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II. England im achtzehnten Jahrhundert.

»Es lebt heute wohl Niemand, der sich nicht Glück dazu wünschte, daß es sein Loos nicht ist, im achtzehnten Jahrhundert zu leben. Ist es doch, unter allgemeiner Zustimmung, zu einem Gegenstand des Spottes und Hohnes geworden. Selbst seine Kleidung und Sitten haben Etwas an sich, das unwiderstehlich zum Lächeln reizt. Seine Literatur steht – mit wenigen edlen Ausnahmen – vernachlässigt auf unseren Bücherbänken. Seine Dichtung hat alle Macht verloren über uns. Seine Wissenschaft ist verurtheilt ( exploded); sein Geschmack verdammt; seine kirchlichen Schöpfungen in die Winde zerstreut; seine religiösen Gedanken überlebt und auf raschem Wege zu vollständiger, vielleicht nicht einmal ganz verdienter Verachtung. G. H. Curteis: Dissent in its relations to the Church of England. Eight lectures preached before the University of Oxford in the year 1871. p.289.

Es bedurfte all' des Überlegenheitsbewußtseins, welches das geistliche Gewand seinem Träger zu geben pflegt, um solche Worte über das menschlichste und fruchtbarste aller Jahrhunderte vor den Vertretern der englischen Wissenschaft in der alma mater der englischen Bildung auszusprechen. Im Grunde aber ist es doch nur die priesterliche Übertreibung eines Gefühls, das im heutigen England ziemlich allgemein ist. Ich weiß nicht, ob Herr Curteis, wohl noch ein junger Mann, als er jene kecken Worte sprach und erst beim Altkatholizismus angekommen – es war im Jahre 1871 – Rom seitdem um ein Beträchtliches näher gerückt ist; auch kömmt es auf's Persönliche hier gar nicht an. Ein solches Urtheil über das achtzehnte Jahrhundert, an solchem Ort vor solchem Publikum ausgesprochen, hat nur insofern ein Interesse, als es eine Seite der Reaktion gegen jenes Jahrhundert grell beleuchtet, welche der aufmerksame Beobachter als einen charakteristischen Zug der ganzen geistigen Bewegung Englands seit dreißig bis vierzig Jahren zu erkennen keine Mühe haben wird. Neben der großen Geringschätzung, welche die Radikalen Mill'scher Schule für eine Zeit an den Tag legen, wo England noch in den Banden der Aristokratie schmachtete, noch thöricht und ungerecht genug war, europäische Politik zu treiben und sich noch mit Philosophie abgab, hat sich auch der Widerwille einer Art Romantik gegen »die lange Herrschaft der Prosa« geregt, wie Leute, welche Poesie in einem Chorhemd mehr zu erblicken vermögen, die Zeit Fielding's und Goldsmith's zu nennen wagen.

Nichts gleicht in der That unserer Romantik von 1800 mehr als die sonderbare Bewegung der Geister in gewissen Kreisen Englands seit 1840 etwa. Es ist dieselbe Absichtlichkeit, derselbe Mangel an Unmittelbarkeit, dasselbe Gefallen an sogenannt poetischen Äußerlichkeiten, und, bei weniger historischem Sinn für Vergangenheit, dieselbe ganz unhistorische Sucht, die Gegenwart zurückzwängen zu wollen: Alles freilich in englischer Fassung und Weise. Die feste Geschlossenheit einer alten Gesellschaft voll starrer Konventionen erlaubt den englischen Romantikern die tollen Freiheiten nicht, die sich unsere Romantiker mit der Sitte nahmen; ein nationaler Staat und eine nationale Kirche stellen sich dem Spielen mit Staats- und Religionsfragen, in dem sich unsere christlich-germanischen Apostel gefielen, hindernd entgegen; die ungesunde, von der Blässe des Gedankens angekränkelte Sinnlichkeit unserer lüsternen Pedanten entwickelt sich nicht in der kräftigen Atmosphäre englischer Jugenderziehung und englischer Öffentlichkeit. Dagegen fehlt den englischen Romantikern auch die wunderbare Bieg- und Schmiegsamkeit unserer Romantiker, ihre philosophische Durchbildung, die Ironie namentlich, die ein Friedrich Schlegel ja fast als den Kern der neuen Lehre hinzustellen pflegte. Der Engländer ist zu sehr aus einem Stück, zu ernstgewissenhaft auch und steifwürdevoll, dabei viel zu realistisch gestimmt, als daß er's zu jener Virtuosität der Anempfindung brächte, seine Bestrebungen philosophisch durchgeistigte oder sich gar zu einer Schwärmerei verleiten ließe, welche das ganze gesellschaftliche Gebäude bedrohen könnte. Die Schwärmerei, die ja natürlich in England ebensowenig fehlen kann, als in irgend einem anderen Volke, wirft sich bei ihm immer auf's Religiöse und bleibt beinahe ausschließlich in den der höheren Bildung fremden Kreisen des Volkes. Jene modischen Romantiker aber sind gerade die Auserwählten der Bildung. Die ganze Bewegung ging ja von Oxford aus; und sie findet besonderen Anklang in den höchsten Sphären. In der Kirche begann sie unter dem Namen des Tractarianismus, der dann sich im Puseyismus und endlich im Ritualismus bestimmter als eine katholisirende Reaktion gestaltete. Sie ist ebenso gegen die Herrnhuter Schwärmerei als gegen die kirchliche Indifferenz des vorigen Jahrhunderts gerichtet. Sie sucht Befriedigung für das künstlerisch-sinnliche Bedürfnis und sucht es im Äußerlichsten: Priestergewändern, Kerzen, Gesang u.s.w. Die Wenigen, bei denen es tiefer geht, thun denn auch den Schritt des Schiller'schen Mortimer: sie werfen sich, wie Dr. Newman selber, in den Schoß Roms.

Neben dieser kirchlichen Richtung aber ist auch eine heidnische im Gang, welche ebensosehr wie jene gegen den Geist des achtzehnten Jahrhunderts gerichtet ist und welche, obgleich scheinbar im Gegensatze zur religiösen Reaktion, oder jedenfalls gleichgültig gegen dieselbe, im Grunde doch auf demselben Bedürfnis nach sinnlichreicheren Lebensformen beruht und auch wie diese sich beim Äußerlichsten begnügt. Ihr Ideal ist die italienische Renaissance und deren anscheinende Gleichgültigkeit gegen Stoff und Inhalt, deren Schwelgen in Formen und Farben. So hat sich eine Poesie, eine Malerei, eine Aesthetik und eine Geschichtsschreibung herausgebildet, welche ebenso hohl und äußerlich ist, als jene kirchliche Bewegung und doch in dem Lande allmächtiger Fashion eine ebenso weite Herrschaft erlangt hat, als diese. Indessen thäte man sehr Unrecht, die kulturhistorische Thätigkeit und Bedeutung des heutigen England hier zu suchen. Diese liegt durchaus in der Darwin'schen Lehre, wie sie von ausgezeichneten Männern – ich nenne vor Allem Huxley, W. Bagehot und, obschon er selbst es sich nicht bewußt sein mag, L. Stephen – tiefer begründet, weiter entwickelt und auf andere Gebiete angewandt worden. Diese Männer sind es, welche bestimmend auf den europäischen Gedanken einwirkten, wie einst Bacon und Newton, Voltaire und Rousseau, Herder und Kant. Der ganze Chorhemdschwindel hat nur eine örtliche und vorübergehende Bedeutung: der Positivismus aber, der eine Zeitlang grassirt hat, ist schon fast überwunden. Beide werden darum doch mittelbare Spuren hinterlassen.

Es tritt nämlich die merkwürdige Erscheinung ein, welche auch die deutsche Romantik im Gefolge gehabt hat, daß selbst die klaren Köpfe rationalistischer Bildung und Neigung sich diesem Einflusse nicht ganz entziehen können, davon aber doch nur das Berechtigte annehmen und, es vertiefend und klärend zugleich, anwenden. So entsteht eine historische Literatur – historisch im weitesten Sinne des Wortes – welche viele Ähnlichkeit mit unserer historischen Schule aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hat und einen ähnlichen Reichthum wie diese zu entfalten verspricht. Der Positivismus seinerseits, von dem ein großer Theil der jetzt im reifen Mannesalter stehenden Generation Englands ausgegangen ist, wollte nur das tatsächliche Allgemeine in der Geschichte gelten lassen, dies aber wissenschaftlich behandelt wissen, d.h. unter Gesetze gebracht sehen; während er doch wieder die Philosophie der Geschichte, als einen Zweig der Metaphysik, verwarf. Das ward dann auch eine Zeitlang so getrieben und Buckle's Werk schien bestimmt, das Muster aller Geschichtsschreibung zu werden. Es dauerte aber nicht lange, so fühlte man, daß eine solche Geschichtsbehandlung womöglich noch blassere, wesenlosere Abstraktion ergab, als die aprioristischen Konstruktionen der berufenen Geschichtsphilosophie; und man suchte das Band zwischen der Geschichte als Wissenschaft und der Geschichte als Leben da, wo es allein zu finden ist, in der Persönlichkeit. Jenes in der Neuromantik zum Ausdruck kommende Bedürfnis der Phantasie, mitzureden und mitzuhandeln gesellte sich dazu; und wir danken diesem Bestreben auf der Grundlage wissenschaftlicher Factenforschung den Einfluß der geschichtlichen Persönlichkeit der Anschauung concret faßbar zu machen, eine Reihe ganz ausgezeichneter historischer, namentlich literarhistorischer Werke, deren einige gerade das vielgeschmähte achtzehnte Jahrhundert zu ihrem Gegenstande machen. History of English Thought in the eighteenth Century, by Leslie Stephen. – A History of England in the eighteenth Century by William Eduard Hartpole Lecky. – The English Church in the Eighteenth Century by Charles J. Abbey and John H. Overton. – Religion in England under Queen Ann and the Georges, 1702-1800, by John Stoughton D. D. – English Men of Letters, edited by John Morley: 1) Daniel Defoe by W. Minto. 2) S. Johnson by L. Stephen. 3) Hume by Prof. Huxley. 4) Goldsmith by W. Black. 5) Gibbon by J. C. Morison. 6) Burke by J. Morley. 7) R. Burns by Principal Shairpe. Der Verfasser hat alle diese Schriften im Halle'schen »Deutschen Literaturblatt« einzeln und kritisch rezensirt. Ich möchte heute, an der Hand so trefflicher Führer, wenn auch manchmal im Gegensatz zu ihren Schlußfolgerungen, zeigen, wie die staatliche, religiöse und literarische Entwickelung Englands nie lebendiger, und folglich nie fruchtbarer war, als gerade während jenes Jahrhunderts anscheinenden Schlummers, wie vornehmlich die politische, poetische und kirchliche Blüte der achtziger und neunziger Jahre unendlich reicher und ursprünglicher war, als die gewollte Renaissance, welche in neueren Tagen vermeint, den Staat durch eine »kaiserliche« Politik, die Kirche durch einen prunkenden Gottesdienst, die Poesie und Kunst durch einen schwülstigsinnlichen Stil verjüngt zu haben.

I.

Wer die englische Verfassungsgeschichte von 1688 bis 1786 etwa im Einzelnen betrachtet, wird vielleicht versucht sein, sich unwillig, ja fast mit Ekel abzuwenden, wie's unser guter Schlosser gethan. Die schlimmsten Ränke gewissenloser Aristokraten, ein gehässiger Kampf um Macht und Geld, eine Gesinnungslosigkeit, welche es den Staatsmännern erlaubt, ohne Anstand ihre Farbe zu wechseln, so oft es ihr Interesse erheischt; Bestechung überall und crasseste Selbstsucht der Regierenden bei anscheinender Lethargie der Regierten: dies ist das Schauspiel, das sich dem Betrachtenden darbietet, ohne daß das Mikroskop, durch das er die Dinge betrachtet, nur besonders stark zu sein brauchte. Selbst die Protagonisten dieses Schauspiels haben des Menschlichen fast mehr als die irgend einer anderen Zeit und eines anderen Volkes. Ein Wilhelm III. mag ein großer Politiker gewesen sein; dem Menschen gegenüber kann man sich eines leisen Fröstelns nicht erwehren; und die Weise, wie er sich des Thrones bemächtigte, wie er in Irland verfuhr, gehen selbst über die weiteren Schranken politischer Moral hinaus. Seine Nachfolgerin ist eine schwache, und wie alle Schwachen eigensinnige, dabei launische und beschränkte Person, die echte Tochter Jakob's II. Keiner der drei George flößt Einem Interesse oder auch nur Achtung für seine Persönlichkeit ein; der einzige Mann der ganzen Familie, ist Königin Caroline, wie sie die einzige Persönlichkeit ist, die uns menschlich anspricht, und sie starb früh. Ein Godolphin, ein Marlborough, ein Bolingbroke, ein R. Walpole sind wenig achtbare Charaktere und, mit Ausnahme des Letzteren, sehr mittelmäßige Staatsmänner, trotz aller ihrer sonstigen Begabung. Erst mit dem älteren Pitt und Burke kommt etwas mehr Schwung und sittlicher Ernst in die Staatsleitung, aber nur um den Preis höchst unenglischer, theatralischer »Pose«, von der die Vorgänger ganz frei waren. Nie waren die Männer, welche den Großen als Dolmetscher mit der Nation dienten, geistig begabter; aber vom moralischen Standpunkt, welche verbitterte Gehässigkeit bei Swift, welche Würdelosigkeit bei Defoe, der den Sold jeder Partei ohne Erröthen einstreicht; welche Heftigkeit und Persönlichkeit bei Junius, welche Gemeinheit bei Wilkes. Selbst Burke ist von einer Gereiztheit und Leidenschaftlichkeit, welche es uns äußerst schwer macht, uns mit dem großen Seher persönlich zu befreunden.

