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Am nächsten Morgen mußte Heinrich früh nach Berlin hinüber. Er hätte sehr gewünscht, mit seinem Vater noch zu sprechen wegen Degebrot; dachte auch, mit den alten Arnsteins zusammen zu fahren – er hatte sie plötzlich gern, und wenn sie noch weit weniger gewesen wären, als sie schon waren, sie hatten für ihn einen Freibrief –, aber es war noch niemand zu sehen. Die anderen waren eben nicht so gewohnt, mit ein paar Stunden Schlaf auszukommen, wie er das jetzt gewohnt war. Und als sie beim nächsten Zug um neun sich auch noch nicht regten, da machte Heinrich Schön sich doch auf den Weg, und bald flogen und tanzten die ampferbraunen Nuthewiesen und die Weberkaten von Nowawes, wie schon so viele Morgen vorher, an Heinrich Schön vorüber.

Nicht vergessen: Möbel, Gropius, Kambly, doch Säulenform die Nachttische+..., Platte schlesischer Marmor+..., und dann für Hannchen von der Werderschen Kirche – also aus dem »Stiefelknecht« – einen Schein für das Aufgebot holen. Ja, aber welchen? Na, den bestellten eben, man wird es dort schon wissen. Und bei Gerson sich Gardinenstoffe, Mull und Rips zeigen lassen ... Proben mitnehmen ... Hannchen mißt aus... Ellenzahl wird noch angegeben werden+..., nicht vergessen+..., verstandezvous!

Als Heinrich Schön dann wieder nach Hause kam, waren die alten Arnsteins schon längst zurück nach Berlin gefahren, ließen sich ihm empfehlen. Nichts mehr von gestern war zu merken. Die Petzel hatte oben den grünen Saal wieder abgeschlossen, als ob er nie geöffnet gewesen wäre.

Eduard Schön saß etwas wehleidig und mißgestimmt umher, verfrachtete sich mal auf dem Sofa, mal auf dem Sessel, sagte, es hätte gestern gezogen und er hätte solche kleine Rheumaattacke sich geholt, so'n bißchen Hexenschuß. Er hätte schon Wilhelm nach flüchtigem Liniment geschickt, das habe er erprobt. Es helfe nicht jedem – ihm helfe es.

Heinrich Schön erinnerte sich nicht, daß sein Vater je so herumgehockt hatte, und war schon besorgt um ihn. Ohne Zweifel: diese zweite Ehe war ihm eigentlich nicht gut bekommen. Er war älter, müder, blasser geworden, blieb länger des Morgens in Pantoffeln als ehedem und zog die weiche Hausjacke anderen Kleidungsstücken vor.

Gott ja, der Baum kriegt eben früher gelbe Blätter und der später, ist noch sommerlich und ganz grün, wenn schon alles um ihn gelb und rot und abstäubend und verwehend ist, aber eines Morgens ist er dann auch gelb und herbstlich – ganz plötzlich über Nacht ist er es geworden, niemand hat es erwartet – und streut melancholisch sein müdes Laub in den Wind.

Jedenfalls heute wollte Heinrich von Degebrot nicht anfangen. Heute ließ er sich erzählen. Ja, man wäre sich einig, ihn hinüberzuschicken. Man hielte es für richtig. Man habe natürlich noch mal an Gramkow & Löwenberg geschrieben und auch wegen der besten Schiffsverbindungen bei ihnen angefragt. Vielleicht sollte Degebrot noch bedruckte Kattune mitnehmen, denn darin war man hier jetzt ebensoweit wie in England.

»Das nun zwar nicht«, meinte Heinrich Schön, »aber vielleicht ist was umzusetzen. Der Versuch kostet nichts, aber er schadet auch nichts.«

Und natürlich war auch der Schein von der Wederschen Kirche der falsche. Irgend etwas daran war falsch, ungenügend, unzulänglich, der Mann ein Ochse nach der Aussage aller, die es anging.

