Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Auf den Straßen Kölns herrschte schon Karnevalsvorfreude. Sie drang aus den Häusern heraus, in denen Frauen und Mädchen geheimnisvoll in Flitterzeug hantierten, um mit Zuhilfenahme vieler Phantasie echte Zigeunerinnengewänder und Prunkbeinkleider orientalischer Haremsfrauen erstehen zu lassen, während die Hausväter angestrengt an ihrem Arbeitstisch saßen, um hinter verschlossenen Türen für die nächste Narrensitzung ihres Vereins einen humoristischen Vortrag gegen die Stadtverwaltung auszuklügeln. Die Kinder tobten mit papiernen Geckenkappen auf den Treppen, rannten auf die Straßen und zogen untergefaßt in langen Reihen über die Trottoirs.

»Fastelowend kütt eran,
Spille mer op der Büsse,
Alle Mädcher kriegen 'ne Mann,
Ich un och min Söster!«

Die ganze Stadt war von dem alten Karnevalsliedchen erfüllt. Die Kleinen sangen es laut, und die Großen, die ihre Stimmen noch für die Fastnachtstage schonten, summten es wenigstens mit, um sich die Melodie wieder geläufig zu machen. Im Anzeigenteil der Zeitungen prangten süße Vertröstungen, der Postassistent, der die postlagernden Sendungen zu sortieren und auszugeben hatte, arbeitete mit Verstärkung, der Humor hob kecker sein Haupt, und Witzworte flogen, schlagfertig pariert, über die Straße her und hin. Abends, wenn die Läden geschlossen wurden, blieben die Mädels länger als sonst an den Ecken stehen und flüsterten miteinander.

»Als was gehst du?«

»Ich maachen mich ne Donna Elvira.«

»Ich maach ner Matros.«

»Puh enä. Da moßte ja en Botz anduhen.«

»Duhst du kein' an?«

»Willste stell sinn, du nixnotzig Ding?«

»Wat denn? Nachher kriegst du akkerat su en Aschekrützcher op der Stirn als ich.« –

In den Hinterzimmern der Bierlokale saßen die »Gecke« Kopf an Kopf, vom Elferrat zu drastischen Herrenabenden oder Gala-Damenabenden einberufen. In diesen Narrensitzungen wurden die neuesten Karnevalslieder approbiert, und ein Witz galt als ein Witz, unbeschadet seiner Saftigkeit. Die vornehmeren Häuser zeigten erleuchtete Fensterreihen. Die Privatmaskenbälle standen in Flor, und kostümierte Damen und Herren huschten schnellfüßig aus den Wagen ins rettende Portal, um sich dem bewundernden »Hah!« der Straßenjungen und eingehenden Ehrenbezeigungen zu entziehen. Walzerklänge drangen ins Freie, und die Vorübergehenden blieben stehen, deuteten nach den Schatten, die hinter den Vorhängen einen Geistertanz aufzuführen schienen, lustige Brüder riskierten eine groteske Imitation, und Mütter ließen ihre Kinder auf den Armen hopsen.

Köln bereitete sich darauf vor, närrisch zu werden. –

Joseph Otten war in diesen Tagen viel unterwegs. Er schlenderte durch die Straßen, mischte sich unter das Volk und ließ die Spannung, die in der Luft lag, auf sich wirken. Er liebte den Fasching, und er behauptete, er liebe ihn als Menschenfreund. »Es ist die einzige Zeit im Jahre,« erklärte er lachend Frau Maria, »in der sich die Menschen vernünftig, das heißt ihrer innersten Veranlagung gemäß, betragen. Wenn sie brüllen, tun sie es nicht, weil sie es an diesem Tage dürfen, sondern weil sie es an anderen Tagen nicht dürfen. Und wenn die Moral wackelt, so zeigt sie nur damit, auf welch schlechten Füßen sie das Jahr hindurch gestanden hat. Außerdem ist mir das alles persönlich eine Beruhigung.«

»Joseph!« antwortete Frau Maria.

Er nahm sie in den Arm. »Und dir sollte es auch eine sein. Wenn ich das ganze Jahr hindurch mehr oder minder an den Maskenscherzen im Leben teilnehme, so müßte sich diese Frau hier, wenn sie klug wäre, sagen: Der Unterschied zwischen dem anderen Volk und dem Joseph ist nur der, daß der Joseph niemals aus seinem Herzen eine Mördergrube macht.«

»Ich bin eine kluge Frau.«

»Weiß ich,« sagte er, strich ihr ein Haarsträhnchen aus der Stirn und küßte sie auf die Augen.