Wenden wir aber die Blicke weg vom Einzelnen und sehen nur die allgemeine Entwickelung der Dinge und die Ergebnisse derselben, so ändert sich der Eindruck gänzlich. Selten in der Geschichte tritt die Macht der bewegenden allgemeinen Gedanken, Gefühle und Interessen, sowie der Druck des schon durch viele Nebenflüsse angeschwellten Hauptstromes der geschichtlichen Vergangenheit auffallender zu Tage als in diesem Jahrhundert des englischen Staatslebens. Es ist als ob die Persönlichkeit wirklich alle ihre Bedeutung verloren hätte, wie die Positivisten glauben; oder daß sie doch nur da sei, die allgemeine Strömung zu fördern, nie sie zu hemmen oder gar in ein anderes Bett zu leiten. Alles entwickelt sich mit der Gesetzlichkeit eines Naturvorganges. Die Einzelnen verschwinden dem Auge des Überschauenden, wie in der Aufeinanderfolge der Jahreszeiten ein warmer Wintertag oder eine kalte Sommernacht dem Rückwärtsblickenden verschwinden vor der stetigen Erwärmung und Abkühlung der Temperatur. Die öffentliche und private Moral verfeinert und veredelt sich zusehends in diesem Jahrhundert, wo die Immoralität sich im öffentlichen wie im privaten Leben breit macht. Das wirkt die 1688 eroberte Öffentlichkeit der Controle und Unabhängigkeit der Gerichte. Die Krone, deren Wille noch durchaus maßgebend ist unter Wilhelm III., muß unter Georg III., trotz aller Hartnäckigkeit und Herrschsucht ihres Trägers, sich unbedingt dem Willen des Parlaments fügen. Das ist die natürliche, wenn auch späte Folge der Einrichtung des Vertragskönigthums an Stelle des Königthums göttlicher Einsetzung als Ausflusses der Souveränität. Ebenso wird die Aristokratie, die noch am Anfang der Periode die entscheidende Macht ist – sie, nicht der Mittelstand, setzt Wilhelm zum König ein – immer ohnmächtiger. Sie stützt sich gegen die Staatskirche auf die Dissidenten, gegen den Kleinadel ( Gentry) der von den Hannoveranern Nichts wissen will, auf den Handel: Beide wachsen ihm über den Kopf und am Ende des Jahrhunderts sind die Rollen fast vertauscht und die Beschützten sind die Beschützer geworden: es ist der Handel und der Dissent, welche die whiggistische Aristokratie gegen König Georg III. vertheidigen, als er sich im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern an die Spitze der Gentry und der Staatskirche stellt. Das ist die Folge der »feigen« Friedenspolitik der beiden ersten George und ihrer Minister, welche es dem Handel erlaubt hat, Reichthum und durch Reichthum Macht zu erwerben. Die Staatskirche ist noch so populär und so lebensvoll unter Königin Anna, daß es ihr fast gelingt, der thatsächlichen Duldung des Dissents ein Ende zu machen; aber die Toleranzakte selber bleibt eine unantastbare Errungenschaft; sie wirkt im Stillen und am Ende des Jahrhunderts ist die Sache der Dissidenten moralisch, wenn nicht faktisch gewonnen; ja, der Dissent ist, als »evangelische Bewegung« in die Staatskirche selber gedrungen. Das Unterhaus spielt so lange das gefügige, aber unwiderstehliche Werkzeug der Krone, daß es seiner Bedeutung immer mehr inne wird und am Ende der Krone seine Bedingungen aufzwingt; und es konnte nicht anders sein; sobald es durch die bill of right der Krone unmöglich gemacht war, Geld ohne Zustimmung des Unterhauses zu erheben, mußte die, wenn auch späte Folge davon sein, daß die Krone in der Wahl ihrer verantwortlichen Räthe vom Unterhaus abhängig wurde.

Dies war keineswegs der Fall im Anfange des Jahrhunderts. »Es erregte noch nicht die geringste Überraschung, wenn die Königin Einen oder alle ihre Minister trotz einer parlamentarischen Mehrheit entließ.« (Minto, Defoe.) Der erste und wichtigste Schritt zu einer thatsächlichen, nicht geschriebenen, Änderung der Verfassung war die Bildung eines rein whiggistischen Kabinets bei Georgs I. Thronbesteigung, und die unumschränkte Herrschaft des Premiers in diesem Kabinet. Bis dahin war jeder Minister nur für sein Departement und nur dem Könige verantwortlich. Von nun ab war das Kabinet homogen und hing vom Premier ab, dessen Willen der König sich fügen mußte, wenn er nicht ein ganzes Ministerium wechseln wollte, was er wiederum nur thun konnte, wenn er sich gänzlich in die Arme eines anderen parlamentarischen Chefs warf, der ihm einen gleichen vollständigen Generalstab und zugleich mit demselben das stärkere parlamentarische Heer entgegenbrachte. Was Wunder, wenn Georg II. gegen Ende seiner langen Regierung sich dazu verstehen mußte, sich einen Parlamentschef – den älteren Pitt – aufzwingen zu lassen, der ihm persönlich unausstehlich war und der sich soweit vergessen hatte, sein hannöversches Haus laut und grob zu insultieren. Ob eine ähnliche unserer Tage im preußischen Staatsministerium vollzogene Revolution wohl je zu ähnlichen Extremen führen wird?

Auch jener nie vergessene ausländische Ursprung der königlichen Familie trug unmittelbar zur Beschränkung der Kronrechte bei. Der König wußte, oder sein Minister wußte für ihn, daß der Theil der Nation, welcher so recht die englische Überlieferung vertrat, ihm nicht gewogen war und bis tief in's Jahrhundert hinein Sympathien für das alte einheimische oder doch längst einheimisch gewordene Königshaus hegte. Nirgends hat das Mißtrauen gegen die Fremden eine größere Rolle gespielt als in England. Wir sehen italienische Minister wie Mazarin und Alberoni in Frankreich und Spanien, ausländische Könige, wie Philipp V. in Madrid, Bernadotte in Stockholm, so viele hohe Beamte in Rußland, Dänemark, Oesterreich, aus dem Auslande geholt: das Volk murrte wohl ein wenig in Toscana gegen die Lothringer, in Preußen gegen die Franzosen, aber der kosmopolitische Geist des Jahrhunderts war zu mächtig auf dem Festlande, als daß die Opposition über ein Murren hinausgegangen wäre. In England verdächtigte man den großen Holländer, der Englands Freiheit und Größe begründete, den trefflichen Deutschen, der in unsern Tagen einen so heilsamen Einfluß auf das englische Leben ausgeübt, genau ebenso wie Squire Western gegen die »verfluchten« Hannoveraner tobte, wenn seine Schwester Politik sprach. Und es waren nicht allein die Squire Western, der ganze Stand zu dem er gehörte, die Gentry, welche so recht Altengland darstellte, die Staatskirche, ja das niedere Volk theilten dieses Vorurtheil, das Defoe in seinem trueborn Englishman, mit mehr gesundem Menschenverstand als Witz und Poesie, satirisierte und so ganz besonders lächerlich bei einem Volke fand, das, zusammengesetzt aus britischen, römischen, angelsächsischen, dänischen und normannischen Bestandtheilen, fast in allen Völkern Europas Vettern sehen mußte. Wie dem auch sei, die Hannoveraner mußten so gut wie Wilhelm III. mit diesem Mißtrauen rechnen und bei dem Parlamente Schutz suchen. Auf's Oberhaus konnten sie zählen; dort war die whiggistische Aristokratie in der Mehrheit; das hatte sie noch kurz vorher bewiesen, als sie die Sache der Toleranz siegreich gegen das Unterhaus vertheidigt hatte, das die Dissidenten durch Untersagung gelegentlicher Theilnahme am anglikanischen Gottesdienste von allen öffentlichen Ämtern ausschließen wollte. Das Unterhaus also galt's zu gewinnen. Es wurden neue Wahlen angeordnet, bei denen die Regierung alle Hebel in Bewegung setzte und, Dank der Organisationslosigkeit der Tories, den Sieg davon trug: gebot doch die Krone allein über siebenzig boroughs, die großen Whigfamilien über die doppelte Anzahl, ward doch das Geld, wurden doch die Versprechungen nicht gespart; und die Krone verfügte damals noch über eine große Anzahl von Stellen, die sie heute nicht mehr zu vergeben hat. So kamen, angesichts der jacobitischen Schilderhebung von 1715, der sich der halb jacobitisch, aber auch ganz protestantisch gesinnte Theil der Nation nicht anzuschließen wagte, Wahlen zu Stande, wie die unter Louis Philipp und Napoleon III. Sobald man aber die gewünschte Mehrheit hatte, setzte man, freudigst unterstützt von den Gewählten, die Westminster sehr angenehm fanden und die Kosten einer Neuwahl fürchteten, den Septennial Act durch, welcher dem Könige und seinen Ministern sieben Jahre Zeit gab sich fester einzuwurzeln, neue Interessen zu schaffen, alte an sich zu fesseln. Dieses Gesetz, welches Anfangs als ein Akt der Reaktion betrachtet und noch lange so dargestellt wurde, erwies sich als ein der parlamentarischen Obmacht außerordentlich günstiges. Natürlich stieg der Preis der Sitze, je länger man der Ehre sie einzunehmen sicher war; und es war dem reichen Kaufmannsstand ein Leichtes, verschuldete Junker aus dem Felde zu schlagen, wo es nur auf Geld ankam. Die Junker selber verschmähten die königlichen Jahresgehalte nicht so leicht, wenn sie ihren Sitz auf sieben Jahre gesichert sahen. Das Unterhaus schützte denn auch die Krone, bis alle Gefahr vorüber, der letzte Angriff der Jacobiten (1745) abgeschlagen war; allein es war nur natürlich, daß der Schützling an Ansehen einbüßte, was der Beschützer gewann. Und auch bei den Gegnern verlor der König, der sich zu einem Parteiwerkzeug hergab, von seinem Ansehen, während die Thatsache, daß die Krone ausdrücklich ihres göttlichen Rechtes entkleidet wurde, dieselbe sogar im Ansehen der Menge schwächen mußte.

Allein auch die Aristokratie konnte ihre Macht nur einbüßen, je mehr sie sich dem Landadel und der Kirche entfremdete. Ihr gesellschaftlicher Einfluß blieb groß und ist bis heute groß geblieben, wie auch das gesellschaftliche Ansehen der Krone fast ungemindert geblieben ist. Ja selbst auf die Politik blieb die Einwirkung beider mittelbar noch sehr merklich; nur der Aristokratie war es zu danken, wenn Männer wie der ältere Pitt, wie Burke, wie Canning, wie Macaulay in's Parlament kamen, Schriftsteller wie Addison, Hume, Gibbon einträgliche Staatsämter erhielten. Aber Einfluß ist nicht Herrschaft: diese entging dem hohen Adel immer mehr, oder er mußte sie doch theilen. Das vielgerühmte Gleichgewicht der drei Faktoren bestand eigentlich nur eine ganz kurze Zeit. Beim Beginne des Jahrhunderts war die Krone noch ausschlaggebend, obschon sie ihre Existenz der Aristokratie verdankte; bis in die sechziger Jahre war die Mehrheit beider Häuser ganz in den Händen der großen Whigfamilien; aber schon am Ende des Jahrhunderts hatte das Gewicht des Unterhauses die beiden anderen Schalen in die Luft geschnellt. Und das Unterhaus war nicht mehr, was es früher war. Seine Mehrheit bestand noch immer aus Männern der Gentry; aber der große Aufschwung des Handels und der Industrie hatte das flüssige Kapital bedeutend vermehrt und die Besitzer dieses Kapitals traten immer mehr in den Vordergrund. Selbst wenn sie, wie die meist wohlhabenden Dissidenten, nicht in's Parlament dringen konnten, weil die Testacte ihnen den Eintritt verwehrte, so war ihr Interesse doch maßgebend, und die Plutokratie theilte sich mehr und mehr in die Herrschaft mit der Aristokratie. Es ist, bei allen Mißständen, doch immer der große Vorzug eines lauten, öffentlichen Lebens, daß, wo es besteht, die Wahlversammlung, welches auch immer das Wahlgesetz sei, stets die Nation in ihrer Gesammtheit vertritt; ja, man könnte fast sagen, dies laute öffentliche Leben sei die nothwendige Lebensluft jeder Repräsentativverfassung. Walpole hatte die große Tugend der Unempfindlichkeit gegen persönliche Angriffe. Während die Preßprozesse, und in Folge derselben die härtesten Strafen für Preßvergehen, unter den torystischen wie unter den whiggistischen Ministerien der Königin Anna, noch regelmäßig auf der Tagesordnung standen, so hörte man von keinerlei gerichtlichen Verfolgungen der Art unter den beiden ersten Georgen. Je sittlich achtbarer aber, je geistig überlegener, je materiell mächtiger die ausgeschlossenen Gesellschaftsklassen waren, desto größer das Gewicht ihrer Stimme. Eine öffentliche Meinung, welche nur die Meinung der besitzlosen Literaten in Will's Kaffeehaus gewesen wäre, hätte vielleicht Mühe gehabt, sich Gehör zu verschaffen; eine öffentliche Meinung, von der man wußte, sie vertrete den Fleiß, die Ordnungsliebe, die Sparsamkeit, und in Folge dessen den eigentlichen Reichthum des Landes, konnte man nicht ungestraft ignorieren. Die Interessen von Liverpool und Manchester waren, schon ehe diese Städte Abgeordnete wählen durften, so gut und besser in der englischen Politik gewahrt, als nach den beiden großen Wahlreformen unseres Jahrhunderts. Niemand aber von allen englischen Staatsmännern hatte ein schärferes Ohr für diese unvertretene Meinung als Robert Walpole, der, mit allen seinen Fehlern und Tugenden der echte Typus des aristokratischen Staatsmannes war.

