Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX. Nach einer Lektüre.

Florenz, 1. Nov. 1880.

Alle Pariser Zeitungen haben die Studie über Mme. du Deffand abgedruckt, welche Herr Caro vorigen Montag (25. Oktober) in der öffentlichen Jahressitzung der Fünf Akademien Frankreichs vorgelesen hat. Die Arbeit enthält wenig oder nichts Neues; sie ist elegant geschrieben, wie alles, was aus dieses Schriftstellers Feder fließt; aber im Grunde sind's doch nur Variationen über die tausendmal wiederholten Themen vom Egoismus, der Langeweile und der Leere Mme. du Deffand's: Herr Caro fürchtet zu sehr für paradoxal zu gelten, um sich eine Revision der überlieferten Urtheile zu erlauben. Allerdings haben die vielen Kritiker, welche den kleinen Aufsatz so laut angepriesen, eine Neuigkeit darin sehen wollen, daß der Akademiker in Mme. du Deffand das ganze untergehende 18. Jahrhundert personifiziert, um es dem 19. entgegenzustellen, welches mit Rousseau coi seguaci sui begänne. Aber hat nicht etwa schon Sainte-Veuve vor dreißig Jahren gesagt, »Mme. du Deffand repräsentiere das Jahrhundert vor Jean Jacques?« Nichts könnte richtiger sein, und ich denke nicht daran, Herrn Caro einen Vorwurf daraus zu machen, diese These entwickelt zu haben, ohne auch nur den Namen dessen zu nennen, der dieselbe aufgestellt. Nur möge es Jemandem, der weniger Angst vor Paradoxen und weniger Ehrfurcht vor angenommenen Meinungen hat, erlaubt sein, wenigstens einen Versuch zu machen, diesen Gegensatz zwischen den beiden Jahrhunderten in's wahre Licht zu stellend. Seit diese Zeilen geschrieben wurden, hat Herr Caro zwei ganze Bände unterm Titel »La fin du XVIIIe siècle, études et portraits«, Paris, Hachette, 1880 veröffentlicht, in denen obenerwähnte Studie über Mme. du Deffand ein Kapitel bildet.

