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V. Siebzehnhundert neun und achtzig.

I.

Einer der reizendsten Romane Voltaire's – man möchte ihn den Abschied des greisen Kämpen von seinem Jahrhundert nennen – erzählt uns, wie die Vernunft, welche sich wahrend des Mittelalters in einen Brunnen geflüchtet, sich »obschon sie nicht für besonders weich gilt«, doch vom Mitleid für die Menschen rühren ließ und mit ihrer dreisteren Tochter, der Wahrheit, die Welt zu besuchen entschloß. Sie wurden zwar recht übel aufgenommen, allein schon ihre Erscheinung genügte, die Menschheit zu erhellen und überall den Samen der Erkenntnis aufgehen zu lassen. In der That fanden sie sogar in Rom einen Papst, der seinen Marc Aurel las und sie auf's Herzlichste versicherte, daß, wenn er hätte ahnen können, die Damen wären auf der Erde, er ihnen den ersten Besuch gemacht hätte. Nachdem sie Clemens XIV. verlassen, »besuchten sie ganz Italien und waren überrascht, anstatt des Macchiavellismus, einen Wetteifer unter allen Fürsten und Republiken von Parma bis Turin zu finden, wer seine Unterthanen besser, reicher, glücklicher zu machen vermöchte«. Deutschland, welches einst in sein eigenes Blut gebadet war, um genau zu wissen, »ob das Ding in, cum, sub oder nicht sei«, sahen die hehren Frauen drei feindliche Religionen in seinem Schoße aufnehmen, »und die Religionen selber schienen erstaunt, so friedlich bei einander zu leben.« Die beiden Damen, welche auch bei Maria Theresia eingeführt und von ihr charmiert waren, »verliebten sich vollends in den Kaiser, ihren Sohn.« Selbst in Schweden fanden sie nicht wenig zu bewundern. Beim Anblick Polens freilich hatten sie große Lust, sich wieder in den Brunnen zu flüchten: aber die Wunder, welche die Semiramis des Nordens im nahen Rußland verrichtete, Alles, was in England geschah, dessen »Glück nicht wie das der anderen Nationen gemacht war«, söhnte sie wieder mit Europa aus. Frankreich fanden sie im Jubel über die Thronbesteigung des tugendhaften Fürsten, von dem die Nation den Anfang einer besseren Zeit erwartete. Alle Mißbräuche sollen abgeschafft, die Kirche vom Staat getrennt, die Marterwerkzeuge verbrannt, die Gesetze reformiert werden. Überall lebt ein neuer Geist, ein Geist des Wohlwollens, des Fortschritts, der Aufklärung. Vernunft und Wahrheit finden das unendlich viel schöner, als die Räthsel, die sich Salomo und die Königin von Saba unter vier Augen aufgaben. »Ich sehe,« sagte die Mutter, daß man sich in Europa seit zehn bis zwölf Jahren auf die Künste und die notwendigen Tugenden verlegt hat, welche die Bitternisse des Lebens mildern ... Man hat es gewagt, von den Gesetzen Gerechtigkeit gegen Gesetze zu verlangen, welche die Tugend verdammten, und zuweilen ist diese Gerechtigkeit erlangt worden, ja, man hat das Wort Duldung auszusprechen gewagt. So lass' uns denn, meine liebe Tochter, diese schönen Tage genießen; bleiben wir hier, wenn sie dauern, und wenn die Stürme wieder ausbrechen, lass' uns in unseren Brunnen zurückkehren.« Es dauerte keine zehn bis zwölf Jahre, so mußten sie Hals über Kopf in ihr Versteck flüchten. Der aber, der sie daraus heraufbeschworen, war so glücklich, die furchtbaren Stürme nicht zu erleben, die seine Saat zu zerstören drohten.

Die Überzeugung von der Nothwendigkeit der großen französischen Revolution ist eine weitverbreitete und tiefgewurzelte nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Der Optimismus eines Voltaire und Schiller, die schon vor 1789 den neuen Tag angebrochen glaubten, ist vergessen oder wird belächelt. Wer bis jetzt die Nothwendigkeit oder gar die Nützlichkeit des großen Umsturzes bestritt, pflegte, wie die Bonald und J. de Maistre zur Zeit der Reaktion, ein Wortführer der Umkehr zu sein, ein Eiferer für die Wiederherstellung der Autorität in Staat, Kirche und Wissenschaft. Heute tritt ein Mann unseres Jahrhunderts auf, ein Philosoph der positiven Schule und offener Feind der gegebenen Religion, ein Anhänger der modernen Staatseinrichtungen, und erklärt nach eingehendem unparteiischem Prüfen der Thatsachen die große Revolution für eine Gruppe von historischen Thatsachen, in der die schlimmen Leidenschaften, die thörichten Gedanken und die unzweckmäßigen Handlungen bei weitem den Edelmuth, die Tiefe und die Verständigkeit überwiegen. Hatten bis jetzt moderne Menschen die große Revolution getadelt, so war's der Convent, dessen Schreckensherrschaft, dessen Gesetzgebung sie schwarz malten, um 1789 und die Constituante in ein recht helles Licht setzen zu können. Ja, der Glaube an die »Prinzipien von 1789« ist ein so unschütterter gewesen, daß es fast als Frevel galt oder gilt, an ihrer Heiligkeit auch nur zweifeln. Hier aber steht ein Mann auf, der nicht verdächtig ist, sich aber auch nicht genügen läßt an tausendmal wiederholten Worten, und erklärt: ich habe Alles selbst untersuchen wollen; ich habe nicht die Geschichtsschreiber gefragt, sondern die unbefangenen Augenzeugen und ich bin zur Überzeugung gekommen, daß das Hauptunheil schon 1789 angerichtet worden.

Wer nicht in Frankreich gelebt hat, wer den Götzendienst nicht kennt, der dort mit der Revolution von 1789 getrieben wird, wer nicht weiß, wie mächtig, wie einstimmig, wie unduldsam die öffentliche Meinung und das öffentliche Vorurtheil in jenem Lande zu sein pflegen, kann sich keinen rechten Begriff davon machen, welchen Muth es erforderte, mit einer solchen, wenn auch nur impliciten, Erklärung vor's Publikum zu treten. Es brauchte in der That die fleckenlose Unbescholtenheit eines Taine, H. Taine. Les origines de la France comtemporaine. La Révolution (Paris 1878) Erster Band. sein aller militanten Politik fern stehendes Leben, seinen Ruf wissenschaftlicher Gediegenheit und Gewissenhaftigkeit; es brauchte vor Allem seine Reputation als eines unabhängigen Denkers und unabhängigen Menschen, um sich eine solche Ketzerei erlauben zu können. Selbst so grenzt die Kühnheit noch an's Unglaubliche, aber Taine, der als zweiundzwanzigjähriger, unbemittelter und unbekannter Jüngling den Muth gehabt, sich nicht vor der Gewalt zu beugen, der als angehender Schriftsteller es gewagt, dem Oberpriester der Staatsphilosophie den Handschuh hinzuwerfen, hat auch als reifer Mann den Muth gefunden, der Popularität den Rücken zu kehren und sich gegen die siegreiche Demokratie so zu zeigen wie einst gegen den siegreichen Staatsstreich. Und zur Ehre Frankreichs sei's gesagt: er ist nicht der Einzige seiner vielgeschmähten Generation, einer Generation von Kritikern, wie man wohl verächtlich sagt, um anzudeuten, daß sie zur positiven Leistung wie zum positiven Handeln unfähig sei. Es ist der Augenblick, wo die Demokratie der Mittelmäßigkeit triumphiert, den auch Renan, der gläubige Freund des Fortschrittes, gewählt hat, um in der Vorrede zu seinen neuen »Mélanges« und in seinem »Caliban« auszusprechen, was er von dem Sieger hält; Siehe Frankreich und die Franzosen (Band I von Zeiten, Völker und Menschen, Anhang) eine Studie über diverse Arbeiten Renans. es ist der Augenblick, wo ein Maxime du Camp, der aus der republikanischen Partei hervorgegangen, das Schreckbild der Commune in all' seiner nackten Greulichkeit zeichnet; wo ein J. J. Weiß, der fünfzehn Jahre lang gegen die persönliche Regierung des Kaiserthums gekämpft, alle in höherem Sinne konservativen Männer seines Landes beschwört, sich nicht mehr um die Staatsform zu zanken, sondern innerhalb der gegebenen Form den Feind zu bekämpfen, der den letzten Rest von Altfrankreich zu zerstören droht. Und zum erstenmale sind die Gegner der Demokratie Feinde der Kirche.

Die Generation von 1860 – so nennen wir die von 1825 bis 1835 geborenen Franzosen – mag viele Fehler haben: sie ist nicht enthusiastisch, sie ist nicht sentimental, sie ist nicht poetisch; aber sie hat eine große Tugend, welche ihre Vorgänger und Nachfolger nicht haben: sie ist wahrhaftig. Sie haßt die hohlen Worte, sie fragt sie nach ihrem Sinn; sie prüft die Überlieferungen; sie will Gedanken und Thatsachen, klingende Münze; sie begnügt sich nicht mit Formeln und Assignaten und kann sich nicht für unbestimmte Ideale erwärmen und begeistern. Sie ist weder legitimistisch noch orleanistisch, noch republikanisch; was sie wünscht für ihr Land, ist eine gute Regierung, welches auch ihre Etikette sei. Sie ist vorurtheilsfrei genug, sich von der Wirklichkeit überzeugen zu lassen; und dieselben Männer, welche der Anblick der republikanischen Unfähigkeit nach dem 4. September zu dem Kaiserreich bekehrt hatte, dem sie achtzehn Jahre lang feindlich gegenübergestanden – ich nenne nur Edgar Raoul Duval, den Enkel J. B. Say's – sind jetzt die Ersten, die Thatsache der demokratischen Republik anzuerkennen und ihr Bestes zu thun, um diese Thatsache so unschädlich zu machen, als sie es sein kann. Als Maxime du Camp gegen Mitte der sechziger Jahre seine Studien über Paris – die Post und die Verkehrsmittel, die Hospitäler und die Gefängnisse, die Prostitution und die Wohlthätigkeit – begann, theilte er alle landläufigen Vorurtheile gegen Regierung und Polizei, welche die Folge der leidigen festländischen Gewohnheit ist, alle Behörden nur vom politischen Standpunkte aus anzusehen. Es genügte ihm in die Wirklichkeit einzudringen, das Walten der Polizei auf Schritt und Tritt zu verfolgen, überall hin wo sie in Berührung tritt mit dem Elend und dem Verbrechen, um sofort alle diese Vorurtheile abzuschwören und, was mehr ist, auch öffentlich seine Meinung auszusprechen über die wohlthuende, unermüdliche, aufopferungsvolle, oft heldenmütige Thätigkeit des geschmähtesten und nützlichsten aller Staatsverwaltungszweige. Es ward ihm die Gelegenheit geboten, die inneren Triebfedern der Konspirations- und Aufrührerwelt anzuschauen und das war ihm genug, um sich unwillig abzuwenden von den »Kämpfern für Recht und Freiheit«, welche zwei Throne gestürzt und mit dem