Es ist der Vortheil der Oligarchien, wie sie Rom, Venedig, England in ihren besten Zeiten gekannt, daß sie nicht wie Demokratien und Despotien überlegener, ja genialer Staatsmänner bedürfen, daß sie auch mit dem Talent, ja nöthigenfalls der Mittelmäßigkeit, ganz gut fahren. Sie haben Das mit den bureaukratischen Regierungen gemein, welche ebenfalls halbe Jahrhunderte lang – wer denkt dabei nicht an die preußische Entwicklung von 1815 bis 1862? – genialer Männer entrathen können, ohne daß der Staat darüber versumpfe oder auf Klippen gerathe. Auch im oligarchischen wie im bureaukratischen Gemeinwesen findet der staatsmännische Genius Mittel und Gelegenheit, seine wohlthuende Kraft zu entfalten, von Zeit zu Zeit das Ganze mit einem plötzlichen Ruck vorwärts zu bringen, so Anstöße zu geben, die dann halbe Jahrhunderte fortwirken in geebneten Betten. Der Corpsgeist und die Überlieferung machen sich dann als Collectivtugend und Collectivweisheit geltend, und leisten manchmal mehr, wenn auch geräuschlos und glanzlos, als große Despoten und Volksmänner, deren Schöpfungen oft ihren Schöpfer nicht überdauern, weil jener stätigwirkende Organismus nicht da ist, sie zu wahren und auszuarbeiten. Nie hat England größere Fortschritte gemacht als in dem halben Jahrhundert von 1714 – 1760. Das Land ward reich, die Bevölkerung nahm rasch zu, auch das geistige Leben stand, wie wir sehen werden, nicht still; selbst sittlich war der Fortschritt groß, trotz der persönlichen Unsittlichkeit Walpole's und seiner Werkzeuge. Zum größten Theile allerdings war dieser Fortschritt dem wachsenden Einflusse des fleißigen und tüchtigen Mittelstandes zu danken. Indes auch dem leitenden Minister und seinen Leuten kam ein Verdienst dabei zu. War doch jene Controle der Öffentlichkeit, welche die Immoralität immerhin in gewissen Grenzen hielt, die direkte Folge von Walpole's »Dickhäutigkeit«, welche, wie Thiers' »alter Regenschirm«, Alles über sich ergehen ließ; vor Allem aber, Walpole war ein Feind alles cant. War Niemand dem großen deutschen Landjunker unseres Jahrhunderts unähnlicher in Bezug auf moralische Laxheit wie, leider! auch in jener Gleichgiltigkeit gegen das Kläffen der Presse, als der englische Landjunker des vorigen Jahrhunderts, so glich er ihm doch ungemein in dieser Verachtung des Scheins, der Komödie, der konventionellen Lüge, auch der anscheinend unschuldigsten. Die pompöse Tugend nennt das freilich Cynismus, damals wie heute; aber diesem Cynismus, der es verschmähte, der Tugend jene Huldigung darzubringen, die, so sagt man, in der Heuchelei besteht, dankte es England doch, daß die Wahrheit und mit ihr eine höhere Sittlichkeit in's politische Leben drang.

Auch hatte Walpole als Staatsmann große negative Tugenden. »Es ist der Fehler vieler Geschichtsschreiber,« bemerkt Lecky sehr fein, »und das Unglück vieler Staatsmänner, daß diese oft beinahe ausschließlich nach den Maßregeln beurtheilt werden, die sie durchgesetzt haben, und gar nicht nach den Übeln, die sie abgewandt.« Und Walpole verhinderte nicht nur viel Übel. Getreu dem Grundsatze quieta non movere ließ er die Dinge sich ruhig entwickeln, ohne durch vorzeitige Reformen in diese Entwickelung einzugreifen oder sie durch Repression zu hemmen. Er unterdrückte Niemand und Nichts, und, mit Ausnahme eines Krieges, den er im Handelsinteresse Englands zuließ, wußte er dem Lande den Frieden zu erhalten, ohne dessen europäische Stellung zu vermindern. Als seine und seiner Nachfolger, der Pelhams, Regierung ein Ende nahm, war das Land mutatis mutandis ungefähr in der Lage, in welcher es sich 1874 befand, als die liberale Regierung Gladstones der konservativen Lord Beaconfields Platz machte; ganz Europa und ganz England selber sprachen von dem Niedergange der englischen Größe u.s.w.; aber bei alledem hatte die Welt das Gefühl, wenn nicht das Bewußtsein, daß sich in dieser Zeit der Zurückhaltung Kräfte angesammelt hatten, die ein ungeheures Gewicht in die Wagschale werfen würden, wenn sich England je entschließen sollte, aus dieser Zurückhaltung herauszutreten. Die heutigen Engländer demokratischer Schule lassen sich hier leicht durch sittliche Bedenken oder Parteirücksichten beirren. Weil Walpole's innere Regierung eine unmoralische und eine aristokratische war, weil es ihr namentlich an allem Schwung fehlte, meinen sie auch seine äußere Politik verurtheilen zu müssen, welche doch so recht eigentlich ihre eigene ist. Ist doch die unter ihnen herrschende Reaktion gegen Wilhelm's III. europäische Politik, wie gegen seinen panegyristischen Geschichtsschreiber Macaulay so groß, daß ein Schriftsteller von J. Morley's Bedeutung den spanischen Erbfolgekrieg den »unsinnigsten aller englischen Kriege« zu nennen nicht ansteht und ein Geschichtsschreiber wie Lecky, wenn auch mit mehr Mäßigung derselben Meinung huldigt. Ja, Ersterer bezeichnet sogar kurzweg die Jahre, in die der andere große Kampf Großbritanniens gegen Frankreich fällt, als Jahre einer »verruchten Mißregierung (odious misgovernment).« Danach sollte man meinen, sie müßten den Inhalt wenigstens, wo nicht die Form, der Walpole'schen Friedenspolitik billigen; aber Morley, sowohl als Lecky, ja sogar der ungleich weniger im modernen Parteistandpunkte befangene L. Stephen lassen sich von dem Gerede der Zeitgenossen, namentlich Friedrichs des Großen, Josephs II., Katharinas II., bestimmen, welche Englands Ende schon gekommen sahen, und schildern den Zustand ihres Vaterlandes bei der Thronbesteigung Georgs III., d. h. im Augenblick, wo die Früchte der fünfzigjährigen Whigregierung zu Tage traten, als einen traurigen und wenig beneidenswerthen. Wieviel richtiger sieht nicht unser Hettner, der doch der politischen Geschichtsschreibung wie dem politischen Leben so viel ferner steht, als jene Engländer! Ihm erlaubt eben die deutsche historisch-philosophische Weltanschauung, die Dinge in den richtigen Sehwinkel zu stellen.

Noch einmal, um jenen fünfzig Jahren englischer Geschichte gerecht zu werden, muß man die Ergebnisse derselben nicht aus den Augen verlieren und sich in Betrachtung der Dinge und Menschen während dieser Zeit immer auf dem Standpunkte der Vogelperspective halten. Wohl war das Unterhaus, mittelst dessen Walpole und die Pelham's regierten, käuflich und tyrannisch zugleich. Die Regierung verfügte noch über zahlreiche Stellen, die ihr erlaubten, wie unter Louis Philipp das Haus mit ihren Kreaturen zu füllen; sie stand nicht an, gegnerische Stimmen zu kaufen, wo es nur anging. Das Haus wachte eifersüchtig über seine Vorrechte; suchte die Preßfreiheit zu beschränken, wo es konnte – hat es doch den Stempel erst vor fünfzehn Jahren abgeschafft! – und zeigte sich ihr gegenüber unendlich empfindlicher als die Regierung. Es sträubte sich, wie Napoleons III. gesetzgebender Körper, ungue et rostro gegen die Veröffentlichung seiner Debatten und Abstimmungen, die es am Ende doch zugeben mußte, was dem Bestechungsverfahren den ersten empfindlichen Stoß versetzte. Es mißbrauchte das Recht der Wahlprüfung fast ebenso sehr als 1878 die republikanische Kammer in Versailles, um die konservative Minderheit auszuschließen. Gewiß war die Parteiregierung, so oft sie selbst in der äußeren Politik das Parteiinteresse über das Landesinteresse stellte, höchst gefährlich; gewiß war die übertriebene Bedeutung, welche die Beredsamkeit in Anspruch nahm, nicht immer zum Besten des Staates: im Ganzen genommen war der Gewinn für das Land ein beträchtlicher. Es war eben eine Durchgangsperiode, in der sich die endgültige Verfassung Englands aus dem aristokratischen Gemeinwesen herausbildete, wie unsere Zeit für Deutschland die Periode ist, in welcher sich eine neue Verfassung aus dem bureaukratischen Regime herausbildet; und es steht zu hoffen, daß wir soviel von diesem bureaukratischen Charakter hinüberretten werden, als die Engländer von ihrem aristokratischen hinübergerettet haben in den modernen Freiheitsstaat. Die heutigen Engländer sind freilich sehr vergeßlicher Natur: sie können nicht begreifen, daß kaum hundert Jahre sie von einem politischen Zustande trennen, der mit dem heutigen Deutschlands gar viel Ähnlichkeit hat: Obmacht der Krone und des herrschenden Standes, hier des Beamtenstandes, dort des hohen Adels; Auseinandersetzung mit der römischen Kirche als der Feindin des nationalen Staates; mühsame Emanzipation und Lehrzeit der Presse u.s.w., daß wir beschäftigt sind in einem Worte den politischen Vorsprung Englands nachzuholen, wie England beschäftigt ist, den administrativen Vorsprung Deutschlands einzuholen. Die verstocktesten Patrioten Großbritanniens werden zugeben, daß in sittlicher Hinsicht unser öffentliches Leben nicht auf der Stufe der Walpole'schen Zeit steht und dem heutigen England in Nichts untergeordnet ist. Welches die Verfassung sein wird, die sich aus unseren gesellschaftlichen und historischen Verhältnissen entwickeln wird, kann niemand voraussagen: aber bis jetzt war unsere staatliche Entwickelung so normal und gesund, daß wahrlich an der Zukunft nicht zu zweifeln oder gar zu verzweifeln ist.

II.