Und es sollten ja eben nicht die Nachttische in Säulenform sein, sondern gerade die anderen mit gedrehten Stäben und Zwischensatz. Das habe er verwechselt. Morgen ganz früh, müsse er herangehen, damit sie nicht schon in Arbeit genommen wären.

Ja, und wie das denn mit seinen Papieren nun wäre. Man denke immer, man habe sie, und im letzten Augenblick stelle sich heraus, daß irgend etwas fehle oder nicht richtig sei, daß bei dem Namen der Großmutter mütterlicherseits einmal Henriete mit einem »t« und zweimal Henriette mit zwei »t« geschrieben sei. Und so etwas gäbe dann endlose Schererei, bis man restlos und klar bewiesen habe, daß man selbst man selbst wäre und nicht etwa mit dem 1826 verstorbenen Heinrich Schön aus der Nauener Straße 37 identisch.

Ja, ja, Heinrich würde das alles besorgen.

Am nächsten Tag war aber Eduard Schön wieder ganz obenauf; bloß nicht gleich den Arzt+..., immer erst Hausmittel! Und Heinrich machte kein Hehl daraus, was er von seinen Plänen hielte: er kenne es draußen, und Degebrot wäre unmöglich.

Aber Eduard Schön sagte, daß er das nicht glaube. Degebrot wäre ein tüchtiger Mensch, der sich in jede Sache schnell hineinfände. Er hätte die Leute auch nur draußen unter veränderten Verhältnissen gesehen und könne auch nicht wissen, wie sie vorher gewesen wären. Und wen in aller Welt man denn sonst schicken solle? Einen Fremden, der vielleicht nachher die eingezogenen Gelder nicht abliefert oder falsche Ordres bringt, um Provisionen zu schlucken? Goldehrlich ist Degebrot doch. Oder ob er selbst etwa noch gehen sollte oder er vielleicht? Und hier alles stehen- und liegenlassen? Er habe heute seine Frau, der er das nicht antun könne ... »Und du hast ja mit Gottes Hilfe in ein paar Wochen auch eine. Frag sie mal, ob sie dich so einfach nach Rio 'rüberlassen würde; denk mal, wenn was passiert? Du weißt das ja ebensogut wie ich. Degebrot ist Junggeselle, hat nach niemand zu fragen, freut sich, daß er mal 'rauskommt. Und notwendig ist es doch – oder sollen wir etwa an fünfzehntausend Taler in den Rauchfang schreiben?«

Da also war nichts zu machen für Heinrich Schön. Und es hatte ja eigentlich auch gar keinen Sinn gehabt, daß er dagegengesprochen hatte, wenn er mit keinen anderen greifbaren Vorschlägen kommen konnte. Er ärgerte sich über sich selbst – es war doch unüberlegt und jungenhaft. Er hätte sich ja, wie er seinen Vater kannte, das vorher sagen können!

Und alles ging weiter für Heinrich Schön. Eigentlich hatte sich gar nichts geändert. Im Geschäft gab es viel zu tun. Heinrich mußte oft hinein nach Berlin, oder er mußte halbe Tage in der Weberei sitzen, wenn etwas nicht so glückte, wie sie wollten. Der englische Dampfwebstuhl sollte auch demnächst aufgestellt werden, und es waren schon Vorbereitungen im Gange. Draußen in Schlesien hatte es Aufstand gegeben. Man hatte Schlösser und Besitzungen niedergebrannt und zerstört. Das Militär hatte geschossen. Der Staat hatte eingegriffen und viele ins Gefängnis gesteckt. Es war nicht leicht jetzt: Man mußte die Menschen behandeln wie rohe Eier – bloß keine Streitigkeiten um Lohn oder Lieferzeit aufkommen lassen! Und doch hatte man stets das Gefühl, daß sie glaubten, man täte ihnen auf Schritt und Tritt unrecht. Sie wußten nicht recht, was sie wollten, aber sie waren mißtrauisch geworden ..., sogar Leute, die zwanzig, dreißig und selbst mehr Jahre schon bei ihnen waren.

