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VII. Madame de Rémusat und Napoleon Bonaparte

I.

Jedermann hat die Denkwürdigkeiten von Mad. de Rémusat gelesen, sei's bruchstückweise in der »Revue des Deux Mondes«, welche viele Kapitel daraus im Laufe des vergangenen Jahres gegeben hat, sei's im Zusammenhang der drei Bände, welche diesen Winter in Paris erschienen sind und zum Theil schon die siebente Auflage erlebt haben. Und wer sie nicht gelesen hat, wird sie lesen wollen, sollte sie lesen. Nur wäre wirklich sehr zu rathen, sie nicht in's Deutsche zu übersetzen. Man leistet dadurch allein der Trägheit und der Halbkenntnis Vorschub. Wer sich für dergleichen interessiert, wer daran Geschmack findet und es zu genießen versteht, der weiß ja doch auch genug französisch, um ein solches Buch in der Ursprache zu lesen; und selbst wenn seine Kenntnis der Sprache unvollständig ist, kann die Lektüre der drei Bände, die er so leicht nicht aus der Hand lassen wird, seine Kenntnis nur erweitern und vertiefen. Wem aber die Verhältnisse, um die es sich handelt, ganz unbekannt, wem die Personen und die Art von Beobachtungen, welche ihm hier geboten werden, ganz gleichgültig sind, der wird sicherlich durch eine deutsche Übersetzung weder eine nur annähernde Kenntnis von den Dingen, noch auch irgend welches Interesse für dieselben gewinnen. Hier fällt Form und Wesen so durchaus zusammen, daß das Wesen so zu sagen verschwindet, sobald die Form verändert wird. Schon aus diesem Grunde sollen hier keine Auszüge aus dem fesselnden Werke gegeben werden. Auch liebe ich es nicht, den Lesern den Appetit zu verderben, indem ich ihnen die leckersten Bissen im Voraus gebe. Eine so delikate Mahlzeit muß man im Ganzen einnehmen, wenn man all' den Genuß und zugleich alle die sehr kräftige Nahrung daraus ziehen will, die sie enthält. Ich möchte mir nur erlauben, einige Anmerkungen über die Verfasserin und den Helden des interessanten Buches, sowie über die Umstände zu machen, unter denen es geschrieben worden, um den Leser etwas zu warnen und ihm einige Thatsachen in's Gedächtnis zu rufen, die man gut daran thut sich gegenwärtig zu behalten, wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen will, allzusehr nach der Seite des Erzählers zu neigen. Mémoires de Madame Rémusat. 1802-1808. Publiés avec une préface et des notes par son petit-fils, Paul de Rémusat, Sénateur. Paris 1880. 3 vol. in 8.

Andererseits möchte ich auch die Aufmerksamkeit der Historiker auf die für die ernste und wissenschaftliche Geschichtsforschung wirklich wichtige Seite dieser angenehm-pikanten Bände lenken. Freilich sind's noch nicht die Memoiren Herzog Pasquier's oder Talleyrand's, auf die man uns so lange warten läßt und die vielleicht zuerst ein volles Licht auf die Geschichte des Konsulats und Kaiserthums werfen werden. Immerhin ist's eine kleine Quelle, die gar frisch und klar fließt, um deren Dasein man wußte, und welche die Familie liebenswürdig und vernünftig genug gewesen ist, uns offen zu legen, ohne uns noch lange dürsten zu lassen. Chateaubriand und Thiers hatten schon von diesen Denkwürdigkeiten gesprochen und der Letztere hatte sie in seinem Kapitel über die Hinrichtung des Herzogs von Enghien bereits eingehend benutzt. In der That bringt der erste Band Mad. de Rémusat's viele neue und sichere Einzelheiten über dies tragische und verhängnisvolle Ereignis, welches die Laufbahn Napoleons sozusagen in zwei Hälften theilt. Ich erinnere nur an die Theilnahme Caulaincourt's – die unfreiwillige Theilnahme meinetwegen, Theilnahme immerhin –, welche bis vor Kurzem noch geleugnet worden und über die fortan kein Zweifel mehr herrschen kann. Über die Vorgeschichte der Krönung bietet der zweite Band, über die der Scheidung der dritte viel Neues und Merkwürdiges. Ebenso über die Verheirathung Stephaniens mit dem Erbprinzen von Baden, die Liebesabenteuer Napoleons, wenn man seine Verhältnisse zu Frauen mit dem feinen Worte bezeichnen darf; die Intriguen der Minister und Marschälle, der Verwandten namentlich, um von ihm, der nur gegen seine Familie schwach zu sein wußte, Gunst und Geld, Ehren und Vortheile zu erlangen – Einfluß erlangte ja nie Jemand auf ihn. Und das Ganze, das mit der Tragödie in den Laufgräben von Vincennes beginnt, endet mit der unwürdigen Komödie von Bayonne. Vieles wird auch in ein anderes Licht gestellt, als das, unter welchem wir es bisher sahen: so erscheinen uns z. B. die Charaktere Louis Bonaparte's und der Königin Hortense von einer ganz neuen Seite und es wird uns von den Eltern Napoleons III. ein, vielleicht nicht durchaus zuverlässiges, aber doch, so scheint mir, im Ganzen viel getreueres Bild gegeben als das, welches uns früher vorschwebte; wie denn überhaupt der bald versteckte, bald offene Krieg zwischen den Beauharnais' und Bonaparte 's hier zum ersten Male recht in den Vordergrund gestellt wird. Freilich darf man nicht vergessen, daß die Erzählerin mit dem Herzen ganz auf der Seite der Beauharnais' stand, wenn sie's auch nicht ausdrücklich Wort haben will. Die zahlreichen Charakterzüge Napoleons gar, welche sich in hier aufbewahrten Worten oder Handlungen verrathen, sind so treffend und bezeichnend, daß sie nicht wenig dazu beitragen, das Bildnis des gewaltigen Mannes, der zehn Jahre lang die Welt bezaubert, zehn andere sie in banger Furcht gehalten hat, lebhafter als zuvor der Nachwelt vor die Sinne zu bringen.

Indeß kann man doch dem Geschichtsforscher nicht genug Vorsicht und Zurückhaltung im Gebrauche von Denkwürdigkeiten anempfehlen, namentlich von Frauendenkwürdigkeiten, zumal wenn sie, wie die vorliegenden, hintennach geschrieben worden sind, unter Umständen, welche so ganz verschieden von denen waren, unter welchen die erzählten Thatsachen vor sich gegangen. Die Denkwürdigkeiten von Frauen haben allerdings den Vortheil über die der Männer, daß sie besser den Gesammteindruck der Menschen und Dinge geben; denn die Frauen halten sich nicht gerne beim Analysieren auf, d. h. beim Auflösen und Tödten des Lebendigen, und sie sehen deshalb meist auch viel richtiger als wir in Charakteren und Verhältnissen. Dagegen ließe sich wetten, daß die Wahrheit in ihren Aufzeichnungen weniger gewissenhaft respektiert wird, und daß das Einzelne manchmal vernachlässigt oder unbewußt gefälscht ist, wenn nur die Wahrheit der Gesammtwirkung gewahrt bleibt. Sicher ist, daß sie selten die eigentlichen Handelnden der Geschichte sind, selbst in Frankreich, wo sie doch mehr als anderswo im Vordergrunde stehen; ich meine, die verantwortlichen Spieler, die im Grunde doch die Einzigen sind, welche die Dinge wirklich wissen, eben weil sie für das, was geschieht, zahlen oder bezahlt werden. Man lese z. B. die Memoiren Graf Beugnot's, die vor etwa zehn Jahren veröffentlicht wurden. Wie man bei allem Witz, aller Schadenfreude und unterhaltenden Heiterkeit doch sofort sieht, daß man's hier mit einem Geschäftsmanne zu thun hat, der gewohnt ist, den genauen Werth der Worte und der Handlungen zu schätzen. Wenn der Geschäftsmann eine gute Dosis Skeptizismus hat, wie M. Beugnot, um so besser – für den Geschichtsforscher wohlverstanden; der Skeptizismus war ja damals schon in der guten Gesellschaft etwas in Verruf gekommen. Er war ganz an der Tagesordnung gewesen zu einer Zeit, wo man mit unendlich mehr Idealismus handelte, als seit der Revolution. Bei Mad. de Rémusat jedenfalls, um auf sie zurückzukommen, ist die charakteristische Eigenschaft sicherlich nicht der Skeptizismus, – noch auch im Grunde der Esprit.

Man mißverstehe mich nicht. Mad. de Rémusat war eine sehr gescheidte Frau und die den Geist verstand und ihn genoß, wenn sie ihm begegnete. Sie hat sogar zuweilen recht treffende Worte – so zu ihrem Sohne: »Die Frauenköpfe bleiben lange jung; und in denen der Mütter ist immer eine Seite, die genau das Alter ihrer Kinder hat;« – aber oft sind diese Worte auch etwas gesucht und gekünstelt, wie wenn sie von Napoleon sagt: »Einziger Mittelpunkt eines ungeheuren Kreises, hätte er gewünscht, dieser Kreis enthielte soviel Strahlen, als er Unterthanen hatte, damit sie sich nur in ihm berührten;« oder wenn sie denselben Gedanken in einem fast ebenso ausgeklügelten Bilde von der Kette des Despotismus ausdrückt, welche die Menschen einzeln binde, ohne ihnen irgend eine Beziehung untereinander zu lassen. Solche Gedanken haben schon etwas Männlich-abstraktes. Mad. de Rémusat kann wohl auch weiblich konkret und malitiös sein, wie wenn sie bei Pauline Bonaparte hinwirft: »Die Fürstin Borghese, die nur an ihre Vergnügungen dachte, wenn sie nicht mit ihren Medizinen beschäftigt war, mischte sich in nichts.« Aber solche leichtstreifende, attische Worte sind doch bei ihr eine Seltenheit. Der eigentliche Witz, der französische Esprit, geht ihr etwas ab. Ihr Mann mag ihn gehabt haben, und zwar von der sehr leichten Sorte, welche sich so oft bei den Franzosen seiner Klasse mit dem gediegensten Verstande des Musterverwalters verbindet. Im Sohne Charles erst vereinigten sich beide Arten der Intelligenz, die des Vaters und die der Mutter, und waren wie verschmolzen. Goethe spricht in einer bekannten Stelle, bei Gelegenheit Voltaire's, von den Nationen, die lange gelebt und am Ende in einer typischen Individualität zum Ausdruck gelangen, welche sie in ihrer Gesammtheit verkörpert. Noch besser könnte man das auf gewisse Gesellschaftsklassen anwenden. Mad. de Rémusat war aus einer alten famille de robe, wie die Franzosen den Gerichtsadel nannten; ihr Mann auch, obgleich von weniger altem Stamme; und schon in Vater und Mutter, noch mehr freilich im Sohne, der den Namen Rémusat am meisten zu Ehren gebracht, dem Schwiegerenkel Lafayette's, dem Freunde Thiers' und Dufaure's, ist ein unbeschreiblicher Parfüm alter, verfeinerter Rasse, etwas von Harlay und auch von Montesquieu, aber beide gedämpft: ein Harlay, der, obschon er den Nacken nicht beugt, doch den siegreichen Guise nicht in lauten Worten zur Rede stellt; ein Montesquieu, der anstatt sich in den schlüpfrigen Zweideutigkeiten des Temple de Gnide zu gefallen, ein Lied in Béranger's Manier trällert. Dieser alte Parlamentsadel, der durch das Sieb der Revolution gegangen und von der stählernen Hand Napoleons geknetet worden war, – die Pasquier und Molé, die Portalis und d'Aguesseau – bildete das feinste und zugleich das gediegenste, das festeste und doch geschmeidigste Element in der neugegossenen Aristokratie, welche Frankreich von 1830 bis 1848, und sogar schon ein wenig unter der Restauration regierte. Man verspricht uns die Denkwürdigkeiten Charles de Rémusats, seinen Briefwechsel mit der Mutter; das wird für die Feinschmecker ein wahres Fest sein. Wir bekommen schon einen Vorgeschmack davon in den Auszügen daraus, welche die Vorrede und die Anmerkungen des Enkels der Memoristin, Paul de Rémusat, bieten, sowie in der ganz von dessen Vater geschriebenen Einleitung zum dritten Bande. Man wird – in den Briefen und Noten, wenn nicht in der für Charles de Rémusat etwas schwachen Vorrede, – sofort die Überlegenheit des Sohnes über die Mutter herausfühlen, was niemanden Wunder nehmen kann, der sich auch nur der tiefen philosophischen Bildung des Ersteren erinnert; aber die Art von Reiz, ja von Zauber, den diese Mutter haben mußte, tritt doch noch anschaulicher aus dem Texte hervor, und hier handelt sich's ja um sie, nicht um den Sohn.