»was die Einbildung
Phantastisch schleppt in diesen dunkeln Namen«

ganze Generationen ihrer Landsleute berauscht und für die Erkenntnis »der Sachen und des Wesens« unfähig gemacht hat. Er hatte aber auch den Muth laut zu sagen, mit welchen Elementen die Freiheitshelden der fortschrittlichen Opposition zu paktieren sich herbeiließen, um zur Herrschaft zu gelangen, und selbst die erfindungsreiche Phantasie des demokratischen Argwohns konnte dem ganz unabhängigen Manne, dem die Machthaber nec beneficio nec injuria cogniti waren, keine niederen Motive andichten. Ähnlich aber ist's mit der ganzen Gruppe von Leuten gegangen, welche ich die Schule Sainte Beuve's nennen möchte: Alles Leute, welche durch Geburt, Erziehung, Umgang dem demokratischen Lager angehörten und sich durch keinerlei menschliches Interesse, allein durch die Kenntnisnahme der Wirklichkeit und aus Wahrheitsliebe, zur Sache, nicht des Kaisers oder der Republik, sondern der Regierung bekehrten, d. h. der das Bestehende gegen die systematischen Umstürzler schützenden Macht. Das wenigstens wird dem Geschlechte von 1860 angerechnet werden in der Geschichte; und, ist die Folge seines Beispiels eine allgemeine Abwendung der Nation vom Phrasenkultus und blinder Leidenschaftlichkeit zur Prüfung und Billigkeit, so werden gerade diese der Politik so fernstehenden Leute auch unter den Wohlthätern der Nation eine Stelle finden. Doch es ist Zeit, diese Parenthese zu schließen und zu unserem Verfasser der »Ursprünge des neuen Frankreichs« zurückzukehren.

Vom künstlerischen Standpunkte wäre wohl auch gegen diesen zweiten Band des bedeutenden Werkes Manches einzuwenden. Taine betäubt uns oft unter der Last seiner Beweise, die monoton niederfallen wie der Hammer auf den Nagel. Die allzugroße Anhäufung von Thatsachen schwächt den Eindruck, indem sie gegen das Greuelhafte wie gegen das Absurde abstumpft. Der Schriftsteller ermüdet uns durch das ewige Präsens, wo sich's doch um die Vergangenheit handelt und wo man ordentlich lechzt nach einem ehrlichen Perfektum und Imperfektum, an dem man sich ausruhen könne. Auch wird der Stil abstrakter, als er sonst wohl gewesen und als es die Natur von Taine's Talent mit sich bringt; oder, wenn er sich noch auf eine Metapher einläßt, wird sie Seiten lang ausgesponnen, wie in dem Schlußbilde, das uns das Entstehen, Wachsthum und den Ausbruch des Säuferwahnsinns bei einem Arbeiter der Vorstädte darstellt, um an diesem Gleichnisse den Zustand der französischen Volksseele in den Revolutionsjahren zu erläutern, oder, in dem Vergleiche Frankreichs mit einem Schiffe, in dem sich die Mannschaft empört und wo ein paar Advokaten sich der Autorität bemächtigt, aber den Kapitän und Steuermann nicht abgesetzt haben, während unterm Deck über die beste Methode der Schifffahrt disputirt wird. Das geht so fort bis in die Taue, Segel, Ballast, Leck u.s.w.

Dagegen aber welche Fortschritte in anderer Hinsicht! Nie ist das Quellenstudium Taine's eingehender, schärfer und doch ausgedehnter gewesen, nie war seine Beweisführung zwingender, nie hat er eine größere Fülle von tiefen und neuen Gedanken über ein Werk ausgegossen, und was mehr zu bewundern ist bei einem Manne der Studierstube, der nie an der Geschichte theilgenommen, seine Urtheile sind von einem praktischen Sinne, einem gesunden Menschenverstand, welche man nur äußerst selten bei abstrakten Denkern findet; denn man darf nicht vergessen, daß Taine seines Zeichens Philosoph ist, daß sein Hauptwerk ( de l'intelligence) eine rein philosophische Arbeit in Herbart-Bain'schem Stile ist, daß seine literarisch vollendetste Schrift die Geschichte der französischen Philosophie im 19. Jahrhundert behandelt, daß selbst alle seine literarischen Arbeiten im philosophischen Geiste durchdacht sind. Was er hier über die Erfordernisse einer guten Gesetzgebung und Verwaltung, was er über die Nützlichkeit einer unbevorrechteten Aristokratie und moralischer Körperschaften für den Staat sagt, scheint von einem praktischen Politiker geschrieben, nicht von einem französischen Ex-Professor. Dazu die schöne Milde und Gerechtigkeit, die aus jeder Zeile spricht. Taine ist bekanntlich die Lieblingszielscheibe des katholischen Zelotismus in Frankreich. Er gehört in erster Reihe zu den von Msgr. Dupanloup's fanatischer Unduldsamkeit denuntiierten Feinden aller Sittlichkeit. Wie ruhig und mit welcher historischen Erhabenheit über alles Persönliche und Parteiliche spricht hier der Geschichtschreiber über die katholische Kirche und über die rohe und stupide Ungerechtigkeit der Revolution gegen diese Kirche. Das sind denn doch Alles so große Vorzüge, daß man schon über einige Fehler wegsehen mag.

Ich habe anderswo Profile (Bd. IV. von Zeiten, Völker und Menschen S. 220-236). meine Bedenken gegen Taine's Behandlungsweise der Geschichte auseinander gesetzt und will hier nicht darauf zurückkommen. Hat man sich aber einmal mit der Methode ausgesöhnt, wonach die Aufgabe des Geschichtschreibers nicht die epische Erzählung, sondern die wissenschaftliche Classification der Thatsachen ist, so läßt sich eben weiter nichts einwenden. Taine, den sein angeborenes Talent zum Künstler bestimmt zu haben schien, leistet in dieser Art von Geschichtswissenschaft geradezu Vollendetes. Wohl hat man ihm vorgeworfen, sein Werk halte nicht, was der Titel versprochen; aber das scheint mir denn doch nur ein Wortgefecht. Taine hat eine Geschichte der Regierung Neufrankreichs versprochen. Dieselbe soll drei Theile haben: das alte Wesen, die Umwälzung und den Wiederaufbau durch Bonaparte. Vor uns haben wir die erste Hälfte des zweiten Theiles, welche 1789–1792 behandelt. Um die Anfänge des neuen Frankreich zu zeigen, mußte der Verfasser doch wohl Altfrankreich und in ihm nicht nur die Keime der Zukunft, sondern auch die zerstörenden Prinzipien darlegen. Ebenso gehört die Zerstörung selber zu den Anfängen Neufrankreichs. Die Zerstörung aber schildert er uns hier; und ein Hauptverdienst seines Buches ist es gerade, darzuthun, wie außerordentlich wenig Positives, Schöpferisches 1789 geleistet hat. Doch giebt er zu, daß die Constituante »durch mehrere Gesetze, namentlich solche, welche das Privatleben betreffen, durch die Einrichtung des Civilstandes, das Strafgesetzbuch und das Landgesetzbuch ( code rural), durch die ersten Anfänge und das Versprechen eines einheitlichen Privatrechtes, durch Aufstellung einzelner einfacher Regeln in Steuerprocedur- und Verwaltungsfragen, gute Keime gesät hat.« Mehr hat sie eben nicht gethan. Denn die politischen Theorien, wie sie in den »Cahiers« niedergelegt worden, sind entweder ganz negativer Natur gewesen oder aber sie huldigten den abstraktesten oder sterilsten Staatstheorien. Selbst die von vonherein überstimmten gemäßigten Konstitutionellen von Malouet's Schule und Lehre, welche später von Mme. de Staël, Benj. Constant und Royer-Collard ausgebildet wurde, hatten doch nur eine sehr äußerliche Auffassung des staatlichen Problems; ihre Conceptionen wurden 1814 und 1830 zum Theil verwirklicht; vermochten aber keinen Boden zu fassen; sie sind spurlos an Frankreich vorübergegangen, während Bonaparte's Schöpfungen auf der tabula rasa der Constituante noch heute die Grundlage Neufrankreichs bilden. Übrigens hat Taine auch den ephemeren Schöpfungen der Nationalversammlung eine eingehende Darstellung gewidmet: seine Schuld ist es nicht, wenn glücklicher Weise von alledem so gut wie gar nichts übrig geblieben ist: seine betreffenden Untersuchungen lassen darüber keinen Zweifel. Welches sind nun die Ergebnisse dieser seiner Untersuchungen? Vor allem doch wohl die Bestätigung dessen, was ich Anfangs dieses Aufsatzes angedeutet, was ich schon so oft, bei Besprechung des aufgeklärten Despotismus des vorigen Jahrhunderts ausgeführt habe, nämlich, daß zu keiner Zeit der Weltgeschichte mehr guter Wille und mehr Einsicht in den regierenden Kreisen vorhanden gewesen als zu der Zeit Peter Leopolds und Josephs II., Friedrichs des Großen und Katharinas, Gustavs III. und Struensee's, Aranda's und Tanucci's, bis hinunter zu unseren Fürsten von Dessau und Lippe-Detmold, mit ihren unerschrockenen und unermüdlichen Ministern, Und oft waren die Kleinsten die Größten: wer weiß, was ein Du Tillot und ein Moser geleistet hätten, wenn sie in Wien und Paris statt in Parma und Hessen-Darmstadt gewirkt. Daß übrigens auch in Frankreich ein solcher Geist der Neuerung herrschte, beweisen die Namen Turgots und Malesherbes'; und es wird Taine nicht schwer, darzuthun, wie versöhnlich entgegenkommend der Adel, ja selbst die Geistlichkeit waren, ehe sie durch die tolle Volkswuth zur Verzweiflung getrieben wurden. Ich finde freilich, daß Taine nicht streng genug gegen Ludwig XVI. ist, der Turgot und Malesherbes so schnöde fallen ließ, Mirabeau's Hand nicht entschlossen zu erfassen wußte, heute sich in Necker's Arme warf, morgen in die Calonne's, der vor Allem im rechten Augenblick nicht zu widerstehen vermochte, und so endlich von Schwäche zu Schwäche bis zum Verrath getrieben wurde: denn verrathen hat er sein Vaterland, das kann nicht wegentschuldigt werden; und diesen Verrath hätte er sich ersparen können, wenn er nicht so feige gewesen wäre, sich den Rebellen zu unterwerfen. Es soll hier sicherlich die Enthauptung Ludwigs XVI. nicht entschuldigt werden, aber vergessen darf man nicht, daß er wie Karl I. die Ordnung der Dinge angenommen hatte, gegen die er dann konspirierte, daß er wie Karl I. eine doppelte Rolle spielte. Das entschuldigt keineswegs die Revolution. Fast alles unwiderbringliche Unheil war schon angestellt vor den Oktobertagen, geschweige denn vor der Eidleistung des Königs auf die unmögliche Verfassung, welche die Nationalversammlung entworfen hatte. Die Frage also, ob Frankreich nicht ohne Umsturz alles Bestehenden auf dem Wege friedlicher Gesetzgebung zur Herstellung besserer und vernunftgemäßerer Zustände hätte kommen können, bleibt dadurch unbeantwortet, ja unberührt; und somit auch die andere Frage, ob die durch die Revolution vielleicht um ein halbes Jahrhundert beschleunigte Herstellung moderner Zustände nicht allzutheuer erkauft worden ist durch fünfundzwanzig Jahre abwechselnder Anarchie und Tyrannei, Mord und Krieg, Zerrüttung, aller Vermögensverhältnisse, Mitfüßentreten aller Gerechtigkeit und Lähmung aller administrativen Freiheit.

