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7.

Und sie fuhren in den Abgrund.

(Ps. 107, 26.)

 

Obgleich der Bruder Pfälzer bei seinem Werkführer sich krank gemeldet hatte, vermochte er dennoch nicht in seinem Zimmer zu bleiben. Ohne Aufhören dachte er an Andreas, und eine unsichtbare Macht zog ihn nach dem von grünen Hügeln umgebenen Bergkessel hin, in welchen der in die Tiefe führende Schacht mündete. Da es indessen nicht gut anging, daß Freund Nadler als Patient sich daselbst sehen ließ, so begab er sich zu den Wirthsleuten von Andreas, von deren Häuschen aus man genau den Schacht sehen konnte. Der treuherzige Pfälzer hatte den Bauersleuten seine Besorgniß wegen Andreas mitgetheilt und von ihnen die Einladung erhalten, während des ganzen Tages in dem kleinen untern Wohnstübchen zu bleiben; außerdem gab sich der freundliche Hausherr alle Mühe, seinen aufgeregten Besuch zu zerstreuen, zu welchem Zwecke er nach eingenommenem Mittagsessen zu ihm sagte:

»Jetzt müßt Ihr einmal mit nach meinem Stalle kommen und meine Kühe sehen. Ich sage Euch, das sind wahre Prachtexemplare, und Ihr könnt weit und breit umherlaufen, ehe ihr solches Vieh findet.«

Nadler folgte dem freundlichen Bauersmann und war mit demselben eben erst in den Stall getreten, als die Hausfrau daher gerannt kam und Beiden zurief:

»Kommt doch schnell einmal mit vor die Thüre. Vielleicht täusche ich mich, allein es ist mir, als ob aus dem hölzernen Schlot des Schachts ungewöhnlich viel Rauch aufstiege.«

Der Pfälzer erblaßte und mußte sich an einem Pfosten des Viehstalles halten; doch faßte er sich rasch wieder und eilte mit den Bauersleuten vor das Haus.

Die Frau hatte leider nur zu wahr gesprochen, denn aus allen Fugen und Ritzen des Schlots drangen dichte Rauchwolken hervor.

»Barmherziger Gott!« rief Nadler, die Hände zusammenschlagend, aus. »Dieser Qualm kann unmöglich von dem Schmiedeschornsteine herrühren! Horcht nur, wie's im Schachte drinnen knistert!«

In demselben Augenblick schlug eine flammende Feuersäule zischend aus dem Schachte empor, den hölzernen Schlot gierig verzehrend.

»Gnädiger Gott!« schrieen die Bauersleute, »der Hauenstein brennt! Helfet, – löschet!«

Mit diesem Angstgeschrei stürzten sie nach den Nachbarhäusern hin, in deren Thüren bereits die Bewohner erschienen. Nadler blieb jedoch wie festgebannt stehen, unverwandt nach der Feuersäule starrend, welche jetzt angebrannte Bretter wie Spielkarten in die Höhe schleuderte. Der Schacht schien in der That zu einem feuerspeienden Berge geworden zu sein, – ringsum regnete und prasselte es von Steinen, Felsstücken und lodernden Balken. Und über dem riesigen Flammenstrahl stieg und wirbelte eine endlose Rauchsäule gen Himmel, welche Meilen weit bemerkt wurde. Wer weiß, wie lange Nadler noch rath- und thatlos da gestanden wäre, hätten ihn nicht einige Arbeiter, welche eben von ihren Höfen herkamen, um an ihr Geschäft zu gehen, aus seinem Banne erlöst, indem sie ihm zuriefen:

»Schnell, den Hauenstein hinunter, zum Eingang des Tunnels!«

Sofort schloß sich der Pfälzer den Leuten an, nur von dem einen Gedanken beseelt, den im Tunnel weilenden Andreas zu retten. Sie waren indessen nicht die Ersten, welche vor dem Eingange anlangten, vielmehr herrschte dort ein wildes Durcheinander, ein Hin- und Hereilen, Fragen, Rathen und Befehlen, und dazwischen der stete Jammerruf: »Helfet! Um Christi Barmherzigkeit willen, helfet!« Nur zu bald stellte es sich heraus, daß von hundertundzwanzig Arbeitern, die sich im Tunnel befunden, etliche sechzig zwar dem dumpfen Grabe entsprungen, zweiundfünfzig dagegen hinter den glühenden Trümmern des herabgestürzten Holzthurms und Schutts so gut wie begraben waren.