Legt der beregte Aufsatz selber nicht Zeugnis ab von dem Geiste des 19. Jahrhunderts, das so rücksichtsvoll für gewisse Worte ist und sich so wenig Mühe giebt, diese Worte auf ihren wahren Sinn zu prüfen? Es ist gar leicht von der Herzensdürre Mme. du Deffand's und Friedrichs II., Montesquieu's und Voltaire's zu reden, lauter Leute, die, nach dem landläufigen Urtheil, Nichts als »Geist« haben und sich einbilden, »sie könnten auf den Geist ( I'esprit) allein ein ganzes Dasein gründen«. Ist Herr Caro so sicher, daß dies die Überzeugung jener großen Intelligenzen des vorigen Jahrhunderts war? Und wäre es nicht besser, anstatt solche alte Portraite mit einem glänzenden Pinsel aufzufrischen, die Thatsachen zu fragen, ob jene Personen wirklich so leeren Gemüthes waren, als man sie zu malen pflegt? Ich will hier keineswegs diese Prüfung unternehmen, welche zuviel Raum in Anspruch nehmen würde, noch die Studie über Mme. du Deffand, die mir Herr Caro, im Eifer, mit dem er seine These vertheidigt, verfehlt zu haben scheint, wiederzuschreiben versuchen. Ich verweise die Leser auf den ersten Band der Causeries du Lundi, wo Unser Aller Meister in wenigen Seiten die endgiltige Analyse dieses wenig begriffenen Charakters angestellt hat. Sainte-Beuve hat Denen, die nach ihm gekommen, Nichts übrig gelassen, das sie hinzufügen könnten, obschon wir seitdem fünf weitere dicke Bände (Sammlung Saint-Aulaire und Sammlung Lescure) du Deffand'schen Briefwechsels erhalten haben, worin sehr viel Ungedrucktes enthalten ist. Und der große Kritiker hat sich nicht begnügt, die Stellen dieses Briefwechsels anzuführen, die überall zu finden sind; er hat, nach seiner Gewohnheit, alle Bewegungen seines Modells spähend verfolgt, hat sozusagen an der Thüre gehorcht, um ihre Geheimnisse aus den Monologen zu erlauschen, in denen sie sich unbeobachtet glaubte, oder aus den unwillkürlichen Äußerungen des Innersten zu enträthseln, die ihr im Dialoge entschlüpfen; er hat die Hand auf ihr Herz gelegt, um seine Schläge zu vernehmen, und er hat uns die merkwürdige Frau gezeigt, wie er sie halb entdeckt, halb errathen hat: »der Liebe ( sentiment) entbehrend und leidend, weil sie ohne Liebe nicht leben konnte.« Solche Meisterwerke macht Niemand nach, selbst wenn er mit der Gestalt der Marquise so vertraut zu sein glaubte als der Meister selber und sich getraute, ihm mehr als einen Zug aufdecken zu können, der den Scharfblick – fast hatte ich gesagt den Seherblick – bestätigt, mit dem er in der Freundin Horace Walpole's das herausgefunden hat, »was Lelia sein wird, aber Lelia ohne Phrase«. Was ich um Erlaubnis bitte, in wenig Zeilen andeuten zu dürfen, sind die allgemeinen Gedanken über's 18. und 19. Jahrhundert, welche das Lesen des angeregten akademischen Stückes in mir erweckt hat. Und wenn ich hier vom 19. Jahrhundert rede, so meine ich die siebzig bis achtzig Jahre von 1770 ungefähr bis 1850, während ich unterm Jahrhundert der Revolution die Jahre von 1730 etwa bis 1830 verstehe: denn der neue Geist, welcher sich um's Jahr 1770 der Welt bemächtigte, setzte ja nur von einer anderen Seite her das Zerstörungswerk der vorausgehenden Jahrzehnte fort. Man muß freilich nie vergessen, daß es in der Geschichte keine bestimmten Daten giebt, welche Ende und Beginn einer Epoche bestimmen. Gewöhnlich hat sogar eine neue Strömung unten längst begonnen, wenn an der Oberfläche sich die gegentheilige noch fühlbar macht. Auch gehen die Nationen nicht immer in gleichem Schritt: Eine folgt der europäischen Bewegung nur hinkenden Fußes, die Andre ist stets voraus; und doch kann man im Allgemeinen sagen, daß Europa immer in allen seinen Gliedern von den verschiedenen geistigen Strömungen des Mittelalters und der neuen Zeit ergriffen worden ist.

Allen Perioden, deren Charakteristisches die Prüfung ist, scheinen Perioden folgen zu sollen, welche der Glaube kennzeichnet, und umgekehrt. Nach den Wagnissen des Humanismus, der vor keiner Frage zurückbebte, kam das Autoritätsjahrhundert; das alle fertigen Antworten ruhig hinnahm und sich, in religiösen und politischen wie in literarischen Dingen, mit den geheiligten Formen begnügte, welche ihm die »Autorität« darbot: mit dem neuen Katholizismus und der unumschränkten Monarchie ganz ebenso wie mit den drei Einheiten der klassischen Tragödie. Der Mensch hatte die Natur zu lange nach ihrem Geheimnis gefragt, ohne eine endgiltige Antwort von ihr zu erhalten, als daß er nicht das Bedürfnis empfunden hätte, sich eine Zeitlang dabei zu bescheiden, Nichts zu wissen. Es ist aber die Ehre des Menschengeistes, daß er in sich den Trieb nach Wahrheit nicht zum Schweigen bringen kann; und, während noch Bossuet's volle Stimme den Glauben an die Konvention verherrlichte, gingen schon Locke und Newton auf den von den letzten Epigonen der Renaissance, von Bacon und Galileo, eröffneten Wegen weiter. Es folgte, was man das Heldenalter der menschlichen Vernunft nennen könnte. Fast hundert Jahre lang, von Bayle bis auf Diderot, ward Alles in Frage gestellt, Religion wie Schulphilosophie, nach Allem geforscht, nach den Gesetzen der Natur wie nach denen der Gesellschaft; mit unerschütterlichem Muthe fragte man jede Erscheinung nach dem Grunde ihres Seins. Man wollte Nichts mehr anerkennen, als was dem Verstand oder den Sinnen zugänglich war. Ein unlöschbarer Durst nach Wahrheit hatte sich der Welt bemächtigt, die der Formeln und fertigen Lösungen müde war; müde auch der Deklamation, denn die Deklamation ist die eigenthümliche Form der Glaubenszeitalter. Der Widerwille gegen die Phrase, gegen die Substitution des Wortes für den Gedanken oder die Thatsache, ist der charakteristische Zug einer Zeit, in welcher das Lächeln der Geringschätzung für falsche Begeisterung und leere Beredsamkeit um Aller Lippen spielte.