Indeß so unabweislich diese Fragen sind, so müßig sind sie, und Taine ist Historiker genug, sie nicht aufzuwerfen. Genug, das neue Frankreich, wie es im Anfange dieses Jahrhunderts hergestellt worden, war nur möglich nach radikaler Zerstörung des alten Frankreich, wie es vor 1789 existiert, und er hat uns zu erzählen, wie diese Zerstörung vor sich gegangen. Er hat dieses Bild gezeichnet, sagt er uns selbst, »ohne sich um die gegenwärtigen Streitigkeiten zu kümmern. Ich habe geschrieben, als ob ich die Revolutionen von Florenz oder Athen zum Gegenstande genommen hätte. Hier gebe ich Geschichte, nichts mehr, und, um Alles zu sagen, ich hatte einen zu hohen Begriff von meinem historischen Handwerk, um daneben und versteckt ein anderes zu treiben«.

II.

»Für die Zeitgenossen, schreibt Tocqueville, war die Einnahme der Bastille der Sieg der Revolution. Für uns ist es die erste tatsächliche Offenbarung der Dictatur von Paris: eine Dictatur, welche die Mutter aller zukünftigen Revolutionen ist.« Doch auch Zeitgenossen gab es, die die Thatsache richtig beurtheilten. »Für jeden Unparteiischen, meint schon Malouet, datiert die Schreckensherrschaft vom 14. Juli 1789.« Die Anarchie beginnt im vorhergehenden Winter: die Einnahme der Bastille bezeichnet nur ihren Sieg. Von dem Augenblicke an besteht keine Regierung mehr und, wie Taine sagt, »so schlecht eine Regierung sein mag, es giebt etwas Schlimmeres und das ist die Abwesenheit aller Regierung.« Die zwei bestimmenden Ursachen aber, welche die Anarchie hervorbrachten, war die Hungersnoth einerseits, die Aussicht auf Hilfe andererseits. Bis dahin herrschte im darbenden Volke die Resignation gegenüber dem unüberwindlichen Schicksal der Nothwendigkeit. Hie und da wohl einmal ein Auflauf, aber stets vereinzelt und rasch unterdrückt. Die Masse des Volkes ergiebt sich in ihr Geschick: »Wenn eine Mauer gar zu hoch ist, denkt man nicht einmal daran, sie zu erklettern.« Jetzt aber, 1787, 1788, wird Abschaffung des Mißstandes versprochen, überall sogar der Anfang gemacht: es ist also doch möglich zu reagieren! Sofort beginnt man tatsächlich zu reagieren, ohne Plan, ohne irgend eine Kenntnis der allgemeinen Lebensbedingungen einer Nation. Von März bis Juli 1789 giebt's nicht weniger als 300 Aufstände in Frankreich; in den vierzehn Tagen der Wahlperiode nicht weniger als 40-50; denn die Politik mischt sich hinein und erregt die schon erregten Gemüther noch mehr. »Man zieht aus um Brot zu haben; mit Mord und Brand hört man auf.« Und der Aufstand wird ein sozialer, denn »er wendet sich gegen alle die, welche bei der bestehenden Ordnung der Dinge einen Vortheil oder etwas zu befehlen haben.«

Am schlimmsten ist's natürlich in Paris, wo die Regierung schon »um die Arbeiter zu beschäftigen« unnütze Erdarbeiten muß ausführen lassen. Allein die Arbeiter sind nur darum so gefährlich hier, weil sie Werkzeuge in der Hand der gewissenlosen und eitlen, halbstudierten Abenteurer sind, die in der großen Stadt ihr Lager, im Palais Royal ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben und dem armen enterbten Volk glänzende Beute versprechen, wie einst die Condottieri ihren Landsknechten: »Vierzig tausend Paläste und Schlösser, ruft Camille Desmoulins, zwei Fünftel der Güter Frankreichs werden der Preis der Tapferkeit sein«. Und schon beginnen die Greuelthaten blinder Leidenschaft gegen unschuldige Unvorsichtige, die nicht einstimmen in den Ausbruch der Wuth und der Gier. Das Bündnis des Janhagels mit den Intriguanten ist geschlossen und bei der Ohnmacht der Behörden unwiderstehlich: denn auch die Armee ist ganz unzuverlässig; schon Anfang September haben sich in Paris 16,000 Deserteure von Versailles der Pöbelmasse angeschlossen; und die Milde, die Menschlichkeit, die Rücksichtnahme der Offiziere gegen die Aufrührer macht das Übel nur noch größer. Die tollsten Erfindungen der Volksvertheidiger von 1870, die furchtbarsten Vandalismen von 1871 haben schon ihre Antezedentien in jenem Jahre der »edlen Volkserhebung«. Die Einnahme der Bastille endigt mit dem Mord de Launay's, dessen Kopf unter Jauchzen und Scherzen auf der Pike herumgetragen, dreimal vor der Statue Heinrichs IV. geneigt wird, um »seinen Herrn zu begrüßen«. Es ist das Vorspiel zu der, acht Tage darauf folgenden Ermordung Foulon's und Berthier's, zweier Männer des Fortschrittes und der Aufklärung, die ihre Zeit, ihre Arbeit, ihr Vermögen der Verbesserung der Volkszustände gewidmet hatten. Auch ihre Köpfe kommen auf die Pike, während die Gassenjungen ihrerseits einigen Katzen die Köpfe abschlagen und auf Stangen stecken, mit denen sie in den Straßen herumstolzieren.

Von da ab wird die Anarchie der normale Zustand der Hauptstadt und der Provinzen; Plünderungen, Brandstiftungen, Mordthaten werden das tägliche Brod. »Überall derselbe Instinkt der Zerstörung, eine Art neidischer Wuth gegen die, welche besitzen, befehlen oder genießen.« Man muß im Einzelnen alle diese Greuel und Thorheiten nachlesen, um sich einen annähernden Begriff von dem zu machen, dessen der Mensch fähig ist, sobald das Thier in ihm nicht mehr durch die hundert unsichtbaren Bande des Staates gefesselt ist. Das gesittete Frankreich des 18. Jahrhunderts gleicht einem Schwarm wüthender Huronen; und das Schlimmste ist, hinter diesen Wilden steht, sie hetzend und treibend, die Klasse der Advokaten, Prokuratoren, Journalisten, welche die Proscription der »Aristokraten« systematisch betreibt. Fremde Beobachter, welche nicht im Strome fortgerissen waren, hatten das schon lange kommen sehen. Sie scheinen zu glauben, meint Horace Walpole bereits 1776, »sie könnten die Welt nach einem neuen Plane ummodeln; sie halten dafür, daß weder Grausamkeiten noch Ungerechtigkeiten bei einem solchen Experiment in Betracht zu ziehen seien.«

Man sehe sich diese Helden aber einmal in der Nähe an. »C. Desmoulins ist neunundzwanzig, Loustalot siebenundzwanzig Jahre alt und ihr ganzer Ballast von Wissen besteht aus Gymnasialreminiscenzen, Erinnerungen aus den juristischen Vorlesungen, Gemeinplätzen, die sie bei Raynal und Genossen zusammengelesen. Brissot gar und Marat, emphatische Menschheitsfreunde, haben Frankreich und die Fremde nur durch das Guckfensterchen ihrer Dachstube gesehen, durch die Brillen ihrer Utopien ... Keine politische Idee in den unerfahrenen oder hohlen Köpfen; keinerlei Kompetenz; keinerlei praktische Erfahrung...« »Die gründliche Kenntnis der Geschichte mangelte ihnen gänzlich,« sagte Renan schon vor fünfundzwanzig Jahren; »eine gewisse geschmacklose Emphase verwirrte ihnen das Gehirn und versetzte sie in jenen dem französischen Geiste eigentümlichen Zustand des Rausches, worin man oft große Dinge verrichtet, der aber jede Voraussicht der Zukunft und jede etwas weite politische Anschauung unmöglich macht.« Was aber waren diese Leiter der öffentlichen Meinung ihrer gesellschaftlichen Stellung nach bei Ausbruch der Revolution? »Desmoulins, ein Advokat ohne Klienten, in einem möblirten Zimmer, von schreienden Schulden lebend ... Loustalot, noch unbekannter, eben in Paris gelandet, um Carriere zu machen ... Danton, ebenfalls ein Advokat zweiten Ranges, dessen Haushalt sich mit dem Louisd'or fristet, den ihm wöchentlich sein Schwiegervater, der Kaffeewirth schenkt ... Brisson, ein wandernder Zigeuner ... Marat, ein ausgepfiffener Schriftsteller u.s.w.« »Es ist offenbar, daß inmitten einer aufgelösten Gesellschaft und unter einem Scheinbilde von Regierung eine neue Barbareninvasion sich vollzieht, welche mit dem Schrecken zu Ende bringen wird, was sie mit der Gewaltsamkeit begonnen und welche, wie die der Normannen im 10. und 11. Jahrhundert, durch Eroberung die Expropriation eines ganzen Standes zur Folge hat.«