Ich sagte, sie sei eine sehr kluge Dame gewesen; ich hätte hinzufügen sollen, daß auch »Jovis Schoßkind« ihr nicht fehlte, und daß dies nicht der letzte Grund der Anziehungskraft ist, welche die liebenswürdige Frau ausübt. Ihr Sohn sagte von ihr, »ihr Kopf sei vernünftiger gewesen, als sie selbst« – ein witziges Wort, und auch ein tiefes. In der That ist ihr Verstand ein sehr heller, sicherer, aber sie ließ sich, scheint's, im Leben leicht von ihren Antipathien und Sympathien fortreißen; erst hintennach korrigierte ihr Urtheil ihre ersten Gefühle. Wir aber haben hier dies Urtheil von hintennach, noch immer ein wenig beeinflußt von ihren Gefühlen – wäre sie sonst eine Frau und eine so anziehende Frau? – aber sie giebt sie in einer so anspruchslos-einfachen, echt französischen Sprache, mit so viel Geschmack, mit so viel gesundem Menschenverstand und solcher Natürlichkeit, daß man sofort sieht, der Verstand behält doch immer die Zügel in der Hand. Auch ihre literarischen Urtheile, die ihr etwas romantisierender Sohn nicht immer theilt, sind doch oft stichhaltiger als seine. So was sie bei Gelegenheit Mad. de Staël's von der »Ruhe« sagt, welche eine der Bedingungen des Talentes sei: wie sehr hat das unser Jahrhundert vergessen und wie Unrecht hat der Sohn, darüber zu lächeln. Ist es doch gerade Mad. de Staël gewesen, welche diesen Fluch des Talentes, die Unruhe, in die moderne Literatur eingeführt hat. Was die Franzosen unter Romantik verstehen, ist ja eher, was wir in der Sturm- und Drangperiode das Recht der Originalgenies nannten, d. h. die Freiheit von jeder Regel und konventionellen Form. Und Charles de Rémusat gehörte zu der »Generation von 1830«. Seine Mutter recht im Gegentheil verlangte, wie alle ihre Zeitgenossen, eine strengklassische Form, wenn auch der Inhalt dieser Literatur des Kaiserthums schon im deutschen Sinne romantisch angehaucht war: eine Romantik, die etwas an die Wanduhrskulptur der Ritterfräulein und Edelknechte erinnerte. So mag auch Mad. de Rémusat sich die Verdienste dieses Neuklassizismus etwas übertrieben haben; allein wer springt aus seiner Haut, und wer kommt über den Dunstkreis hinaus, den man seine Zeit nennt?

Und selten war Jemand in eminenterem Sinne das Kind ihrer Zeit, als Mad. de Rémusat; man sieht's auf jeder Seite ihrer Aufzeichnungen. Wenn sie länger gelebt hätte, würde sie sich an den » Méditations« Lamartines berauscht haben, die gerade in den Tagen ihres so vorzeitigen Todes erschienen: sie war erst einundvierzig Jahre alt, als sie 1821 weggerafft ward – kurz nach dem Tode des Gewaltigen, der diese ihre Aufzeichnungen ausfüllt. Es war eine seltsame Generation von Frauen, jener Schwarm schöner Empfindsamen, welche unterm Konsulat und Kaiserreich in ihren Zwanzig waren. Wenig Leidenschaft; leichtsinnig – dies geht nicht auf Mad. de Rémusat, die immer eine Mustergattin war, noch auch selbst auf Mad. Récamier, die bei all ihrem Spielen mit dem Feuer sich doch nie verbrannt zu haben scheint – leichtsinnig und sinnlich ohne große Wärme; noch halb betäubt von dem Revolutionstrubel; wie verwundert, die »Gesellschaft« wiederaufleben zu sehn, von der sie nur als von etwas Vergangenem gehört, und beeilt, ihr Theil daran zu erhaschen; eine Rasse von Mad. de Warens, aber mit einem Anflug von Begeisterung und Ostentation, welche Rousseau's guter »Mama« ganz unbekannt waren. Auch der Einfluß Rousseau's auf das folgende Geschlecht ist bei ihnen schon, ich möchte sagen, gesiebt durch eine Zwischengeneration. Das kräftige Naturgefühl Jean Jacques' – das Naturgefühl des Bauern, des Hirten, dem der Genius eine Stimme leiht – hat sich schon bis zum blassen Abglanz von Chateaubriand's Mondschein verflüchtigt. Man halte nur einmal Mad. d'Houdetot's kindliche Offenheit und die Unbefangenheit ihrer Gefühle neben die romantischen Schwärmereien von Mad. de Duras und Mad. de Krüdener. Mad. de Krüdener gehörte freilich der Geburt nach zu jener Zwischengeneration, der auch Mad. de Staël und Mad. de Souza angehörten; aber sie war eine Ausländerin und erst nach Frankreich gekommen, als schon Chateaubriand's Stern aufgegangen war; geistig und auf dem neuen Boden war sie 1800 erst zwanzig Jahre alt. Manch' Neues über sie hat jetzt eben P. L. Jacob's, des Bibliophile's Büchlein (Mme. de Krudener. Paris 1880) gebracht. Die Religion lebt wieder auf, aber für's erste noch ohne Fanatismus; denn es war einer uns näheren Zeit vorbehalten, eine unschöne und unschön machende Leidenschaft in ein Gefühl zu mischen, das nur Milde und Sanftmuth erzeugen sollte; Mad. de Rémusats Zeit kannte die Petroleusen des Katholizismus noch nicht. Diese Frühlingsepoche der modernen Religiosität hatte auch, in Frankreich wenigstens, nichts Heuchlerisches noch Prüdes und vertrug sich sehr gut mit einer großen Freiheit des Thuns und Redens, – man war ja dem Direktorium noch so nahe, – und ich finde, daß Herr Paul de Rémusat sehr unrecht gehabt hat, die etwas derben Stellen aus den Denkwürdigkeiten seiner Großmutter auszumerzen. Das gehört zur Farbe der Zeit und es wäre niemandem eingefallen, diese reizende, so hingebende, so zärtliche junge Mutter weniger rein und unschuldig zu finden, weil sie sich nicht, wie unsere ängstlichen Tugendhaften, gescheut hätte, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Auch können diese etwas kräftigen Worte bei Mad. de Rémusat nichts von der verschämten Sinnlichkeit, noch von der rohen Trivialität gehabt haben, durch welche sie erst in dem Munde einer Frau verletzend werden.

Mad. de Rémusat macht den Eindruck einer durchaus reinen Frau, nicht nur rein im Handeln, sondern auch in der Phantasie. Sie erinnert ein wenig an Mad. de Choiseul, die »Unverführbare«, wie Mad. du Deffand die aufblickende Gattin des aufgeklärten Ministers zu nennen pflegte; aber es ist eine Mad. de Choiseul, die ihr Liebesbedürfnis nicht so ausschließlich auf den Gatten konzentriert, das beste Theil dem Sohne zuwendet und – eine Mad. de Choiseul, die, wie gesagt, ihren Chateaubriand gelesen hat. Dabei hatte sie etwas, wonicht von der grande dame, so doch von der feinsten Welt. Deshalb auch legte der erste Konsul soviel Wert darauf, sie für seinen entstehenden Hof zu gewinnen und nachdem er sie gewonnen, sie demselben zu erhalten. Selber ein Emporkömmling und von sehr schlechter Lebensart, wußte er, mehr aus Politik als aus Instinkt und Sympathie, die Gegenwart einer vollkommen wohlerzogenen Frau in dieser Umgebung von rohen Soldaten, geadelten Advokaten und abenteuernden Kreolen oder Korsen wohl zu schätzen. Mad. de Rémusat gehörte nicht allein einer adligen Familie an, wie Josephine, sondern, was mehr war, einer reinlichen; und mitten in dieser Gesellschaft der Beauharnais' und Bonaparte's, wo nur von Geld, Liebesintriguen niedrer Art, ja von Blutschande die Rede ist, bewahrt sie immer ihr keusches und bescheidenes Wesen, während sie doch bald jene Leichtigkeit und Sicherheit erlangt, die ihr anfangs etwas gefehlt zu haben scheinen, die aber eine Frau von vornehmer Anlage, zumal wenn sie eine Mutter wie Mad. de Vergennes gehabt, schnell findet. Man muß in diesen »Denkwürdigkeiten« die Auftritte von Mortefontaine und, nach der Errichtung des Kaiserthums, die Szenen in Saint-Cloud lesen, um sich einen Begriff von dem Ton zu machen, der in dieser Familie und an diesem Hofe herrschte. Noch schlimmer freilich als der Ton waren die Sitten und die Gesinnung. Alle niedersten Leidenschaften traten da mit einem krassen Cynismus auf, der einen manchmal geradezu anwidert. Alles dreht sich um Befriedigung der gemeinsten Genußsucht und der erbärmlichsten Eitelkeit. Man glaubt unter Spielern und Freudenmädchen zu sein, und man täuscht sich kaum, wenn man es glaubt. Josephine selbst – noch die Beste in der ganzen Gesellschaft – ist die echte Courtisane: immer mit Putz beschäftigt, immer in Schulden, in vollständiger Unkenntnis des Geldwerthes, gutmüthig, anmuthig, ohne Sinnlichkeit, aber eifersüchtig aus Eigenliebe, immer im Rausche der Feste, die Gedankenlosigkeit selber. Mad. de Rémusat hat uns die frischesten Gemälde von diesem Hofe hinterlassen, sowohl aus dem Konsulat in Saint-Cloud und der Malmaison, wo noch die naive Rohheit zu Tage trat, als aus der Kaiserzeit in Fontaineblau, wo das steifste Ceremoniell alle Bewegungen hemmte. Ohne soweit wie der Sohn zu gehen, der das letzte Kapitel neben St. Simon stellt, kann man doch sagen, daß die Schilderung dieser gähnenden Langeweile eine der gelungensten des fesselnden Buches ist. Alle Höfe sind langweilig; aber die Spioniererei, die Ängstlichkeit, die ewige Befangenheit dieses Hofes übersteigt denn doch Alles, was man von dergleichen gehört und gesehen hat. Der Herrscher weiß sich so wenig zu mäßigen, daß Jeder immer vor einem Losbruch zittert; dabei will er, befiehlt er, daß man sich amüsieren soll; allein da er die Frauenherrschaft fürchtete, ließ er keinen freien Verkehr zu: ein großer Luxus, Konzerte, Theater, Diners drängten sich; aber kein Gespräch, kein Witz, keine wahre Eleganz kamen auf; selbst Liebesintriguen waren selten, oder es waren einfache sinnliche Launen, die den Tag ihrer Geburt und Befriedigung nicht überlebten. Alles war mürrisch, verdrießlich oder gemein an diesem Hofe, wo die Gesellschaft den Tag über schwieg und gähnte, alle Abende aber im Theater einschlief.

