, sie war gewiß, daß sie in wenigen Tagen an seiner Seite schlummern werde. Allein der Tod kommt nicht, wenn ohnmächtige Menschen ihn rufen, und auch das Herz bricht, trotz aller Liebe, nicht so leicht, als man denkt. Die arme Wittwe blieb am Leben, ihr Lebensmuth aber war dahin und mit ihm all' ihre Kraft; binnen kurzer Zeit reifte sie zur Greisin, der schmerzliche Kampf in ihrem Herzen färbte das dunkle Haar ihres Hauptes schneeweiß, ihre schlanke Gestalt krümmte sich unter dem Schicksalsschlage, – allein ihr liebevolles, nach dem abgeschiedenen Gatten so heiß verlangendes Herz brach nicht, wie sie es geträumt und ersehnt hatte. Der dunkle ernste Epheu, welcher den kleinen Hügel des verstorbenen Gatten schmückte, breitete seine Ranken, gleich schützenden Armen, über das Grab aus, und als er es endlich dicht überdeckte, erstand für die arme Wittwe ein treues Spiegelbild des Dahingeschiedenen, und zwar in dem ältesten Sohne, Andreas, der gleich dem Epheu aus einem schwächlichen Knaben zu einem kräftigen Jüngling sich rasch entfaltete und nunmehr in seinem ganzen Wesen dem seligen Vater so glich, daß oft die arme Resi wähnte, sie sei wieder jung geworden und die Zeit zurückgekehrt, wo sie eine glückselige Braut gewesen war; trotz der Täuschung lebte sie dennoch wieder auf, denn alle ihre Liebe hauchte sie jetzt gegen Andreas aus, und vielleicht würde in ihrem Herzen ein stilles, wenn schon von leiser Wehmut begleitetes Glück eingezogen sein, hätte ihr um ein paar Jahre jüngerer Sohn dem Bruder geglichen; dem war aber nicht so, Ruppert vielmehr einem unbegrenzten Leichtsinn verfallen, der, aus einer niedern Genußsucht entspringend, ihn möglicher Weise auf den Weg des Lasters führen konnte. Beide Brüder verrichteten Taglöhnerarbeit aus dem Anwesen eines begüterten Bauers. Andreas jedoch war der Einzige, welcher seinen Lohn am Samstag der Mutter brachte, während Ruppert an diesem sowie an dem darauffolgenden Tage selten zu sehen war und meist erst am Montag wieder zum Vorschein kam; dann aber stets mit leerem Beutel, denn den sauer verdienten Lohn hatte er in wilder Lustigkeit verpraßt. Alle Ermahnungen fruchteten bei ihm nichts, und als Andreas dennoch mit seinen brüderlichen Bekehrungsversuchen fortfuhr, wandelte sich die ehemalige Liebe Ruppert's gegen ihn in Haß und offene Feindschaft um. Zuguterletzt wußte es der schlaue Ruppert durchzusetzen, daß die Mutter aus eigenem Antriebe an ihn die dringliche Bitte stellte, sich anderweit eine Schlafstelle zu suchen, damit endlich der fortwährende Zank und Hader in dem kleinen Häuschen aufhören und der Frieden zurückkehren möchte, der ehemals darin gewaltet. Mit großer Freude willigte der leichtsinnige Bursche ein; war er ja doch nunmehr sein eigener Herr, der über sein Kommen und Gehen keiner Menschenseele Rechenschaft zu geben hatte. Die traurigen Folgen dieser Selbstständigkeit zeigten sich leider nur zu bald; Ruppert, nach Genuß und Vergnügen trachtend, wurde arbeitsscheu und ließ sich infolge dessen in seinem Dienst so Manches zu schulden kommen, das sein Herr, der Flurenbauer, streng rügte. In der letzten Zeit war es sogar zu verschiedenen Malen geschehen, daß Ruppert einen ganzen Arbeitstag versäumt und verschlafen hatte, – eine unausbleibliche Folge seiner Nachtschwärmerei. Der rechtliche Andreas litt angesichts dieses nicht zu entschuldigenden Leichtsinns um so mehr, als er die schlimmen Streiche Ruppert's der Mutter verschweigen mußte, denn die alte Frau kränkelte mehr und mehr, und Pflicht und Vorsicht erheischten es, sie in jeder Weise zu schonen. Unter solchen Umständen begrüßte es Andreas freudig, daß der Zeitpunkt erschienen war, wo der leichtsinnige Bruder sich zum Militär stellen mußte. Es unterlag keinem Zweifel, daß Ruppert für tauglich befunden würde, denn er war ein kräftiger, hochgewachsener Bursche.

»Noch vor einem Jahre bangte mir vor dem Augenblicke der Trennung,« äußerte Andreas am Abend vor Ruppert's Abmarsch zur Mutter, welche still vor sich hinweinte, »denn ich konnte mir nicht denken, daß ich ohne des Bruders Gesellschaft bestehen könnte. Jetzt aber sehe ich die Trennung von Ruppert als dessen Rettungsanker an und bin gewiß, daß er als ein tüchtiger, braver Mann vom Militär zurückkehren wird, darum weine nicht, Mutter.«

Andreas hatte sich insofern nicht verrechnet, als Ruppert für den Militärdienst als tauglich erklärt wurde; an Eines aber hatte der gute Andreas nicht gedacht, nämlich an die Möglichkeit, daß ein Angeworbener sich auch freilosen könne und dem Ruppert – widerfuhr dieses Glück. An einem Samstag kehrte er mit noch zwei andern Burschen, welche gleichfalls vom Militärdienst befreit worden waren, nach dem heimatlichen Dorfe wieder zurück, und alle Drei zogen jubelnd und jauchzend durch die stille Dorfgasse dem Wirthshause zu, wo sie sich bei Wein und Bier gütlich thaten. Mutter und Bruder warteten umsonst auf Ruppert; er hielt es nicht der Mühe Werth, sein Glück den Beiden zu verkünden.

»Sie werden es schon so erfahren,« äußerte er zu den Zechgenossen, »und obwol ich gern das sauertöpfische Gesicht des Andreas gesehen hätte, der sich natürlich schwer darüber ärgert, daß ich nicht Soldat werden muß, so will ich mir doch das Wiedersehen ersparen, – die Mutter spricht mir zu viel aus der Bibel und von Tod und ewiger Verdammniß; bei mir aber gilt das alte Wort: ›Lustig gelebt und selig gestorben, heißt dem Teufel die Rechnung verdorben!‹«

Die Widerlegung dieses Wahrworts:

 

»Doch dem Teufel zur Freude folgt eben
Seliges Sterben schwer lustigem Leben!«

... kannte der leichtsinnige Bursche freilich nicht, und so zog er denn mit seinen Kumpanen auch am Sonntage hin und her, singend, lärmend und rauchend, von der Gasse in's Wirthshaus und von diesem wieder in's Freie. Und auf diesem unsteten Wanderzuge haben wir seine Bekanntschaft gemacht und bei dieser Gelegenheit gleichzeitig das erste Wiedersehen der beiden Brüder beschrieben. Vielleicht findet jetzt der Leser den tief schmerzlichen Blick des armen Andreas, als er den drei singenden Burschen nachsah, erklärlich.


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