Der Briefträger brachte die Post, und Frau Maria ließ den Gatten allein. Der Konzertagent schrieb wegen einer englischen Tournee. Otten steckte das Schreiben ein. »Werd' ich mir wohl noch überlegen dürfen.« Dann griff er nach dem zweiten Brief. »Ein Stadtbrief? Unbekannte Handschrift?« Er drehte das schmale Kuvert ein paarmal zwischen den Fingern, riß es auf und zog eine lithographierte Karte heraus.

»Herr und Frau Karl Lüttgen geben sich die Ehre, Herrn Doktor Joseph Otten auf nächsten Mittwochabend zu einer kleinen Tanzfestlichkeit einzuladen. Bitte, Kostüm.«

Er blickte über die Karte hinweg ins Weite. Um seinen Mund zuckte es kurz. »Sieh da – die gnädigste Frau Lüttgen ... So schnell eine Kommandierung ... Bedaure.« Er nahm eine Visitenkarte und füllte sie mit einer Zeile aus.

»Dr. Joseph Otten – bedauert, der freundlichen Einladung auf Mittwochabend nicht Folge leisten zu können.«

Er kuvertierte und schrieb die Adresse. »Herrn Fabrikbesitzer Karl Lüttgen und Frau Gemahlin.«

»Erstens,« sagte er sich, als er den Brief in den Kasten steckte, »ladet man mich nicht wenige Tage vorher durch eine übriggebliebene Drucksache ein, als ob ich mit beiden Händen danach greifen würde. Zweitens: eine schöne Frau, die nur Malicen zu vergeben hat, das ist Destillation auf trockenem Wege. Scheußlich.« –

Am Abend brachte ein Dienstmann ein Briefchen. »Ich kriegen Antwort, Herr Doktor.« Otten sah nach der Unterschrift. »Karl Lüttgen.« Er zuckte die Achsel. »Solche Zähigkeit.« Dann las er:

»Lieber Joseph! Du würdest mir eine große Freude bereiten, wenn Du mir gestattetest, den Abend mit Dir gemeinsam zu verbringen. Wollen wir uns in der Komödienstraße, in der ›Ewigen Lampe‹ treffen? Nur um ein Dir bequem liegendes Rendezvous anzugeben. Von dort können wir weiter. Fürchte kein Attentat wegen Deines Erscheinens respektive Nichterscheinens am Mittwoch. Im Gegenteil. Dein Karl Lüttgen.«

Otten schüttelte den Kopf. »Dieses ›im Gegenteil‹ ist so köstlich, daß es belohnt zu werden verdient.« Er setzte sich hin und schrieb Antwort: »Werde in einer Stunde zur Stelle sein. Ebenfalls sehr erfreut. Dein Otten.«

Er händigte das Billett dem Dienstmann ein, der es sorglich im Innern seiner Mütze unterbrachte.

»Et rücht hier jet brenzlich, Herr Doktor.«

Otten nahm seine Zigarrentasche heraus. »Probiert ens selwer.«

Der Dienstmann grinste und machte einen Kratzfuß. »Ich danken auch, Herr Doktor.« –

Eine Stunde später trat Otten in die »Ewige Lampe« ein. An einem Tischchen entdeckte er die behäbige Gestalt des einstigen Schulfreundes, der ihm fröhlich entgegenwinkte.

»Das war schön von dir, Joseph, daß du mir keinen Korb gegeben hast. Nimm Platz. Einstweilen ein Glas von diesem?«

»Du bedankst dich wohl noch, daß ich euch einen Korb gegeben habe?« Otten gab dem Kellner Hut und Mantel und rückte seinen Stuhl an den Tisch.

»In der Tat, Joseph, das tue ich auch.«

»Sonderbarer Gastgeber.«

»Ich sag' dir, Joseph, heute mittag, als dein Brief kam! Wir saßen gerade bei Tisch. Ich las und gab die Karte meiner Frau. ›Aha, der große Künstler,‹ sagte sie. ›Schreibt ab,‹ sagte ich. Sie wurde ganz blaß vor Ärger. ›Dieser große Herr. Allüren hat der Mensch! Bedauert, nicht Folge leisten zu können. Schluß. Als ob er an dem Abend gerade beim Gouverneur oder beim Herrn Erzbischof speiste.‹ – ›Wird er auch wohl, Amely.‹ – ›Albernheiten ...‹ – ›Du siehst, Amely, der Mann hat nicht nötig, auf uns zu warten.‹ – ›Das scheint dich wohl noch zu freuen? Manieren habt ihr Rheinländer!‹«