Allein es giebt doch immer viele Dinge im Himmel und auf der Erde, von denen sich unsre Weisheit nichts träumen läßt, und es war nur natürlich, daß im selben Augenblick, in welchem Hume und Kant der menschlichen Vernunft ihre letzte, mögliche Antwort abtrotzten, Rousseau und Herder die Stimme erhoben, um das Recht des Gefühls und der Anschauung zu vindizieren; nur überschlug sich auch diese gerechtfertigte Reaktion, wie alle Reaktionen sich überschlagen. Die Begeisterung und die Ahnung sollten fortan im engen Bündnis mit der Vernunft und den Sinnen vorwärts gehen, welche das vorhergehende Zeitalter als die allein giltigen Instrumente und Zeugen bei der großen Welterforschung brauchte und anerkannte. Nicht lange aber, so glaubte man auch ohne diese vorsichtigen Helfer zu Werke gehen zu können, und es begann ein neues Zeitalter des Glaubens; der Glaube seinerseits begnügte sich bald, wie's zu gehen pflegt, mit dem Worte: man schwor auf die Republik oder die Legitimität, auf den Katholizismus oder den Atheismus, auf die Romantik oder die Klassik; die Philosophie selber ward eine neue Scholastik, erbaute neue metaphysische Systeme, weit willkürlicher als die Malebranche's oder Leibnizens, welche doch keinen Hume und Kant hinter sich hatten. Alle neuen Mystiker – Charlatane oder Apostel – die Cagliostro und Mesmer wie die Wesley und Swedenborg, gehören dem Ende des Jahrhunderts an oder übten doch ihren Einfluß erst in den letzten Jahrzehnten desselben aus. Diese Zeit der wirren Ideen und der deklamatorischen Literatur dauerte bis nach dem Jahre 1848, dem Jahre der großen Ernüchterung. Alles Wahre im Evangelium Rousseau's und Herder's hatte sich längst verflüchtigt, und lange schon war Alles in reine Logomachie ausgeartet, als man durch den lärmenden Bankerott der sinnesleeren Formeln so unsanft aus dem Rausche gerüttelt wurde, als die Romantik auf dem Throne sich ebenso unfruchtbar zeigte, wie die Rhetorik auf der Tribüne: 1849 war der sittliche und geistige »Krach« des Jahrhunderts. Von da an wurden wir alle mißtrauischer: wir machen seitdem nur noch baare Geschäfte. Wir sind zu positiv, selbst wenn wir keine Positivisten sind, um die Dinge nicht bei ihrem Namen zu nennen. Wir fragen die großen Worte nach ihrer Bedeutung, die Republik, ob ihr Name genüge die Freiheit zu geben, oder ob sie nur eine neue Form der Diktatur ist; die Monarchie, ob sie die Kontinuität des Nationallebens verbürge, oder ob sie nur eine Etikette ist, unter der sich jede Art von Unstätigkeit birgt. Wie würden heutzutage unsere Oken und Schelling, empfangen werden, wenn sie sich statt des Mikroskopes des »inneren Auges« bedienen und das phantastische Gebäude einer materiellen Welt aufrichten wollten, die der geistigen und sittlichen Welt parallel und entsprechend wäre? Auch die Beredsamkeit geht herunter seit jener Zeit. Die zwei Männer, welche seit 1850 die größten Dinge fertig gebracht, Cavour und Bismarck, sprachen stets nur die Sprache des gesunden Menschenverstandes, redeten nie »um die Luft zu bewegen«, sondern um Gedanken und Thatsachen mitzutheilen. Berryer und Guizot sind in's Grab gestiegen, und in der Person Jules Favre's zu Ferrières ward die Phrase von der That überwunden.