Eduard Schön war herrischer im Wesen, Heinrich Schön war disziplinierter und verstand die Leute besser zu nehmen, ohne sich etwas zu vergeben. Es war gut, wenn man ihn da herausstellte, wo es vielleicht Reibungen geben konnte. – Nein, es war nicht leicht jetzt!

Und dann das mit Rio. Gramkow & Löwenberg hatten geschrieben: Es wäre zwar kein Grund zur geringsten Besorgnis, aber ... Sie gäben zu, daß die Regulierung nicht so prompt erfolgte, aber ... Immerhin verständen sie den Standpunkt der Firma, wenn sie ihn auch nicht teilten, aber ... Sie hofften auf eine demnächstige günstige Abwicklung der Verbindlichkeiten, aber ... Wie sie von ihren dortigen Herren erführen, wäre eine Behebung der geschäftlichen Krisis drüben mit Sicherheit in Bälde zu erwarten, aber ... Also ein langer Brief – Satz an Satz wie ein Schwarm Kaulquappen, von denen jede zwar einen dicken, breiten, beruhigenden Kopf, jedoch ein nervös wackelndes Schwänzchen hatte und sich nicht fassen ließ. Und wenn man den Hamen hereinsteckte, husch – waren sie alle weg! Und man hatte nur noch das blanke Wasser.

Ja, und wie der liebe Gott den Schaden besah, da waren die Nachttische in Säulenform schon zugeschnitten und angefangen. Also gut: man sollte sie einem anderen, etwas konservativeren Brautpaar aufhängen, und er, Heinrich Schön, würde (dafür fordere er Diskretion) die Differenz tragen – und wenn's fünf Taler sind! Und der Mann mit den Papieren (der Ochse) erklärte unhöflich, daß das ganz richtig wäre, wurde aber auf einen vertraulichen Händedruck hin bedeutend umgänglicher und fand plötzlich alles, was man überhaupt finden konnte. Für einen Friedrichsdor hätte er Hannchen gewiß zu einer illegitimen Tochter des Prinzen Louis Ferdinand gemacht. Kleinlich war er nicht!

Mit den Gardinen ergaben sich freilich Schwierigkeiten. Frau Aurelie hatte ein Sternchenmuster im Gedächtnis, von Urzeiten her, das natürlich nirgends mehr aufzutreiben war. Höchstens könne man etwas Ähnliches bestellen. Und das würde dann bei der jetzigen unruhigen Lage der Industrie nicht unter drei Monaten »anzuliefern« sein. Bei jedem Wort machte der Verkäufer eine Verbeugung, so daß man wirklich an die unruhige Lage der Industrie glauben konnte. Er erlaube sich aber, den Damen das Neuste, nämlich etwas Ähnliches in Crêpe, vorzuschlagen – einen alten, würdigen Ladenhüter, der trotz Verkaufsprämien sich seit Jahr und Tag nicht mehr rührte und Stockflecken bekam.

Also das Leben rollte weiter, das heißt: es erschien Heinrich, als ob er einen Strom hinuntertriebe; er kam nicht auf die Dinge zu, die Dinge kamen auf ihn zu. Erst eins, dann das andere, sauber an den Ufern aufgereiht. Jeder Tag brachte irgend etwas Neues, und dahinten kam schon der heran – irgendwie Anfang August war dafür in Aussicht genommen –, an dem der Herr Superintendent Karl Schultze – er hatte Hannchen konfirmiert und ließ es sich nicht nehmen, ihr auch mit seinem Segen in jener anderen großen Stunde der Frau behilflich sein zu wollen –, also jener Tag ... Nun, und wenn die Möbel dann noch nicht geliefert sein sollten, so könnte man eben auf ein bis zwei Wochen nach Schandau und in die romantische Sächsische Schweiz gehen.