»Mein Gott!« jammerten einzelne der herbeigeeilten Arbeiter, welche unter den im Schachte Verschütteten Verwandte hatten, »wie konnte dies Unglück nur geschehen?« Die Antwort auf diese Frage blieb eine Weile aus, bis endlich jene beiden Schmiede anlangten, mit denen Andreas am Vormittag gesprochen. In wilder Hast und namenloser Aufregung berichteten sie:

»Es ging Alles ganz gut und der Luftzug im Schachte wurde in Folge des im Roste angezündeten Feuers immer frischer und kühler. Da rief plötzlich kurz nach zwölf Uhr der Heizer in unsere Schmiede hinunter:

›Es brennt im Schacht!‹ Wir warfen sogleich die Hämmer weg, eilten hinaus, lugten in den Schacht hinauf und sahen ihn in hellen Flammen. In wenigen Augenblicken riefen wir in den Tunnel hinein: rettet Euch! und einem Handlanger ertheilten wir den Befehl, sofort nach Nro. 18 und 19, also der hintersten Abtheilung des Tunnels zu stürzen und den Arbeitern dort zuzurufen, daß der Schacht brenne und sie sich retten sollten. Der Bursche that denn auch, wie ihm geheißen worden war, sah sich aber verhöhnt und verlacht. In Nro. 19 aßen eben vier Arbeiter ihr Mittagsbrod und sie sowol als noch ein Fünfter, der bei der Arbeit war, ließen sich nicht stören und entgegneten äußerst ruhig: es sei nicht der erste April. Nur einige Wenige folgten dem mahnenden Rufe, zumal das Feuer erst von Nro. 15 aus zu sehen war. Wenige Minuten später stürzten aus dem brennenden Schachte bereits glühende Balken und Steine in die Tiefe. Verschiedene Arbeiter wichen verzagt vor diesem Feuerregen zurück, bis sie endlich, durch die dem Feuer entronnenen Kameraden ermuthigt, den Sprung wagten und auch glücklich entkamen.«

»Wie war es aber nur möglich, daß die in der hintersten Abtheilung Arbeitenden dem mahnenden Ruf des Handlangers nicht Glauben schenkten?« erklang es jetzt aus der versammelten Menge.

»Das will ich Euch sagen,« entgegnete ein ältlicher Mann, der unter dem Kommando von Andreas gestanden und sich noch rechtzeitig geflüchtet hatte. »Verschiedene von unserer Mannschaft hatten am Morgen ein Gespräch mit angehört, das unser Aufseher, der Andreas, mit den zwei Schmieden geführt. Das im Schachte angezündete Feuer fand seinen Beifall nicht und er sprach die Befürchtung aus, daß die Holzgewandung sehr leicht in Feuer aufgehen könne, was denn leider auch geschehen ist. Allein die Schmiede lachten ihn aus. Als nun der Handlanger mit dem Rufe: ›Rettet, rettet Euch!‹ in unsere Abtheilung stürzte, glaubte die Mehrzahl, daß es ein Schabernack sei, den Andreas mit dem Handlanger insgeheim verabredet.«

»Ach Gott, ja,« ließ sich jetzt die klagende Stimme des betreffenden Handlangers vernehmen, »sie wollten es mir nicht glauben und auch dem Andreas nicht, der Alle beschwor, doch so schnell als möglich zu entfliehen. Ach, Du mein Himmel, der gute Mensch ist nicht da; er hat mich vorausgeschickt und ist selber noch tiefer in den Tunnel hineingesprungen, um die Andern zur Flucht anzutreiben und Keinen zurückzulassen.«

Am Ausgange des Tunnels befand sich eine Anzahl von Arbeiterwohnungen; aus allen diesen kleinen Häusern stürzten Männer, Frauen und Kinder und alle suchten in den Reihen der dem Tode Entsprungenen die Ihrigen. Namen wurden gerufen und in verzweifelnder Angst gefragt: »Ist mein Vater da? ... Habt Ihr meinen Sohn gesehen? ... O Gott, mein Bruder wird sich doch wol gerettet haben!« Und während hier ein freudiger Aufschrei ertönte, brach dort ein lautes Jammern aus, das den im Bergesinnern verschütteten Angehörigen galt. Allein nicht lange verharrte man in müßigem Jammer; bald brach der Ruf: »Auf, auf! Zur Rettung der Brüder!« sich Bahn und Alles stürzte, mit dem nöthigen Handwerkszeug versehen, in den Tunnel hinein, den Rauch und Qualm nicht achtend, da es galt, den brennenden Trümmerwall zu durchbrechen und den armen Kameraden ein Thor zu öffnen. Allein die Mißgunst der Verhältnisse war stärker als der Wille; nur zu bald sahen sich, infolge des überhand nehmenden Rauches, die Arbeiter genöthigt, den Tunnel wieder zu verlassen und frische Luft zu schöpfen. Allein sobald sie sich erholt, eilten sie von Neuem hinein, Andere abzulösen und die Arbeit fortzusetzen. So ward mit Aufbietung aller Kräfte bis Abends acht Uhr, wo man bereits acht Fuß vorgedrungen war, ohne Aufhören gegraben und geschaufelt, und man gab sich umsomehr der Hoffnung hin, noch im Laufe der Nacht den Wall zu durchbrechen und die Eingeschlossenen zu erlösen, da es mehr als wahrscheinlich war, daß die Letztern sich gleichfalls heraus zu arbeiten suchen würden.