Der Fabrikant trank einen Schluck. »Wahrhaftig, Joseph, darin hatte sie recht. Und es schien nicht nur mich zu freuen, es freute mich sogar ganz gewaltig. Ich hatte sogar eine diabolische Schadenfreude.«

»Ein sehr beliebter Gast schein' ich demnach nicht bei dir zu sein.«

»Mehr als das, viel mehr. Nur – du weißt ja, ich hab' immer eine geheime Liebe zu dir gehabt, aber du standst mir geistig immer etwas zu hoch, als daß ich mich getraute. Und als du nun vor einigen Tagen bei mir hereinschneitest und warst so ein prächtiger, frischer Kerl, da sagte ich mir: Den Freund behältst du. Den gibst du nicht für den Hofstaat ab. Etwas muß der Mensch haben, woran er sein Herz hängt. Prost, Joseph.«

»Du begannst deinen Satz vorhin mit ›Nur –‹ Also?«

»Ich meinte damit: ich gönne dich ihr nicht. Nicht auf die Art, wie's ihr beliebt. Befehlen – und kuschen. Oder allergnädigst: Luft! Und nun passierte es ihr zum erstenmale, daß sie – Luft war. So etwas nimmt sie nämlich höllisch persönlich. Und darum rieb ich mir die Hände.«

Joseph Otten trank gedankenvoll sein Glas Wein. Der Kellner brachte eine neue Flasche.

»Eine Musterehe scheint ihr mir gerade nicht zu führen, Lüttgen.«

»O doch. Musterhaft im Nebeneinander. Das ist ja heute wohl das Neueste. Und meine Frau geht mit der Zeit, darauf kannst du dich verlassen.«

»Sag mal, Lüttgen, beichtest du mir nicht etwas viel?«

Der Fabrikant wandte dem Fragesteller langsam sein rotes, fleischiges Gesicht zu. »Nein, Joseph.«

»Das ist kategorisch. Aber steht dir unter den alten Freunden keiner näher?«

»Sie sind alle zu meiner Frau übergegangen.«

»Mann, dann geh du doch auch zu deiner Frau über.«

Lüttgen zog die Stirn zusammen. Eine Weile spielte er mit seinem Glas.

»Glaubst du etwa, daß ich das nicht versucht hätte? Oder weshalb, glaubst du, daß ich sie vor drei Jahren geheiratet hätte, nach meiner glücklichen ersten Ehe? Die Antwort? Weil ich verliebt war. Weil ich mich noch jung genug fühlte, dem Herzen etwas zu bieten. Weil ich so eitel war, nun mal was Apartes haben zu wollen, und nicht auf Vermögen zu schauen brauchte. Denn sie hatte keinen Groschen. Pardon – das gehörte nicht hierher.«

»Und deine Ausgleichversuche sind dir mißglückt?«

»Lieber Joseph,« sagte Lüttgen, »du drückst dich sehr zartfühlend aus. Ausgleichversuche! Soll also heißen: Unterwerfungsversuche. Beruhige dich, ich habe sie unternommen, täglich, stündlich. Denn ich liebte ja diese Frau. Und um wahr zu sein: ihre wechselnden Stimmungen waren für mich, der ich von komplizierteren Frauennaturen so gut wie gar nichts kannte, ein Reiz. Soeben noch ein hochmütiges, herrschsüchtiges Weib, dem es Freude machte, mich mit ihren geistreichen Bosheiten bis aufs Blut zu peinigen, war sie eine Stunde darauf ein kleines, hilfloses Mädchen, dem es Freude machte, sich auf meinem Arm durch die Stube schleppen zu lassen. Dieser beständige Umschwung hielt mich in Atem. Ich kam überhaupt nicht mehr zu mir selber, und das war der tiefere Sinn. Diese Frau brauchte für alle Lebenslagen einen guten, treuen Bernhardiner. Sie richtete mich ab.«