Ja, und für Degebrot hatte man auch schon ein Schiff ausgesucht, einen sicheren, großen, seetüchtigen Dreimaster, der schon oft seinen Weg dahinüber gefunden und schon manchem Sturm getrotzt hatte. Außerdem war jetzt keine Zeit für Stürme. Viel eher konnte man jetzt in Kalmen kommen und Tage oder selbst eine Woche umherliegen, ohne daß es vom Fleck ging. Und der Dreimaster Victoria von Hansen & Bloberg sollte schon um die Mitte des Juli hinausgehen, und es gab alle Hände voll für Heinrich zu tun, um wenigstens einen Teil der Kollektion bis dahin fertigzustellen.

Degebrot aber hatte glücklich einen alten Franzosen attrapiert, ein unglückseliges, vertrocknetes Wesen, das 1813 hier in Berlin klebengeblieben war und nun seit einem Menschenalter sich immer mühseliger mit Tanz- und Sprachstunden durchquälte. Degebrot wollte bei ihm Französisch lernen. Damit käme er durch. Und Musjeh Leblond, der in dreißig Jahren nie Deutsch gelernt hatte, machte bei Degebrot die vorzüglichsten Fortschritte, und »es bedauerte ihm nur sehr, dem Schüler nicht länger behalten zu können«.

Der Frühling aber rückte so langsam in den Sommer hinein. Es wurde heiß, und es wurde regnerisch, und es gab Gewitter, die nur so klatschten und das Laub von den Zweigen rissen. Die Blüten an den Sträuchern hatten das Schicksal aller Blüten – nun, dafür gab es genug sonst in Beeten und an Rosenbüschen.

Heinrich konnte ordentlich riechen, wie das Jahr weiterging, nicht etwa an den Rosen oder am Heliotrop in Sanssouci oder an den Nachtviolen in den Gärten von Bornim – davon sah er nichts; aber jedesmal, wenn er des Abends zu Mühlensiefens kam, roch er, daß man schon wieder einen Tag, ja eine Woche weitergerückt sei. Denn wenn heute das ganze Haus noch säuerlich nach grünen Stachelbeeren geduftet hatte, so roch es übermorgen geistreich und fein nach Ananaserdbeeren, und in der nächsten Woche herb und rot, weinig und würzig nach Kirschen und Johannisbeeren; und die fade, aber süße Süßigkeit von Himbeeren klang schon leise dazwischen. Pflaumen, Birnen, Pfirsiche sollten gewiß noch kommen, und selbst Berberitzen und Hagebutten waren vorgemerkt.

Frau Aurelie machte nämlich ein, fortschreitend, von Markt zu Markt, der Ameise gleich: La fourmi et la cigale. Die Ameise und die Grille Darin war sie Meisterin. In großen Kupferkesseln voll Wasser, in denen Heu schwamm, ließ sie über dem Herdfeuer die Gläser und Kruken tanzen. Und sie machte dieses Mal – und das war sehr freundlich und nachahmenswert von ihr – gleich für zwei Haushaltungen ein. Nicht etwa mit einer bürgerlichen, schlichten Mitgift, nein, schon mehr mit einer fürstlichen Morgengabe an Dreimus, Stachelbeeren und Hagebutten beabsichtigte sie Hannchens Speisekammer auszustatten.

All das trieb auf Heinrich Schön zu, tauchte auf, kam heran, wurde kleiner und schwand hin. Er aber blieb scheinbar auf dem gleichen Fleck, blieb im Nebel, im Halbtraum, zerfleischt, zerpeinigt, elender als je, ohne die Fähigkeit eines Entschlusses, ohne die Möglichkeit eines Auswegs. Er wußte ja selbst nicht, wo er hin wollte, wagte ja gar nicht, seine Gedanken zu Ende zu denken. Manchmal, auf kurze Augenblicke – ja selbst auf länger einmal –, hob sich der Nebel um ihn, aber ehe er sich noch ganz klar wurde, daß er sich doch da in eine Leidenschaft hineintrieb, die unsinnig und unwirklich, daß er irgendwie darüber hinwegkommen müsse, da stiegen schon wieder die ersten Nebelfetzen auf, und bald war alles von neuem das nämliche rauchgraue Wogen.