Auch geistig stach Mad. de Rémusat gar sehr ab von diesem Kreis in Saint-Cloud und der Malmaison. Mit Ausnahme Napoleons hatte eigentlich Niemand in dieser Gesellschaft gelesen. Josephine »öffnete nie ein Buch«; ja Napoleon selber las eigentlich nur halb. »Kaum hatte er ein Buch aufgeschlagen, so wollte er auch schon urtheilen.« Kein Wunder, wenn Mad. de Rémusat in dieser Umgebung beinahe den Eindruck einer kleinen Pedantin machte; und Bonaparte ließ sie's zuweilen fühlen. Sie hatte nämlich von ihrer bedeutenden Mutter einen besonders sorgfältigen Jugendunterricht erhalten. Ihre Bagage an Gelehrsamkeit war darum doch noch gar leicht, verglichen mit dem, was unsere Mädchen heutzutage lernen. Freilich hatte sie die wenigen Bücher, die sie kannte, auch gelesen; heute sollen die jungen Frauen soviel Bücher über die Bücher zu lesen haben, daß sie nicht mehr dazu kommen, die Bücher selbst zu lesen. Mad. de Rémusat hatte die eigentümliche Bildung der Französinnen des 18. Jahrhunderts: weniger gegründet auf den Schulunterricht, als auf die Lektüre wirklich guter Autoren, genährt durch den Umgang unterrichteter Männer, und undenkbar ohne ein eingeborenes lebhaftes Interesse an geistigen Dingen und an bedeutenden Menschen, eine Bildung, deren oft erreichter Zweck nicht das Wissen, sondern das Begreifen war. Diese Art von Frauenbildung – die einzige, die wirklich Werth hat, wenn sie in der Jugend durch eine tüchtige Zucht des Denkens, anstatt durch todtes Lernen vorbereitet wird – diese Art von Bildung war fast untergegangen seit dem Absterben der Generation von Mad. d'Epinay und Madlle. de Lespinasse. Man mußte bereits, beim Versiegen der lebendigen Bildungsquelle, welche in der gesellschaftlichen Überlieferung floß, etwas nachhelfen mit methodischem Unterricht und Lehrbüchern. Die während der Revolution in die Gesellschaft eingetretenen Frauen hatten, wenn sie nicht zügellos genußsüchtig waren, schon etwas vom Blaustrumpf und der politischen Frau, bei aller ihrer weiblichen Liebesfahigkeit; man denke nur an Mad. de Staël und Mad. Roland. Als Mad. de Rémusat im Jahre 1802 an den Hof des ersten Konsuls kam, war noch der freie Ton Mad. Tallien's oder der laute Sophie Gay's der vorherrschende. Sie fühlte sich von Anfang an dieser Welt überlegen, nicht nur an Erziehung und Geburt, sondern auch an Kenntnissen; und wie sie sich ein Vergnügen daraus zu machen scheint, den Stiefsohn Bonaparte's, kurz Eugène Beauharnais, die Marquise de Talhouet und die Baronin von Andlau, Mad. Talhouët und Mad. Dandlau zu nennen, während sie vor dem Namen Rémusat nie die Partikel vergißt, – so ist sie offenbar sehr glücklich, wenn sie Jemanden und namentlich den ersten Konsul selber, der, wenn man ihr glauben darf, in diesem Punkte besonders schwach war, auf irgend einem grammatischen oder orthographischen Fehler erwischen kann. Alles das giebt ihr in der That einen leichten Anflug des Preziösen, das Talleyrand in dem Porträt, das er von ihr gezeichnet, nicht wiedergegeben hat. Dies Porträt ist übrigens so künstlich, so gewunden und gedreht, so voll schöner kleiner Antithesen, es riecht so nach Moschus, daß, wenn man es gelesen hat, Einem gar kein lebendiges Bild der Person vor den Augen steht. Ganz anders das Bildnis, das der Sohn gezeichnet hat und das ein kleines Meisterstück in seiner Art ist, wie alle, die er mit seiner leichten und doch so sichern Feder zeichnet – man lese nur das von Maret (Herzog von Bassano). Wie genau das alles ist und doch wie billig, wie wohlwollend. Und wie es geschrieben ist! Dagegen fällt die Mutter etwas ab, namentlich, wenn sie sich in ihren qui's und que's nicht zurechtfinden kann (z. B. » Tant de gens répétèrent que cette descente était possible qu'il se pourrait qu'il pensât que sa fortune lui devait un pareil succès«). Ihr Sohn ist eben ein Schriftsteller von Handwerk; sie ist eine ungedruckte Schriftstellerin, daher sie denn auch in ihren, oft in den Anmerkungen angeführten Briefen, noch weit anmuthiger erscheint, als in ihren Denkwürdigkeiten, in diesen aber die Stellen einfacher Erzählung und Schilderung des Selbsterlebten so viel frischer und gefälliger sind, als die, worin sie über die Menschen und Dinge raisonniert oder Ereignisse erzählt, deren Zeugin sie nicht war. Dies auch der Grund, warum die Theile des Buches, wo sie, um die Lücken auszufüllen, über die Feldzüge von 1805, 1806 und 1807 berichtet, während welcher sie den Kaiser persönlich aus den Augen verlor, manchmal etwas lang herauskommen. Im Ganzen jedoch ist ihr Stil äußerst natürlich, einfach, fest und von der echtesten Tradition, d. h. ohne gewollte Nachahmung oder Erlernung, nicht von dem Mad. de Sévigné's oder Mad. du Deffand's abgesehen, sondern ererbt. Ihre Porträts sind voller Leben und die Kürzesten sind die Besten; so die Fouché's, Savary's, der Marschälle, vor Allem aber der Damen und, wie's zu gehen pflegt, sind die mechantesten auch die gelungensten: Mad. de Talleyrand und Mad. Murat namentlich waren der jungen Hofdame sehr antipathisch. Soweit die kleine Frau des Hasses fähig ist, haßt sie die Feindinnen der Kaiserin und ihrer Tochter, sowie die Freundinnen Talleyrand's, dem sie – in allen Ehren – sehr zugethan war, fast ebenso sehr als ihre eigenen Nachfolgerinnen in der Gunst des Herrn. Haß und Eifersucht aber sind gute Brillen, selbst wenn sie so gemildert und abgeschwächt sind wie bei unserer Memoiristin.

Ich habe davor gewarnt, der liebenswürdigen Frau gar zu blindlings zuzustimmen, wenn man ihre Denkwürdigkeiten liest. Obschon sie behauptet, sie gäbe sich alle erdenkliche Mühe um Etwas zu finden, das sie loben könne ( je suis à chercher des occasions de louer), so fühlt man doch den Groll gegen den Einstbewunderten auf jeder Seite durch. Herr und Frau von Rémusat theilten die Begeisterung ganz Frankreichs, ja der Welt für den Helden von Marengo, als sie 1802 an den Hof des ersten Konsuls kamen. Bei der jungen Frau war's wohl auch ein noch zarteres Gefühl, und Er benutzte das, wie er Alles zu benutzen pflegte. Sie war kaum zweiundzwanzig Jahre alt, obgleich schon seit sechs Jahren verheirathet, und sie war eine der Ersten unter den Frauen der alten Gesellschaft, die sich anschlossen. Der erste Konsul bezeigte ihr viel Vertrauen, und der Kaiser bewahrte ihr seine Achtung, wenn schon mit etwas mehr Zurückhaltung; hatte er doch jetzt andere große Damen an seinem Hofe aufzuweisen und Namen, neben denen die der Vergennes und Rémusat fast bürgerlich klangen. Nach der Scheidung folgte Mad. de Rémusat Josephinen in ihre Zurückgezogenheit, und Napoleon machte keinen Versuch sie zurückzuhalten. Obgleich ihr Mann einige seiner Ämter behielt, so entsagte er doch demjenigen, welches ihn der Person des Kaisers besonders nahe brachte: und es scheint nicht, als ob es besonderen Drängens bedurft hätte, um die Entlassung zu erlangen. Von dem Augenblicke fingen Beide – Mann und Frau – an, sich etwas jener kleinen schmollenden Opposition der Pariser Salons anzuschließen, die sich nach dem Mißerfolge des spanischen Krieges zu bilden begann. Sie hatten sich überdies immer näher mit Talleyrand verbunden und Talleyrand war in Ungnade. Ein Diner, das er bei ihnen in Fouché's Gesellschaft einnahm, Bei Gelegenheit der der Wittwe Lavoisier's, Mad. de Rumford, angedrohten Ausweisung und um sich über die Mittel zu berathen, wie dieselbe abzuwenden wäre. Herr P. de Rémusat wird mir verzeihen, wenn ich ihm bei der Gelegenheit bemerke, daß Rumford kein Deutscher war, wie er meint, sondern ein Amerikaner, der in bayrischen Diensten gewesen, und dessen Laufbahn bezeichnend genug für das vorige Jahrhundert ist, um wenigstens eine Kenntnisnahme zu verdienen. – Ich habe früher wohl meine Zweifel an Talleyrand's Opposition gegen die spanische Einmischung geäußert, Der 3. Band von Mad. de Rémusat's Memoiren beweist, daß er sich, wenigstens seinen Freunden gegenüber, von Anfang an entschieden gegen dieselbe ausgesprochen hat. erweckte den ganzen Argwohn des Herrn, der immer mißtrauischer geworden war, und es kam beinahe zu einer Katastrophe.

Im Jahre 1814 nahm M. de Rémusat eine Präfektur an, und er zeigte während der Hundert Tage eine Festigkeit im Sinne der bourbonischen Legalität, welche man ihm kaum zugetraut hätte, da man ja immer geneigt ist, für Leichtigkeit des Charakters zu halten, was oft nur Leichtigkeit des Temperaments ist. In dem Höfling war denn doch noch etwas vom Zeuge des alten Parlamentariers. Mad. de Rémusat, in welcher der halberstickte Samen ihrer royalistischen Erziehung plötzlich wieder aufgegangen war, und welche die Rückkehr der Bourbonen mit der ganzen Begeisterung der Restaurations-Romantik von 1814 begrüßt hatte, zitterte wohl ein wenig während der Hundert Tage. So lange sie Hofdame bei Josephinen gewesen, hatte sie ein Tagebuch gehalten. Nun glaubte sie alle Augenblicke eine Haussuchung seitens des frühern Herrn befürchten zu müssen, der, so sagte man, mit all dem Groll zurückgekehrt war, dessen sie ihn fähig wußte sie verlor den Kopf und verbrannte ihr Manuskript. Sie begann 1818 es aus dem Gedächtnis wiederherzustellen; aber es waren zehn Jahre vergangen, seit sie den Hof des Kaisers verlassen, sechzehn, seit sie ihn zum ersten Male betreten hatte; die Bourbonen waren die Herren und obschon man in Mad. de Rémusat's Kreisen ein liberaleres Königthum gewünscht hätte, so hatte man sich doch angeschlossen und man glaubte noch an die Legitimität. Die Bewunderung für Bonaparte dagegen hatte längst einem höchst verschiedenen Gefühle Raum gegeben und, vor allem, sie hatte sich daran gewöhnt, den Kaiser nur noch mit den Augen Talleyrand's anzusehen, mit dem sie und ihr Mann sich, wie gesagt, schon vor, mehr noch freilich nach der gemeinsamen Ungnade sehr befreundet hatten, wenn man das etwas starke Wort Ungnade für die kühle Stimmung gebrauchen darf, welche den Rémusats gegenüber an die Stelle der alten Gunst getreten war. Dem vornehmen Genüßling behagte es in den natürlich-reinlichen Verhältnissen dieses Hauses, wie ein Feinschmecker sich nach einer Pariser Dinersaison die schlichte Hausmannskost in der Provinz wohl schmecken läßt; und die junge Frau fühlte sich geschmeichelt, daß der erste Mann Frankreichs nach dem Kaiser ihren kleinen Haushalt und ihre Unterhaltung denen aller Grüßen und Berühmtheiten vorzog. Ohne blind für ihren Freund zu sein, ohne sogar seine bodenlose Korruption in Abrede zu stellen, sucht Mad. de Rémusat doch dieselbe auf alle Weise zu erklären und entschuldigen; ja sie giebt uns allerhand Aufklärungen über seine Jugend und was er ungerecht zu leiden gehabt, um unser Mitgefühl für den armen, durch die Unbill Verhärteten zu erwecken. Was nun gar das Politische anlangt, so schwört sie nicht höher als bei ihm; und auch seine Urtheile über Menschen nimmt sie fast ohne Prüfung an. Viele der Anekdoten, welche in den Denkwürdigkeiten berichtet werden, hatte sie von ihm gehört und man weiß, mit welcher Virtuosität er dergleichen zu erfinden und auszuschmücken, oder vielmehr zurechtzuschneiden wußte, so daß Er immer das glückliche Wort darin hat. Allerdings sind diese Anekdoten darum nicht weniger unterhaltend, weil sie zweiter Hand sind; und die meisten gehören zu der besten Art der Anekdoten, d. h. zu den charakteristischen.