Wohlverstanden müssen solche Allgemeinheiten nicht zu buchstäblich genommen werden; nichts ist leichter als Ausnahmen zu finden, die ihnen zu widersprechen scheinen. Das Zeitalter der Empfindsamkeit rühmt sich des klarsten Kopfes und wahrsten Gemüthes, die je ein Dichter besessen, und neben wie nach Goethe lebte mehr als ein Mann von positivem Sinne und einfacher Rede; auch haben wir unter uns noch der Rhetoren und Träumer genug; ja in diesem Augenblick selber scheint eine der beiden westlichen Nationen von einem Tribunen, die andere von einem Apostel beherrscht zu sein; aber es scheint doch eben nur so; Tribun wie Apostel müssen ihre Politik dem vorsichtig-prosaischen Sinne ihrer Landsleute anbequemen und auf ihre hochfliegenden Pläne verzichten, noch ehe sie dieselben ganz verrathen; was aber ihre sittliche und geistliche Weltanschauung anlangt, so mag sie eine numerische Mehrheit auf Augenblicke blenden; die Minderheit der Nation, welche in Wirklichkeit die Nation ausmacht, weil sie für dieselbe denkt, weil ihr Gedanke allein fortlebt, die hat sich vollständig von jener Weltanschauung losgesagt und läßt kaltblütig und verächtlich die Worte an sich vorüberrauschen, an denen ihre Väter sich einst so gründlich berauscht. Gar das in Deutschland seit einiger Zeit wieder in die Mode gekommene Gerede vom »Idealismus« bleibt eben doch nur Gerede, und Pathos, Ethos nebst ihrem Freunde Logos haben auf das Ergon auch nicht den geringsten Einfluß.

Hier haben wir nur die Hauptzüge der zwei Perioden in allgemeinsten Umrissen geben wollen, und da frägt sich denn, ob das Zeitalter der »kalten Vernünftler«, das Zeitalter Voltaire's und Lessing's, wirklich so egoistisch und unempfindsam war, wie man zu sagen beliebt, ob die Epoche der Begeisterung, die Epoche Lafayette's und Alexanders I., Karl Albert's und Friedrich Wilhelm's IV., nicht unter ihrem Prunk schöner Gefühle einen Bodensatz von Eitelkeit und Selbstsucht verhüllte, der den Menschen des wahren 18. Jahrhunderts ganz unbekannt war; es bleibt die Frage, welche Rolle die Deklamation in diesen neuen Tugenden des Glaubens und der Empfindsamkeit, der Treue und des Seelenadels, deren unsere Väter sich so sehr rühmten, gespielt hat.