»Auch ein Bernhardiner kann eine Heldenrolle spielen, mein lieber Freund.«

»Aber nur ein abgerichteter. Und auf Kommando.«

»Einer muß in der Ehe das Kommando führen.«

»Auch das zugegeben. Du siehst, ich bin nicht kleinlich. Aber ich fragte mich bald: Wo ist denn hier die Ehe? Wo ist denn hier überhaupt noch eine Gemeinschaft, und wenn's eine Gedankengemeinschaft gewesen wäre? Ich hatte tagsüber auf den Werken zu schaffen. Die Konjunktur der letzten Jahre forderte den ganzen Mann. Donnerwetter, ich hab' den Karren weitergeschoben. Und wenn ich Abends heimkam und suchte ein fröhlich Geplauder, um mich von Grund aufzufrischen, so wurde mein Geist gewogen und zu leicht befunden. Ich weiß, ich bin keine Leuchte auf literarischem Gebiet. Aber es gibt ja auch noch andere Gebiete. Ich weiß, ich bin kein Causeur. Aber muß man denn beständig Perlen speien? Ein paar liebe Worte, sollt' ich meinen, sind auch keine leichte Ware. Joseph, bis dahin glaubte ich ein Gott weiß wie stolzer Mensch zu sein und – wenn ich durch die Fabrik schritt – Berechtigung dazu zu haben. Dieser Stolz war mir bei der Arbeit von nöten, wie mir nach Feierabend die Fröhlichkeit von nöten war. Ich wurde eines anderen belehrt. Der Stolz war rheinischer Fabrikantendünkel, die Fröhlichkeit dick aufgetragene Schminke, das geistige Manko zu verdecken. Ich lernte, daß ich sowohl des Schwungs wie der Tiefe ermangelte, ich lernte, daß ich – von meinem Verständnis für die höhere Schlosserei abgesehen – ein geistiger Plebejer sei. Und meine Freunde, die auf die schönen Augen meiner Frau Schwüre leisteten, lernten das ebenfalls – von mir glauben ...«

Otten blickte auf die Tischplatte. Nun hob er den Kopf. »Sie ist sehr schön, deine Frau – –. Eigenartig stilisiert schön. Und geistvoll. Beides weiß sie.«

»Von meinem Geistesreichtum habe ich schon gesprochen. Und meine Schönheit –? Ich weiß, daß ich ein dicker, vollblütiger Kerl bin. Aber das sah sie ja auch, bevor sie mich heiratete. Nun war ich unelegant, ohne Manieren. Alle meine Lieblingsgewohnheiten wurden nacheinander durchgenommen und mir verleidet. Andere Ambitionen konnten nicht geweckt werden. Ich war auch zu störrisch dazu. Die Freunde umringten meine Frau, deren Launen sie für himmlisch erklärten, um nicht als Dummköpfe zu gelten. Ich wurde Portier. Auch ein schöner Posten. Aber er wurde mir zur Last. Gottlob, daß du gekommen bist.«

»Ich habe dich ruhig angehört,« meinte Otten nach einer Pause, »und ich kann mir wohl denken, daß selbst den Stärksten und Zurückhaltendsten Stimmungen überrumpeln können, in denen er Dinge preisgibt, die man sonst geheimzuhalten pflegt. Ihr steht augenblicklich in Kampfstellung zueinander. Ihr seid gereizt und übertreibt daher. Und in kurzer Zeit vielleicht schon, lieber Lüttgen, möchtest du das heutige Gespräch ungeschehen machen. Das ist dann ein peinliches Gefühl, aber es soll auch das einzige sein, denn ich werde die Dummheiten vergessen haben. Im Grunde deines Herzens nämlich bist du ja doch stolz auf deine Frau und liebst sie über die Maßen.«

Der Fabrikant schob sein Glas zur Seite und legte seine Hand auf die Hand des Freundes.

»Ich nehme als selbstverständlich an, Joseph, daß das, was hier gesprochen wird, unter uns beiden bleibt. Es ist das erste Mal, daß ich die Maske des heiteren Haus- und Eheherrn so gänzlich beiseite lege. Und ich setze sie schon wieder auf, sobald wir das Lokal verlassen. Aber ich will auch einen Menschen für mich haben. Einen Menschen für mich, bei dem ich hin und wieder mal vor Anker gehen kann, damit ich mir nicht selber zum Spott werde. Und nun schau mich mal ganz ruhig an. Ich bin ganz normalen Geistes. Und mein Verhältnis zu meiner Frau will ich dir jetzt in drei Worten erleuchten, denen nichts an die Seite zu stellen ist: Ich – hasse – sie.«

»Lüttgen!« rief Otten, erschüttert von der Ruhe des Mannes.

»Ich hasse sie. Das ist der Rest, an den sich meine Selbstachtung klammert.«

Eine Minute ging hin. Das Schweigen wurde drückend.

»Wir sind verdammt ernst geworden, Lüttgen,« sagte Otten dann.