Zum ersten Male – denn A. Schmidt's Tableaux, die ausgeführter im Einzelnen sein mögen, sind nur wenige Episoden – zum ersten Male wird uns hier bei Taine der wahre Zustand des Landes während jener furchtbaren Jahre gezeigt, und zwar, anstatt der schönen Redeturniere in Versailles oder der Pariser dramatischen Scenen, das tägliche Leben der Provinz mit seinen aufreibenden Aufregungen; und das Alles mit einer ruhigen Objektivität, als ganz natürliche Folgen der staatlichen Auflösung und ohne Entrüstung gegen die Menschennatur. Es ist aber gerade dieses kalt wissenschaftliche Verfahren, welches die revolutionäre Legende am gründlichsten und unbarmherzigsten zerstört. Renan's verächtliche Worte über die geistigen Mittelmäßigkeiten und die neidische Halbbildung aller Revolutionshelden, mit Ausnahme Mirabeau's, mochten als Ausbrüche des Künstler- und Gelehrtenhochmuthes beseitigt werden; Taine's Thatsachen kann man nicht so ohne Weiteres ignorieren. Wenn irgend Etwas dazu angethan ist, die falschen, idealisierten Schöpfungen Lamartine's, Michelet's, Louis Blanc's von Grund aus zu vernichten, so ist's diese kaltblütige Dissection. Und welch ein Verdienst wäre es nicht, könnte man diese Gespenster endlich vernichten, die noch in den Seelen der Communards von 1871, ja sogar im nicht unbegabten Kopfe eines Gambetta spukten, als er während des Krieges das Massenaufgebot von 1792 parodierte, welches im Schnee des Jura endete. Denn wie »der Convent welcher durch sein Wüthen den Zeitgenossen so viel augenblicklichen Schaden zugefügt und der Nachwelt durch sein Beispiel einen so dauernden«, so hat die Revolution auch »die Politik des Unmöglichen, die Theorie der Tollwuth ( de la folie furieuse), den Kultus des blinden Wagens geschaffen.« (Worte Tocqueville's.)

Nach der Straße und ihren Greueln, die Nationalversammlung und ihre Unfähigkeit. Es fehlte ihr, man kann sagen, Alles was nöthig ist zur Gesetzgebung: die Freiheit, denn sie ward von einer kleinen organisierten Pöbelarmee von 750 Mann eingeschüchtert und terrorisiert; kaum Ein Mitglied wagt gegen eine Maßregel zu stimmen, geschweige denn zu reden, welche von den Tribünen gefordert wird: die Ruhe, denn die Gesetzgeber sind fortwährend in der leidenschaftlichsten Aufregung und die Sitzungen sind mit nichts als mit hohlem »Geschwätz und Geschrei« ausgefüllt; die Kenntnisse und die Erfahrung, denn die Leute sind alle improvisierte Politiker, die nie eine Provinz, eine Stadt, ein Dorf, ja nicht einmal ein Gut verwaltet, deren ganze Wissenschaft aus Rousseau's Contrat social geschöpft ist; das Temperament endlich, denn die Empfindsamkeit hat alle moralische Scham gelöst: »es sind nervöse Weiber« oder wie Mirabeau im Vertrauen zu Sieyès sagt, »Affen mit Papageienkehlen«.

Und man sage nicht, Frankreich habe damals keine kompetenteren Leute gehabt: es habe seine besten Kräfte nach Versailles geschickt. Das gerade Gegentheil ist wahr. Taine zählt die 600–700 Leute auf, die wohl eine vernünftige Gesetzgebung hätten zu Stande bringen können, die aber systematisch ausgeschlossen wurden: »die Intendanten und Militärkommandanten aller Provinzen; die Prälaten, welche große Diöcesen verwalteten, die Gerichtsbeamten, welche außer ihrer richterlichen Gewalt administrative Befugnisse hatten.« Malouet ist der einzige von allen solchen in der Versammlung und »aus der Überlegenheit dieses, des besten Kopfes der Versammlung, kann man schließen, welche Dienste seine Collegen geleistet hätten.« Die ungeheure Mehrheit besteht aus unbekannten Advokaten und subalternen Legisten; es sind keine hundertfünfzig bürgerliche Gutsbesitzer darunter. Man muß hören, wie der amerikanische Gesandte, der Republikaner Morris, diese Leute beurtheilt, was Malouet, Mirabeau, Mallet-Dupan, die drei bedeutendsten Intelligenzen der ganzen Revolution, von ihnen halten, um zu begreifen, welche unbewußte Fälschung die Revolutionshistoriker der Juliregierungszeit mit dieser Versammlung getrieben, welche an ihre ungeheure Aufgabe herangeht, wie der Junker, den man fragte, ob er Geige spielen könne: »Ich weiß nicht, ich hab's nie versucht; aber wir wollen einmal sehen.« Dazu beraubt die Versammlung sich noch muthwillig aller Mittel, die mangelnde Erfahrung zu erwerben: um dem Prinzipe der Theilung der Gewalten treu zu bleiben, wird es allen Mitgliedern der gesetzgebenden Gewalt untersagt, an der ausübenden Gewalt theilzunehmen; d. h. die Minister müssen außerhalb der Versammlung geholt werden; damit sind Dieser alle Mittel benommen, sich die Auskunft über die Dinge zu verschaffen, »welche die unmittelbare Behandlung der Geschäfte giebt«, ist sie ohne Gegengewicht allen Verführungen der Theorie hingegeben, durch ihren eigenen Beschluß zu einer »Académie de legislation« reduziert.

Zweierlei waren die Aufgaben der Nationalversammlung: Abschaffung des Privilegs, für das die bevorzugten Stände keine entsprechenden Dienste mehr leisteten, und Einführung der Controle, weil die Centralregierung das allgemeine Interesse willkürlich und unverantwortlich verwaltete. »Es galt, alle Franzosen gleich vor der Besteuerung zu machen und die Börse des Besteuerten ihren Vertretern in die Hand zu geben.« Dagegen war weder im Adel noch in der Geistlichkeit die allergeringste Opposition. Das aber genügte den Konstituierenden nicht: sie wollten ein neues Staatsgebäude aufführen, ohne Rücksicht auf irgend welche bestehende Zustände, Gewohnheiten, Rechte und Interessen, mehr als das, ohne Rücksicht auf die Menschen, wie sie sind. Sie thun, als ob alle Menschen Abstraktionen wären: Wesen, »die das Bedürfnis nach Glück und die Fähigkeit zu denken haben,« wie man im vorigen Jahrhundert zu sagen pflegte, kurz Menschen des Contrat social, nicht Franzosen verschiedener Stände des 18. Jahrhunderts. Wohl hatte die Anarchie des ersten Jahres schon tabula rasa gemacht; jedoch nur äußerlich, nicht innerlich: die Nationalversammlung aber geht mit den Menschen um, als wären es seelenlose Ziffern von absolut gleichem Werth. Von der Solidarität der Generationen, von der Unberechtigtheit einer Generation, ans Wesen des Staates selber zu rühren, haben diese Gesetzgeber nicht die leiseste Ahnung; es fällt ihnen nie ein, zu bedenken, daß jede Generation doch im Grunde Nutznießerin, nicht Eigenthümerin ist, daß sie die Erbschaft des Jahrhunderts den Erben der Vergangenheit zu überliefern hat; daß »die weiseste Verfassung illegitim ist, wo sie den Staat zerstört, die roheste legitim, wo sie den Staat erhält.«

Man bemerke, welch ungeheuren Fortschritt, nicht seit Montesquieu – der verstand das Wesen des Staates besser als irgend ein Denker des Alterthums oder der neueren Zeit – wohl aber seit Benjamin Constant, diese Anschauungsweise Taine's dokumentiert, eine Anschauungsweise, die erst Tocqueville wieder in Frankreich eingeführt hat: denn nicht allein Jacobiner und Girondisten, auch die Konstitutionellen von Royer-Collard's Doktrine, die Absolutisten von Bonald's Schule, waren unbewußt Jünger Rousseau's; denn sie gingen sämmtlich a priori zu Werke, glaubten sämmtlich an die absolute Freiheit des Gesetzgebers wie des Menschen. Auch die schöne Weise, in der Taine die natürliche und nothwendige Entstehung gesellschaftlicher Aristokratien, welche die Nationalversammlung so gänzlich verkannt, auseinandersetzt, ist ein Zeichen der Zeit für Frankreich. Sie erinnert lebhaft an Herman Grimm's gelungenste Seiten im ersten Bande seines Michel Angelo. In Frankreich, wo selbst ein Laboulaye den demokratischen Vorurtheilen schmeicheln zu müssen glaubt, indem er über solche naturhistorische Notwendigkeiten hinweggeht, ist eine solche Ausführung etwas ganz Neues; und diese Neuheit bekommt fast etwas Tragisches dadurch, daß sie in dem Augenblick auftritt, wo Frankreich – ich fürchte für lange – diese natürliche Aristokratie von der Staatsführung ausschließt: denn das jetzige Ministerium Dufaure-L. Say-Waddington, welches durchaus jener Aristokratie angehört, ist nicht der Ausdruck der jetzigen Volksvertretung, sondern ihre Negation, wie sich nach Dufaure's Tode und des Marschalls Abtreten sofort zeigen wird. Geschrieben 1878; seitdem durch die Ereignisse bestätigt. Aber wo komme ich hin? Schnell zurück in die Vergangenheit.