Nun frage ich alle Die, welche keiner politischen, religiösen, nationalen oder anderen Partei lehenspflichtig sind, alle Die, welche der Wahrheit in's Gesicht zu schauen und, haben sie dieselbe erkannt, sie auch zu bekennen wagen: wenn sie das bescheidne, alles Prunkes und alles weltlichen Genusses baare Leben, das ganz im Dienste der Wissenschaft aufgehende Dasein eines Newton und Kant mit der unruhigen Eitelkeit, dem lärmenden Ehrgeiz, dem vordringlichen Egoismus eines Milton oder eines Chateaubriand vergleichen, auf welcher Seite ist der wahre Idealismus? Denken wir einen Augenblick an die tausend Wohlthaten, welche der gute Montesquieu um sich verbreitete, während er sich dem Dank entzog, weil die Thränen und Betheuerungen ihn langweilten, und rufen wir uns dann die immer überströmenden großen Gefühle eines Lamartine in's Gedächtnis zurück, der über jedes Elend weinte und alle seine Freunde zu Grunde richtete, wo ist die wahre Güte? Und wiederum: haben die gläubige Maintenon und die hellsehende Krüdener mehr wirkliches Gefühl gehabt als Mme. de Rochefort, mehr Herzenswärme als Mme. de Sabran, mehr Selbstverleugnung als Mme. d'Epinay? Oder war es etwa die Selbstsucht, welche diese geistreichen Frauen an die Männer ihrer Wahl fesselte? Und war es die Uneigennützigkeit, welche die Favoritinnen Ludwigs XIV. und Alexanders I. beseelte, als sie ihre fürstlichen Liebhaber zum Widerruf des Edikts von Nantes oder zum Abschluß des heiligen Bundes trieben? War Mme. du Deffand selber denn wirklich so unempfindsam wie man behauptet? Sie that, die Arme, was alle Männer thun – und auch die Frauen, wenn sie einmal, wie Katharina II., George Sand und andere, in Männeranschauungen und Männergewohnheiten gerathen sind –, sie suchte die Liebe in hundert flüchtigen Verhältnissen, ehe sie dieselbe fand; und sie hatte, wie Katharina, das Unglück, sie etwas spät zu finden; aber einmal gefunden, war ihre Liebe ganz anders tief, aufrichtig, anspruchslos als alle die großen triumphierend ausgehängten Leidenschaften der Romantikerinnen mit ihren Trauerweidenattitüden. War sie es nicht, welche sagte, »der Ton des Romans sei dem der wahren Leidenschaften gegenüber, was das Messing dem Golde?« Das ist das Wort des großen Jahrhunderts: es haßte das »Messing«. Was Mme. du Deffand selber in Horace Walpole anzog, war gerade die englische Einfachheit und das englische Temperament, welches so sehr mit dem ganzen Komödienwesen kontrastierte, dessen die französische Gesellschaft sich selbst in ihren besten Zeiten nie ganz hat entschlagen können.

Weder Mme. du Deffand noch ihre Zeit fühlten weniger lebhaft als die folgende, lebten weniger für das Ideale als die vorhergehende; aber sie thaten Beides »ohne Phrase« und mit offenen Augen für's Wirkliche, manchmal sogar mit einem leichten Zurschautragen der Unempfindlichkeit und des Spottes. Aber wenn man auf die Handlungen kommt, anstatt bei den Worten stehen zu bleiben, wenn man den großen Spötter selbst überall auf der Bresche sieht, wie er den Aberglauben und die Ungerechtigkeit bekämpft, wie er nie müde wird, Himmel und Erde umkehrt, allen Gefahren trotzt, um die Opfer der Unduldsamkeit und des Despotismus, die Lally, die Sirven, die Calas, Leute, die er nicht einmal dem Namen nach gekannt, in Freiheit zu setzen, vom Galgen zu retten oder zu rehabilitieren, – wird man noch sagen können, es habe Voltairen an Wärme gefehlt? Allerdings, weder er, noch sein königlicher Freund legten sich freiwillig eine Binde um die Augen; allerdings gab er sich nicht der Selbsttäuschung hin, daß diese Welt ein Paradies und die Menschen Engel seien. Er sah klar genug und hatte hinreichende Erfahrung, um zu wissen, daß eher das Gegentheil der Fall ist; aber er fühlte lebendiger als alle die nebelhaften Optimisten der folgenden Zeit, die sich in den Leiden ihrer unverstandenen Seelen zu wiegen liebten, daß dieser Nächste mit allen seinen Lastern und Schwächen ein Wesen ist, das leidet, und er strengte sich an, dessen Schmerzen zu erleichtern, er half denen, welche sich anstrengten, diese Welt dem Paradiese der Träumer etwas ähnlicher zu machen. Allerdings hatte Friedrich II. frühe genug Zeit gehabt, seine Jugendbegeisterung zu erschöpfen und zu sehen, was in Wirklichkeit die bestmögliche der Welten werth war: aber ein ganzes Leben, welches dem Dienste seines Landes geweiht war, mit absolutem Vergessen der eigenen Person, ohne einen selbstsüchtigen Genuß, immer bei der Arbeit, ist das nicht etwa ein idealerfüllteres – fast hätte ich gesagt, ein glaubensvolleres – als das des allerchristlichsten Sonnenkönigs? Ist darin nicht etwa mehr Patriotismus als in dem des großen »Poseur«, der nie einen Augenblick anstand, »das Frankreich, das er so sehr geliebt«, dem Interesse Napoleon Bonaparte's aufzuopfern? Und Friedrich war nicht der Einzige seiner Zeit. Er ist der Typus von Hunderten von Staatsmännern des vorigen Jahrhunderts, welche nur für ihre Nation und in ihrer Nation lebten. Nun muß aber wieder und wieder gefragt werden, welches ist das wahre Kriterium ächter Begeisterung, sind's Worte oder Thaten? Sind etwa die Robespierre, welche immer das höchste Wesen und die Menschenliebe, die Brüderlichkeit und Zärtlichkeit auf den Lippen haben, menschlicher als die Peter Leopold, welche über diese großen Phrasen lachen und in dürren, bestimmten Worten ein politisches Programm entwerfen, das sie mit unendlicher Anstrengung zu verwirklichen suchen, wo jene es bei den hohen Worten bewenden lassen und dem zukünftigen Paradieseszustande tausende von gegenwärtigen Menschen schlachten?