»Verzeih. Das lag durchaus nicht in meiner Absicht. Und ich hoffe, nun wird's für mich auch in meinem Hause heiterer werden. Ich hoffe auf dich.«

»Du denkst doch nicht daran, daß ich in eurem Hause aus und ein gehe? Vorhin erst freutest du dich über meine Absage.«

»Das tat ich, mein lieber Joseph, und tu' es noch. Sie sieht daraus, daß du die Leute auf dich zukommen läß't. Das ist sie nicht gewohnt. Und wenn du ein andermal kommst und dann viele Male, werden wir beide Arm in Arm durch den Saal marschieren, und ihr Hochmut wird an dir klein werden.«

»Lieber Lüttgen, das ist keine Rolle für mich. Ich habe der Dame des Hauses, in dem ich verkehre, meinen Respekt zu erweisen.«

»Das darfst du. Du darfst ihr selbst den Hof machen. Du darfst sogar ihr Freund werden, denn sie hat Eigenschaften, die das erklärlich scheinen lassen. Ich bin ja nicht blind. Nur soll sie dabei erfahren, daß du in erster Linie – mein Freund bist.«

»Und davon versprichst du dir so viel?«

»Für jetzt nicht, aber für mein Alter.«

»So bescheiden also kann man werden,« dachte Otten, »daß man von den Jahren, die da kommen, nur noch Ruhe wünscht ...«

»Was meinst du?« fragte Lüttgen und zog die Uhr. »Wir gehen noch hinüber ins Domhotel. Uns tut eine andere Umgebung not, wenn wir auf eine andere Stimmung reflektieren. Hier ist die Luft jetzt mit Trauertönen geschwängert. Weg damit.«

»Ja,« sagte Otten und erhob sich, »gehen wir.«

Als sie über die Straße schritten, Otten elastisch, der Fabrikant schwerfällig, schob Lüttgen den Arm in den des Freundes.

»Neben dir komme ich mir wie ein Greis vor. Ja – das war einmal.«

»Trink nicht so schwere Sorten,« erwiderte Otten, »das macht sentimental.« – – –

Der nächste Tag war ein Sonntag. Otten war übernächtig am Frühstückstisch erschienen und hatte alsbald einen längeren Spaziergang unternommen, um sich zu erfrischen. Die Gedanken sprangen in seinem Hirn hin und her. Er wollte sie ordnen.

Der Morgen rückte vor. Carmen war zur Elfuhrmesse in den Dom gegangen, und Frau Maria saß untätig in ihrem Sessel und hielt ein Feierstündchen. Sie liebte die hellen Sonntagmorgenstunden, die klarer scheinen als die Morgenstunden anderer Tage. Sie nahm ein stilles Leuchten daraus für die Woche mit.

Unten schlug die Klingel an. Der alte Klaus, der auch seine Feierstunde hielt, öffnete die Haustür. Leichte Schritte kamen die Treppe herauf. Nun klingelte es am Korridorpförtchen. Frau Maria erhob sich, um nachzusehen.

»Herr Doktor Otten zu Hause?«

»Mein Mann ist ausgegangen. Ich bin Frau Otten. Wollen Sie nähertreten?«

»Sehr gern.«

Im Zimmer wies Frau Maria auf einen Stuhl. »Kann ich meinem Mann etwas ausrichten, gnädige Frau?«

»Frau Lüttgen. Der Name wird Ihnen wohl bekannt sein als der eines Freundes Ihres Mannes.«

»Ich hörte ihn gestern. Die Herren hatten eine Verabredung.«

»So geht es. Auch ich hörte erst gestern von Ihnen. Sonst wäre mir sicher nicht der Fehler passiert. Sie nicht ebenfalls zu unserem kleinen Fest zu bitten.«

»Ich wußte gar nicht, daß mein Mann eine Einladung angenommen hatte. Aber ich gehe so wenig aus, daß es wirklich keiner Entschuldigung Ihrerseits bedarf.«

»Die Einladung angenommen? Nein, Sie irren. Er hat sie ziemlich kurzgefaßt abgelehnt. Und deshalb sehen Sie mich hier. Ich hatte mir eine so hübsche Überraschung ausgedacht. Ich wünschte mit Herrn Doktor Otten als wanderndes Sängerpaar aufzutreten, als Harfner und Mignon. Es ist ein kleines Kostümfest, und nun macht Ihr zürnender Gatte einen Strich durch die schöne Rechnung.«

»Nein,« sagte Frau Maria, »wie sollte er Ihnen zürnen? Er ist kaum eine Woche von einer mehrjährigen Kunstreise zurück und wird sich noch etwas müde fühlen.«

»Von Ermüdung habe ich am ersten Abend nicht viel an ihm bemerkt. Das spricht die sorgende Hausfrau.«

»Er war bereits bei Ihnen?« fragte Frau Maria freundlich.