War die Aristokratie von 1789 auch fähig, ihren großen Beruf zu erfüllen? Taine meint entschieden, sie sei desselben nicht unwürdig gewesen. »Parlamentarier (Gerichtspersonen), hoher Adel, Bischöfe, Finanziers waren es, bei welchen und durch welche die Philosophie des 18. Jahrhunderts sich verbreitet hatte; nie war eine Aristokratie freisinniger, menschlicher, bekehrter zu nützlichen Reformen.« »Nicht nur hatten Viele unter ihnen Edelmuth, Alle Ehrgefühl; sie sind auch milde, mitleidig; alle Gewaltthätigkeit widerstrebt ihnen.« Und die nützlichen Reformen hatten bereits begonnen; ernstlich war namentich die des Klerus, der Steuern, der Gerichtsverwaltung in die Hand genommen worden: aber die Nation, d. h. die Advokaten und der Pöbel, welche sich der Herrschaft bemächtigt, wollten keine Reform, unterbrachen die begonnene, weil sie den Umsturz wollten. Im Grunde handelte sich 's um eine Verrückung des Reichthums. Auch dieses Verhältnis hätte man ruhig und friedlich durch Ablösung regeln können, wie in Preußen im Jahre 1808, in Rußland im Jahre 1861; aber das wollen eben die Führer nicht: sie entfesseln den Bauernkrieg, weil dabei auch für sie etwas abfällt, die sicherlich den Acker des Edelmanns, der Abtei nicht bebauen. Die Nationalversammlung schaffte alle Gefälle, Zinsen, Frohnden, Zehnten u.s.w. mit einem Dekrete ohne jede Entschädigung ab und nahm so jährliche Einkünfte im Betrage von 123 Millionen auf einen Schlag aus der Tasche der Eigenthümer. Auch das und der Edelmuth, mit dem der Adel selber diese Opfer hinnimmt, entwaffnen den Haß der Revolutionäre nicht. »Ein gehässiges Vorurtheil hat sich gegen den Adel erhoben und wächst von Tag zu Tag. Verletzte Eitelkeit, getäuschter Ehrgeiz, Neid haben es vorbereitet. Die abstrakte Idee der Gleichheit bildet den harten und trockenen Kern.« »Die Versammlung behandelte die Adligen wie Ludwig XIV. die Protestanten ... Hunderttausend Franzosen wurden am Ende des 17. Jahrhunderts, hundertzwanzigtausend am Ende des 18. verjagt; so vollendet die unduldsame Demokratie das Werk der unduldsamen Monarchie. Die moralische Aristokratie ist im Namen der Einförmigkeit, die gesellschaftliche Aristokratie im Namen der Gleichheit abgemäht worden. Zum zweiten Male und mit derselben Wirkung schneidet ein absolutes Prinzip in das lebendige Fleisch der Gesellschaft ein.«

Und nicht allein die Interessen und die Rechte, auch die Gefühle werden im Namen dieser abstrakten Prinzipien verletzt: man denke an die bürgerliche Verfassung der Geistlichkeit; mit roher Hand greift man die geistliche Autorität an, das Einzige, was noch von der Religion übrig geblieben, denn die Gleichgültigkeit gegen das Dogma ist allgemein, und treibt so wieder alle frommen Seelen unter's geistige Joch, die unabhängige nationale Geistlichkeit unter das Szepter von Rom. Im Jahre 1789 wurden nur etwa 20 Prozent der geistlichen Pfründen durch die kirchliche Autorität besetzt; heute sind sie's alle, und viele Laienstellen überdies.

Wie mit dem Zerstören geht's mit dem Schaffen: es ist die abstrakteste Theorie, welche es unternimmt, den neuen Staat aufzurichten. Jedes Band zwischen Exekutive und Legislative wird zerschnitten; kein Gegengewicht eines Oberhauses zugelassen; das Königthum, wie überhaupt die Centralgewalt geradezu entwaffnet; die Versammlung selbst, welche alle Regierung in die Hand nimmt, ohnmächtig gemacht den Lokalverwaltungen gegenüber; alle Verantwortlichkeit der Verwalter wie der Richter aufgehoben durch die kollektive Verfassung sämmtlicher Behörden. Der Argwohn gegen jede Gewalt ist so tief und so allgemein, daß man die Konstitution von 1790 die systematische Untergrabung aller Gewalt, die Organisation der Anarchie nennen konnte. Es bleiben am Ende nur 40,000 souveräne Körperschaften in Frankreich und diese sind in den Händen einer ganz unfähigen, oft auch unredlichen Minderheit. Zu welchen Tollheiten diese Souveräne, denen das allgemeine nationale Interesse nothwendig entgehen muß, sich hinreißen lassen können, muß man bei Taine nachlesen. Sie hindern den Verkehr der Reisenden, die alle als verdächtig festgehalten werden, der Waaren namentlich der Nahrungsmittel, die man zurückhalten will, weil man die Hungersnoth fürchtet, die man dadurch erst recht herbeiführt. Kurz, die Wohlthaten der Decentralisation und der Selbstverwaltung, nach denen die französischen Liberalen seit zwanzig Jahren theoretisch schmachten – denn sie praktisch einzuführen hüten sie sich doch immer – war auf's Vollständigste verwirklicht; und hätte diese Verwirklichung nicht eine so furchtbare Tragik in ihrem Gefolge und in ihrem Geleite gehabt, das Schauspiel, das sie bietet, wäre das komischste der Weltgeschichte. Diese 1,200,000 Verwalter, diese vier Millionen Wähler und Nationalgardisten, die vom 1. Januar bis 31. Dezember mit »Bürgerpflichten« überhäuft sind, die sie nicht verstehen und die sie keine Muße haben zu erfüllen, ohne ihren Unterhalt und den ihrer Familie zu opfern, treiben's toll genug und man ist immer zwischen Mitleid, Entrüstung und Lachlust getheilt, wenn man sieht, wie sie zu Werke gehen. Auch dauert's nicht lange, so geben sie's aus und lassen alle die Gewalt, die sie den erfahrenen Männern der höheren Stände nicht anvertrauen wollen, den Händen der Fanatiker und Enthusiasten oder denen der Abenteurer, die wohl zusammen noch eine sehr kleine Minderheit ausmachen, aber eine Minderheit, die vor keinem Äußersten zurückschreckt. Doch dies gehört schon in die dritte und letzte Abtheilung (»von der angewandten Verfassung«) des ausgezeichneten Buches, das wir analysieren und das man in hunderttausenden von Exemplaren in den Mittelständen aller Nationen verbreiten sollte.

Kaum ist der neue Staat, wie man glaubt, begründet, so beginnt nicht etwa die Ernüchterung, sondern geht der Rausch erst recht los: immer wilder, ausgelassener. Ganz Frankreich, jung und alt, vornehm und gering, Mann und Frau, tanzt ganz eigentlich um die Freiheitsbäume, fällt sich in die Arme, weinend, lachend, sich küssend; überall Operndekorationen, »unschuldige Kinder«, die deklamieren, »weißgekleidete Jungfrauen«, die singen, »ehrwürdige Greise«, die Reden halten; aber schon die große Verbrüderungsfeier endet fast überall mit Schlägen, Scheibenzerbrechen und Mißhandlung der »Aristokraten«. »Das ist die Frucht der Empfindsamkeit und der Philosophie des 18. Jahrhunderts, meint Taine. Die Menschen haben geglaubt, um eine vollkommene Gesellschaft einzurichten, um die Freiheit, die Gerechtigkeit und das Glück dauernd auf Erden herzustellen, genüge eine Regung des Herzens, ein Akt des Willens. Sie haben diese Regung empfunden, diesen Akt vollzogen; sie sind entzückt, hingerissen, über sich selbst hinausgehoben. Jetzt müssen sie wohl durch den Gegenstoß in sich selbst zurücksinken. Ihre Anstrengung hat Alles hervorgebracht, was sie hervorbringen konnte, d. h. eine Sündfluth von Betheuerungen und Phrasen, einen unwirklichen Wortvertrag, eine Prunk- und Epidermbrüderlichkeit, eine aufrichtig gemeinte Mummerei, ein Überkochen von Gefühlen, die sich sofort verdunsten, kurz einen heiteren Fasching, der einen Tag dauert.«

Man legt aber darum die Maske auch während der Fasten noch nicht ab. In den zwei folgenden Jahren bietet Frankreich das sonderbarste Schauspiel: »Alles ist Menschenliebe in den Worten und Symmetrie in den Gesetzen; alles ist Gewaltthat in den Handlungen und Unordnung in den Dingen«. Jede Munizipalität, jede Nationalgarde will Herr sein, sich keiner Kontrolle unterwerfen: das ist ihre Weise, die Freiheit zu verstehen. Ihr Gegner ist die Centralgewalt, die gilt's zu entwaffnen. Und es gelingt nur zu gut. Die Nationalversammlung, die Minister, der König sind ohnmächtig gegen die lokalen Gewalten. Die Truppen selber gehorchen nur noch diesen. In den Städten und Dörfern aber ist eine unausgesetzte Auflehnung der Einzelnen gegen diese selbstgewählten Munizipalbehörden. Alle alten Leidenschaften lodern wieder auf. Überall im Süden beginnt der Religionskrieg des 16. Jahrhunderts von Neuem zwischen Hugenotten und Katholiken. Der Bauernkrieg – Taine zählt nicht weniger als sechs Jacqueries von 1789 bis 1792 – ist in Permanenz. Niemand zahlt mehr die alten ungleichen Steuern, aber niemand will auch die neuen gleichen Steuern zahlen; die öffentliche Sicherheit verschwindet überall, weil die Polizei, die Gendarmerie entwaffnet sind und die Verbrecher die gute Gelegenheit benutzen; aller Verkehr stockt und mit dem Stocken alles Verkehrs wird die Hungersnoth immer drohender. »Sonderbares und lehrreiches Schauspiel, in dem man beinah den Grund des Menschen steht! Wie auf einem Flosse ohne Lebensmittel ist er in den Naturzustand zurückgesunken, das dünne Gewebe von Gewohnheiten und vernünftigen Ideen, in das die Civilisation ihn gewickelt, ist zerrissen und flattert in Fetzen um ihn, die nackten Arme des Wilden kommen zum Vorschein und er bewegt sie.«