Inzwischen waren durch die weithin sichtbare Feuer- und Rauchsäule eine Menge Leute aus den umliegenden Ortschaften zur Brandstätte geeilt, und zwar in der redlichen Absicht, dem Unglücke kräftig entgegen zu steuern, wie die mitgebrachten Feuerspritzen und andere Geräthe bewiesen. Der entsetzliche Brand hätte leicht die zunächst stehenden Häuser und somit das ganze Dorf Hauenstein ergreifen können, weshalb es denn die zur Hilfe Herbeigeeilten zunächst für geboten erachteten, die von der Feuersgefahr bedrohten Hütten zu schützen. Erst nachdem dies geschehen, begann man zu berathen, auf welche Weise das im Schachte noch immer wüthende Feuer zu dämmen sei. Einige schlugen vor, den Schacht oben luftdicht zu verschließen, damit das Feuer ersticke; Andere meinten jedoch, daß durch diese Maßregel den Eingeschlossenen die zum Athmen nothwendige Luft entzogen werde. Andere wiederum riethen, das Feuer austoben zu lassen, zumal die auflodernden Flammen im Tunnel einen frischen Luftzug erzeugen würden. Die Mehrzahl aber huldigte der Ansicht, das Feuer durch Wasser zu löschen, und obgleich Viele auf die Gefahr aufmerksam machten, daß dadurch im Tunnel ein erstickender Dampf erzeugt werde, der den Verschütteten unbedingt gefährlich und jenen im Tunnel emsig an dem Rettungswerk thätigen Arbeitern hinderlich werden müsse, so wurde der Schacht dennoch bis auf eine Oeffnung von etwa zwei Fuß gedeckt. In unmittelbarer Nähe befand sich ein Teich, von welchem aus nach dem Schachte die Rettungsmannschaft eine Kette bildete und sich gegenseitig die Eimer reichte, bis der Teich in den Schacht geleert war. Die Widersinnigkeit dieses Verfahrens sah von den Betreffenden Niemand ein, weshalb man denn auch die ganze Nacht bis zum Freitag Mittag fortfuhr, den brennenden Schacht unter Wasser zu setzen. Aber nur zu bald zeigten sich die traurigen Folgen. Bis gegen zehn Uhr am Donnerstag Abend hatten die Arbeiter am Tunneleingang rüstig fortarbeiten können. Jetzt aber entwickelte sich Stickluft und die Arbeiter sanken betäubt zu Boden. Trotzalledem ließen sie jedoch in der Rettungsarbeit nicht nach, sondern zeigten vielmehr einen Heldenmuth, wie er sich während einer Schlacht nicht tapferer und schöner bewähren kann. Sie setzten das eigene Leben ein, um Andern das Leben zu retten und brachten sich lieber selbst zum Opfer.

Wir brauchen nicht erst hinzuzufügen, daß in dieser todesmuthigen Reihe der Bruder Pfälzer einer der Ersten war; sein Leben galt ihm nichts mehr, seitdem jenes des Freundes in so namenloser Gefahr schwebte. Am Freitag Morgen hatte die Stickluft derart zugenommen, daß die im Tunnel angezündeten Lichter kaum noch brennen wollten, und in dem finstern gewölbten Gange lagen schon in Menge die Arbeiter betäubt und mit dem Erstickungstode kämpfend am Boden. Wol wurden sie aufgenommen und in die frische Gottesluft gebracht, allein so Mancher athmete, noch ehe er das goldene Tageslicht erblickte, seine Seele aus. Bald lag eine große Anzahl dieser todesmuthigen Brüder bewußtlos und sterbend vor dem Eingange des Tunnels.