Was aber von den Staatsmännern und allgemeinen Gefühlen gilt, welche ihre Handlungen eingegeben haben, ist auch von den Frauen und den besonderen Gefühlen wahr, welche sie beseelt haben. In jedem Scherze Frau Rath's ist mehr Gefühl als in allen Ergüssen Bettina's. Ich will hier nicht einzeln jede Behauptung Herrn Caro's eingehend prüfen, obschon es leicht sein dürfte, sie alle zu widerlegen. Ich will nur den allgemeinen Gedanken seines Aufsatzes rügen, weil ich in ihm einen der Stimmführer einer ganzen Denkweise sehe, welche hoffentlich der Vergangenheit angehört. Im Grunde ist's doch ein großes Sophisma, hinter dem sich eine Art geistiger Feigheit oder Trägheit verbirgt, wenn man uns sagt, daß »die Analyse, wenn sie bis zu einem gewissen Punkte getrieben würde, korrumpiere«. Eher ist das Gegentheil wahr: nichts korrumpiert mehr als die Lüge, oder wenn man rücksichtsvoller reden will, als die freiwillige Blindheit; Nichts erhebt und läutert die Seele so sehr als der Wahrheit den Schleier abzureißen, in den sie die Menschen hüllen, und ihr in's Gesicht zu sehen. »Wenn nur der Cant aufhört, rief Carlyle schon 1834, auf jede Gefahr hin, um jeden Preis, solange Der nicht aufhört, kann nichts Neues beginnen.« Und war's nicht Einer Derer, die am Meisten von jenem Cant zu leiden hatten, welcher, obschon er selbst in seiner Jugend nicht von aller Deklamation frei gewesen, als Mann dem Lügengeist seiner Zeit den unerbittlichsten Krieg erklärte:

»... now I'm going to be immoral; now
I mean to show things really as they are,
Not as they ought to be: for I avow
That till we see what's what in fact, we're far
From much improvement ...«

In der That giebt es keine Atmosphäre, welche dem Ausbrüten der Eitelkeit und Selbstsucht günstiger wäre, als jene Art heiligen Seelenhaines, in dessen feuchten Schatten die schlimmen Leidenschaften, welche die freie Luft der Wahrheit zerstreut und schadlos macht, wie Unkraut und ekles Ungeziefer wuchernd wachsen. Man nehme sie durch, Einen nach dem Andern, unsere schönredenden Männer und empfindsamen Damen von 1789 bis 1850, von Saint-Just bis auf Metternich, von Mme. Roland bis auf Daniel Stern, man kratze die Oberfläche ein wenig und man wird sehen, wieviel Eitelkeit, Selbstsucht und wahre Trockenheit zu Grunde liegt. Wenn wir aber in dieser langen Periode des politischen, religiösen und empfindsamen Phrasenthums hier und da Männern begegnen, welche wirklich ihr Vaterland mehr als sich selber geliebt, Frauen, welche sich selber für Andere zu vergessen gewußt, so werden es Männer und Frauen sein, welche wie Gneisenau oder Rahel die Phrase ebenso sehr verachtet haben, als ein Voltaire und eine du Deffand.