Abgesehen indeß von diesen Geschichten und von Talleyrand's Einfluß, ist es schon an und für sich etwas Anderes, Napoleon mit den Gefühlen von 1818 und mittelst abgeschwächter Erinnerungen geschildert zu sehen, als es gewesen wäre, ihn in voller Sonne von einem Maler konterfeit zu schauen, der selbst unterm Zauber war, wie Mad. de Rémusat im Jahre 1802. Diese Bewunderung gehört ja mit zum Bilde, wenn es vollständig und wahr sein soll. Man sieht Napoleon nicht wie er nach dem Frieden von Amiens war, wenn man nicht die Begeisterung der ganzen Welt und den Hoffnungsrausch mit- und nachempfindet, welchen der Überwinder der Anarchie und der Gesetzgeber der modernen Gesellschaft erregt hatte. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß der Bonaparte, wie sie ihn 1818 im Lichte der späteren Ereignisse sah, nicht richtiger sei, als das Bild, das sie sich 1802 von ihm gemacht hatte; aber dieses posthume Porträt können wir uns Alle selber machen; jenes erste der Frühlingstage muß durchaus von einem Augenzeugen entworfen sein. Und was für ein Zeuge war Mad. de Rémusat: welche Feinheit, welcher Verstand, und bei all ihrer ersten Eingenommenheit, ihrem späteren Unmuth, welch weiblicher Blick! Man muß nur einmal die Briefe und Bemerkungen Sismondis über die Hundert Tage lesen, die Villari vor kurzem in der » Revue historique« veröffentlicht hat, um zu sehen, wie sehr ein Mann von Talent, ein Gelehrter, ein Liberaler von Gesinnung an wirklicher Einsicht einer einfachen Weltdame nachsteht, die keine politischen »Grundsätze« zu haben geruht. Der ernste Historiker hat gar Nichts von den Ereignissen gelernt, weder von 1808, noch von 1812, noch von 1814, er begnügt sich bei allen on-dit's , hört auf alle écoute-s'il-pleut, hat gar keine Anschauung von den Wirklichkeiten dieser Welt, glaubt mit ganzem Herzen an des Kaisers neuerwachten Liberalismus – und alles das mit einer naiven Vertrauensseligkeit, die an die Einfalt rührt. Etwas freilich von dem Zauber, dem der ehrliche Genfer 1815 nicht zu widerstehen vermochte, und den auch Mad. de Rémusat mit besserm Grunde gegen 1802 und 1803 erfahren hatte, ehe sich noch die unerträglichen Unarten und Laster entwickelt hatten, welche später die großartige Erscheinung des Wundermannes verunstalteten, verräth sich gerade in ihrer weiblichen Bitterkeit und sie selber fühlt's, wenn sie mit Hermionen ausruft:

Ah, je l'ai trop aimé, pour ne le point haïr. Daß Charles de Rémusat den schönen Vers falsch citiert haben sollte (I, 32), scheint mir kaum glaublich. Es wird wohl ein Versehen seines Sohnes Paul sein, der seines Zeichens ein Naturforscher, nicht ein Literat ist; und den die Härten dieser Korrektion Racine's (er schreibt: Va, je t'ai trop aimé, pour ne point te haïr) nicht so sehr verletzen konnten, als sie den Vater sicherlich verletzt hätten.

Aber das erste Bild, was sich ihr und der Menschheit ausdrängte, ist dadurch doch etwas verzerrt; und deshalb gerade muß man – den Verlust des früheren Manuskriptes so lebhaft bedauern, welches unterm Eindruck jedes Tages geschrieben war. Indeß auch in der Gestalt, in der wir sie haben, bieten diese Denkwürdigkeiten Allen, welche die großen sagenhaften Gestalten der Geschichte gerne etwas in der Nähe sehen, einen höchst anregenden Genuß.

Worin, fragt man sich wohl bei solchen Gelegenheiten, besteht eigentlich der Reiz dieser Art von Lektüre und warum scheinen die Franzosen allein das Geheimnis dieser Kunst zu besitzen? Die Italiener und Deutschen haben sicherlich höchst interessante Autobiographien, die sogar oft als literarische Denkmäler und an geistigem und sittlichem Gewicht weit bedeutender als die der Franzosen sind; aber die Einen geben meist nur die persönlichen Abenteuer des Erzählers, die Andern berichten oft nichts als die inneren Ereignisse, die Seelenvorgänge, und bringen höchstens ein paar Kapitel Literaturgeschichte. Die Franzosen dagegen zeigen uns in ihren Denkwürdigkeiten die Mächtigen, von denen das Geschick von Millionen abhängt, und die in der Geschichte eine tiefe Spur hinterlassen haben, in ihrem Privatleben oder am Werke, aber so, wie sie sich in der Nähe besehen ausnehmen. Vielleicht werden auch die Deutschen, die Italiener in Zukunft ihre Memoiristen haben, die fesselnder sind als die Historiker, nun sie Nationen geworden sind und Männer besessen haben oder besitzen, welche diesen ganzen Nationen und ihrer ganzen Zeit ihren Stempel aufgedrückt. Und doch; selbst bei den Engländern, die seit so langer Zeit schon ein so großes öffentliches Leben, einen so großen Mittelpunkt und Herd des Nationallebens haben, warum sind ihre Pepys' und Evelyn's, ihre Greville's sogar, wenn auch höchst unterhaltend, doch in ihrer Art so verschieden von den Retz' und St. Simon's, als es nur die Goldoni und Alfieri, die Jung-Stilling, und Kügelgen sein können? Man behauptet, die Sprache eigne sich weniger dazu und daß sie es ist, welcher die französischen Memoiren all ihren Reiz verdanken; aber das heißt mit Worten spielen: was ist denn die Sprache anders als der Charakter selbst und der Geist einer Nation, wie er in bestimmten Zeichen festgehalten ist? Die Frauen, höre ich sagen, spielen gar keine oder nur eine unbedeutende Rolle in den englischen Memoiren, weil sie keine oder doch nur eine unbedeutende Rolle im Staatsleben Englands spielen; und das Interesse erlahmt, wenn keine Frau da ist, die den Kampf der Leidenschaften unter den Männern erleuchtet, erwärmt, belebt und doch zugleich mäßigt. In Frankreich, wie Mad. de Rémusat selber sein bemerkt, »giebt ja die Sitte den Frauen immer Wichtigkeit und Freiheit, so daß es ihnen stets erlaubt ist, die Rangverhältnisse auszugleichen«, worin ein großes Geheimnis des französischen Salons liegt; auch bin ich sehr geneigt zu glauben, daß dies viel dazu beiträgt, jene Überlegenheit der Memoirenliteratur zu erklären; allein ganz erklärt es dieselbe doch nicht. Die Engländer, wirft man weiter ein, sind fast immer daheim, was sie im Parlamente sind; sie nehmen keine Attitüden an; sie sind keine Schauspieler, und, wo so wenig Komödie ist, hat man auch wenig Freude dran hinter die Koulissen zu dringen. Auch das mag wahr sein, obschon es nicht so absolut zu nehmen ist, so wenig wie Chateaubriand's bekannte Erklärung aus der Eitelkeit der Franzosen, die ihm nicht erlaube, wie's dem Historiker gezieme, sich selbst aus dem Spiele zu lassen, aus der Oberflächlichkeit ( légèreté), die ihn beim Einzelnen festhalte und es ihm schwer mache, sich zum Gesammtüberblicke zu erheben und aus seiner leidenschaftlichen Parteisucht, die er in diesem Genre besser befriedigen könne, als in der Geschichte. Das sind Alles Nebenursachen.

Die Hauptursache des größeren Interesses, welches die französischen Denkwürdigkeiten bieten, selbst wenn sie keine literarischen Musterwerke sind, wird doch immer die bleiben, daß Hof und Stadt, Literatur und Welt, Gesellschaft und Staat sich nirgends so, wie in Frankreich, durch eine lange nationale Geschichte gegenseitig durchdrungen haben und daß diese Verschmelzung eine in ihrer Art so vollständige Welt hervorgebracht, aus dem Bewohner dieser Welt ein in seinem Sinne so vollkommenes geselliges Wesen gemacht hat, so frei und doch so mäßig, so lebhaft und so taktvoll, so scharf und zugleich so wohlwollend, so kunstreich und doch so anscheinend natürlich, daß es nicht leicht ist, sich seinem Zauber zu entziehen. Es muß uns nicht irre machen, daß diese Welt, trotz ihres Anscheins leichter Natürlichkeit, im Grunde etwas Gemachtes ist. »Die Kultur, das Leben, vergessen wir's nicht, ist eine erlernte und erfundene Sache, vervollkommnet im Schweiße des Angesichts von vielen Generationen und Dank einer Reihe von genialen Männern, denen wiederum eine unendliche Zahl von Männern von Geschmack folgten und nachhalfen.« So Saint-Beuve im Jahre 1849, als dem französischen »Leben«, d. h. der französischen Gesellschaftstradition schwere Gefahren drohten: Worte, die eigentlich nur in Frankreich ganz wahr sind. Was aber sind die französischen Memoiren, als dieses über den Tod hinaus fortgesetzte Leben in der Geselligkeit und in der Unterhaltung, in eleganten Formen und zärtlichen Verhältnissen? Wird dem immer so sein? Man ist versucht daran zu zweifeln, Angesichts der Dinge, deren Zeugen wir seit einigen Jahren sind. Allein gerade weil Grund da ist, daran zu zweifeln, müssen wir uns keine Gelegenheit entgehen lassen, um durch jedes Fenster, das sich uns nur öffnen will, hineinzusehen, um noch einen Blick zu erhaschen auf eine verschwindende Welt. Und das Schauspiel, das Mad. de Rémusat uns aufdeckt, hat überdies noch den besondern Vortheil, daß wir sehen, wie schon einmal die französische Gesellschaftstradition sich aus schlimmerer Überfluthung der Mittelmäßigkeit und Heftigkeit, der Gewalt und Rohheit, siegreich wieder herausgearbeitet hat. Auch die jetzige Herrschaft der Handlungsreisenden, Schullehrer und Bader oder vielmehr ihrer Organe und Vertreter, wird die wahre französische Bildung, so wenig wie die echt französische Gesellschaft nicht auf die Dauer zu unterdrücken im Stande sein. Ist doch diese Bildung und Gesellschaft keineswegs ein Privileg der monarchischen und klerikalen Parteien; ist sie doch nirgends lebendiger, nirgends seiner vertreten, als in den Kreisen der konservativen Republikaner, die sich wahrlich das Szepter der französischen Gesellschaft nicht werden entringen lassen, wie sie sich schon das Steuer des französischen Staates haben entreißen lassen. Aber, verirren wir uns nicht. Kommen wir zu unserer anmuthigen und klugen Führenin zurück, und nun wir sie selber uns angesehen haben, sehen wir uns auch ein wenig den Mann an, der alle ihre Bände mit seiner gewaltigen Persönlichkeit erfüllt, und der uns hier doch in Manchem als ein Andrer erscheint, denn der Bonaparte, den wir bis jetzt zu kennen geglaubt.

II.

Nichts ist merkwürdiger und belehrender als in der Geschichte der Meinungen die unausgesetzten Wechselfälle zu verfolgen, welchen gewisse Namen unterworfen sind, nachdem die Träger dieser Namen längst verschwunden sind. Und man sage nur nicht, es komme ein Augenblick, wo die Nachwelt ein endgültiges Urtheil falle. Das mag wahr sein, was die unbetheiligten Zuschauer der Menschen-Komödie und -Tragödie anlangt – unbetheiligt, meine ich, nicht theilnahmlos; Die brauchen übrigens nicht einmal die Zukunft abzuwarten, um ihr Urtheil zu fällen. Für das jedoch, was man die Meinung zu nennen pflegt, hört die Fluth und Ebbe nie auf, weil die Meinung nicht das Ergebnis kühler Beobachtung, unparteiischer Vergleichung und Schätzung der Thatsachen, heiteren Nachdenkens über diese Thatsachen ist, sondern das Erzeugnis der Leidenschaften und der Interessen, und es keinen historischen Namen giebt, so alt er auch sein mag, und wäre es der Cäsar's oder Mahomet's, der nicht unmittelbar unsre Leidenschaften und Interessen berührte.