Wie man den Staat um das Seine gebracht, so bringt man auch den Einzelnen darum. Das Gut aller Edelleute wird Gemeingut, ihr Leben wird vogelfrei; überall Mißhandlungen und Mord von Weib und Kind. Plünderung und Brand von Haus und Hof der »Aristokraten«. Alle Eigenthumsverhältnisse werden mit bäuerlicher Zähigkeit angegriffen, zerrüttet, umgestürzt. Und hier liegt vielleicht die wahre innerste Natur der großen Bewegung. »Was auch die großen Namen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sein mögen, mit denen die Revolution sich schmückt, sie ist in ihrem Wesen eine Verrückung des Eigenthums. Darin besteht ihre erste Triebfeder, ihre dauernde Macht, ihr wahrer Halt, ihre historische Bedeutung. Einst, im Alterthum, hatte man dergleichen gesehen, Schuldentilgung, Güterkonfiskation, Theilung der Gemeinde- und Staatsgüter, aber die Sache beschränkte sich auf eine Stadt, auf ein kleines Gebiet. Zum ersten Male wurde sie nun in einem modernen Großstaat vollzogen.« Und die Beraubten lassen diese Gewaltthat im Ganzen ruhig über sich ergehen, widersetzen sich kaum. Die Muthigsten suchen sich nicht gegen die neue Ordnung – die erkennen Alle an –, wohl aber gegen die brutale Unordnung, die ihre Folge ist, zur Wehr zu setzen: sie werden niedergeworfen, unbarmherzig mit Füßen getreten. Wie billig, wie mild, wie entgegenkommend der Adel war, hat Taine hier unwiderleglich dargelegt; aber je milder, nachgiebiger, desto härter werden die Edelleute behandelt, denn die Milde ermuthigt die Heftigkeit der Begierde. Selbst die nach dem ersten Bauernaufstande Ausgewanderten kommen nach Verkündigung der Konstitution, die sie in ihrem Vermögen zu Grunde richtete, in der Gesellschaft und im Staate ohnmächtig machte, zu Tausenden zurück. Neue Verfolgungen treiben sie auf's Neue in die Verbannung. Am schlimmsten ging's dem trefflichen Offizierstande, der fast ausschließlich aus dem zahlreichen unbemittelten Adel des Landes bestand und der ein Opfer der organisierten Meuterei ward. Umsonst halten sich die Vertriebenen von der Armee Coburg's fern: die Spoliationsgesetze der Versammlung treffen alle Ausgewanderten in gleicher Weise: und Adelige, Offiziere, unbeeidete Priester haben fortan nur die Wahl, wie gehetztes Wild im Vaterlande oder wie darbende Bettler in der Fremde zu leben. Wer von Bürgerlichen nur etwas Vermögen, Bildung, Besinnung besitzt, hält sich verborgen und Frankreich ist der wüthenden Meute preisgegeben. »Etwas Furchtbares ist in der Vorbereitung (1792): die siebente Jacquerie ist im Anzug, diesmal allgemein und endgiltig; erst roh, dann gesetzlich und systematisch unternommen und ausgeführt im Namen abstrakter Prinzipien durch Führer, die ihrer Werkzeuge würdig sind. Nie ist etwas Gleiches in der Geschichte vorgekommen. Zum ersten Mal sieht man toll gewordene Wilde ( brutes) im Großen und lange Zeit unter der Führung von tollgewordenen Pinseln ( sots) arbeiten.« Die Schreckensherrschaft steht vor der Thür.

Die Koalition des Doctors und des Procureurs, des Apothekers und Schullehrers triumphiert in jedem Landstädtchen und jedem Dorfe, denn der Edelmann und der Priester sind landesflüchtig, der Bürger ist eingeschüchtert und hält sich mäuschenstill, wie seitdem immer in jeder ähnlichen Katastrophe; der Bauer ist gesättigt und bringt sein Schäfchen in's Trockene. In der That war die Revolution ihrer dauernden Bedeutung nach zugleich eine Verrückung des Eigenthums und die gänzliche Gleichstellung aller Franzosen; für den Augenblick war sie vornehmlich eine Verrückung der Herrschaft von einer Klasse zur andern. Es liegt in der Natur der menschlichen Gesellschaft, daß die Herrschaft einer Klasse, wie die welche 1792 triumphierte, nur vorübergehend sein kann, daß sie zum Regieren wie zum Gesetzgeben gleich unfähig ist. Auch damals, wie so oft seitdem, wußte sie nur zu zerstören und das Terrain zu ebnen, nicht aber Etwas zu begründen. Selbst was sie anstrebt, müssen Andre verwirklichen. Kaum hat sich wieder eine höhere Klasse auf dem geebneten Boden erhoben, so überträgt sie einem Manne die Herrschaft und beauftragt ihn mit der gesetzlichen Regelung und Ordnung der neuen Verhältnisse. Der nun benutzt das brauchbare Material, das in jenen Revolutionairs steckt, und diese gesättigten Stürmer steigen dann ihrerseits in die »Aristokratie« hinauf. Umsonst suchte ein ähnliches Personal, wie das, welches von 1791 bis 1799 Frankreich beherrschte, sich 1830, 1848, 1871 wiederum der Herrschaft zu bemächtigen: es wurde stets sofort nach der ersten Überrumpelung beseitigt: erst 1878 sollte es ihm gelingen, Dank den Fehlern der regierungsfähigen Klassen, Dank der kurzsichtigen Toleranz des Kleinbürger- und Bauernstandes, das Ruder in die Hand zu bekommen. Ob es sie so lange behalten wird, als seine Vorgänger und Vorbilder vom Ende des vorigen Jahrhunderts, werden wir ja bald sehen.

III.

Es ist seit etwa zwanzig Jahren Mode geworden, zu behaupten, Napoleon habe eigentlich sehr wenig Verdienst bei der großen gesetzgeberischen Wiederherstellung des französischen Staates; die konstituierende Versammlung von 1789, die gesetzgebende von 1791, der Konvent von 1798, ja sogar die Versammlungen des Direktoriums hätten Alles vorbereitet; er habe ihren Schöpfungen nur seinen Namen gegeben; selbst an den Berathungen des Staatsrathes, aus denen die endgiltige Gestalt jener umfassenden Gesetzgebung hervorgegangen, habe er selten und stets nur passiven Antheil genommen. Es ist grob, aber nicht übertrieben, wenn man erklärt, daß diese Behauptungen bei den Einen sich auf bewußte Lüge, bei den Anderen auf gehorsames Wiederholen und Weitertragen der Parteilosungsworte zurückführen läßt.

[Fußnote: Napoléon I., ses institutions civiles et administratives par Amédée Edmond-Blanc. Paris. E.Plon & Cie. 1880. (Ein Band von 332 Seiten.) Herr Edmond-Blanc ist dem Geschichtsschreiber der »Entstehung des neuen Frankreich« um einige Jahre zuvorgekommen. Taine's Werk ist auf drei Theile berechnet, deren erster das » Ancien Régime«, der zweite die »Revolution«, der dritte das »Konsulat und Kaiserreich« behandeln sollen. Bis jetzt ist er nur bis zur Hälfte des zweiten Theiles gelangt und hier haben wir's bereits mit einem Werke über den Gegenstand des dritten Theiles zu thun. Bekanntlich plante schon Tocqueville ein Werk über die napoleonischen Schöpfungen, über dem ihn der Tod ereilte. Die wenigen Bruchstücke, welche wir davon besitzen, können unser Bedauern nur steigern, daß es ihm nicht vergönnt gewesen, den großen Plan auszuführen. Es ist in mehr als einem Sinne Schade, daß gerade Herr Edmond-Blanc es unternommen hat nachzuholen, was Tocqueville unvollendet gelassen, und daß es ihm geglückt ist, Taine zuvorzukommen. Einmal ist Herr Edmond-Blanc doch nicht Tocqueville, noch auch Taine. Ihm fehlt nicht nur die Autorität des Namens, welche ihm sofort Gehör verschafft hätte, es fehlt ihm auch der philosophische Blick der beiden berühmten Forscher; und er hat weder die künstlerisch vollendete Form der Komposition wie des Stiles, die Niemand dem älteren Vorgänger bestreiten wird, noch die glänzende, anregende und packende Darstellungsgabe des jüngeren. Vor Allem aber Herr Edmond-Blanc ist Bonapartist, leidenschaftlicher Bonapartist und diese eine Eigenschaft disqualifiziert ihn – um englisch zu reden – zum Geschichtsschreiber der bürgerlichen Thätigkeit Napoleons. Hätte er es wenigstens über sich bringen können, seine Fahne in die Tasche zu stecken, so hätte er der Sache der Wahrheit einen größeren Dienst geleistet, als er es jetzt that, wo er die Wahrhaftigkeit so weit getrieben hat, sich als Parteimann zu entmasken: Denn wer hat jetzt nicht die fatale Frage auf den Lippen: » vous êtes orfêvre, M. Josse?«

Scherz bei Seite. Dies Buch würde unendlich mehr wirken, wenn man den Verfasser nicht in Verdacht haben müßte, die Thatsachen nach dem Interesse der Partei zu beugen. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß dieser so nahe liegende Argwohn ganz unbegründet ist. Ich habe wenigstens hier keine Angabe gefunden, die nicht auf Dokumenten und unumstößlichen Daten beruhte. Der Verfasser führt stets seine Quellen an und er übt nie die perfide Kunst, die Thatsachen im Interesse seiner Vorurtheile auszuwählen, das Widersprechende zu verschweigen, das Vereinzelte so zu gruppieren, daß es zu einem unverhältnismäßig wichtigen Ganzen wird. Dabei schreibt er klar und sehr korrekt, seine Einteilung ist übersichtlich und ganz nach der Natur des Stoffes gegliedert; eine tüchtige, juristische und historische Vorbildung spricht aus jeder Zeile; und, wie gesagt, wenn es der Herr Verfasser über sich vermocht hätte, alle die unnützen Exordien, Perorationen, Glossen und Parenthesen der Napoleonsbewunderung wegzulassen, welche doch nur von Außen angeklebt erscheinen, so könnte seine sachlich unwiderlegliche Darstellung der Thatsachen eine viel tiefere und heilsamere Wirkung auf die öffentliche Meinung in Frankreich haben: denn die Stunde der Reaktion gegen die oberflächliche und geradezu fälschende Darstellungsweise der republikanischen Geschichtsschule hat schon seit einigen Jahren geschlagen. Wer Lust und Muße gehabt hat, des Referenten Schriften zu verfolgen, der weiß, wie er schon zur Zeit des universellen Triumphes der antibonapartistischen Richtung wieder und wieder einen tüchtigen Schriftsteller herbeigewünscht, der sich gegen jene Geschichtsfälschung erhöbe, wieder und wieder betont hat, wie unfruchtbar an positiven Schöpfungen die Revolution, wie unendlich fruchtbar dagegen Napoleon's gesetzgeberische Thätigkeit war, wie ganz Frankreich noch bis heute auf seinen Einrichtungen ruht, kurz wie die Größe des gesetzgebenden Ersten Konsul nur übertroffen wird von der Tollheit des kaiserlichen Politikers. »Sechs Grundsteine,« schrieb ich u. A. 1872 (Frankreich und die Franzosen. S. 64 der vierten Auflage), »legte der große Architekt des modernen Frankreich, um darauf das Gebäude der cäsarischen Demokratie aufzurichten und drei Revolutionen, drei Dynastien, zwei Republiken, drei Invasionen sind seitdem über das Haus gekommen, ohne jene Grundsteine auch nur im mindesten zu erschüttern. Ein neues Schild, ein neuer Anstrich, ja ein Fenster hier, einen Balkon dort mochten die wechselnden Hausmeister sich und den Insassen wohl gönnen; an den Mauern hat noch keiner zu rütteln gewagt.« Dieses Sachverhältnis aber überzeugend darzustellen, muß man, ich wiederhole es, über jeden leisesten Verdacht der Parteilichkeit und des Vorurtheils erhaben sein, Herr Eomund-Blanc aber ist ein Enthusiast; er bewundert leider die unerträgliche, vielleicht nur für die Übergangsperiode berechnete politische Verfassung, welche der Erste Konsul und Kaiser Frankreich gab, ganz ebenso sehr als die bürgerliche, welche er organisierte; und es sollte mich nicht wundern, wenn er auch die wahnsinnige äußere Politik des Mannes bewunderte, die zu besprechen hier glücklicherweise keine Gelegenheit war.]