Mit blutendem Herzen mußte auch Nadler von dem ferneren Weiterarbeiten im Tunnel abstehen, denn die vergifteten Dünste verbreiteten und verstärkten sich immer mehr. Nach längerem Hin- und Hersinnen entschloß er sich, nach Dossenbach zu eilen und in schonendster Weise der armen alten Mutter seines verunglückten Freundes die traurige Kunde mitzutheilen. Er wußte, daß er im Sinne des verschütteten Andreas handelte, welcher seine Mutter über Alles geliebt hatte. Während der Bruder Pfälzer seine Wanderung antrat und von Zeit zu Zeit sich immer wieder nach dem Hauenstein umwandte, dessen finsterer Schlund den armen Andreas und seine Kameraden verschlungen, – stellte man am Ort des Unglücks allerlei Versuche an, den Pesthauch des Tunnels zu verdrängen und gesunde Luft hinein zu bringen. Vermittelst großer Feuerspritzen wurde Salzwasser in den Tunnel getrieben, allein die giftigen Dünste rührten sich nicht von der Stelle und die Spritzenmannschaft wurde ohnmächtig. Nunmehr zündete man große Strohfeuer an, sodann nahm man zu breiten Segeln, die auf Wagen schnell vor- und rückwärts bewegt wurden, seine Zuflucht, – allein alle diese Hilfsmittel erwiesen sich als nutzlos, und es blieb zuletzt nichts übrig, als Röhren in den Tunnel zu legen und mit Luftpumpen die giftigen Dünste zu verdrängen. Rasche, schleunige Hilfe that noth und jede Stunde war kostbar, daher wurde denn auch fern und nah, in Luzern, Basel, Zürich und Aarau Tag und Nacht an den Röhren gearbeitet. Am Montag früh ging bereits die Röhrenleitung 2200 Fuß in den Tunnel hinein und am Eingang arbeitete der Ventilator, getrieben von dem aus dem Tunnel strömenden Bache, welcher sich durch den Schuttkegel inzwischen Bahn gebrochen hatte. Und in der That verbesserte sich, je weiter die Röhren vorgeschoben wurden, immer mehr und mehr die Luft.

Von der entsetzlichen Erwartung, die sich auf dem Antlitz Derer malte, die theure Angehörige unter den im Tunnel Verschütteten hatten, wollen wir lieber schweigen, zumal der weitere Verlauf der traurigen Katastrophe noch genug der trübsten Bilder bietet. Nur eines Geschwisterpaars sei Erwähnung gethan, das stundenlang vor dem Tunnel auf einem Steine saß und wartete, ob der Bruder, von dessen Erstickungstode sie fest überzeugt waren, alsbald gefunden werde. Und als endlich am zweiten Juni seine Leiche mit noch drei Andern aus dem Tunnel herausgetragen wurde, führte das Geschwisterpaar, sich fest umschlungen haltend und heiße, bittere Thränen vergießend, in einer wahrhaft heiligen Stille den todten Bruder auf den Gottesacker ihres Dorfes. An demselben Vormittag erreichte die Röhrenleitung 3000 Fuß und Nachmittags endlich den Schuttkegel. Mit voller Kraft ging man an den Durchbruch desselben, obschon die Arbeit ebenso mühsam als gefahrvoll war, denn es galt einen acht Fuß hohen und vier Fuß breiten Stollen zu öffnen. Mit todesmuthigem Trotze gruben sich die Arbeitenden durch glühenden Schutt und verkohlte Balken hindurch und ein freudiger Aufschrei ertönte, als man am nächstfolgenden Morgen einen offenen Raum vor sich sah.

»Gott sei gelobt!« klang es einmüthig von den Lippen der Arbeiter. »Der Wall ist durchbrochen und Hilfe und Rettung für unsere armen Verschütteten nahe. Rufen wir ihnen zu, geben wir ihnen ein Zeichen mit unsern Signalhörnern.«

Es geschah; allein keine Antwort erfolgte, und in dem finstern Gefängnisse blieb Alles todtenstill, nur Verwesungsdünste stiegen auf. Die Röhren wurden weiter vorgeschoben, wobei es sich zeigte, daß man zu früh gejubelt hatte und der Schuttkegel noch nicht durchbrochen war. Der offene Raum, in den man gesehen, wurde durch heruntergestürzte Balken, die sich gegenseitig feststemmten, gebildet, und jenseits desselben mußte weiter gegraben werden. Am Abend des vierten Juni, also sieben Tage nach dem Einsturz, war endlich das schwere Ziel erreicht und der Durchbrach vollendet.

In treuer, anstrengender Arbeit hatte die Rettungsmannschaft Tag und Nacht in dem Tunnel verbracht, dennoch kam ihre Hilfe zu spät und der Tod feierte einen glänzenden Sieg. Bis Freitag Mittag hatte man bereits einunddreißig Leichen aufgefunden.


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