Die englische Nation, sahen wir, erlangte während des 18. Jahrhunderts ihren noch von Niemandem auf dem Festlande eingeholten Vorsprung im politischen Leben. Das Schauspiel dieser Entwickelung machte einen gewaltigen Eindruck auf die fremden Zeitgenossen und Montesquieu brachte dies seltene Naturerzeugnis von einem gemischten Staate, von dem schon die Alten geträumt, in eine Theorie, stellte es der Welt nicht nur als nachahmungswerth, sondern auch als nachahmbar dar. Man weiß von welcher Tragweite diese seine That war; aber es scheint uns nur natürlich, daß die besten Köpfe Englands, insoweit sie dem Kampf um die Macht ferne standen, die Dinge anders anschauten. Sie sahen die korrupte, selbstische und anscheinend thatenlose Parteiregierung ihres Vaterlandes in der Nähe und verglichen sie mit dem Festlande, wodurch sie dann fast zu kontinental wurden, als die fremden Bewunderer Englands englisch wurden. Nicht nur Hume und Gibbon, fast alle bedeutenden Denker Englands waren überzeugte Anhänger des »aufgeklärten Absolutismus«, der gerade jetzt überall in Europa Wunder verrichtete; ja, Hume meinte, derselbe würde auch das Loos Englands sein, wenn die demokratische Evolution vollendet sein würde, »der leichteste Tod, die wahre Euthanasie der britischen Verfassung«. Und es konnte nicht wohl anders sein, wenn sie, die am lauten Treiben und Kämpfen des öffentlichen Lebens kein Gefallen fanden, das Festland aus der Ferne betrachteten und Fürsten wie Friedrich II. und Peter Leopold, Minister wie Aranda und Turgot, am Werke sahen, welche nie an sich, sondern immer nur an den Staat dachten, sich mit demselben identifizierten, das Beispiel der Sparsamkeit, des Fleißes und der Selbstaufopferung gaben; wenn sie überall rationelle Gesetzbücher eingeführt, die Rechtspflege vereinfacht, verwohlfeilt und namentlich gemildert, große öffentliche Bauten, Straßen und Kanäle im allgemeinen Interesse ausgeführt, überall Staatsschulen und Krankenhäuser eingerichtet und überwacht sahen; wenn sie damit die verwahrlosten Schulen, die damals gerade sehr darniederliegenden Universitäten, den Zustand der öffentlichen Sicherheit und der Gefängnisse, die schwerfällige oder leichtsinnige Laienjustiz, Man werfe nur einen Blick in die Romane des vorigen Jahrhunderts, in »Joseph Andrews« z. B. oder »Amelia«, um sich einen Begriff von der Wirtschaft zu machen, welche die vornehmen Herrn Friedensrichter mit den ihnen anvertrauten Pflichten trieben. die Eheverhältnisse und die Heereseinrichtungen in ihrem eigenen Lande verglichen. Was war natürlicher, als daß sie über dem Anblicke dieses administrativen Vorsprungs des Festlandes, dessen politischen Rückstand vergaßen, zumal sie aus der Ferne kaum die Schattenseiten jenes beneideten Regimes entdeckten, während die des heimischen Regimes, namentlich das mit dem Parlamentarismus fast unzertrennliche Bestechungswesen, ihnen nur allzusehr in die Augen sprangen. Selbst alte Parlamentarier, wie Horace Walpole, wurden »aus warmen Anhängern der Freiheit ergebene Freunde der Regierungen,« nicht weil sie »eine gute Stelle oder eine Gratifikation« bekommen, als welche »in England die Beweggründe solcher Bekehrungen zu sein pflegen,« sondern aus Bewunderung für »die beiden menschlichen, tugendhaften und ausgezeichneten Minister« Ludwigs XVI., Turgot und Malesherbes. Auch verlangten diese englischen Bewunderer des »aufgeklärten Absolutismus« so wenig wie ein Voltaire oder Diderot, eine Willkürherrschaft, sondern nur die absolute Monarchie, als welche ebenso gut Regierung nach Gesetzen ist, wie das parlamentarische Königthum oder die Republik; denn sie wußten sehr wohl, was ihre Landsleute von heute durchaus nicht begreifen wollen, daß ein deutscher bezahlter Beamter ganz ebenso gesetzlich handelt und handeln muß, als ein englischer »Magistrate«. Montesquieu selber theilt bekanntlich die Regierungen ein in republikanische, monarchische und despotische und nennt »monarchisch« nicht nur die gemischte englische Staatsverfassung, sondern auch die absolute, d. h. bureaukratische, und setzt den Unterschied eben darin, daß diese von den Gesetzen, jene, die despotische, von der Laune geleitet wird. Wo die englischen Freunde des Absolutismus Unrecht hatten, war, wenn sie dieses festländische Regime für England anempfohlen, wie ihre Nachkommen Unrecht haben, uns zur Annahme ihres Insular-Regimes zu rathen, ehe wir die Vorbedingungen dazu erlangt haben. Es wäre wirklich an der Zeit, man hörte endlich auf, den englischen Parlamentstaat oder den deutschen Beamtenstaat als Universalrock anzupreisen, der auf jeden Rücken passe, soviel sie auch von einander entlehnen können. Die Isle of Man wird von einem Club von Gentlemen regiert, der sich beim Tode oder Austritt eines Mitgliedes selbst ergänzt durch Zuziehung neuer Gentlemen im Wege der Kugelung. Man sagt, diese Verfassung bewähre sich ganz vortrefflich und man könnte auch zur Noth eine ganz plausible allgemeine Theorie dieser Regierungsform aufstellen. Ich denke aber doch, es wird Niemandem so leicht einfallen, dieselbe in Italien oder Rußland einführen zu wollen. Und wieviel komplizierter, einziger in ihrer Art, wieviel weniger allgemein gültig ist doch die britische Verfassung, die man uns allenthalben zur Nachahmung empfiehlt und wonach, wenn man den Schülern Montesquieu's folgen darf, »eine Regierung als ein großes Ballet betrachtet werden sollte, in welchem, wie in einem anderen Ballet, Alles von der Disposition der Figuren abhänge.« (Delolme, citirt von L. Stephen.) Diese Betrachtungsweise, welche bei Montesquieu nur erst im Keime vorhanden war, wurde immer allgemeiner im vorigen Jahrhundert und, selbst wenn diese konstitutionelle Mechanik auch König, Königin, Läufer, Springer und Thurm wegließ, um nur Bauern gelten zu lassen, wie in Rousseau's »gesellschaftlichem Vertrage«, ihrem Wesen nach blieb sie immer dieselbe; und sie hat ihre Wirkung bis tief in unser Jahrhundert erstreckt. Was sind Mr. Hare's und J. St. Mill's Kombinationen für Vertretung der Minderheiten anders als die Enkel jener Verfassungen mit direktem und indirektem Wahlrecht, Vertretung der Kapazitäten, jährlichen Parlamenten, Theilung der Gewalten, obsolutem Veto, suspensivem Veto u.s.w.? Alle betrachteten und betrachten die Menschen wie mathematische Einer, anstatt sie als lebendige Organismen aufzufassen. Die praktischen Politiker Englands, deren Thätigkeit die Theoretiker der Staatsrechtslehre so in Systeme faßten, waren darum nicht minder große Politiker; ließen sich auch in keinerlei Weise auf jene Konstitutionsausklügelei ein; und der konservative Geist der englischen Verfassung bei all' ihrer Elastizität, der gerade politische Sinn des englischen Volkes, seine Vorurtheile auch, seine matter-of-fact Gewohnheiten, ja jene »Stockdummheit«, welche den Radikalen Englands so unerträglich ist, machten, daß die Theorien der Verfassungskünstler nie eindrangen, wie in dem abstraktionslustigen Frankreich und dem spekulativen Deutschland.

Bald auch sollte dem unklaren Widerstreben, das sich im Schoße der Nation gegen die mechanisch-rationalistische Staatsrechtslehre und ihre praktischen Forderungen regte, ein großer Sprecher erstehen, der das Wort für den dunklen Drang zu finden wußte. Burke gehörte durch seine Geburt der Lessing'schen Generation an – er war 1729 geboren –; durch den Gedanken, den er vertrat, war er ein Genosse Herder's; mehr als ein Genosse, er war für England und die politischen Theorien genau, was Herder für Deutschland und die literarischen Theorien: der Verkünder des historischen Prinzips, das die Weltanschauung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts beherrschen sollte, der Herold, der das Zeichen zum Angriff gegen den Rationalismus und Mechanismus des vorigen Jahrhunderts gab. So hoch sich auch ein Montesquieu, ein Lessing über die platten Rationalisten ihrer Zeit erhoben, so vielfach sie auch Kraft ihres Genies das sahen, was die folgende Generation als den Kern aller Dinge darstellen sollte: sie wurzelten immerhin im Boden des Rationalismus; die Verständigkeit des common sense hatte in ihnen ihren höchsten Ausdruck gefunden, hatte sich in ihnen bis zum Genie gesteigert; war so über sich selbst hinausgegangen. Burke und Herder dagegen machen Front gegen dieselbe. Man vergleiche Lessing's und Herder's Untersuchungen über die Fabel, Hume's Essay über die »Politik als Wissenschaft« und Burke's »Reflections«, so fühlt man sofort, daß hier zweierlei Sprachen geredet werden. Und Burke wie Herder sprachen den Grundgedanken ihrer Lehren schon in ihren ersten Jugendschriften aus. Man hat oft Burke als einen Politiker dargestellt, der seine Partei verrathen, oder doch mindestens, als er schon über die Lebensmitte hinaus war, seine Überzeugungen plötzlich gewechselt habe. Namentlich hat sich unser Schlosser, mit der, vielen »Tüchtigen« eigentümlichen Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit, wiederholt an Burke schnöde versündigt. Herr Morley und vor ihm Herr L. Stephen haben auf's schlagendste nachgewiesen, wie Burke sich im Grunde nie untreu wurde; Herr Morley hat noch überdies den Beweis geliefert, daß Burke's persönliche Rechtschaffenheit, Unbestechlichkeit und Herzensgüte über allen Zweifel erhaben sind – und Herr Morley ist doch auch ein politischer Moralist wie Schlosser, wenn schon ein höflicherer und, was mehr ist, er gehört als Radikaler zu den geschwornen Feinden der Burke'schen Anschauungsweise. Burke's erste Schrift erschien zehn Jahre vor Herder's »Fragmenten« freilich ohne den allgemeinen und erobernden Eindruck zu machen, den die Erstlingsschrift unseres Täufers machte. Es war eine Parodie Bolingbroke's und seiner Manier. Den Ruf dieses »britischen Alcibiades«, den man gewagt hat, mit Mirabeau zu vergleichen und in welchem selbst Herr Lecky noch einen großen Staatsmann sehen will, war noch unangetastet, als der jugendliche Burke ihn auf diese Weise persiflierte. »Wer, geboren in den letzten vierzig Jahren ... hat Bolingbroke gelesen?« mochte er einunddreißig Jahre selbst ausrufen. Im Jahre 1756, als Burke seine Vindication of Natural Society schrieb, wandte er sich noch an eine Generation, die nicht höher schwur, als bei Bolingbroke. Und welches war der Grundgedanke dieser kühnen Schrift, wenn nicht der, daß nicht ein bewußter vernunftgemäßer Vertrag, sondern Verjährung den »sichersten ( most solid) aller Rechtsansprüche nicht nur auf's Eigenthum, sondern auf das, was das Eigenthum sichert, den Staat, ausmacht?« Daß die Welt zerfallen würde »wenn die Übung aller moralischen Pflichten und die Grundlagen der Gesellschaft darauf beruhten, daß ihre Gründe jedem Einzelnen klar und nachweisbar gemacht würden?« Daß die Verfassung »ein Kleid ist, welches sich dem Körper anpaßt«, nicht ein Mantel, der für alle Schultern gerecht ist?

Und Burke war, wie Herder, ganz von diesem einen Gedanken beseelt und ausgefüllt; seine ganze Lebensthätigkeit war eine Auseinandersetzung, Entwickelung, Variation dieses Gedankens. Seneca hatte einen gewaltigen Respekt vor einem Manne, der nur ein Buch zu lesen pflegte; wieviel größer ist die Macht eines Mannes, der nur einen Gedanken hegt! Das Geheimnis von Burke's gewaltiger Wirksamkeit, bei so vielen Nachtheilen der Stellung, der Bildung und des Temperaments, liegt hier. Immer und immer wieder kam er darauf zurück, daß von der Geschichte mehr politische Weisheit zu lernen sei, als von der philosophischen Spekulation; »gelernt, wohlverstanden als Gewohnheit, nicht als Vorschrift, als eine Übung, den Geist zu stärken, nicht als ein Repertorium von Fällen und Antecedentien für einen Advokaten.« Immer und überall erhebt er sich gegen die allgemeine Abstraktion für die concrete Besonderheit, für individuelles organisches Leben. Seine Bekämpfung der demokratischen Vaterlandslosigkeit, hundert Jahre, ehe sie sich in der französischen Commune und der deutschen Sozialdemokratie ganz nackt und schamlos zeigte, war wie eine Vorahnung der Wichtigkeit, der übertriebenen Wichtigkeit, welche unser Jahrhundert dem Nationalitätsprinzip geben sollte. Ähnlich seine Auffassung der Aristokratie als der Trägerin der politischen Tradition gegenüber der ephemeren Existenz einzelner Politiker, wie er selber einer war. Damit wiederum hängt seine Bewunderung für den englischen Landjunker zusammen, der so recht eigentlich den Kern der Nation als historischer Einheit ausmachte und mit dem er persönlich ebenso wenig gemein hatte als mit der Aristokratie, wie es denn überhaupt bedeutenden Menschen oft begegnet, daß sie das am höchsten schätzen, was ihnen selbst abgeht. Die wahre Aristokratie, und gar die wahren Landjunker wissen wenig, was sie im Staate bedeuten: es bedarf erst der Eintagsfliege eines irischen Literaten, um ihnen ihre Bedeutung zum Bewußtsein und in eine Theorie zu bringen. Dazu gehört freilich Burke's wunderbare Fähigkeit zu generalisieren, ohne die Thatsachen aus den Augen zu verlieren, und »seine Weite des Blickes bei seiner Lebendigkeit der Sympathie« (L. Stephen). Gerade dadurch nun überlebt am Ende doch die süße Frucht, »die mit dem Sommer stirbt« und mit der er sich vergleicht, alle »die vielhundertjährigen Eichen, unter deren Schatten sie gereift.«

Auch die anscheinende Inkonsequenz in seiner politischen Laufbahn erklärt sich aus dieser historischen Grundansicht vom natürlichen Wachsthum, dem organischen Werden eines gesunden Gemeinwesens. Er war nur ein Gegner des Umsturzes, der diesen Werdeprozeß unterbrach, um die Schöpfungen des willkürlichen Verstandes an dessen Stelle zu setzen; nicht der Reformen, die ihn erleichterten und förderten. »Wenn der Grund alter Einrichtungen dahingegangen, so ist es absurd, Nichts als ihre Last zu bewahren. Das heißt abergläubisch eine Leiche balsamieren, welche nicht eine Unze der Körner werth ist, die man daran wendet, sie zu erhalten.« Daher denn auch seine liberalen Reformvorschläge, welche Abstellungen von Mißbräuchen bezweckten, den Einfluß und die Bestechungsmacht der Krone auf's Parlament beschränkten und im Grunde mehr zur Unabhängigkeit des Unterhauses und zur Wahrhaftigkeit des politischen Lebens beitrugen, als die beiden großen Wahlreformen unseres Jahrhunderts. Daher auch seine lebhafte Parteinahme für die Nordamerikaner. Der Unabhängigkeitskrieg war in der That, nach J. Morley's tiefer Bemerkung, ein zweiter englischer Bürgerkrieg und in diesem Bürgerkrieg stand Burke auf der Seite derer, die nicht – oder doch noch nicht – allgemeine Menschenrechte, sondern die geschriebenen und verbrieften Rechte britischer Unterthanen anriefen; und er stand hier fast ganz allein gegen die Nation, die leidenschaftlich den Krieg wollte. Erst als die französische Revolution ausbrach, begann er den Zusammenhang beider Bewegungen einzusehen. Und er zögerte nicht einen Augenblick. Vom ersten Tage an denunzierte er die Revolution als ein Werk des Verstandeshochmuths, der sich unterfange, die Geschichte von Neuem zu beginnen, in Wirklichkeit aber sich in die Dienste der rohesten Leidenschaft begeben hatte. Als noch ganz Europa für die hohen Gedanken der Revolution schwärmte, noch ehe die Bastille gestürmt war, sah dieser Prophet des Konservatismus die Quellen der Bewegung und die Extreme, zu denen sie führen mußte, mit derselben unerbittlichen Klarheit, mit welcher sie in unseren Tagen ein Tocqueville, ein Sybel, ein Taine, Dank den tiefsten und eindringendsten Forschungen, erkannt haben.