»Am Abend seiner Ankunft. Und das hat er verschwiegen? Das ist so recht Männerart.«

»Ich bin nicht neugierig,« sagte Frau Maria lächelnd.

Frau Amely Lüttgen stutzte. Ihre klugen, grauen Augen hafteten an den ruhigen Zügen der Frau, die sich so leidenschaftslos zu geben wußte.

»Das versteh' ich nicht,« sagte sie. »Oder aber – wir müßten dieselbe Tugend vom Mann verlangen können.«

»Nicht neugierig zu sein? Damit hätten wir doch nichts gewonnen.«

»Nichts –?«

»Höchstens, daß man den Mann um nichts eifersüchtig machte. Wenn Sie das meinen?« Frau Maria lachte.

»Es brauchte ja nicht immer ›um nichts‹ zu sein.«

»Sie scherzen, gnädige Frau.«

»Hören Sie mal, dies Thema interessiert mich. Aber Sie interessieren mich doch noch viel mehr.«

»Damit Sie keine Enttäuschung erleben, schlage ich Ihnen lieber vor, bei dem Thema zu bleiben.«

»Im Ernst, Frau Otten, Sie verlangen doch nicht, daß wir Frauen Menschen zweiter Klasse werden?«

»Im Gegenteil. Menschen erster Klasse. Damit der Mann einen Maßstab behält.«

»Der Mann! Immer der Mann! Ist seine Person wirklich so wertvoll, daß sie mit so zarter Rücksicht behandelt werden muß?«

»Als Vater unseres Kindes, sollt' ich meinen. Wenn man von seiner Person absehen will.«

»Des Kindes!«

»Sie sehen, bei dem Wort stockt schon unser Eifer. Im Grunde ist es doch ein ganz einfaches Exempel, wenn wir wollen.«

Das ruhige Gleichmaß in der Frau reizte die Besucherin, das Thema noch nicht fallen zu lassen. »Sie sagten: das Kind. Gewiß, darin pflichte ich Ihnen bei. Das Kind ist heilig. Aber gerade darum müssen wir frei in der Wahl seines Vaters sein können.«

»Ich glaube nicht daran,« erwiderte Frau Maria, »daß das Kind in der Geburt heilig ist. Ich glaube aber daran, daß die Mutter es heilig machen kann. Durch ihr Beispiel. So weit das ausreicht. Die Erziehung macht den Menschen.«

»Demnach erscheint es Ihnen auch unfaßlich, daß sich eine Frau einem Manne gesellt, ohne – wie sage ich – ohne Formalität?«

Über Frau Marias Stirn zog sich eine feine Röte, die sich mehr und mehr vertiefte.

»Wie sollte mir das unfaßbar erscheinen? Aber man müßte den Mann so sehr lieben, daß man ihn auch – zu jeder Stunde heiraten würde.«

»Tut's das wirklich?« fragte Frau Amely spöttisch.

»Ich sagte ›auch‹. Das bedeutet: man muß wissen, daß man verbunden ist, – so – oder so. Man muß wissen, daß man das, was man tat, aus einem großen, gewaltigen, wunderbaren Triebe heraus tat, und nicht aus Widerstandslosigkeit gegen sich selbst oder, umgekehrt, aus eitel Berechnung und Vernünftelei. Unsere Kinder haben Blut nötig, und das Blut kommt aus dem Herzen.«

»Solch ein Herz kann sich auch verbluten.«

»Verbluten wohl. Aber das Blut kann nicht wässerig werden, dadurch, daß man nach hierhin und dorthin abgibt. Das würde ein elendiges Menschengeschlechtlein werden.«

»Und an sich selbst, an Ihre eigenen Rechte denken Sie gar nicht?«

»Verzeihung,« sagte Frau Maria und erhob sich. Unten hatte die Türklingel angeschlagen. Carmen kam lustig aus der Messe.

»Meine Tochter Carmen,« präsentierte Frau Maria das Mädchen. Und Carmen knixte und reichte die Hand.

»Was für ein intelligentes Köpfchen,« sagte die Besucherin staunend. »Ich werde dich einmal in meinem Wagen abholen.«

»Ach ja – bitte.«

»Schau mal nach dem Vater aus, Kind. Er wird am Rhein entlang zurückkommen.«

Carmen stürmte hinaus.