Ich will heute nicht von dem Zustande sprechen, in dem der Erste Konsul Frankreich am 18. Brumaire fand: bankerott und ohne allen Kredit, außer Stande die Beamten und selbst das Heer zu zahlen; ohne Justiz und Polizei, d. h. ohne Sicherheit der Person oder des Eigenthums, allüberall vogelfrei den Wegelagerern preisgegeben; ohne Verwaltung, jedes Dorf von der Oligarchie der kleinen Ortstyrannen ausgebeutet; die Häfen versandet, die Kanäle und Flüsse unschiffbar, die Heerstraßen vollständig zerstört und unfahrbar; die Kirchen und Schulen geschlossen; die Krankenhäuser ohne Einkünfte und Verwaltung. Nur die Berichte der Staatsräthe, welche 1800 und 1801 in die Provinzen geschickt wurden, können einen Begriff von der Verwahrlosung machen, in welche das Land gerathen war. Wie aber Bonaparte kraft des Genies und des Willens die Ordnung und den Wohlstand wiederherstellte, gehört ebenfalls in ein anderes Kapitel. Hier und heute wollen wir uns nur fragen: was fand er an Gesetzen, Dekreten, Regulativen aus der Hinterlassenschaft der Republik vor, das er einfach aus dem papiernen Zustande zum wirklichen Leben gebracht hätte? Denn auf dem Papier stand gar Vieles, wie das berühmte »Buch der Nationalwohlthätigkeit«, worin der Konvent jedem Greise und jeder Wittwe einen jährlichen Kredit von 120 Francs eröffnete, der freilich nie ausgezahlt wurde. Dagegen ward allerdings den Armen und Kranken versprochen, daß »das erste Nationalfest jedes Jahres der Ehre des Unglücks gewidmet sein«, und daß jede Landgemeinde die vom Arzte bezeichneten Heilpflanzen anbauen und den Kranken unentgeltlich liefern sollte, das Ganze begleitet von » cérémonies civiques en présence du peuple«. Einstweilen faulten die Betten in den Spitälern, starben die Kranken Hungers, unterlagen in den Kleinkinderbewahranstalten hier neun Zwanzigstel, dort gar 95 Procent aus Mangel an Pflege.

Die sogenannte Gemeindeverfassung von 1789 war einfach die gesetzliche Anarchie. Alle Verwaltungsbehörden gingen aus den Wahlen hervor und die Staatsregierung hatte keinen Vertreter bei ihnen, welcher das allgemeine Interesse gegen das besondere hätte vertheidigen können. Nur die Abschaffung der Provinzen und die Eintheilung derselben in Départements und Arondissements war ein, allerdings bedeutendes Werk der Revolution. Die Folgen blieben nicht aus. Allüberall waren die örtlichen Obrigkeiten im Kampf gegen den Staat, verweigerten der Nationalversammlung wie den Ministern den Gehorsam, schalteten und walteten ganz nach Belieben, verschleuderten das Gemeindevermögen, theilten sich mit den Gevattern in die Vortheile und den Einfluß, welche die Ämter gaben, waren aber ohnmächtig ihren Herren, den Wählern, gegenüber, wenn diese in die Straße hinabstiegen. Nirgends eine Verantwortlichkeit, da alle Obrigkeit kollegialisch war. Der Konvent schaffte zwar den Kreis, und tatsächlich auch die Gemeinde, ab, an deren Stelle er den Kanton setzte, dessen räumliche Ausdehnung es meist nicht einmal erlaubte, daß die gewählten Kollektivbehörden sich regelmäßig versammelten. Er schuf auch wieder von der Centralgewalt ernannte Beamte, welche unter dem Namen von Regierungskommissären den Ortsversammlungen gegenüberstanden: aber er ließ sie ohne alle Waffen und alle Mittel der Einwirkung. Die Befugnisse beider Behörden waren ungeschieden. Wohl hatte der Konvent einen Polizeiminister geschaffen, aber faktisch erstreckte sich dessen Einfluß nicht auf die Provinz. Die örtliche Polizei existierte eigentlich nicht; wo ein Schatten davon war, hing sie allein von der Wahlversammlung ab. Bonaparte griff auf eine Einrichtung des alten Regime, die Intendanten, zurück, indem er die Präfekten einführte, unter denen, ebenfalls von der Regierung ernannte Unterpräfekten und Maires, die Centralgewalt vertraten und die thätige Verwaltung leiteten, während neben ihnen die Munizipal-, Kreis- und Departementalräthe, welche die Bevölkerung vertraten, aber nicht mehr gewählt, sondern (und zwar bis 1832) aus den Notabeln genommen wurden, die lokalen Interessen vertraten, die Steuern auftheilten. Die Präfekturräthe, Kollegien von Beamten der Centralregierung, erhielten die Berathung und Entscheidung der strittigen Fragen und Konflikte. Endlich ward auch die Polizei unter die Oberleitung der Centralgewalt, des Polizeiministers, gestellt. Über Allem stand die größte Schöpfung Napoleon's der Staatsrath, welcher zugleich eine obere Instanz für die Entscheidungen der Präfekturräthe und der eigentliche gesetzgebende Körper war; denn die amtlich mit diesem Namen bezeichnete Repräsentativversammlung hatte, unterm Kaiserreich wenigstens, nichts Anderes zu thun als die vom Staatsrathe ausgearbeiteten Gesetze zu votieren. Was man auch von diesem ganzen administrativen Mechanismus halten mag, der sich als das hauptsächlichste Hindernis einer freien konstitutionellen Entwicklung Frankreichs erwiesen hat, – Eines ist sicher, er hat der Zeit getrotzt und besteht noch heute unversehrt.

Noch schlimmer als mit der Verwaltung stand's mit den Finanzen unter der ersten Republik. Die Geschichte der Assignate ist in Aller Gedächtnis. Drei Bankerotte in zwei Jahren waren die Folgen der Finanzpolitik der Konstituante und des Konvents. Als der Erste Konsul am 20. Brumaire Gaudin (den späteren Herzog von Gaëta) in's Finanzministerium schickte, fand derselbe 167,000 Franken vor, die man Tags zuvor geborgt hatte. Mit großer Mühe erlangte die neue Regierung vom Pariser Handel ein Anleihen von 12 Millionen um 12 ¾ Prozent, womit sie über die ersten Tage knapp genug hinauskam. Die Lieferanten und selbst die Generale übervortheilten den Staat auf's Keckste und gingen straflos aus; es brauchte alle Energie Bonaparte's, um dem Unwesen zu steuern. Dazu hatte die Nationalversammlung alle Einnahmequellen abgeschnitten: sie hatte sämmtliche indirekten Steuern abgeschafft und die direkten kamen seit 1789 nicht mehr ein: von 300 Millionen ausgeschriebener Steuern hatte die Regierung im Jahre 1792 nur 4 Millionen einkassiert. Vierzehn Tage nach dem 18. Brumaire waren auch schon die Steuerämter eingerichtet, wie sie noch heute bestehen und in weniger als einem Jahre waren die Steuerlisten festgestellt, die Rückstände von 1799 eingetrieben. Im nächsten Jahre schon begann die große Arbeit des Katasters. Zugleich wurden die indirekten Steuern unter dem neuen Namen der droits réunis wiederhergestellt und auch sie, wie die Einnahmestellen, verantwortlichen Einzelbeamten übertragen. Auch diese Organisation besteht noch heute in derselben Form, wenn auch unter anderm Namen. Register, Forst- und Postverwaltung wurden schon vorher nach demselben Prinzip reorganisiert. Später folgte die Einrichtung des Tabakmonopoles, welches sich so fruchtbar erweisen sollte und das denn auch allein hingereicht hat, die Rechnung für den tollen Streich von 1870 zu zahlen. (Maxime Ducamp hat in seinem Buche über »Paris« nachgewiesen, daß der Tabak in den sechzig Jahren von 1811 bis 1871 dem Staatsschatz genau 5 Milliarden weniger einige 100,000 Franken eingetragen hat.) Es verstand sich von selbst, daß die Finanzbeamten nicht länger vom souveränen Volk gewählt waren, wie es die Nationalversammlung eingeführt, sondern von der Centralregierung ernannt und auf's Strengste überwacht wurden. Obschon Manches gegen das Napoleonische System des Konto-Kurrents einzuwenden ist, welches thatsächlich dem Generaleinnehmer Zinsen für Kapitalien zahlt, die dem Staate selber angehören, und aus dem Staatsschatz eine Art Bankgeschäft macht, so ist dasselbe doch bis heute unverändert beibehalten worden. Von unzweifelhaftem und unbezweifeltem Vortheil ist für Frankreich die Rechnungskammer gewesen, welche Napoleon einrichtete und die noch heute als oberste Kontrollbehörde arbeitet; sie ist für die Finanzverwaltung dasselbe wie der Staatsrath für die eigentliche Verwaltung, der Kassationshof für die Justiz: die oberste Instanz zugleich und die die Jurisprudenz feststellende Behörde. Auch die Bank von Frankreich, welche der Erste Konsul zwei Monate nach dem Staatsstreiche gründete, hat sich als ein lebensvolles und fruchtbares Institut erwiesen; ebenso sind die von ihm eingerichteten Handelskammern, Kunst- und Gewerberäthe, wie die Versammlungen der Sachverständigen noch heute in voller Thätigkeit.