Burke war keineswegs der Aristokratendiener, als den man ihn darstellt; aber er hielt die Freiheit für unmöglich ohne Aristokratie; das wenigstens sah selbst ein Mirabeau noch vor seinem Tode ein, daß die neue Verfassung Frankreichs einen Richelieu hätte entzücken müssen, da ihre gleiche Oberfläche die Ausübung der absoluten Gewalt so sehr erleichterte. Und obschon Burke keineswegs die Verachtung für die »großen bösen Männer« von Richelieu's Art hegte, welche unsere Demokraten an den Tag legen, so war er doch der Überzeugung, daß eine ruhige organische Entwickelung solchen genialen Chirurgen vorzuziehen sei. Und er bestritt nicht nur die politische Befähigung der Advokatenversammlung von 1789 schon mit den thatsächlichen und logischen Beweisen, denen Taine erst in unsern Tagen einige Geltung hat verschaffen können; er zog auch die Nothwendigkeit selber einer gewaltsamen Revolution in Frage. Er hatte kurz vorher Frankreich bereist und sich überzeugt, daß die große Umwälzung nicht durch unerträgliche Leiden hervorgerufen sei. Ähnliche Bemerkungen finden wir in Dr. Rigby's jüngst veröffentlichten Reisebriefen aus Frankreich im Jahre 1789, Der einzig zuverlässige Beobachter indessen bleibt immer Young. Das mag nun freilich eine recht oberflächliche Beobachtung gewesen sein; aber weil eine Umwälzung und eine schleunige Besserung der Umstände nothwendig war, so ergiebt sich noch nicht, daß die Greuel von 1789 oder gar die von 1792, 1793, 1794 unerläßlich waren, um einen besseren Zustand herbeizuführen. Sicherlich ist die Anschauung, welche meint, die Bewegung rechts oder links eines Generals oder eines Staatsmannes könnte den ganzen Strom der Geschichte in andre Betten leiten (eine Anschauung, die selbst ein Lecky manchmal zu theilen scheint) eine äußerst mechanische, die selbst der indirekteste Schüler Hegel's nicht wird gelten lassen wollen; aber auch im andern Extrem kann man zu weit gehen. Wohl war die große Revolution nothwendig, das muß zugegeben werden, und keine Menschenkunst hätte sie aufhalten können; aber mußte sie wirklich so greuelhaft sein? Mußte wirklich all' dies Blut vergossen werden, um die neuen Zustände zu schaffen? Das Beispiel von P. Leopold's Wirksamkeit in Toscana dürfte das Gegentheil beweisen. Warum Männer wie Turgot und Malesherbes nicht Dasselbe hätten vollbringen sollen, wenn sie der schwache König nicht hätte fallen lassen, ist durchaus nicht abzusehen. Daher denn auch die Entrüstung der großen Katharina über diese Greuel keineswegs so inkonsequent ist, als sie Herr Morley darstellt. Wohl hatte sie Voltaire und Diderot persönlich geehrt und geschätzt, ihre Ideale zu den Ihrigen gemacht; aber würden nicht auch Voltaire und Diderot ihre Entrüstung getheilt haben, wenn sie ihre Ideale auf solche Weise verwirklicht gesehen hätten? Und Burke sah weiter als sie: er sah was dem Ideale selber mangelte und wie es nothwendig zu jenem Triumphe – nicht etwa der Interessen und Gefühle der Armen an Gut und Geist, die überall die ungeheure Mehrheit des Volkes sind, – sondern der Mittelmäßigkeit der Bildung, der Gesellschaft, des Geistes und des Charakters führen mußte, dem wir heute beiwohnen und der der ganzen Natur eines Voltaire hätte widerstreben müssen. Burke's leidenschaftliche Erbitterung, die über alles Ziel hinausschoß und ihn sich soweit vergessen ließ, daß er zu den geschmack- und maßlosesten Insulten griff, muß uns über die ersten Beweggründe seiner Haltung so wenig täuschen, als Herder's verbitterte und gehässige Stimmungen uns an seinem edlen Streben irre machen. » Tu te fâches, donc tu as tort,« sagt das französische Sprüchwort und Burke selbst meint irgendwo: »die schwächsten Räsonnements machen mir die größte Angst, weil sie die stärkste Leidenschaft verrathen.« Auch er »räsonnirte« am Ende nur noch sehr schwach und tobte wie ein Wahnwitziger. Darum war der Krieg, den er führte, doch in der ganzen Richtung des Menschen von Anfang an gegeben. Jene sheer stupitidy, welche die Radikalen J. St. Mill'schen Bekenntnisses im englischen Torysmus sehen, erblickte er in der Unfähigkeit seiner Zeitgenossen, die Leere und Unfruchtbarkeit des rationellen Staatsprinzipes einzusehen: nichts aber ist häufiger als Menschen von gemäßigten Ansichten in blinden Zorn gerathen zu sehen, wenn sie gewisse Wahrheiten, die ihnen sonnenklar vor der Seele stehen, ehrlichen und sonst gescheidten Leuten durchaus nicht begreiflich machen können. Wenn man sich nun erinnert, welche Wichtigkeit selbst die größten Denker jener Zeit den äußerlichsten Regierungsformen beilegten, so kann man sich auch vorstellen, welche Anstrengung es erforderte, Burke's Gedanken, nicht nur den Interessen und Gefühlen – die waren zum größten Theil auf seiner Seite – sondern auch dem Verständnisse der Zeit nahe zu bringen.

Nicht nur Männer wie Paine predigten auch in England, alle Könige und Priester seien Betrüger, Loyalismus müsse so gut verschwinden, wie Aberglaube, Demokratie und Naturreligion in Rousseau's Sinne seien die einzigen Wahrheiten; auch Priestley sprach in ähnlichem Sinne; auch Bentham ignorierte noch vollständig die historische Methode in der Politik und war »fast den überlieferten Religionen und Einrichtungen so feindlich als Rousseau, wenn schon er seine Abneigung in einem sehr verschiedenen Dialekt aussprach.« (L. Stephen.) Meinte doch selbst ein Hume, Gesetze und Einrichtungen waren »ganz unabhängig von den Launen und dem Temperament der Menschen,« wo Burke behauptete, »Gesetze reichten nicht weit; wie man auch die Regierung einrichte, der bei Weitem größte Theil derselben hänge von der Weise ab, wie die Gewalt ausgeübt werde. Aber die Klugheit und Ehrlichkeit der Staatsdiener, auf welchen aller Nutzen und alle Macht der Gesetze beruhe, würde im (künstlich hergestellten) Gemeinwesen nichts besseres sein als ein Plan auf Papier, nicht eine lebendige, wirkende, entscheidende Verfassung.« Fox und Sheridan, möchte ich, John Morley's Worte variierend, sagen, bewunderten die konstituierende Nationalversammlung auf Grund rationeller Staatsrechtslehre; Burke verurtheilte sie auf Grund historischer Staatsrechtslehre. Und diese Lehre hatte er lange vor 1790 gepredigt. Er war nur konsequent, wenn er jetzt die Eingriffe des Volkes in die geschichtliche Entwickelung ebenso streng beurtheilte als früher die Eingriffe der Könige in dieselbe. Wohl hatte er selbst früher behauptet, man müsse einen Schleier über alle Ursprünge der Regierungen werfen, und damit die innerste Nothwendigkeit alles Staatslebens ausgesprochen, während er jetzt den Schleier von dem in Geburtswehen liegenden Frankreich unbarmherzig abriß. Aber jene Forderung bezog sich nur auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart. Erst nach Verjährung sollten Staatseinrichtungen dieses Benefiz haben, daß man ihren Ursprung nicht in Frage ziehe; so lange noch was zu hindern, so lange noch möglich war, das Alte zu erhalten und friedlich noch umzugestalten, durfte, mußte er gegen die gewaltsame Operation protestieren, die sich unterfing, die Macht zu erschüttern,

»Die in verjährt geheiligtem Besitz,
In der Gewohnheit fest gegründet ruht,
Die an der Völker frommen Kinderglauben
Mit tausend zähen Wurzeln sich befestigt.«

So sehr er übrigens auch der Leidenschaft erlaubte, seiner Herr zu werden, Burke blieb doch immer ein echter Britte im Geltenlassen des Tatsächlichen. Wohl verfiel er selbst einmal aus Leidenschaft in das Extrem, das er bekämpfte, und wurde selber so mechanisch, als es nur ein Mably oder Sieyès sein konnte, wenn er die ganze Revolution als ein planmäßig angelegtes Werk, als das »Ergebnis eines Komplottes« ansah; aber in seiner Theorie ging er doch nie bis zu der Absurdität, zu welcher französische Logik einen Joseph de Maistre brachte, wenn er als letzte Instanz der geheimnisvoll wirkenden geschichtlichen Mächte das Papstthum angesehen wissen wollte!

So untergeordnet Burke als Schriftsteller auch einem Montesquieu und Hume gegenüber erscheint, in der Einsicht in das wahre Wesen der britischen Verfassung ist er doch Beiden überlegen. Er ist auch hier wieder das Verhältnis Herder's zu Lessing. Burke war so wenig Staatsmann als Herder Dichter und, wie Lessing »mit Röhren und Pumpen« am Ende doch größere positive Leistungen hervorbrachte, als Herder mit all' seiner Inspiration, so blieb auch Burke als thätiger Politiker weit hinter dem zurück, was seine Zeitgenossen von ihm erwarteten. Obschon durchaus rednerisch angelegt wie Herder, war er doch kein großer Redner, nicht einmal ein großer Schriftsteller – Herr Morley wird mir die Ketzerei verzeihen, aber Burke's Stil ist kaum noch genießbar, trotz (oder wegen?) all' seines Feuers –, er war ein politischer Pamphletär von Genie und da das Pamphlet damals war, was heute ein Leitartikel ist, ein politischer Journalist ersten Ranges, wie Herder ein literarischer Journalist ersten Ranges war; immerhin ein Journalist, der die Hand in den Geschäften gehabt hatte, nicht wie die Unsern nur über Politik reden konnte, sondern Politik gemacht hatte. Dies ist seine Überlegenheit, nicht die Buchgelehrsamkeit, wie sein neuester Biograph es gern möchte. In der That, meint Herr Morley, Burke's Beispiel beweise, daß Bücher eine bessere Vorbereitung für den Staatsmann seien, als frühe Praxis; meiner Ansicht nach beweist es gerade das Gegentheil. Seine Überlegenheit als Denker über einen Pitt oder Fox mag Burke mit aus den Büchern geschöpft haben; seine staatsmännische Unfähigkeit wurde nicht dadurch gemindert. Diese Unfähigkeit lag eben nicht nur in seinem ersten Bildungsgang, noch in seinem reizbaren Temperament allein, sondern auch in seiner Geistesanlage selber: er war ein Prophet, ein Anreger und als solcher hat er Großes gewirkt; zum praktischen Staatsmann fehlte ihm so gut wie Alles. Seine Wirksamkeit war darum doch nicht nur auf die Gedankenwelt beschränkt. Nicht alle seine Vorschläge zur Reform des Unterhauses und der Krongüterverwaltung setzte er durch; es gelang ihm nicht, den nordamerikanischen Krieg zu verhindern; W. Hastings, den er so unerschrocken verklagte, wurde freigesprochen: aber die Verhältnisse der Krone zum Parlament, Englands zu Nordamerika, des Mutterlandes zu Indien gestalteten sich doch, wie er es gewünscht und weil er es so gewünscht, alle seine Kraft an die Verwirklichung dieses seines Wunsches gesetzt hatte.