Cromwell z. B. ist heute außerordentlich beliebt in England und – was gewiß den Geschichtsschreiber nicht wundern wird – er ist es vornehmlich bei den Radikalen, den Feinden der Religion und des Despotismus, die, so sollte man meinen, ihn verabscheuen sollten und welche in der That, in diesem Augenblick englischer Eingenommenheit für die französische Tagesmeinung, ganz besonders streng gegen den französischen Cromwell sind, gegen Napoleon Bonaparte, der ihnen, wie den heutigen Franzosen, ein einfacher selbstsüchtiger Tyrann ist, während ihr Cromwell ihnen als »der größte Monarch der englischen Geschichte« erscheint. Im Grunde nämlich hat man eine Art revolutionärer Sympathie für den homo novus, der die zwei alten Bäume des Königthums und der Kirche fällte und – die Zeit nicht hatte, neue zu pflanzen oder auf den Stumpf der alten zu pfropfen. Napoleon hatte die Zeit dazu. Dies und die Thatsache des Überlebens seiner Familie, sowie auch die Ereignisse der dreißig letzten Jahre haben seinen Namen zu einem äußerst unpopulären in denselben gesellschaftlichen Regionen Englands gemacht, wo man den Cromwell's nicht genug preisen kann, in denselben Sphären Frankreichs, wo man den Napoleons selber vor vierzig Jahren in den Himmel erhob, zur Zeit als der Minister des Innern im Kabinet Thiers, Charles de Rémusat, in einer berühmt gebliebenen Rede die »Rückbringung der Asche« befürwortete und den großen Kaiser den »legitimen Herrscher« Frankreichs nannte. Noch siebzehn Jahre später, als er unter Napoleon III. die Vorrede schrieb, die dem dritten Bande dieser Denkwürdigkeiten vorangeht und die mir dem Inhalt wie der Form nach das Schwächste zu sein scheint, was der ausgezeichnete Mann je geschrieben, noch unterm zweiten Kaiserreich glaubte Graf Rémusat, das Urtheil seiner Mutter über den großen Kaiser werde nie volksthümlich werden; nur in den Kreisen, wo man denke, werde die Wahrheit durchdringen; für die Masse der französischen Nation werde der Name immer seinen alten Klang behalten. Was würde er heute sagen, wenn er Zeuge wäre, wie auch nicht eine achtunggebietende Stimme in Frankreich Einrede zu erheben wagt, wenn der Mann des 18. Brumaire als der Urheber alles Unglücks bezeichnet wird, welches das Vaterland seit achtzig Jahren befallen hat? Darf man behaupten, wie es Herr Paul de Rémusat thut, der jene Worte seines Vaters ganz vergessen zu haben scheint, darf man sagen, »daß die Gerechtigkeit des heutigen Frankreich der wahren Gerechtigkeit näher ist«, als die von 1840? Mir scheint, daß beide Extreme gleich viel oder gleich wenig werth sind; und es will mich dünken, daß keines von beiden Urtheilen, weder das von damals, noch das von heute, gerechter sei als das von 1800, da die Welt in Bonaparte einen modernen Titus, – delicias generis humani –, den Gründer einer neuen Ära in der Geschichte Europas sah.

Wie oft haben sich die Franzosen seit 1800 nicht am Ende der Revolution geglaubt. Und wieviel zuversichtlicher noch, als sie es heute glauben! Wer die Januartage von 1870 nicht miterlebt hat, kann sich nicht vorstellen, wie weit das Zutrauen in die Festigkeit der menschlichen Dinge gehen kann. Und war es nicht ebenso nach 1830, als Augustin Thierry selber ausrief: »Alles ist erneuert, ohne daß die Überlieferung abgebrochen wäre ... Wir haben das Ziel vor Augen, das die Vorsehung in einer sechshundertjährigen Arbeit verfolgt hat.« Und wenn der größte Historiker des Jahrhunderts nach 1830 hat glauben können, Alles sei fertig, wie hätte 1818, als das geschichtliche Herrscherhaus nach einer fünfundzwanzigjährigen Zwischenzeit wieder auf den Thron des heiligen Ludwig gestiegen war, eine erregbare und hingerissene Frau nicht die Zeit, wo sie lebte, glücklich, hundert Mal glücklich preisen sollen, »da alle Erfahrungen erschöpft waren und nur Unsinnige noch über den Weg zweifeln konnten, der zum Heile führte«. In keinem Augenblicke des Jahrhunderts jedoch war Frankreich berechtigter, sich im Hafen zu dünken als an der Schwelle des Jahrhunderts selber; zuvörderst, weil's das erste Mal war und man die Trüglichkeit solcher Hoffnungen noch nicht erfahren hatte; dann auch wegen der positiven und beispiellosen Ergebnisse, die man schon erlangt hatte; endlich und namentlich, weil die absolute Einstimmigkeit der Nation selber die neue Gewalt aufgerichtet hatte.

Es ist heute die Mode, den 18. Brumaire wie den 2. Dezember zu beurtheilen, und den 2. Dezember als einen unerwarteten Überfall und eine Frankreich angethane Gewaltthat darzustellen. Ich habe keinen Beruf und gewiß auch keine Lust, die Apologie des 2. Dezember zu schreiben, aber es wird mir, an anderer Stätte, nicht schwer werden, durch Zeugen, welche sicher der Parteilichkeit für den Prinz-Präsidenten nicht verdächtig sind, zu erhärten, daß, wenn der Staatsstreich von 1851 von Einigen gefürchtet und von Vielen als eine traurige, aber unausweichliche Nothwendigkeit angesehen wurde, er von der ungeheuren Mehrheit der Franzosen gewünscht, von Allen erwartet war. Alles das war freilich in noch viel höherem Grade am 18. Brumaire der Fall; und der 18. Brumaire hatte den zweifachen Vortheil über den 2. Dezember, daß er von einem blendenden, unwiderstehlich verführerischen Manne ausgeführt wurde, und daß seine Gegner den Frondeurs von 1852 an Moralität, Intelligenz und sogar an Zahl weit nachstanden. Nun sind es aber diese Frondeurs, die am Ende die »Meinung« über den 2. Dezember bestimmt haben, wie auch sie es sind, welche die Geschichte desselben geschrieben haben. Die Leute Louis Philipp's und Cavaignac's, wie sie auch sein mochten, wogen ganz anders schwer als die Überlebenden des Konvents und des Direktoriums, die sich etwa dem neuen Machthaber nicht unterwarfen. Auch muß man nicht vergessen, daß, so unerträglich die Lage von 1851 war, sie sich doch nicht mit der von 1799 vergleichen läßt. Wie dem auch sein mag, sie war unentwirrbar, und der gordische Knoten wurde zerhauen. Es wird den nachwachsenden Geschlechtern, welche die Dinge nicht mit eignen Augen gesehen haben, gar schwer, sich einen Begriff von solcherlei Lagen zu machen, und die Besiegten verfehlen nie, sie ihnen so darzustellen, wie sie selber sie sehen, d. h. durch den Schleier des Ärgers und der Leidenschaft. Daher sind denn auch alle Revolutionen Frankreichs seit achtzig Jahren von diesen neuen Generationen gemacht worden; oder, um ganz genau zu sein, die der Gewalt Entsetzten haben sich nacheinander des Pariser Pöbels als materiellen Werkzeuges, der feurigen und strebsamen Jugend der neuen Geschlechter als moralischen Werkzeuges bedient, um umzustoßen, was sich an ihrer Stelle eingerichtet hatte. Dieses moralische Werkzeug aber heißt man »Meinung«.

Pflicht des Geschichtsschreibers ist, sich nicht von der »Meinung« hinreißen zu lassen und die Dinge selber in's Auge zu fassen, sie soviel als möglich jedoch im Lichte des Tages zu schauen, wo sie vorgegangen sind. Der Geschichtsschreiber, der im 18. Brumaire das Attentat eines Usurpators auf die Nation und ihre Rechte sähe, würde schon dadurch beweisen, daß ihm die erste Erfordernis zum Geschichtsschreiben abginge. Der Geschichtsschreiber kann wohl – er soll sogar – politische Überzeugungen haben: er mag die Revolution, den Despotismus, den Eroberungsgeist verabscheuen; aber er hat nicht das Recht, diese seine Gefühle Generationen zu leihen, denen sie unbekannt waren. Thatsache ist – Tocqueville sah es wohl und war doch sicherlich kein Cäsarianer – Thatsache ist, daß das Frankreich von 1799 nach Ordnung lechzte und sie um jeden Preis wieder hergestellt wissen wollte, selbst um den Preis der Ungesetzlichkeit. Es war ein allgemeines, ein leidenschaftliches, ruere in servitium. »Mein ganzer Antheil am Ausführungskomplott«, konnte General Bonaparte nach dem 18. Brumaire sagen, »beschränkt sich darauf, zu einer bestimmten Stunde die Masse meiner Besucher zu versammeln und mich an ihrer Spitze der Gewalt zu bemächtigen.« »Man kann Alles übertreiben,« fügte noch sechzig Jahre später ein berühmter Gegner des Cäsarismus, ein glänzender Vertreter des hohen Adels Altfrankreichs und ein beredter Vertheidiger der parlamentarischen Freiheit, »man kann Alles übertreiben,« sagte der Herzog von Broglie, »außer den Diensten, welche der neue Cäsar uns leistete, auf dessen Stimme, unter dessen mächtiger Hand, Alles wie durch Zauber wiederauferstanden ist.« Wer noch Beweise von dieser Stimmung Frankreichs zu haben braucht, dem liefern die Memoiren von Mad. de Rémusat, die doch bei der Beleuchtung der verhängnisvollen Ereignisse von 1814 und 1815 und im Geiste ausgesprochener Feindseligkeit, nicht zu sagen Gehässigkeit, geschrieben sind, solche Belege zu Hunderten. »Wir fürchteten durchaus nicht die Herrschaft eines Einzigen; wir eilten ihr entgegen« – so lautet das unbefangene Geständnis, das hier in's Unendliche variiert wird.

Übrigens schienen auch die Ergebnisse Frankreich damals weit mehr zu rechtfertigen, sich einen Herrn gegeben zu haben, als in unseren Tagen die Erfolge von Sebastopol und Solferino. Keine drei Jahre waren vergangen seit dem 18. Brumaire und der Frieden war in ganz Europa wie im Innern des Landes hergestellt. Und welcher Frieden! Die Grenzen der Republik waren bis an die Alpen und den Rhein von Basel zum Meere hinausgeschoben. Die Geschicke Deutschlands und Italiens lagen in der Hand Frankreichs. England selbst war gezwungen worden, die französischen Kolonien herauszugeben und die Herrschaft seiner alten Feinde in Antwerpen, Mainz und Chambèry anzuerkennen. Im Innern vollkommenste Sicherheit des Verkehrs; die Religion wieder hergestellt, ohne irgend ein gefährliches oder demüthigendes Zugeständnis an's Papstthum; der Besitz der Nationalgüter ihren Erwerbern gesichert, oder mit andern Worten, das Agrargesetz und die neue Eigenthumsordnung verwirklicht; die Finanzen geordnet; das Vertrauen überall im Aufblühen; und mehr als das die sechs Pfeiler des neuen Frankreich theils schon aufgestellt, theils im Begriff aufgestellt zu werden, jene Pfeiler, die es noch heute halten und ihm erlaubt haben, fast ungestraft sechs Revolutionen und drei Invasionen über sich ergehen zu lassen: die Justiz, die Verwaltung, die Kirchenverfassung, die Universität, die Heeresordnung und das Finanzsystem. Die Gesetzbücher auch, welche die Charte dieses neuen Organismus sein sollten und ebenfalls unversehrt geblieben sind, waren schon mehr als skizziert, waren zum Theil schon vollendet. Soviel für die Interessen. Die Phantasie war nicht minder befriedigt. Von den beiden einzigen Ornamenten des neuen Gebäudes, die noch heute daran haften, war das Eine, die Ehrenlegion, bereits entworfen, das Andere,– die Reorganisation des »Institut de France«, schon in Angriff genommen. Die Übersteigung des St. Bernhard und Marengo hatten den phantastischen Ruhm des Siegers von Arcole und den Pyramiden auf den Gipfel gebracht. Ein neuer Hof bildete sich um den jungen Helden und war im Begriffe – so schmeichelte man sich – die alte Überlieferung französischer Eleganz wieder in's Leben zu rufen.