»Und solch ein sprühendes Wesen soll nun in die alte Schablone gepreßt werden, nur weil's das Herkommen so will?«

»Sie halten mich für rückständiger, als ich bin, gnädige Frau. Ich bin eine unbedingte Anhängerin der neuen Zeit, die von uns Frauen eine Erneuerung und Weiterbildung in allen Wissenschaften fordert, je nach der persönlichen Befähigung natürlich. Hat Carmen erst mit ihrem jetzigen Schulstudium abgeschlossen und hält ihre Befähigung stand, so wird sie den Gymnasialkursus absolvieren, der jetzt eingerichtet ist. Wir bleiben also nicht stehen, gnädige Frau.«

»Und in der neuen Ethik?«

Frau Maria lächelte vor sich hin. »Daß Sie daran so festhalten. An dem Worte ›neu‹. Sie bleibt ja doch dieselbe. Immer die, die wir für gut und schön halten, und immer die, die andere für gut und schön halten. Das wird sich niemals ändern. Nur, daß man bisher kein Wesen davon machte, wenn man die eigene für besonders schön hielt. Daraus wurde Poesie. Trägt man aber die Poesie auf den Markt, so muß wohl Marktgeschrei daraus werden. Deshalb sollte man die neue Ethik nicht immer so laut verkünden.«

Frau Amely zog die Augenbrauen hoch.

»Sei dem, wie ihm sei. Der Erfolg wird Recht sprechen. Aber jedenfalls,« und sie erhob sich rasch, »haben wir uns nicht über Dienstmädchensorgen und die billigsten Bezugsquellen unterhalten. Bei einem ersten Besuch! Wir sind also wirklich bildungsfähiger als die Männer, die über die Weinpreise noch nicht hinausgekommen wären.«

»Die armen Männer,« lachte Frau Maria belustigt.

»Wahrhaftig. Es sind arme Teufel. Und sie sollen es wissen.«

»Nehmen Sie meinen Mann aus.«

»Sie machen mich wirklich begierig, ihn näher kennen zu lernen. Er muß die Tugenden wie Orden auf der Brust tragen.«

»Kennen Sie nicht den starken Wahlspruch der Engländer, gnädige Frau? Right or wrong, my country? So denke ich über meinen Mann.«

»Ich hätte fast den Zweck meines Herkommens vergessen,« sagte Frau Amely. »Wollen Sie mir helfen, Ihren Mann umzustimmen? Und werden Sie mir ebenfalls die Freude machen?«

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, an mich zu denken. Aber ich kann mich des Abends nicht gut von meinem Kinde trennen. Wir leben so zurückgezogen, daß Carmen gerade am Abend ganz auf mich angewiesen ist.«

»So schicken Sie Ihren Mann allein. Sagen Sie ihm, daß ich darauf rechnete, daß er mir nicht die Harfner- und Mignon-Idee verdürbe. Ich würde mich als Mignon so entzückend wie möglich machen. Ganz allein ihm zuliebe. – Vielleicht hilft das.«

»Es wäre wenigstens die heftigste Beschwörung.«

»Adieu, gnädige Frau. Es war eine reizende Stunde bei Ihnen.«

»Adieu, gnädige Frau.«

»Sie werden jetzt öfter von mir hören. Das haben Sie nun davon.«

»Ich werde mich gern daran gewöhnen.« – –

Frau Amely schritt die Gasse hinunter und bog am Rheinufer ab. Frau Maria sah ihr vom Fenster aus nach.

»Das ist nicht nur Kleidereleganz,« sagte sie, »das ist vererbte Kultur.« Und sie bewunderte die feine Körperlinie und die Art des Gehens. »Körperkultur. Und die Gedanken werden davon abhängig gemacht. Das ist das Geheimnis.«

Sie kehrte sich langsam ab, um in die Küche zu gehen. Es wurde Zeit, die Anrichtung des Mittagsmahls zu übernehmen. Ihr Blick fiel in den Spiegel.

»Du gehörst Joseph Otten und keinem sonst,« und sie nickte der großen, ebenmäßigen Figur, deren Bild der Spiegel zurückwarf, zu. »Das ist eine bessere Freiheit. Keinem sonst ...«

Eine halbe Stunde später kam Otten heim. Carmen hing an seinem Arm. Der Spaziergang hatte ihn erfrischt, er war munter und wortreich.