Ich will hier nicht langer bei Burke verweilen, trotz seiner bedeutenden Stellung in der Geschichte der englischen Weltanschauung, noch die Parallele mit Herder allzuweit ausspinnen; sonst könnte ich der Vergleichungspunkte noch viele hervorheben, in seinem Mangel an Humor, in seinen moralisch-ästhetischen Urtheilen – er spricht von »Tom Jones« etwa wie Herder von »Gott und der Bajadere« – in seiner Stellung gegen die Atheisten und Freidenker –, wie er denn auch sehr viel zu dem modernen Vorurtheil beigetragen hat, daß politischer und religiöser Konservatismus zusammengehen müssen, während doch aller höhere Konservatismus wenigstens so viel Skepsis voraussetzt, als zur Toleranz nöthig ist, – und in vielen anderen Eigenthümlichkeiten. Es muß genügen, wenigstens angedeutet zu haben, daß die Reaktion des Werdeprinzips gegen das Macheprinzip in staatlichen Fragen von Burke ausgeht, wie es in literarischen von Herder ausgeht. Beide aber sollten ihren Rückschlag auf's gegenseitige Gebiet ausüben. Die Reaktion der Savigny'schen und Raumer'schen Schule geht ebenso auf Herder zurück, wie Burns und W. Scott auf Burke zurückdeuten.

III.

Ob die Johnsons und Goldsmiths, die Garrick's und Reynold's, die allabendlich mit Burke im Kaffeehaus saßen, ihren Freund wirklich ganz verstanden? Wohl hat Goldsmith schöne anerkennende Worte von dem »guten Edmund« gesprochen,

whose genius was such, We scarcely can praise it or blame it too much;

aber er fügt doch noch hinzu, daß dieser große Genius,

too deep for his hearers, still went on refining And thought of convincing, while they thought of dining

Es ist wahrscheinlich, daß selbst der stramme Konservative, Johnson, der das Scepter in jenen Versammlungen hielt, seinen Freund, den Deuteragonisten in diesen Unterhaltungstournieren »zu tief« fand, wenn er das innerste Wesen alles Konservatismus aneinandersetzte. Es war doch eine andere Welt, in der sie sich Alle bewegten: die Welt Hobbes' und Locke's, Pope's und Addison's. Der Einzige der Gesellschaft, der auf dem Grunde dieser rationalistischen Weltanschauung, Kunstwerke ersten Ranges hervorgebracht und damit, thatsächlich, wenn nicht theoretisch, die Lehre Burke's von der Allmacht der organisch wirkenden Kräfte dargelegt, Fielding war schon nicht mehr in London, als Burke herüberkam und starb fern in Lissabon, zwei Jahre ehe die Erstlingsschrift des Propheten erschien. Wohl war Johnson durchaus konservativ gestimmt, aber er war's aus ganz anderen Gründen als Burke; wohl hatte Goldsmith ein gewisses poetisches Naturgefühl, das schon die literarische Reaktion ankündigt, aber das menschlich-psychologische, ja soziale Interesse steht doch immer im Vordergrund, so im »Traveller« wie im »Vicar of Wakefield«. Alle diese Leute waren ja Erzstädter und Literaten vom Handwerk, im Gegensatz zu dem vornehmen Dilettantenthum der Bolingbroke's und Shaftesbury's der Addison'schen Zeit. »Nur ein Esel ( blockhead) kann schreiben, wenn er nicht bezahlt wird«, meinte der gute Johnson. Und auch die Leser waren meist Städter: das Publikum der vorhergehenden Zeit bestand aus Aristokraten und Gelehrten; jetzt begann der wohlhabende Kaufmann, der Advokat, der Arzt, begannen sogar die Frauen des Mittelstandes zu lesen; und die Rückwirkung ließ nicht auf sich warten: noch heute bildet der general reader Englands jenen wunderbaren Resonanzboden, dem Nichts auf dem Festlande gleichkommt, der auch der leisesten Berührung antwortet, oft gellend, oft dumpf und stumpf, oft entstellend, aber immer antwortet.

Bis dahin war das Landleben das tonangebende der englischen Gesellschaft gewesen; es war, was es heute zwar noch in der Regel, aber nicht mehr ausschließlich ist, die eigentliche Existenz des Gentleman. Bereits unter Anna hatte sich dagegen die sogenannte »Stadt« als herrschende Gesellschaft gebildet; schon Addison sprach von town and country ganz wie Molière und Labruyère von la cour et la ville. Die »Stadt« aber, im Gegensatz zu den Landjunkern und dem Hofe, meinte die literarischen und finanziellen Kreise der Hauptstadt, die sich für die Nation hielten und denen »Tempelbar der Mittelpunkt der Welt war«. (Stephen.) So viel Goldsmith auch von dem schönen »verlassenen Dorfe« und seinen Reizen erzählen mag, ganz wohl fühlte er sich doch nur im Londoner Kaffeehaus. Johnson gar sah keinen anderen Unterschied zwischen der romantischen Natur von Wales und der friedlichen Landschaft Englands, als daß »statt kahler und unfruchtbarer Hügel hier grüne und fruchtbare« seien; und er zog sein Leben über die Reize von Fleetstreet denen von Greenwich Park vor. Wohl starb in der großen Masse der Nation die alte Lust am Landleben nie aus, aber es war die Freude der Jäger und Landwirthe, nicht die der gefühlvollen Naturschwärmer, wie auch die nie aussterbende Liebe zur Vergangenheit stets aus einem antiquarischen und moralischen, nie aus einem künstlerischen Interesse entsprang, weshalb doch beide Gefühle nicht wenig dazu beitrugen, die nüchterne Verständigkeit des 18. Jahrhunderts in England merklich zu mäßigen. Auch ging England in der landschaftlichen Gartenkunst wie in der Fürsorge für Erhaltung alter Monumente dem Festlande um ein Menschenalter voraus. Der starkausgeprägte Sinn der Engländer für Individualität trug ebenfalls zu dieser Milderung bei, indem er sie vor den äußersten Excessen kahler Allgemeinheit bewahrte. Die Kunst der Charakteristik und das Gefallen daran blieb selbst in jener Periode literarischer Abstraktionen das Erbgut der englischen Dichter und Romanschriftsteller. Dieser Sinn für psychologische und künstlerische Charakteristik, nicht die Eitelkeit der Vornehmen, wie Lecky annimmt, erklärt auch die Blüthe des Porträts, welche in England den Verfall der heimischen wie der festländischen Kunst so lange überlebte. Und, wie das Porträt so die Schauspielkunst. Garrick wußte zu individualisieren wie Reynolds und durch diese Individualisation brachte er Shakespeare wieder zu Ehren, den eine Zeit, die nur an Darstellung der Leidenschaften in abstracto Gefallen fand, nicht hatte verstehen können.

Auch Reynolds und Garrick gehörten zu jenem historisch gewordenen Unterhaltungsclub, an dessen Spitze Dr. Johnson saß. Die Ausländer, die Johnson im »Rasselas« in den Biographien der Dichter, im Shakespearekommentar suchen, haben Mühe, die hervorragende Stellung zu begreifen, welche »der Doctor« in der englischen Literaturgeschichte einnahm und noch immer einnimmt. Seine Bedeutung lag offenbar ganz in der Persönlichkeit und die Persönlichkeit ist uns in dem wunderbaren Buche seines Eckermann-Boswell so lebendig erhalten, daß wir den Mann vor uns zu sehen glauben. Selbst die Werke eines Rousseau, welche die Welt berauschten, könnten uns keinen Begriff von Rousseau's Wirkung geben, hätten wir nicht die »Bekenntnisse«, die uns die Genialität des Menschen nahe bringen; wie viel mehr ist's bei Johnson's blasser schriftstellerischer Produktion nothwendig, den Menschen kennen zu lernen, um zu begreifen, wie und warum ein Richardson, ein Goldsmith, ein Burke, ein Reynolds zu ihm hinaufsahen. Johnson war eben nicht nur ein selten guter, ein selten wahrhaftiger und selten gescheidter Mann; er war auch einer der größten Gesprächskünstler seiner Zeit, die im Gespräche oder im Briefe, das ein geschriebenes Gespräch ist, lebte und dachte, wie Unsre in der Zeitung. Aber wie ganz anders war dies englische Gespräch als das französische; wie viel derber, humoristischer, thatsächlicher; und wer hätte es an Derbheit, Humor und Thatsächlichkeit mit Johnson aufgenommen?

Es waren in eminentem Sinne Männerunterhaltungen, diese Kaffeehausgespräche, wo die Herren Stunden lang angenagelt saßen um ihren Stammgasttisch; während die französische Unterhaltung im Salon und in dem unausgesprochenen Wettkampf um Frauengunst unter immer wechselnden Rollen und bei immer wechselnden Sitzen, leicht und urban über die Sachen und Personen wegglitt. Wohl war es dieselbe heitere Moral, welche »die Tugend in allen ihren natürlichen und verführerischen Reizen sah und sich ihr unbefangen, zutraulich und liebevoll nahte, sie ihres düsteren Gewandes entkleidete, womit sie viele Theologen und Philosophen sie behängt, um Nichts zu Tage treten zu lassen als ihre Milde, Menschlichkeit, Wohlthätigkeit, Leutseligkeit, ja, in passenden Augenblicken auch Spiel, Scherz und Ausgelassenheit« (Hume); aber selbst diese sittliche Heiterkeit gab sich doch hauptsächlich nur in Männerkreisen freien Lauf. Die Frauen, welche noch unter Königin Anna einen so großen Einfluß auf Staat, Literatur und Gesellschaft übten, und, wenn man Defoe glauben darf, »keine Muße hatten zu leben, wenig Zeit zu essen und schlafen, und gar keine ihre Gebete zu sagen«, so sehr »waren alle Regierungs-, Staats- und Kriegssachen die Provinz der Damen geworden«, – die Frauen waren verbannt aus jenen Zusammenkünften der sechziger Jahre und in den Salons, wo sie zu finden waren, füllte das leidenschaftliche Hazardspielen alle ihre Stunden aus. Johnson graute ein wenig vor den politischen Weibern, und gar dem unparteiischen billigen Goldsmith war die pétroleuse zuwider, die in jeder Frauennatur zu schlummern scheint und geweckt wird, sobald sie in politischen und religiösen Kämpfen Partei ergreift. Auch ist die Engländerin wohl weniger für die Gesellschaft geschaffen als die Französin: ist sie frei, so überschreitet sie leicht die Grenze, wo die Freiheit unschön und unweiblich wird, eine Grenze, welche die Französin selten überspringt. Als der moralisch sehr strenge Burke Madame du Barry neben Ludwig XV. in der Kirche sah, fand er, daß »das Laster selber die Hälfte seines Übels verliere, indem es alle seine Rohheit verliere«. Hat die Engländerin geistige Interessen, so verleugnet sie gern die Natur, strebt geschlechtslos zu sein und wird oft reizlos; denn was der Unterhaltung einer Frau Reiz verleiht, ist ja weniger der Inhalt dessen, was sie sagt, als daß es den Stempel ihres Geschlechtes trägt. In England lebt die gesellschaftliche Weiblichkeit eigentlich nur in den jungen Mädchen: und junge Mädchen waren eben im »Türkenkopf« nicht an ihrer Stelle.

Hier aber gab sich das Bedürfnis, allgemeine Gedanken und Urtheile mitzutheilen, freien Lauf und ward das Gespräch bis zu einer wahren Gymnastik getrieben. Es waren Tourniere, in welchen Jeder nicht nur zu glänzen, sondern auch zu siegen wünschte und Johnson stand nicht an, »wenn seine Pistole versagte, Einen mit dem Kolben niederzuschlagen«, wie Goldsmith sagte. Aber er verlangte würdige Gegner: »Erst wenn man einem Mann im Gespräch auf den Leib rückt«, sagt er selber, »kann man entdecken, was sein wahrer Werth ist.« Alles Monologisieren vom Katheder, der Kanzel, der Advokatenbank oder dem Deputiertensitze sei leicht und unfruchtbar; erst der Dialog bringe alle Kräfte heraus; und er schätzte Burke namentlich deshalb so sehr, weil er das Talent hatte, ihn dermaßen anzuregen, daß er alle seine Kräfte aufbieten mußte, um ihm ebenbürtig zu begegnen. Denn, nächst Johnson selber, »für den man nur die Klingel zu ziehen hatte«, um sich ein Verdienst um die Gesellschaft zu erwerben, war Burke der gewandteste. Doch fehlte es ihm an Witz. Goldsmith hätte Den wohl gehabt, nur kam er meist zu spät zum Vorschein, es war der esprit de l'escalier des armen Teufels, der aus seiner langen Armuth und niederen Lage die Schwäche mitgebracht hatte, sich leicht von den Selbstgewissen verblüffen zu lassen, wogegen sein Landsmann Burke ein sehr seltenes Talent hatte, seine demüthigen Lebensanfänge ganz zu vergessen.

Es war ein echt englischer Kreis, der sich da zusammenfand, obschon die Irländer darin eine so große Rolle spielten und obschon wir ihn vornehmlich durch den Schotten Boswell kennen; und es ist interessant, zu beobachten, wie sehr es England in diesem Jahrhundert gelang, die fremden Kräfte zu assimilieren und die fremden Einflüsse zu verarbeiten, weit mehr als früher und seitdem. Selbst Hume, welcher mit ganzer Seele an seiner schottischen Heimath hing, dort den größten Theil seines Lebens zubrachte, England haßte, wie man nur die Fremdherrschaft haßt, war nicht nur durch die Sprache, sondern auch in der Methode, in der Lebensanschauung ein echter Engländer. Und ähnlich, wenn schon in anderem Sinne, der große Ire Swift. Auch Swift's Landsmann, Goldsmith, war intellektuell, wenn nicht von Charakter, ganz Engländer und seine literarische Thätigkeit stand noch durchaus unterm Einfluß der Reaktion Addison's gegen den neuenglischen Seicentismus der Dryden'schen Zeit. Wohl kannte er das Festland trefflich, aber er wurde nie wie Gibbon zu »einem kontinentalen Europäer, statt eines insularen Engländers« (Morison). So auch Adam Smith und mehr noch die späteren Schotten, wie Robertson und Dugald Steward, Erskine und Blair, dann Burns, W. Scott, Jeffrey; sie mochten sehr unenglisch in Anlage und Charakter sein; sie lebten darum doch das ganze englische Geistesleben mit, als ob sie selber Engländer wären.