Er selbst war im Glanze seiner dreißig Jahre. Ein römisches Kaiserprofil; eine Stirn und Augen, aus denen der Genius leuchtete – der schon so große Genius des Gesetzgebers, und zugleich der höchste wie der überwältigendste Genius der Menschen, der des Feldherrn; eine Rede, die unwiderstehlich war, wenn sie schmeichelte; unwiderstehlicher noch, wenn sie befahl. Leiblich wie geistig stand er in seiner » beauté du diable«. Sein Lächeln war bezaubernd: »es entwaffnete und verjüngte seine ganze Erscheinung – und es war schwer, sich nicht davon berücken zu lassen.« Nichts an ihm erinnerte an die langsam reifenden Früchte des Nordens. Alles war südlich, selbst die Frühreife seines Genies und das Verführerische seiner Jugend. Denn die Schönheit des Südländers ist im Flaum der Jugend wie die des Nordländers, die physische sowohl als die geistige, in der Reife des Mannesalters. Alexander hätte ein Bäuchlein bekommen, wenn er gelebt hätte; Bonaparte wäre Alexander geblieben, wenn er nach dem Frieden von Amiens gestorben wäre. Denn »in der Gestalt, wie der Mensch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten«. Was wäre es erst moralisch, wenn Bonaparte vor dem Friedensbruch und vor der Hinrichtung des Herzogs von Enghien weggerafft wäre? Würde er der Nachwelt nicht als ein Washington voll Anmuth, ein Hoche von Genie erscheinen? Mehr noch, als der Einzige, welcher fähig gewesen wäre, die Größe und die Ruhe Frankreichs zugleich mit dem Frieden Europas zu erhalten?

Ich höre wohl auch die andere Frage: warum ist er nicht geblieben, was er 1802 war? Die Republik – oder wenn er die Erblichkeit angenommen hätte, die moderne Monarchie – zählt heute achtzig Jahre Dauer, d. h. sie hätte die Verjährung für sich, als welche die einzige unangefochtene oder doch die wenigst bestrittene Quelle und Sanktion einer Regierung ist. Ich gestehe, daß ich solche Fragen nicht recht begreife, die doch immer wieder auf die alte Forderung hinauslaufen, daß die Apfelbäume Orangen und die Orangenbäume Äpfel tragen sollen. Nicht, als ob ich zweifelte, daß es – psychologisch gesprochen – ganz gut möglich gewesen wäre, im Jahre 1802 innezuhalten. Ich glaube selbst, daß Richelieu und Cromwell, daß auch unser nationaler Staatsmann, noch vor Luneville und den Säkularisationen innegehalten hätten, wenn sie an Bonaparte's Stelle gewesen wären; aber Bonaparte konnte es nicht, denn er war Bonaparte. »Warum ging Alexander nach Asien?« fragt sich Herder und antwortet sich: »weil er Alexander, Philipps Sohn, war.« Das größte Interesse des ersten Bandes dieser Memoiren Mad. de Rémusat's ist ja gerade, daß sie uns, ohne es zu wollen, im Bonaparte von 1802 schon den Napoleon von 1812 zeigt, während selbst ihr Sohn noch von der Zeit spricht – nach dem 18. Brumaire, man vergesse es nicht – wo der erste Konsul »vorwurfsfrei« gewesen sei. Nur die Leute, die sich einbilden, es stehe uns frei, unsern Charakter zu ändern, können annehmen, er hätte die absolute Gewalt anders zu gebrauchen vermocht, als er sie gebraucht hat. Das Übel war keineswegs in der absoluten Gewalt, sondern im Menschen. Der Absolutismus kann gut oder schlecht sein, wie die Republik oder die parlamentarische Monarchie, die Demokratie oder die Aristokratie, je nachdem er mit Talent, Uneigennützigkeit und Mäßigung oder mit Unfähigkeit, Selbstsucht und Gewaltsamkeit ausgeübt wird. Ich weiß, daß viele meiner liberalen Freunde diese Ansicht nicht theilen; aber ich hoffe, sie sind wirklich liberal, d. h. tolerant genug, um mich diese Ansicht aussprechen zu lassen, ohne mich deshalb als einen Abtrünnigen zu behandeln; diese Ansicht aber ist, daß, da der Absolutismus Napoleon nicht gehindert hat, die größten gesetzgeberischen Thaten zu verrichten, die überhaupt in der Geschichte von einem Einzelnen verrichtet wurden, dieser selbe Absolutismus ihn nicht gehindert haben würde, ebenso dauerhafte Dinge in der Politik auszuführen, wenn die Natur ihm den Charakter und das Temperament eines Cäsar oder eines Friedrich des Großen gegeben hätte, anstatt des Charakters und des Temperaments, die wir kennen.

Gewiß giebt es Untugenden, welche die Ausübung der unumschränkten Gewalt beinahe immer über Gebühr entwickelt, welches auch die Natur dessen sei, der sie ausübt, und wo auch immer er sie ausübe, im Kloster oder auf dem Throne: eifersüchtiges Mißtrauen und Polizeigeist; Ungeduld gegen jeden Widerspruch, käme er auch von dem Ergebensten, wie gegen jedes Hindernis, wäre es auch das selbstgegebene Gesetz; ungemessenes Vertrauen in die eigene Unfehlbarkeit; oft auch reizbare Empfindlichkeit gegen Kritik, wie breite Zugänglichkeit für Schmeichelei – und Napoleon hatte sie Alle, diese erworbenen Untugenden, im höchsten Grade; aber sie sind alle sehr wohl verträglich mit der Weisheit und dem Maße in den Plänen und Unternehmungen. Nie träumten Ludwig XI. noch Cromwell ein Weltreich; obgleich die argwöhnischsten und despotischsten aller Menschen, blieben sie doch immer Politiker, d. h. sie wollten stets nur das Mögliche. Das Eigenthümliche bei Napoleon von Anfang an ist, daß er das Unmögliche oder doch wenigstens das Riesenhafte plante. Nirgends sieht man das so deutlich, als in diesen Seiten Mad. de Rémusat's. Für den Geschichtsschreiber wird Nichts die dreißig Bände der Korrespondenz ersetzen; sie allein auch können uns einen Begriff von der Ausdehnung, der Mannigfaltigkeit, der Tiefe und Schärfe dieses Geistes geben (wie die vorm Jahr begonnene herrliche Sammlung der politischen Briefe Friedrichs des Großen uns besser als alle seine Werke und Thaten selbst die einzige Raschheit, Bestimmtheit, Wahrhaftigkeit – ich kann in dem Punkt nur mit Treitschke übereinstimmen – unseres größten Herrschergenies offenbart). Diese Weite und Gewalt des Napoleonischen Genius tritt vielleicht nicht genugsam hervor in den Denkwürdigkeiten, von welchen wir reden, oder doch nur gegen den Willen der Verfasserin, wann sie ihn redend einführt, wie sie's namentlich im ersten Bande häufig thut – die Entfernung, in der er sich als Kaiser von ihr hielt, hat zur Folge, daß der zweite Band uns weniger solcher, bald tiefen, bald witzigen Worte giebt, denn auch der Witz mangelt dem Vielbegabten nicht – aber für den Psychologen, der die geheimen Triebfedern aufdecken möchte, welche diese unvergleichliche Maschine in Bewegung setzte, kenne ich nichts Lehrreicheres als vorliegende Denkwürdigkeiten. Diese Unterhaltungen – ich sollte sagen, diese Monologe, denn er ließ seine Unterredner nicht oft zum Worte kommen –, diese Gespräche auf der Malmaison, in Saint Cloud, in Gent, in Boulogne namentlich, sind so sicher sein, als wenn sie vor hundert Zeugen geführt und augenblicklich stenographiert worden wären, so unverkennbar tragen sie das Gepräge des Mannes. Mad. de Rémusat beurtheilt ihn nicht ganz billig, nicht allein aus den schon angeführten Gründen, sondern auch weil eine solche Idealistin diesen eingefleischten Realisten eben doch nicht ganz verstehen konnte; aber jene Worte, jene Gedanken, die nur er hatte haben können, hatten ihr einen solchen Eindruck gemacht, hatten sich dermaßen in ihrem Gedächtnisse eingewurzelt, daß sie dieselben noch vierzehn Jahre später fast buchstäblich wiederzugeben vermochte, um so sicherer, da sie sich dieselben ein erstes Mal hatte in's Gedächtnis rufen müssen, um sie, kurz nachdem sie dieselben vernommen hatte, niederzuschreiben.

Was am meisten in diesen Reden auffällt, ist die abenteuerliche Phantasie des Mannes und das Bewußtsein seiner persönlichen Überlegenheit. »In Ägypten«, sagt er einmal, »fühlte ich mich frei vom Zügel einer unbequemen Civilisation; ich träumte alles Erdenkliche und sah die Mittel, alles Geträumte auszuführen. Ich schuf eine Religion; sah mich auf dem Wege nach Asien, den Turban auf dem Kopfe und in der Hand einen neuen Alkoran, den ich nach meinem Gutdünken redigiert hätte ... Jene Zeit, die ich in Ägypten zubrachte, war die schönste meines Lebens; denn es war die idealste.« Übrigens behinderte ihn, so will mir scheinen, »der Zügel einer unbequemen Civilisation« äußerst wenig. Schon anfangs 1804 träumte er von einem »französischen Kaiserreich, als dem Mutterland anderer Souveränetäten... Ich will, daß jeder der Könige Europas gezwungen sei, in Paris einen großen Palast für seinen Gebrauch zu bauen; und, bei der Krönung des Königs der Franzosen, sollen diese Könige nach Paris kommen und diese bedeutende Feierlichkeit durch ihre Gegenwart schmücken, mit ihren Huldigungen begrüßen.« Man darf freilich nicht vergessen, daß die Demuth der deutschen Fürsten, welche erst kurz zuvor nach Paris geströmt waren, um Gebietsvergrößerungen bei ihm zu erbetteln, ihm solche Träume des Ehrgeizes ziemlich natürlich eingeben mußten, Träume, die doch selbst ein Ludwig XIV. nie genährt, und die weder durch politischen Verstand noch durch ein kühles Temperament im Gleichgewicht gehalten wurden. Recht im Gegentheil stachelte dieses die ausschweifende Phantasie stets vorwärts, statt sie zu zügeln; war jener von der Sorte, welche nicht mit der Wirklichkeit rechnet. Napoleon war kein staatsmännisches Genie, das immer das Organische achtet, nach dem Organischen strebt; er war ein mathematisches, das nur das Mechanische anerkennt, nur mechanisch konstruiert. Er selber nannte die Mathematik in einem berühmten Dokumente »die erste aller Wissenschaften«; in einem Sinne mit Recht und er begriff nur den einen Sinn. Die Mathematik aber hat keine Grenzen, wie die Logik keine hat; daher auch seine Phantasie keine kennt. Denn selbst seine Phantasie ist eine mechanische, wie die Fourier's, wie die so vieler ausschließlich mathematisch gebildeten Köpfe; sie träumt immer das Ungeheure, d. h. die Multiplikation des vom Verstände Begriffnen, nie eine anschauliche Schöpfung. Man lese hier sein Erziehungsprogramm für die kaiserliche Familie, eine Art Musterschule für zukünftige Könige: alle Prinzen sollten in einem großen Paläste wohnen, in einer Entfernung von wenigstens zehn Meilen von der Residenz des Kaisers; wer auf einen fremden Thron stieg, sollte seine Kinder in diese Schule des Mutterlandes schicken u. s. w. Ganz Europa nämlich gedachte er in zwanzig bis dreißig Königreiche von je zwei bis fünf Millionen Einwohnern zu zerstückeln, die aber von Frankreich abhängen sollten. Kein Wunder, daß dieser Mann das Höchste verwirklicht hat, was die Mechanik hervorbringen kann: denn eine gewaltige Maschine hat er aus dem Material, das er vorfand, aufgerichtet; die arbeitet noch heute; einen lebendigen Staat hat er nicht geschaffen, noch weniger hat er die europäische Staatengesellschaft neugeordnet: kaum lag er darnieder, so trat die Geschichte wieder in ihre Rechte und die Dinge wurden wiederhergestellt, wie sie vor seinem Erscheinen gewesen: die europäischen Nationen sind eben keine willenlosen Steine, die man nach Belieben zusammenfügt, wie es die Franzosen waren, als sie aus der großen Walkmühle der Revolution herauskamen.