»Du hast Besuch gehabt, Maria? Carmen erzählte mir von einer Dame, der lauter Pelzschwänzchen von der Schulter gebaumelt hätten. Das Mädel will partout auch so einen Pelz.«

»Bist du ihr nicht begegnet?«

»Wie, ging sie denn, mich suchen?«

»Sie ging von hier aus das Rheinufer entlang. Ob das dem Rhein gegolten hat?«

»Schelm, du willst mich wohl eitel machen? Wer war's denn?«

»Kennst du eine gewisse Mignon?«

»Nur die eine, von der man nie recht weiß, ob sie ein Jung' oder ein Mädel ist.«

»Und den Harfner kennst du auch?«

»Auch den Harfner.«

»In welchem Verhältnis steht denn der zur Mignon?«

»Das wird ihm wohl selbst schleierhaft sein. Ist er der Vater, der Geschäftsführer oder – der Liebhaber?«

»Wäre das nicht eine passende Rolle für dich?«

»Höre mal,« sagte Otten und griff ihr unters Kinn, »wenn sich bei mir auch schon ein paar graue Haare zeigen, so bitte ich doch sehr, mich nicht als rätselhaften Mummelgreis zu verschleißen. Oder soll ich dir Respekt beibringen?«

»Bleibt also noch die Mignon,« lachte sie unter seinem Griff.

»Ein Wesen, von dessen Weiblichkeit ich nicht einmal fest überzeugt bin? O Maria, habe ich denn mit dir umsonst gelebt?«

Sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Die Frau deines Freundes Lüttgen war hier.«

Verblüfft staunte er sie an. »Frau Amely – –? Hier?«

»Wegen ihres Kostümfestes.«

»Ich hab' ihr doch unzweideutig abgeschrieben,« murmelte er und gab ihr Kinn frei.

»Sie behauptete, du zerstörtest ihre Pläne. Sie müsse dich als Partner haben.«

»Bin doch neugierig, wozu?«

»Als Harfner, Joseph, und sie würde dir zuliebe eine ganz entzückende Mignon sein.«

Otten ging zum Fenster und trommelte an die Scheiben. »Eine sehr schöne Idee,« meinte er endlich, »Schade, daß ich diese Rolle gerade nicht auf dem Repertoire habe.«

»Du willst nicht, Joseph?«

»Mich ausspotten lassen? Denn das ist doch Spott!« Er kam zurück, legte den Arm um Frau Maria und promenierte mit ihr durchs Zimmer. »Sprechen wir von was anderem. Die Sache ist erledigt.« –

Carmen hatte inzwischen den Tisch gedeckt. Frau Maria servierte selbst. Eine heitere Stimmung füllte den Raum. Und mitten in einem Gespräch fragte Otten: »Wie hat sie dir denn eigentlich gefallen?«

Frau Maria sah ihn lächelnd an. »Die Frau deines Freundes? Wie nanntest du sie doch: Frau Amely? Ja, Joseph, ich glaube, ganz so wie dir. Sehr bestechend, aber – man weiß nicht recht.«

»Ja, ja, ja. Man weiß nicht recht. Jung' oder Mädel.«

Am Nachmittage wurde musiziert. Otten sang ein paar Balladen und einige Volkslieder, und er ließ sich von seiner Kunst weiter und weiter reißen. »Jetzt werde ich die Strophen einmal rezitieren. Gib acht, ob ich der Komposition auch nur einmal gestattet habe, den Geist der Gedichte zu Gunsten einer musikalischen Phrase zu vergewaltigen. Man singt nicht Töne, man singt ein gedichtetes Lied!« Und er sprach die Verse, daß sie ihr Innerstes offenbarten. Frau Maria saß wie im Banne.

»Hat sie eigentlich auch Geist?«

»Wer, Joseph?«

»Ach, ich kam gerade darauf. Ihr habt euch doch lange unterhalten. Lassen wir sie in Frieden.«

Wie ein farbenprangender Sonnenuntergang war der Abend. Und als die Nacht kam, zitterte es durch den Raum, in dem die drei Menschen beieinander saßen, wie eine selige, fern verhallende Liedstrophe ...

»Gute Nacht, Carmen. Gute Nacht, Töchterlein.«

Dann gingen auch Joseph Otten und Frau Maria zur Ruhe.

»Du – Maria!«

»Joseph?«

»Trotzdem! Ein Alltagswesen ist sie nicht. Sie hat was von der Sphinx. Verführerisch und grausam. Arme Opfer – –.«

»Großer Junge,« lachte Frau Maria leise ... Um sie her und in ihr war noch der Sonntag.



 << zurück weiter >>