Man pflegt in England diese Jahre der englischen Literaturgeschichte als eine Pause anzusehen: Nichts scheint mir unberechtigter. Jedenfalls füllt Goldsmith befriedigend genug die kurze Spanne Zeit zwischen Fielding und Sterne, zwischen Pope und Cowper aus, um nur den Roman und das Gedicht zu erwähnen; und auch in der Komödie hat die vorhergehende und folgende Zeit Nichts hervorgebracht, das den Good natured man und She stoops to Conquest überträfe. Essayism aber und literarische Kritik, Philosophie und Geschichtsschreibung waren nie blühender als zwischen 1750 und 1780. Dazu bereitete sich in jener Zeit schon der Umschwung vor, der gegen Ende des Jahrhunderts eintreten sollte. Ja, schon in Richardson, der die von Defoe geschaffene Form des Romans weiter entwickelte, sind die Ansätze zu jener Bewegung. Die Schilderung der unmittelbaren Gegenwart in persönlicher Erzählung oder Briefform, die psychologische Entwickelung der Charaktere, die sein großer Gegner Fielding dann zur Vollendung führte; die Empfindsamkeit, welche Rousseau auf dem Festlande in die Mode brachte, finden sich sämmtlich schon in Richardson. Größeres that Fielding durch seinen genialen Realismus, um der poetischen Produktion wieder den Boden zu geben, den sie fast unter den Füßen verloren hatte; Sterne durch seine kecke Befreiung der subjektiven Laune – Nietzsche nennt ihn mit Recht den freiesten aller Schriftsteller. Ja, Johnson selber trug auf seine Weise zur Reaktion der achtziger und neunziger Jahre bei. So sehr er auch Shaftesbury's Antipathie gegen die Schwärmer und Enthusiasten theilte, welche der ganzen ersten Hälfte des Jahrhunderts den Ton gab, so wenig konnte er sich mit des »Virtuoso« Optimismus und Kosmopolitismus befreunden. Obwohl ganz ein Mann der common sense Schule, ja in einem Sinne ihr letzter und höchster Ausdruck war er doch kein Freund der Deisten, die ihm an seine englische Kirche rührten; in einer Zeit, wo alle Talente, selbst die eines Burke, sich in den Dienst der Whigs begeben hatten, war er ein Stocktory; denn obschon er ein Verstandesmensch war, der einen Shakespeare nach abstrakten Regeln beurtheilte, so wollte er im Staat doch nur die Praxis und die Tradition gelten lassen und die britische Verfassung war ihm eine Musterverfassung, weil sie lebte und geworden war, nicht weil sie alle theoretischen Bedingungen des » fancyful« Montesquieu erfüllte. Während Alle für Frankreich schwärmten, alle nationalen Schranken verwarfen, wollte er nur Engländer sein und empfand es fast als eine Impertinenz, wenn die Schotten auch eine Nation sein wollten. Vor Allem, während es Mode war, Alles zum Besten in der Besten der Welten zu finden, war er es, der gegen diesen Glückseligkeitstaumel reagierte; und zwar was charakteristisch ist, nicht durch plumpe Satire wie Mandeville in der Bienenfabel, noch durch seinen Spott wie Voltaire, im »Candide«, sondern mit einer Art Melancholie, die tief in seinem Wesen lag, und indem er der Welt die dunkle Seite der Natur wie der Gesellschaft zeigte. Die Young'schen »Nachtgedanken« sind fast gleichzeitig mit Johnson's »Rasselas« Wie Percy's, Lowth's, Wood's Bemühungen sich wiederum an Young's »Originalkomposition« anschlossen, ist ein in Deutschland oft behandeltes, in England sonderbarer Weise sehr vernachlässigtes Thema; wie Macpherson's und Chatterton's Fälschungen aus jenem dunkeln Drange nach Wiederanknüpfung der historischen Fäden entsprangen; wie endlich die langsam reifende dichterische Reaktion aus den Tiefen der Volksseele siegreich jubelnd hervorbrach in R. Burns' Liedern, das ist uns, Allen eine wohlbekannte, ja vertraute Geschichte; denn sie ist der begleitende Pedalton unserer eigenen Geistesgeschichte. Der Gedanke, der bei uns wissenschaftlich und dichterisch entwickelt und bis in seine äußersten Konsequenzen verfolgt ward; der Gedanke, welcher unserer ganzen modernen Nationalbildung und Weltanschauung zu Grunde liegt, der Gedanke, der durch uns auf mehr denn ein halbes Jahrhundert hinaus der herrschende in der höheren Geistessphäre Europas geworden ist – wir erkennen ihn wieder bei unseren germanischen Vettern, und die Form, die er dort annimmt, stört uns nicht, hindert uns nicht, ihn als den Bundesgenossen in dem Kampfe gegen den Mechanismus der vorhergehenden Zeit anzuerkennen, den zu stürzen so recht eigentlich unsere literarische Sendung war. Weniger bekannt ist bei uns die Bewegung, welche sich gleichzeitig im Schoße der englischen Kirche vollzog und der halb Entschlafenen neues Leben und neue Kraft gab, die auflösend wirkenden Elemente ausschied.

Sehr schön führt Herr L. Stephen aus, wie jene ganze schöne Literatur des 18. Jahrhunderts eigentlich nur der symbolische und sinnliche ( emotional) Ausdruck der Gedankenbewegung dieses Jahrhunderts ist, wenn sie auch gleichzeitig, wie's wohl nicht anders sein kann, den permanenten Charakter des englischen Geistes darstellt. Alle, noch immer in der englischen Nation so unvermittelt nebeneinander lebenden Gegensätze muthigster Wahrhaftigkeit und direktester Heuchelei, cynischen Egoismus und edelster Generosität, toller Verschwendung und harter Habsucht, roher Grausamkeit und lebhaften Mitleids, leben vor uns in den literarischen Denkmalen jener Zeit und doch spiegeln sich darin fortwährend Gefühle, Typen und Sitten, welche längst aufgehört haben zu existieren; vor allem aber jene Gedankenwelt, gegen welche die oben geschilderte Reaktion sich wandte und welche wir mit dem Namen des theologischen Rationalismus zu bezeichnen pflegen. Damit ist denn auch der Grundmangel jener Literatur charakterisiert: eine so kalte und mechanische Weltanschauung wie der Deismus, von dem die ganze philosophische Bewegung ausging, konnte der Phantasie nur mageren Boden bieten. Wie viel reicher noch als die leblose Gottheit dieser Zeit war selbst die strenge biblische Welt Milton's, und gar die gestaltenreiche Romantik von Spenser's und Shakespeare's Zeit, als Fee Abunde noch die Welt regierte!

IV.

Wohlthätiger, wenn nicht vertiefender und verinnerlichender, war der Einfluß der großen, von Hobbes und Locke ausgehenden, philosophisch-kritischen Bewegung und der Newton'schen Naturphilosophie auf das religiöse Leben, und die politische Windstille der Walpole'schen Zeit war dieser philosophisch-theologischen Thätigkeit sehr günstig. Newton selber freilich hatte keine Ahnung von der Tragweite seiner Entdeckungen für die religiösen Fragen und »beugte seinen mächtigen Geist immer weiter zu jener Thätigkeit des Räthsellösens, die er Prophetendeutung nannte« (L. Stephen); aber Hobbes wußte sehr wohl was er that. Man unterschätzt oft Hobbes' Einfluß. Freilich hatte er nur wenig Schüler und seine Staatsrechtslehre wurde tatsächlich für immer beseitigt durch die Revolution von 1688. Allein, – Herr L. Stephen thut wohl daran, es uns in's Gedächtnis zu rufen – ein Schriftsteller, der eine Reaktion hervorruft und zahlreiche Widersacher zählt, thut ebensoviel für die Ideenerzeugung als der, welcher seine eigenen Gedanken verbreitet. Und dann: die Folgerungen, welche Hobbes aus seinen Prämissen zog, mögen von den folgenden Geschlechtern mit Entrüstung verworfen worden sein, die Prämissen selber bilden doch die Unterströmung der ganzen Gedankenbewegung des vorigen Jahrhunderts. Wenn er behauptet, daß die Bibel nach der Methode historischer Kritik geprüft werden müsse, so ließ sich Bayle das wohl gesagt sein. Was er in Bezug auf die Verschiedenheit der Moral je nach Ort und Zeit sagte, ward das Credo Voltaire's, wenn er auch nicht so weit ging wie Hobbes, die positiven Gesetze jeden Landes mit den Moralgesetzen zu identifizieren. Rousseau's Theorie der Souveränetät und des Gesellschaftsvertrages ist im Grund die von Hobbes', nur daß der Souverän ein verschiedener ist. Wenn Locke die eingeborenen Ideen von Sittlichkeit leugnet, steht er nicht auf Hobbes' Schultern?

Praktisch freilich in Bezug auf's Leben war Locke's Thätigkeit eine Reaktion gegen die Hobbes'. Er ward der Kirchenvater des Konstitutionalismus, wie jener der des Absolutismus gewesen war; er ward der Stifter der Nützlichkeitsmoral, die im ganzen vorigen Jahrhundert herrschte, obschon erst Bentham sie in ein vollständiges System brachte; er ward vor Allem der Prophet der kirchlichen Toleranz, welche der schönste Zug in der Zeitphysiognomie ist. Auch die Locke'sche Philosophie war ein echtes Kind Englands und seines gesunden Sinnes für's Thatsächliche, seiner Abgeneigtheit gegen Systeme, seiner Ehrfurcht für gegebene Einrichtungen und Vorurtheile, seiner Neigung zu Kompromissen mit dem Bestehenden: daher denn auch der Erzengländer Johnson, obschon im gegnerischen politischen Lager, in seinem Mißtrauen gegen spekulative und skeptische Philosophie ganz Lockianer war. Daß Locke's Philosophie in ihren Consequenzen doch zu Hume's Skeptizismus führen mußte, darf uns nicht irre machen. Er wollte stehen bleiben, die Offenbarung nicht antasten, Gott und Unsterblichkeit nicht in Frage ziehen; aber der spekulative Schotte – die Schotten, die den Deutschen in sehr Vielem ähneln, scheinen auch den Sinn für Spekulation mit den Deutschen zu theilen – Hume blieb nicht stehen. Wohl erklärte er, »unsere heiligste Religion beruhe auf dem Glauben, nicht auf der Vernunft, und es sei der sicherste Weg sie zu gefährden, wenn man sie einer Untersuchung unterwürfe, die sie nicht vertrüge«; das hinderte ihn aber nicht, die philosophischen Grundlagen der Religion vor's Gericht der Vernunft zu ziehen und ihnen den Prozeß zu machen. Er vollendete erst den von Locke begonnenen Sieg über die Weltanschauung des 17. Jahrhunderts und ward der Vorläufer, der heute, bewußt oder unbewußt, von allen wahren Denkern zur Voraussetzung genommenen Lehre Kant's.

Ebenso mächtig als auf die philosophische Entwickelung war der Einfluß Locke's auf Staat und Kirche. Nicht nur die Praktiker des Whiggismus, auch die Theoretiker desselben, die R. Walpole so gut, wie die Montesquieu, gingen von ihm aus; und seine Vertheidigung der kirchlichen Toleranz trug sofort die schönsten Früchte. Noch ein Mal war unter Königin Anna der hochkirchliche Fanatismus gegen Wilhelms III., von Locke philosophisch exponirten, Tolerantismus ausgebrochen; dann aber trat Dieser unbestritten in seine Rechte. Wahrend Bossuet aus der unendlichen Verschiedenheit der religiösen Meinungen auf die Nothwendigkeit der Einheit und die Unterdrückung der Ketzerei, folglich blinde Unterwerfung unter die Autorität und Verfolgung der Andersglaubenden schloß, leitete Locke aus dieser Verschiedenheit die Nothwendigkeit der Duldung und der Verstandsrechte, d. h. des Rationalismus ab. Denn Locke's »Vernünftigkeit des Christenthums« war so recht eigentlich der Ausgangspunkt des ganzen theologischen Rationalismus, der unter dem Namen des englischen Deismus in der Geschichte bekannt ist. Der Deismus war aber im Grunde Nichts als eine Art Naturreligion, wie später Rousseau's Gesellschaftsvertrag, der ganz ähnlich konstruiert war, ein sogenannter Naturstaat sein sollte. Und dieser Deismus ward trotz so talentvoller und gelehrter Gegner wie Butler und Bentley, bald nicht nur das Credo aller intelligenten Dissidenten, die sich unterm Namen der Unitarier gegen die Lehre von der Dreieinigkeit erhoben, er ward auch die Überzeugung aller gebildeten Anglikaner selber, da er ja nicht wie in Frankreich, wo er sich dem Katholizismus gegenüber fand und wo ihm die französische Logik nicht erlaubte, halbwegs stille zu stehen, in eine Bekämpfung, des Christenthums selber ausartete.