Zu dem mechanischen Verstande kam die unbesiegbare Leidenschaft. Allen großen Männern, die die Geschichte kennt, überlegen durch die Ausdehnung seines Genies, war er Allen untergeordnet durch diese Unfähigkeit sich selbst zu beherrschen. So verließ er die altfranzösische Politik, welche darin bestand, Italien und Deutschland schwach und ungeeint zu erhalten, und nur den Einfluß darin auszuüben, indem er beide Länder direkt zu beherrschen suchte, eine Tendenz, die schon in Campoformio und Luneville hervortritt und deren äußerste Folgerungen – zum Heile beider Völker – eine heftige Reaktion hervorriefen, durch diese aber die Vernichtung selbst des Einflusses.

Und wie er seine Phantasie nicht zu zügeln verstand, so vermochte er seinen Egoismus nicht zu mäßigen. Nie wußte er sich selber im Interesse des Landes zu vergessen, das er zu regieren hatte. Dies Land – nicht allein Italien, Spanien, Deutschland, sondern Frankreich selber, das er später im sentimentalen Tone von St. Helena »so sehr geliebt zu haben« behauptete – blieb immer nur ein Mittel für seine persönlichen Zwecke. Treitschke nennt ihn den »Heimathlosen,« den Mann, der mit zwanzig Jahren die Befreiung Korsikas vom französischen Joche geträumt hatte und sich am Ende an die Spitze der Unterdrücker seines Geburtslandes stellte. Das hinderte ihn nicht, den ausgeprägtesten Nationalcharakter zu tragen: Bonaparte war nicht nur im maßlosen Nepotismus Italiener, er war's in all seinem Thun und Denken; nur stellte er seinen italienischen Kopf und Charakter nicht in Italiens Dienste, auch nicht in Frankreichs, sondern in die seiner eigenen Person. Er bekannte sich zu einer großen Bewunderung Friedrichs II. »Ich glaube, das war Einer von Denen, die ihr Handwerk in jedem Sinne am besten verstanden. Die Damen, sagte er, indem er sich gegen sie wandte, werden nicht meiner Meinung sein und behaupten, er wäre trocken und egoistisch ( personnel) gewesen: aber, im Grunde, ist denn ein Staatsmann dazu da, um empfindsam zu sein? Ist er nicht eine ganz excentrische Person, immer allein auf einer Seite gegenüber der ganzen Welt auf der andern? ... kann er die Bande des Bluts, die Neigungen, die kindischen Rücksichten der Gesellschaft in Betracht ziehen?« Man sieht sofort, daß er den springenden Punkt in Friedrichs Charakter, der alle anscheinende Herzenshärte wieder gut macht, nicht einmal geahnt hat; so sehr war er in sich selber befangen. Friedrich nannte sich vom Tage seiner Thronbesteigung an den ersten Domestiken des Staats und er handelte bis zu seinem letzten Athemzuge nach diesem Grundsatz. Das erste Wort des Jünglings an die Staatsbeamten ging dahin, daß sie keinen Unterschied zwischen König und Staat machen dürften und, wenn beide Interessen je kollidieren sollten, sie das Staatsinteresse vor dem Interesse des Königs zu wahren hätten. Und welcher Deutsche erinnert sich nicht des herrlichen Briefes, den er siebzehn Jahre später als reifer Mann am Vorabende von Roßbach an seinen Minister schrieb, um ihn, im Falle seiner Gefangennehmung, auf sein Haupt verantwortlich dafür zu machen, daß keine Provinz noch Lösegeld für ihn geboten würde, und daß, falls er in die Hände der Feinde fiele, seine Person für Nichts geachtet, der Krieg für's Vaterland fortgeführt würde, »als ob er nicht auf der Welt gewesen sei«? Und auf seinem Sterbebette, nach sechsundzwanzig Jahren einer glorreichen Regierung, empfahl er nicht als oberste Regel seinem Nachfolger und allen seinen Verwandten »immer ihren persönlichen Vortheil dem Wohle des Landes und dem Vortheile des Staates zu opfern«? Wir wissen aber, daß das keine Worte waren.

Für Bonaparte dagegen war der Staat nie etwas anderes als er selber. Sagt er es doch brutal genug seinem Bruder Joseph, als der noch in Neapel regierte: Frankreich geht vor dem Lande, das Du regierest; die Armee vor Frankreich, ich vor der Armee. Das ist wenigstens der durchsichtige Sinn seiner egoistischen Worte. Im Grunde beherrschte sein Ich doch Alles, selbst in der Zeit, wo er Wertherisch schwärmte – ist denn die Wertherkrankheit überhaupt etwas Anderes als eine Variante des Egoismus? »Ich hatte mir in dem Weichbilde der Militärschule«, sagte er, wo er von seiner ersten Jugend spricht, »einen kleinen Winkel ausgesucht, wo ich mich hinsetzte, um nach Belieben zu träumen; denn ich habe immer gern geträumt. Wenn meine Kameraden mir den Alleinbesitz dieses Winkels streitig machen zu wollen Miene machten, vertheidigte ich ihn aus Leibeskräften. Ich hatte schon damals den Instinkt, daß mein Wille dem aller Anderen vorgehen und das, was mir gefiel, auch mir gehören müsse. Ich war nicht sehr beliebt in der Schule. Man braucht Zeit, um sich Liebe zu erwerben, und, selbst als ich Nichts zu thun hatte, habe ich immer dunkel gefühlt, daß ich keine Zeit zu verlieren hatte.« Wer fühlt nicht sofort heraus, daß solche nackigte Worte nicht erfunden sind, daß die Unschuld des Genies daraus spricht? Hatte Kant gelehrt, man solle jeden Mitmenschen stets als Zweck ansehen, so predigte Napoleon durch die That, daß man sie nur als Mittel brauchen dürfe. Nie ist die Menschenbenutzung im eigenen Interesse zu einer größeren Virtuosität gebracht worden. Seine wunderbare Menschenkenntnis, oder vielmehr seine richtige Schätzung der Kräfte eines Jeden, kam ihm dabei gar sehr zu statten: er stellte Jeden an den Platz, wo er ihm die größten Dienste leisten konnte; aber es fiel ihm nie ein, seinen Mitarbeitern Dankbarkeit, oder auch nur Gerechtigkeit zu bezeigen. Vom ersten Tage an empfahl er den Journalisten: »Denkt daran, in den Siegesberichten nur von mir zu reden, immer von mir, merkt Euch das.« Es fehlte Napoleon durchaus nicht an einer gewissen Empfindsamkeit; er konnte weinen »wie ein bleichwangiger Werther«, wenn er seine Frau, ja auch nur seinen »treuen« Talleyrand auf einige Zeit verlassen mußte; das hinderte ihn aber nicht, Diesen wegzuschicken, sich von Jener scheiden zu lassen, sobald es seine Interessen erheischten. » Il s'habituait, il ne s'attachait pas« sagte Lamartine von ihm.

Alles war Berechnung bei dem Menschen, selbst die Leidenschaft, die er erheuchelte. Man erinnert sich der Anekdote Alfred de Vigny's, der einst als dienstthuender Page in Fontainebleau der unfreiwillige Zeuge eines bald schmeichelnd-zutraulichen, bald heftig-lauten Auftrittes zwischen dem Cäsar und Pius VII. war. Der italienische Priester ließ sich nicht täuschen: commediante, murmelte er, als Napoleon die erste Saite berührte, tragediante, als er die zweite zu spielen versuchte. In diesen Denkwürdigkeiten von Mad. de Rémusat sind zahlreiche Szenen der Art verzeichnet und zwar schon vor 1803 und vor der lärmendsten Zorneskomödie, die er je gespielt, der beim Bruche des Friedens von Amiens. Mad. de Rémusat zeigt ihn uns heiter, ja munter, unbefangen, zutraulich mit ihr und den Gliedern seiner Familie, und wie er ganz plötzlich sein Gesicht in zornige Falten legt, als er in den Empfangssaal tritt, um Lord Withworth zu apostrophieren. Ähnliches erzählt uns – oder vielmehr seinem Kaiser – Metternich in seinen Depeschen aus den Jahren 1808 und 1809. Übrigens gesteht es Napoleon selbst mit dem ihm gewöhnlichen Cynismus, in seiner Lage könne man sich den Luxus nicht erlauben, sich unentgeltlich zu erhitzen: alle seine Zornausbrüche, wie alle seine Rührungen haben einen politischen Zweck, selbst gegenüber den Seinen. Eine Lüge kostete ihn gar Nichts, und es ist kaum zu verwundern, daß er die Macht und den Werth der Wahrheit nie begriff. Er lebte nicht nur in einer Umgebung, wo Jedermann log – seine Frau, seine Schwestern, seine Brüder, seine Waffengefährten – er glaubte auch ganz naiv, es sei eine Pflicht und Nothwendigkeit, immer zu lügen. Ich führe anderswo die Worte Napoleons zu Mad. de Rémusat an: »Herr von Metternich ist auf dem besten Wege ein Staatsmann zu werden: er lügt schon ganz hübsch«; und zeige dort zugleich, wie Talleyrand, der selber sich gewiß nicht vor einer kleinen Lüge scheute, viel gesündere Begriffe von der Lügenkunst hatte, wenn er meinte, der Staatsmann solle nicht lügen, sondern nur betrügen. Napoleon that Beides vom ersten Tage an und wußte stets die Maske anzunehmen, die gerade erforderlich war. Man weiß, wie er in Ägypten barfuß in die Moscheen ging und sein Haupt zu den mahomedanischen Gebeten im Takte wiegte; dasselbe that er in Gent und Antwerpen, wo katholische Gesinnungen wohl angebracht waren: »Dies Volk ist fromm«, sagte er, »und unterm Einfluß der Priester; morgen müssen wir eine lange Sitzung in der Kirche haben.«

Allein diese Macht des Komödianten über sich selber erstreckte sich nicht auf seine Wünsche und Begierden: die besiegte er nie. Seine vollständige Nervenlosigkeit, die ihm seinen Gleichmuth in der Lüge so sehr erleichterte wie in der Schlacht – er schlief fest und gesund am Vorabende des 18. Brumaire wie sechzehn Jahre später in der Nacht vor Waterloo – sein physisches Temperament lähmte nie seinen Ehrgeiz, wie es ihn nie verhinderte, seiner knabenhaften Empfindlichkeit gegen die Nadelstiche der Opposition, der Presse, der Salons nachzugeben. Er hätte sicher nicht wie Friedrich II. das verleumderische Plakat tiefer hängen lassen, damit man es bequemer lesen könne; er hätte es ungestüm abgerissen; so reizte ihn jeder Angriff, selbst der lächerlichste. Er verstand ebensowenig, wie ein gewisser großer Zeitgenosse – der freilich Nerven hat – daß er »seiner eigenen Würde vergab, wenn er sich zu gereizt über die Spöttereien jener fliegenden Blätter zeigte, deren Angriffe er hundertmal besser gethan hätte zu verachten...« Bei dieser Stimmung nun, nie einen Augenblick wahren Sichgehenlassens. Um den Eifer seiner Diener wachzuhalten, glaubt er sie immer mit seiner Ungnade bedrohen zu müssen. Er macht es sich zum Prinzip, seine Umgebung immer in der Unruhe zu halten, und zwar geflissentlich, ohne irgend einen anscheinenden Grund, aus System. Es ist keine Spur von Munterkeit, von Humor in dieser immer angespannten Natur. Dazu muß man eben aus sich herauszugehen, sich zu vergessen wissen. Der Egoismus macht ernst und traurig. Als Jüngling grübelte er in sich herum, als Mann überfluthete er Alles mit seinem Ich. » L'inamusable« nannte ihn Talleyrand, – natürlich ohne zu sagen, daß das Wort eigentlich von Mad. de Maintenon für Ludwig XIV. geschaffen worden. Solche einsam-hohen Egoisten gleichen sich Alle.