Die dritte Republik hat, wie früher die legitime Restauration, dem Code Napoléon seinen Namen genommen, was nicht schwer war. Ihre Schriftsteller haben zu beweisen versucht, daß derselbe im Grunde nicht das Werk Napoleons gewesen: das war freilich etwas schwerer und ist denn auch keineswegs gelungen. Wohl hatte die Nationalversammlung auch in dieser Beziehung goldene Berge versprochen, aber auch, wie auf allen anderen Gebieten, gar wenig gehalten. Ihre beiden Nachfolgerinnen, die gesetzgebende Versammlung und der Konvent, thaten nicht viel mehr. Alles was dieselben an privatrechtlicher Gesetzgebung leisteten, beschränkt sich auf zwei Dekrete, von 1792 über den Civilstand und die Scheidung, und auf vier Gesetze von 1791, 1793 und 1794 über das Erbrecht. Von diesen sechs Gesetzen ist nur das erste, welches die Civilehe einführte und das Civilstandsregister den Geistlichen abnahm, um es bürgerlichen Beamten zu übergeben, in Kraft geblieben. Die Ehescheidung wurde schon von Napoleon stark beschränkt, unter der Restauration ganz aufgehoben; der revolutionäre Schritt, welcher dem Erblasser alle und jede freie Verfügung über seine Habe benahm, ward durch das noch heute geltende Recht des Code Napoléon ersetzt. Dieser, d. h. das französische Privatrecht, sowie das Handelsgesetzbuch, der Civilvrozeß, das Strafgesetzbuch und der Kriminalprozeß waren das Werk der Staatsräthe und Napoleons selber. Nur der Parteigeist kann sein Verdienst hierbei zu schmälern suchen. Zuvörderst wußte er nicht nur alle die großen Juristen wie Merlin de Douai, Tronchet, Portalis, Cambacérès zu finden und ohne Ansehen der Partei unter den Terroristen wie unter den Männern des alten Regimes zu wählen; sondern, so jung an Jahren, so unvertraut mit den Gegenständen er auch war, leitete er doch persönlich den größten Theil der Berathungen. Wie er alle Monate einmal dem Finanzrath präsidirte und wenn er nicht in Paris war, brieflich die Finanzangelegenheiten leitete – sein Schatzminister Mollien erzählt, daß er selbst im Jahre 1811, wo er den Kaiser doch täglich sah, 120 Briefe von ihm erhielt; – so war er auch, so oft er nur konnte, im Staatsrathe gegenwärtig, und wie er in der Finanzfrage, namentlich in der Berathung über die Bank von Frankreich, alle Finanzmänner durch die Fülle und Klarheit seiner Ideen in Erstaunen gesetzt hatte, so in den Rechtsfragen die Juristen. Die Berathung des Code civil allein nahm 102 Sitzungen in Anspruch, von denen der erste Konsul 59 selber präsidierte; sie begannen gewöhnlich um 12 Uhr und dauerten, wenn er zugegen war, meist bis sieben, oft bis neun Uhr Abends und er nahm an allen Diskussionen thätigen Antheil. Die Sitzungsprotokolle lassen darüber nicht den geringsten Zweifel, noch weniger darüber, daß seine Ansicht fast immer den Ausschlag gab.

Noch schlimmer als mit dem Rechte stand es mit der Justiz unter der ersten Republik. Die Nationalversammlung hatte die alten Parlamente abgeschafft und an ihrer Stelle ein Gericht per Kreis mit auf sechs Jahre vom Volke gewählten Richtern eingesetzt. Eine höhere Instanz gab es nicht: man konnte nur von einem Tribunal an ein anderes vom gleichem Range appellieren. Die Staatsanwaltschaft war von der Centralregierung ernannt, aber unabsetzbar. In jedem Departement (Regierungsbezirk) ein Kriminalgericht mit zwei Geschworenenkollegen, einem für die Anklage, dem anderen für den Urteilsspruch. Nichts von alledem hat glücklicher Weise die Revolution überlebt: glücklicher Weise, denn jene gewählten Richter waren wie die Geschworenen willenlose Werkzeuge der aura popularis: die Justiz bestand so gut wie nicht in den zehn Jahren. Nur die in der Versammlung von 1789 geschaffenen Friedensrichter und der Kassationshof wurden von Bonaparte beibehalten und bestehen noch; nur daß die Friedensrichter und die Kassationsräthe natürlich seit dem Konsulat auf Lebenszeit von der Exekutive ernannt, nicht wie die letzteren während der Revolution auf vier Jahre von den Departements gewählt wurden: ein eigenthümliches Verfahren um eine Behörde herzustellen, der die Einheit der Jurisprudenz und die Aufrechthaltung ihrer Tradition anvertraut ist! Schon in den ersten Monaten des Konsulats ward in ihren Hauptlinien die noch heute herrschende richterliche Hierarchie gezeichnet, sowie das Civil- und Strafverfahren geordnet, wie es noch heute eingehalten wird, ohne daß in den achtzig Jahren auch nur ein Jota geändert worden wäre.

Das nicht verächtliche Unterrichtswesen der alten Monarchie war 1789 völlig aufgelöst, dagegen ein allgemeines Unterrichtssystem versprochen worden, das »allen Bürgern gemeinsam für die allen Menschen unentbehrlichen Unterrichtsgegenstände unentgeldlich ertheilt und dessen Anstalten in verschiedenen Graden und im Verhältnis zu den Eintheilungen des Königreichs angelegt werden« sollten. Natürlich geschah Nichts von alledem. Mehr that der Konvent, welcher die drei noch heute blühenden Anstalten, der polytechnischen Schule, des Gewerbekonservatoriums und des Gymnasiallehrerseminars schuf. Letzteres freilich bestand nur sieben Monate und wurde erst sieben Jahre später vom ersten Konsul wiederhergestellt. Auch schuf der Konvent die Akademie der politischen und moralischen Wissenschaften und vereinigte sie unter dem Namen des Institut de France mit den anderen Akademien; allein auch diese Anstalt wurde von Bonaparte reorganisiert. Endlich erließ der Konvent (1795) ein allgemeines Gesetz über das Unterrichtswesen, welches in Volksunterricht, mittleren Unterricht und Fachschulen eingetheilt wurde. Als aber fünf Jahre später Bonaparte die Regierung in die Hand nahm, fand er so gut wie keine Schulen vor: Paris mit seiner halben Million Einwohner zählte keine 1000 Schulkinder; die vier Mittelschulen (Gymnasien) der Provence hatten zusammen 200 Schüler. Alles stand eigentlich noch auf dem geduldigen Papier. Ich habe anderswo (s. Frankreich und die Franzosen S. 64–105 der vierten Auflage) den Organismus der » Université de France«, wie Napoleon sie geschaffen und wie sie noch heute besteht, dargestellt; und will hier nur noch einmal betonen, daß ich diese Schöpfung Napoleons keineswegs unbedingt bewundere, so wenig wie seine Organisation der Verwaltung; ja, daß ich sie in gar mancher Beziehung für unheilvoll halte. Worauf es hier ankommt, ist aber nicht mein Urtheil, sondern die Thatsache, daß sie sich als lebensfähig erwiesen, daß sie noch besteht, daß Napoleon also die Traditionen wie die Verhältnisse, den Charakter wie die Sitten seiner Nation richtig beurtheilte, als er sie in's Leben rief.

Dasselbe mag von der Ehrenlegion und dem neuen Adel gesagt sein, welche er einführte und die noch heute zu den Einrichtungen gehören, welche weit entfernt ein Scheinleben zu fristen, sich zu nationalen Organismen ausgebildet haben, obschon bei diesen wie bei der Universität es dem Kaiser nicht gegeben war, seine Pläne ganz zu verwirklichen.

Eine That Bonaparte's aber sollte heute von allen Unbefangenen ganz vorbehaltslos bewundert und als sein fehlerfreiestes, größtes Werk anerkannt werden: das Konkordat mit Rom, welches so recht sein eigenstes, persönlichstes Werk war. Er schloß es bekanntlich 1801 ab und es lebt noch heute. Es trug den augenblicklichen Verhältnissen Rechnung, knüpfte an die großen Überlieferungen Altfrankreichs an und ordnete die Dinge so, daß noch heute weder Rom noch die französische Republik daran zu rütteln Lust oder Grund haben. Es würde mich zu weit führen, wollte ich die furchtbare Anarchie beschreiben, welche die Nationalversammlung auf dem kirchlichen Gebiete angerichtet oder gar Brandes' Ausführungen widerlegen, der sich bekanntlich unendliche Mühe gegeben hat, nachzuweisen, daß die ganze religiöse Wiederherstellung Bonaparte's eine künstliche und willkürliche war. Nichts wäre leichter als an Hunderten von wohlbestätigten Thatsachen nachzuweisen, wie der erste Konsul nur der Stimmung der ganzen Nation Genugthuung gab, indem er die Kirchen wieder öffnete, ohne der Oberhoheit des Staats gegenüber der Kurie, der modernen bürgerlichen Gesetzgebung gegenüber den theokratischen Ideen auch nur das Geringste zu vergeben: allein es bedürfte dies einer Ausführung, welche die Grenzen unserer heutigen Aufgabe weit überschreiten würde.

Selbst einer der unversöhnlichsten Gegner Napoleons III. und ein überzeugter Bewunderer der parlamentarischen Monarchie, ein Chef jener »Doctrine«, welche sich ganz besonders gegen die kaiserliche Politik richtete und von den Konstitutionellen von 1789, insbesondere von Malouet ausging, der Schwiegersohn Mme. de Staëls, der Minister Louis Philipp's, der Freund Guizot's, der Herzog von Broglie in einem Wort, sagte in einer Schrift, welche von dem Neffen des großen Kaisers widerrechtlich mit Beschlag belegt wurde – sie war damals nur lithographiert für den Freundeskreis –: »Er – Napoleon Bonaparte – habe die französische Gesellschaft so zu sagen aus dem Moraste gezogen, habe in ihren Trümmern aufgeräumt, um sie auf den ewigen Grundlagen der Natur, der Billigkeit und der Vernunft wieder aufzubauen«, denn »er habe die Familie, das Eigenthum, die Gerechtigkeit, die Verwaltung, die Finanzen, ja die Civilisation selber wiederhergestellt und überall die Spur einer unermüdlichen Thätigkeit und eines unvergleichlichen Genies hinterlassen.« » Nous avons changé tout cela« seit Herrn Lanfrey und Genossen. Es ist Zeit, daß die Welt wieder einlenke und zur Wahrheit zurückkomme. »Wir sind fertig mit dem Roman der Revolution«, sagte Napoleon einst im Staatsrate, »es ist Zeit, ihre Geschichte zu beginnen.« Das sollte auch der Nachwelt gesagt sein.


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