Von der Mystik freilich, wie von der Symbolik des Christenthums blieb wenig übrig: das Ganze war ein gar prosaisches Moralsystem und die höchst nüchterne Metaphysik vom allgütigen Uhrmacher; der Gottesdienst magerte immer mehr zur leeren Form ab; die Predigten waren einfache Essays über Moral, wie Addison sie hatte in den Spectator schreiben können; ja am Ende, unter Sterne's genialfrecher Hand, werden sie zu kleinen humoristischen Vorträgen über alles Mögliche außer Christus und der Erlösung. Dabei zieht man denn doch immer noch seinen Hut ab vorm Christentume, wenn man zufällig daran vorüberstreift, selbst wenn man Hume heißt. Erst Gibbon griff es unehrerbietig und von vorne an; aber Gibbon war eigentlich kaum mehr ein Engländer zu nennen, in Bezug auf seine philosophische Weltanschauung wenigstens, die er sich ganz auf dem Festlande gebildet. Am Ende des Jahrhunderts aber hatte jener Rationalismus so weit um sich gegriffen, daß ein Paine und Priestley seine Sprache auch zum Volke redeten, weil »der Glaube, welcher die Gebildeten schon lange nicht mehr befriedigte, auch den Instinkten des rohen common-sense nicht mehr genügte«. (L. Stephen.) Selbst die konservativen Theologen, welche gleichzeitig, gegen Freidenker und Orthodoxe Front machten, predigten eine Moral, die auf Nichts als Empfindsamkeit oder einfache Klugheit hinauslief. Sie hatten zwar noch die theologische Sprache beibehalten, aber gebrauchten dieselbe in so unbestimmter Weise, daß man Alles darunter verstehen konnte, was man wollte. Sie sprachen von Harmonie, Einheit der besten der Welten u. s. w., fanden Gott in der Natur, aber ohne seine Persönlichkeit zu betonen. Wohl habe sich Gott einmal auch greifbar den Menschen gezeigt, das sei aber schon lange her und in einem fernen Wunderlande; seitdem unterbreche der hohe Herr die Naturordnung nicht mehr; kurz Gottvater ward zu einer Art »übernatürlichen Oberrichters, dessen Wahrsprüche in einer außernatürlichen Welt ausgeführt wurden, der aber (für diese natürliche Welt) ein konstitutioneller Monarch war, einen Gesellschaftsvertrag unterzeichnet, und sich von der thätigen Regierung zurückgezogen hatte.« Auch war die Polemik zwischen ihnen und den Deisten, wenn man die des pugilistischen Warburton ausnimmt, eine sehr laue, wie's nicht wohl anders sein konnte, da Diese ja im Grunde nicht die Religion, Jene nicht die Toleranz vernichten wollten.

Nichts glich in der That weniger der heutigen englischen Kirche, als die des vorigen Jahrhunderts. Während heute die noch immer sehr zahlreiche broad-church kaum zum Worte kommt, zwischen der aristokratischkatholizisierenden high-church und der puritanisch-demokratischen low-church, so war sie damals fast alleinherrschend, ausschlaggebend und was Alles sagt, in der Mode: denn die heutige low-church und high-church sind eigentlich erst die Ergebnisse der Wesleyanischen Bewegung des vorigen Jahrhunderts, der Tractarianischen unseres Jahrhunderts.

Die englische Kirche war dem englischen Charakter und Geist, sowie den historischen Verhältnissen Englands wunderbar angemessen. Sie hatte den Vortheil, eine nationale Kirche zu sein; sie war des einzigen gefährlichen Gegners ledig, und erstreckte ihre Toleranz nicht bis auf diesen, der ja, »nie als eine einfache Religion angesehen werden kann« (ich glaube Herr Lecky ist der einzige lebende englische Schriftsteller, der sich zu dieser unbefangenen Beurtheilung des Katholizismus aufzuschwingen vermag); sie hatte sich überdies der vernunftwidrigsten Dogmen des Katholizismus entledigt; sie war ein Kompromiß zwischen zwei Extremen; sie hatte eine monarchisch-aristokratische Verfassung, sie war durch die Priesterehe innig mit der Gesellschaft verbunden und hatte doch, als auf der Nachfolge beruhend, die den Engländern so liebe historische Überlieferung nicht aufgegeben. Zu gleicher Zeit aber war ihr politischer Einfluß, den die Laien mit mißtrauischer Eifersucht betrachteten, immer schwächer geworden, war selbst im Oberhaus bedeutend herabgemindert worden. Dazu kam, daß seit William III. und seinem Burnet die hohen Kirchenstellen immer mehr an Latitudinarier vergeben wurden. Es war eine Epoche, die der Blütezeit unseres Hermesianismus nicht unähnlich war, mit dem großen Vortheil, daß der Chef dieser Kirche eben doch das Staatsoberhaupt war. Überhaupt erinnert jene Zeit in kirchlichen Dingen viel an die gute Zeit unseres Friedrich Wilhelms III., ehe noch die künstliche Wiederbelebung des kirchlichen Interesses begonnen hatte, – der künstlichen sage ich, denn selbst damals war in jenem lauen Kirchenthum der Engländer doch immer mehr Wahrheit als in unserem kirchlichen Leben, während im Gegentheil das religiöse Leben selbst heute noch bei uns wahrer und tiefer sein dürfte als in England. Zwar schlug Williams III. Versuch einer evangelischen Union fehl, wie ja auch der preußische thatsächlich nicht gelungen ist: aber es war doch ein Waffenstillstand zwischen Kirche und Dissent. Nach jenem kurzen Kampfe unter Königin Anna hatte die von den Bischöfen vertretene Toleranz den Sieg. Die Synode (oder Convocation), in welcher der noch immer etwas intolerante niedere Clerus ausschlaggebend war, bestand seit 1717 thatsächlich nicht mehr, denn sie wurde nicht mehr einberufen, und bald ahmten auch die Untergebenen ihren Vorgesetzten nach, von denen sie fortan ohne Berufung abhingen. Um die Mitte des Jahrhunderts war innerhalb der Kirche der Indifferentismus so groß geworden, daß Hume sagen konnte, »die Nation habe sich in religiösen Dingen in die kühlste Gleichgiltigkeit festgesetzt, die man bei irgend einer Nation der Welt finden könnte,« Das war nun freilich nur halb wahr, und dem vornehmen Geiste, der auf den Gipfeln der Kultur wohnte, entging die Bewegung, die tief unten im Thal unter den arbeitenden Ameisen der Menschheit schon begonnen hatte. Auf die Staatskirche beschränkt ist dagegen sein Urteil ganz gerechtfertigt.

Schon um die Mitte der vierziger Jahre regte sich die Reaktion des religiösen Gefühls. Der Pietismus, der fünfzig Jahre vorher unser religiöses Leben wieder auf ein Jahrhundert hin, verjüngt hatte, lebte auch in England auf. Schade nur – und von der größten Tragweite – daß die große philosophische Bewegung Englands von Bacon auf Hume, nicht wie die unsere von Kant bis Feuerbach, nach, sondern vor der religiösen Wiedergeburt eintrat, das neue religiöse Leben also nicht philosophisch geläutert und durchgeistigt wurde, sondern die größere Hälfte der Nation der modernen Kultur entfremdete, ja ihr feindlich entgegenstellte.

Die Dissidenten waren nur noch wenig zahlreich am Anfang des Jahrhunderts, etwa 1 zu 22 gegen die Angehörigen der Staatskirche. Die Independenten oder Congregationalisten, welche gern die Landeskirche in eine Masse kleiner, vom Staate unabhängiger Freistaaten aufgelöst hätten, streng calvinistisch in ihren Dogmen, namentlich in dem der Prädestination, waren, nach großer Machtentfaltung, fast der Reaktion erlegen: der politische Sinn der Engländer sträubte sich gegen eine Kirche, welche nur eine unsichtbare geistige Gemeinschaft der über die Welt zerstreuten Erwählten sein sollte. Die Wiedertäufer, welche die Religion innerlich zu reinigen bestrebt waren und das Admissionsritual vernunftgemäßer einrichten wollten, hatten sich, wie die Quäker, welche allen äußeren Ritus aufgegeben wissen wollten, versteinert; sie lebten noch fort und verloren wenige Anhänger, aber sie gewannen auch keine neuen. Nur die neue Sekte der Unitarier, so recht ein Erzeugnis des vorigen Jahrhunderts, gelangte zu großer Blüte, war aber ihrer Natur nach ein Bekenntnis Gebildeter, konnte nie eine Volksreligion werden, selbst im Jahrhundert der Aufklärung nicht: denn sie verlangte die volle Freiheit der Kirche, wollte alle Verpflichtungen aufheben, welche die Lehren der Geistlichen irgendwie binden könnten: Religion aber, Volksreligion, will Gebundensein, meint Gebundensein. Anders der Wesleyanismus, der sich anfangs durchaus nicht als Dissent gab, sondern nur die anglikanische Religion durch's Gefühl, durch die innerliche Wiedergeburt erneuern wollte, wie unser Pietismus dem Luthertum neues Leben einzuhauchen gesucht hatte. Er bildete aber Gesellschaften und Vereine der Laien im Schoße der Kirche, verlangte sichtliche Bekehrung, persönliche Empfängnis der Offenbarung bei jedem Einzelnen, ja führte schon Herrnhuter Einrichtungen ein; Wesley stand ja mit den Brüdern in persönlicher Beziehung. Dabei wollte er doch noch immer in der Landeskirche verharren, was freilich auf die Dauer nicht gehen konnte; doch mußte er sozusagen bei den Schultern hinausgedrängt werden. Noch lange nachdem er und sein Apostel Whitefield ihre Wirksamkeit aus den Kirchen, aus denen sie vertrieben worden, auf's freie Feld verlegt, erklärten sie sich für treue Anhänger der Landesreligion. Erst gegen 1785, bestimmter 1795, ward die bis dahin »evangelische« Bewegung zur Methodistensekte, als welche sie jetzt in England allein eine Million (nach Anderen 2,400,000), in Amerika zwei Millionen Mitglieder zählt. Nichtsdestoweniger trat sie von da an in ihr abnehmendes Stadium, denn, »obschon mächtige religiöse Bewegungen immer von den Ständen ausgehen, die der philosophischen Bildung unzugänglich sind, so sind sie doch zur Unfruchtbarkeit verdammt, wenn sie kein philosophisches Element zu assimilieren verstehen« (L. Stephen). Diese Unfruchtbarkeit darf aber nur von dem Methodismus als Sekte verstanden werden; der Wesleyamsmus als historische That war von höchster Fruchtbarkeit. Er that auf dem Gebiete der Religion, was unser Sturm und Drang auf dem der Literatur that: Wesley war ein religiöser Rousseau, welcher dem herrschenden Konventionalismus gegenüber das Gefühl wieder in seine Rechte einsetzte, ein Werther, der das innere Leben allein für werthvoll hielt und seine Jünger oft zu krankhaftem Selbstgrübeln verleitete, aber auch der echt germanischen Lutheridee in England wieder Eingang verschaffte: daß, was ein Mensch ist, wichtiger ist, als was er thut oder denkt. Er zuerst gab der Idee der »Sünde«, als Ausflusses einer unbegnadeten Natur, wieder neues Leben. Freilich hatte die »evangelische« Bewegung, wie man den Wesleyanismus zu nennen pflegte, keinen unmittelbaren Einfluß auf die englische Kultur. Die vornehmen Klassen ignorierten ihn; die Gebildeten spotteten seiner; mittelbar aber wirkte er doch, reinigend und beengend zugleich auf die Moralität, ähnlich dem Puritanismus; belebend und verinnerlichend auf die Poesie; anregend, ja provozierend auf das religiöse Interesse. Er gab der Staatskirche neues Leben, indem er sie zum Widerstande herausforderte, ihr ihre eigenen Schwächen entdeckte. Solche vom Gefühl ausgehende Bewegungen wirken eben in letzter Instanz immer reaktionär, wie sich ja das auch im deutschen Pietismus gezeigt hat, während umgekehrt rationalistische Bewegungen immer in fortschrittlichem Sinne wirken müssen; der Tractarianismus, der Puseyismus, der Ritualismus dieses Jahrhunderts, welche ohne den Wesley'schen Anstoß nimmermehr in's Leben getreten wären, sind durchaus reaktionärer Natur.

   

So hat denn dies vielverleumdete 18. Jahrhundert, das auf dem Festlande so schöne Blüten und so herrliche Früchte getrieben, auch in England tiefe und im Ganzen wohlthuende Spuren hinterlassen. Es hat befreiend im Staate, belebend in der Literatur, verinnerlichend in der Religion gewirkt. Das sollten die Radikalen, die Neuheiden und die Hochkirchler dankbar einsehen, anstatt hochmüthig auf ihre Großväter herabzublicken. Ein Jahrhundert, in dem England zweimal, am Beginn und am Ende, die europäische Unabhängigkeit gegen die Pläne der Universalmonarchie verteidigt und seine innere Verfassung ausgebaut und vollendet hat, in welchem es vom »Gulliver« bis zum »Halloween« eine Reihe von Meisterwerken hinterlassen, wie sie kein anderes Volk der Welt besitzt; in welchem es die vollständigste kirchliche Duldung durchgeführt, die je existiert hat, ohne in religiösen Marasmus zu verfallen – ein solches Jahrhundert darf sich selbst in der reichen englischen Geschichte mit jedem andern messen.


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