Napoleon aber ging weiter als Ludwig XIV., der stets die Konvenienzen wahrte; Napoleon vermochte es nicht einmal über sich, seinen eigenen Gesetzen zu gehorchen; es wäre ihm wie eine »Abdankung« vorgekommen; geschweige denn Gesetze zu ertragen, die er nicht gemacht. »Ich liebe durchaus das unbestimmte und gleichmachende Wort Konvenienz nicht,« pflegte er zu sagen, »das Ihr bei jeder Gelegenheit vorbringt. Es ist eine Erfindung der Dummköpfe, um sich den gescheidten Leuten ein wenig nahe zu bringen, eine Art gesellschaftlichen Knebels, der dem Starken unbequem ist, und nur dem Mittelmäßigen was nützt.« Das ist allerdings wahr bis zu einem gewissen Grade, aber auch nur bis zu einem gewissen Grade, und Bonaparte selber verachtete schon die Konvenienz nicht so sehr, wenn sie nur Andere behinderte. Thatsache ist, daß der große Mann immer ein wenig Parvenü blieb. Seine Sparsamkeit sollte man ihm in dieser Beziehung nicht aufmutzen; auch Purpurgeborene können die Verschwendung hassen; und Napoleon wäre der große Verwalter nicht gewesen, der er war, hätte er die haushälterische Tugend nicht etwas weit getrieben: aber Mad. de Rémusat sagt uns, was Varnhagen, was Metternich, was alle Zeitgenossen bestätigen, daß es seiner Haltung, seiner Sprache, seinem Anzug an Würde gefehlt, daß er weder in einen Saal zu treten, noch hinaus zu gehen, noch sich zu setzen, noch seinen Hut zu halten verstanden. An alledem wäre nicht viel gelegen, wenn er in seinem Soldatenzelte geblieben wäre oder sich nur nichts auf seine noblen Manieren eingebildet hätte. »Der gute Geschmack ist Ihr persönlicher Feind,« will Talleyrand ihm gesagt haben. »Wenn Sie sich seiner mit Kanonenschüssen entledigen könnten, er existierte schon lange nicht mehr.« Das sind einmal wieder so echte Worte des ancien régime und vollendeten Tons, die, wenn sie nicht gesagt worden sind, wenigstens gesagt worden zu sein verdienen. Napoleon aber fehlte es an mehr als an Geschmack, es fehlte ihm an Adel der Gesinnung: gefiel er sich doch darin die Besiegten zu demüthigen, selbst die Frauen seiner Gegner zu beleidigen, die Schwachen zu beschimpfen. Und wenn die ritterlichen Gefühle ihm durchaus abgingen, so wußte er sie nicht einmal durch die Manieren des Weltmannes oder den Freimuth und die Natürlichkeit des Troupiers zu ersetzen. Seinen Titel wie seine Macht genoß er als echter Emporkömmling. »Eines Tages beim Frühstück, während er Talma vorgelassen, was häufig vorkam, führte man den kleinen Napoleon herein (den älteren Bruder Napoleons III. und den Präsumtiverben seines Thrones). Der Kaiser nimmt ihn auf seinen Schoß, aber anstatt ihn zu liebkosen, macht er sich ein Vergnügen daraus ihn zu schlagen, obschon nur ganz leicht; dabei wandte er sich zu Talma und fragte: »Sagen Sie mir, was ich eben thue, Talma?« Talma, wie man sich wohl vorstellen kann, war ein wenig verlegen. »Sie sehen es nicht?« fing der Kaiser wieder an, »ich gebe einem König die Ruthe.« Es ist wohl möglich, daß Mad. de Rémusat die Farben etwas grell aufträgt, wenn sie von der Rohheit seiner Scherze, der Brutalität seiner Manieren, namentlich den Frauen gegenüber, redet: erfunden sind die Anekdoten gewiß nicht, in denen sich zeigt, wie dies verwöhnte Kind des Glücks – und der Egoismus ist die Untugend par excellence der verwöhnten Kinder – auch nicht den leichtesten Zwang ertragen konnte, sich selber Alles, Anderen Nichts erlaubte, alles Herkommen, alle Sitte, alle Rücksichten mit Füßen trat. Ein Zug unter Tausenden genügt, die ganze Natur des Mannes zu offenbaren. Auf den Maskenbällen der Tuilerien, in seinen Domino gehüllt, »machte er sich dreist an alle Frauen mit wenig anständigen Worten; wenn er aber selber angeredet wurde und die Anredende nicht gleich erkannte, riß er ihr sofort die Maske herunter und gab sich selber durch diese Ungezogenheit seiner Macht zu erkennen.«

Bisweilen hatte er doch wohl das Gefühl, wie sehr sein Egoismus auf der Welt lastete. »Der wirklich Glückliche«, sagte er dann, »ist der, welcher sich vor mir im Winkel einer Provinz verbirgt; und, wenn ich sterbe, wird die Welt ein großes »»Uff«« ausstoßen.« Ouf ist der französische Ausruf, wenn man sich von einer großen Last befreit fühlt. Wie hätte dieser Charakter in einem bestimmten Augenblicke inne halten können? Insbesondere, wenn rings um ihn niederste Ränke und niederster Ehrgeiz, schamlosester Knechtsinn und Schmeichelei sich breit machten? Man wirft solchen Männern leicht ihre Menschenverachtung vor: ich finde, man ist darin ungerecht. Nicht als ob die Menschen überhaupt solche Verachtung verdienten – es giebt so viel Gute als Schlechte und der numerus ist Beides, gut und schlecht –; aber die Mächtigen bekommen die Menschen eben doch nur von der schlechten Seite zu sehen und müßten blind sein, wenn sie nachsichtig sein wollten in ihrem Urtheil. Kamen nun zu dem Schauspiel dieser Feigheit und Eitelkeit Ereignisse wie die Höllenmaschine, die Verschwörungen Pichegru's und Georges'; bedenkt man, daß er durch den Tod des Herzogs von Enghien die Schiffe hinter sich verbrannt, so wird es klar, daß er nur vorwärts konnte, immer vorwärts in seinem schwindelnden Laufe. Prophetisch hat ihn ja schon Schiller so geschildert:

»Bahnlos liegt's hinter mir und eine Mauer
Aus meinen eigenen Werken baut sich auf,
Die mir die Umkehr thürmend hemmt.«

Ich habe schon gesagt, daß die Denkwürdigkeiten Mad. de Rémusat's werthvolle Einzelheiten über das letztgenannte traurige Ereignis bringen, das man allgemein als den entscheidenden Wendepunkt in Napoleons Laufbahn betrachtet.

Ich muß indeß gestehen, daß es mir schwer wird mich der Meinung der Verfasserin anzuschließen, die sich hier, wie so oft, unwillkürlich zum Organe Talleyrand's machte und in alledem nur Berechnung sah, »keinerlei Heftigkeit, keine blinde Rache, sondern nur das Resultat einer ganz macchiavellistischen Politik, die den Weg um jeden Preis ebnen wollte.« Talleyrand urtheilte wohl nur so scharf über die That, um den Verdacht der Mitschuld von sich abzuwälzen. Das mochte ihm der Mitwelt gegenüber gelingen; die Nachwelt weiß zu wohl, daß er am Eifrigsten zur That gerathen und gedrängt. Siehe darüber einen Brief Troplongs (im 3. Bande von Sainte-Beuve's Korrespondenz S. 335), sowie das von Troplong citierte und schon oben von uns im Texte angeführte Werk Nougarédes (Recherches sur le procès et la condamnation du Duc d'Enghien). Ich neige viel eher zu Thiers' Ansicht, welche die von Mad. de Rémusat beigebrachten Thatsachen keineswegs erschüttern, welche die vor zehn Jahren veröffentlichte Sammlung amtlicher Dokumente im Gegentheil zu bestätigen scheint. Nicht etwa, daß ich, wie Thiers, Alles für »reinen Zufall« hielte; aber es lag auch wohl kein bewußt vorbedachter Plan vor, wie man vorgehen wolle. Die Umstände trieben dazu: und der Despot hatte längst »die Herrschaft über sich selbst« verloren, um mit Thiers zu reden. Die Jacobiner begannen über die royalistischen Bewegungen unruhig zu werden und fürchteten, Bonaparte oder Moreau möchten die Rolle Monks spielen: es ward nöthig, ihnen ein Pfand zu geben. Der erste Konsul selbst fürchtete einen Restaurationsversuch, der sich mit der kaum zum Schweigen gebrachten Opposition der Salons und des Tribunats verbände; er war gereizt gegen die Royalisten, vornehmlich gegen Moreau. Er glaubt Beweise in der Hand zu haben, daß der Herzog von Enghien an der Grenze einen Handstreich aus Paris plant, und gegen alles Völkerrecht läßt er ihn auf fremdem Gebiet verhaften, gegen alle Prozedur läßt er ihn in einer Nacht verklagen, verurtheilen, hinrichten, ohne sich nur zu fragen, ob er eine ungesetzliche That begehe oder nicht. Die großen Männer des Handelns sind eben sehr frauenhaft in dieser Abwesenheit, ich will nicht sagen des Rechtsgefühls, aber doch des Sinnes für Gesetzlichkeit. Man ist moralisch von der Schuld eines Individuums überzeugt: wozu die Förmlichkeiten und der Buchstabe des Gesetzes? Wozu »die gewöhnlichen Formen der Justiz, diese heiligen Formen erfunden (?) von der Erfahrung der Jahrhunderte?« (Thiers). Man thut den Schritt und ist überzeugt, im Rechte gewesen zu sein.

Es war indessen nicht nur das Verbrechen vom 21. März, noch der 18. Brumaire, noch auch der 13. Vendémiaire, die ihm ein Innehalten auf der Bahn des Despotismus und der Eroberung unmöglich machten. Andere Männer haben den gewaltsamen Ursprung ihrer Macht in Vergessenheit zu bringen gewußt: nein, die selbstgeschaffene Lage im Innern, wie die Stellung, die er nach Außen eingenommen, zwangen ihn zum Immerweitergehen. Nachdem er einmal das Konsulat auf Lebenszeit genommen hatte, konnte das Kaiserthum nicht lange auf sich warten lassen; und sobald er die unterm Konsulat noch ziemlich unbeschränkte Preßfreiheit unterdrückt, das Tribunat amputiert hatte, war auch jener gesetzliche Kanal verstopft, den Macchiavelli immer offen zu halten rieth, »damit die anschwellenden Säfte sich entladen könnten.« Es blieb nur der absolute, argwöhnische Polizeidespotismus mit seiner Totenstille übrig. Sobald man einmal über die natürlichen und historischen Grenzen Frankreichs hinausgegangen war, dasselbe drohender als das Frankreich Ludwigs XIV. selber gemacht, Vasallenstaaten in Italien gegründet, die inneren Angelegenheiten Deutschlands zu ordnen sich herausgenommen –, mußte man täglich dem widernatürlichen Gebäude einen neuen Stützpfeiler hinzufügen, bis es zu dem ungeheuerlichen Bau anwuchs, von dem wir wissen, und den Europa in einer letzten Anstrengung niederreißen mußte. Denn Europa erträgt wohl gerne die zeitweilige Hegemonie einer Nation; es ist sogar in der Natur der Dinge, daß es immer einen primus inter pares gebe; aber Europa wird es nie ertragen – es hat selbst in den schlimmsten Zeiten des Mittelalters, als die Idee der Einheit noch in den Gemüthern lebte, nie ertragen –, daß eine Nation direkt über alle Anderen herrsche. Es kann es nicht dulden, weil die Civilisation, welche sein Leben selber ist, gerade auf der freien Konkurrenz und Mitarbeiterschaft der verschiedenen Nationen beruht.


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