Nein die Berechtigung der Reaktion Rousseau's und Herder's, wie die Größe des 19. Jahrhunderts, liegt anderswo. Sie besteht darin, daß die Urheber dieser Reaktion darauf hingewiesen haben, darin, daß das Jahrhundert selber begriffen hat, wie in der Natur und Geschichte, im Menschen und der Gesellschaft ein Etwas ist, welches sich der Erfassung durch die Sinne und der Analyse durch den Verstand entzieht; wie diese Werkzeuge der Menschen nur die Formen der Dinge ergreifen können, wie ihnen das Wesen immer entgeht, weil dasselbe nur von der Anschauung ergriffen werden kann; wie folglich weder Spiritualismus noch Materialismus die Wirklichkeit ausdrücken, wie weder Freiheit noch Nothwendigkeit, von einander getrennt, hinreichen, die Menschengeschichte zu erklären; wie die Wirklichkeit zugleich Stoff und Form, Nothwendigkeit und Freiheit ist, und wie der Mensch sich dabei bescheiden muß, diese Wirklichkeit nie anders als im Bilde zu schauen. Dieser neue Gesichtspunkt gab der Menschheit nicht etwa mehr Begeisterung, mehr Herzenswärme, mehr Uneigennützigkeit, wohl aber ein besseres Verständnis des Staates und seines Wachsthums, der Gesetze und ihres Werdens, der Sprache und ihrer Entwicklung, der Religionen und ihrer Geschichte, der Natur und ihrer Evolutionen. Ähnlich mit der Kunst. Der »Ausdruck« trat an die Stelle der Form in Malerei und Skulptur; das Ungefähre schlich sich in die Prosa wie in den Vers, wo früher feste Linien waren; die Lyrik aber wie alle subjektiven Kunstgattungen, die Musik vor Allen, gewannen eine Vertiefung, eine Erweiterung, eine Verfeinerung, die jenes einseitigere Zeitalter der Klarheit nicht einmal geahnt hatte. Allein der Einfluß dieses ungeheuren geistigen Gewinnes auf die Politik und Moral des 19. Jahrhunderts ist fast so null gewesen, als er fruchtbar für die Wissenschaft und die Gefühlskünste war. Ja, man möchte beinahe behaupten, daß diese neue Strömung im praktischen Leben die Zweideutigkeit und Heuchelei begünstigt habe. Die schamloseste politische und religiöse Reaktion hat sich in die Theorie des historischen Prinzips gehüllt; der niederste Ehrgeiz hat sich in die Fahne der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit drapiert, und die schrankenloseste Selbstsucht hat sich mit dem aus Empfindsamkeit und Phantasterei, Ahnung und Begeisterung gewobenen Purpurmantel bedeckt, der seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts Mode war. Selbst wer der Vorliebe für diese neue Zeit nicht verdächtig ist – und selten war wohl in der Geschichte eine ärmere Zeit, wenn man auf die höchsten Thätigkeiten des Menschengeistes, die Kunst und die philosophische Spekulation, sieht –, so darf man immerhin für sie Eine Tugend beanspruchen, welche die vorhergehende Epoche nicht besaß, und welche Unsere mit den beiden größten Jahrhunderten der neuen Geschichte, denen Macchiavell's und Voltaire's, theilt. Diese Tugend ist die Wahrheitsliebe. Wir lügen nicht gegen Andre, vor Allem aber nicht gegen uns selber. Es steht den Enthusiasten frei, dies Prosa und Cynismus zu nennen. Wir ziehen es vor, mit Montesquieu prosaisch und mit Friedrich II. cynisch zu sein, als mit Victor Hugo zu dichten und mit Joseph Görres zu schwärmen.


 << zurück