Und doch mußte er sich täglich und stündlich sagen, daß all das ja keinerlei Erwiderung und Ermunterung fand. Frau Antonie war genau wie vorher: sehr scheu, sehr zurückhaltend, ganz für sich; sprach nicht eine Silbe mehr zu ihm als früher, gab ihm nicht das kleinste Zeichen eines Einverständnisses. Sie schien all das von neulich abend ganz vergessen zu haben. Ja, in Heinrichs Hirn setzte sich langsam die Meinung fest, daß sich das vielleicht doch nur alles in seiner Phantasie abgespielt hatte oder zum mindesten von ihm eine falsche Auslegung gefunden hatte, denn Frau Antonie erwähnte nicht einmal die Wasserfahrt mehr, die sie doch alle zusammen machen wollten ..., hatte sie wohl ganz aufgegeben, weil ihr Mann nicht mitkommen konnte. Aber auch diese Erkenntnis hatte keinen Einfluß auf Heinrich Schön.

Da, eines Nachmittags ... Es war ein heißer Tag Anfang Juli, blau, windstill und mit kleinen, reglosen Wolkenballen, die heute oder morgen Gewitter bringen konnten. Man hatte früh gegessen; Eduard Schön war nach Berlin gefahren, um zu sehen, was man aus den alten Mustern etwa noch Degebrot als Neuheiten mitgeben könne; und auch wegen des Dampfwebstuhls, den man immer noch nicht geliefert, hatte er noch Rücksprache zu nehmen; und bei Arnsteins wollte er außerdem selbst mal das Lager durchsehen, es ging da nicht so, wie es gehen sollte; er käme mit dem letzten Zug, oder er bliebe vielleicht noch morgen den Vormittag über drüben, wenn er nicht alles erledigen könnte. Heinrich saß im Kontor und arbeitete, schrieb Briefe, rechnete Zahlenreihen zusammen und sah hin und wieder durch das offene Fenster in den Garten hinaus, der prall in der Julisonne lag, voll Laub – nicht mehr so bunt und verschiedenfarbig das Laub wie im Frühjahr, sondern gleichmäßig, von einem schweren Blaugrün. Ziemlich still war es dabei, denn die Vögel wollten erst des Abends wieder singen. Nur die jungen Stare – es war wohl schon die zweite Brut – hielten sich nicht an das Reglement und piepsten kläglich und nimmersatt nach Fliegen, Wespen, langbeinigen Schnaken und grünen Raupen, von denen die beiden Alten nicht genug heranschleppen konnten. Hinten aber am Zaun, wo in den Johannisbeerbüschen die kleinen roten Träubchen herüberleuchteten, plünderten ein paar Drosseln und schluckten, was in den Kropf ging.

»Ach so, deswegen tragen die Büsche immer so schlecht«, sagte Heinrich halblaut und wendete sich um, das Kontokorrent suchend.

Da stand Frau Antonie hinter ihm. Er hatte gar nicht gehört, daß sie hereingekommen war. In dem gleichen hellen Kleid mit den breiten, grünen Besätzen, das sie damals in Sanssouci anhatte. Und all das tauchte in Heinrich wieder auf.

»Hast du viel zu tun, Heinrich?« fragte sie.

»O nein, heute nicht«, sagte er.

»Wir wollten doch immer mal eine Kahnfahrt machen?«

»Ach ja!«

»Du hattest es mir versprochen.«

»Gewiß, kleine Frau«, sagte er (warum wollte er ihr denn durchaus die Hand streicheln, die sie hinten auf die Stuhllehne gelegt hatte).

»Hättest du jetzt Lust, Heinrich?«

Heinrich wollte aufspringen; aber es war doch viel hübscher, zu sitzen und zu ihr mit gewendetem Kopf emporzusehen. Man hatte ihr Gesicht dann so halb über sich und sah eigentlich von der ganzen Welt nichts anderes als das.

»Ja«, meinte Heinrich langsam, »ich muß mich erst noch fertigmachen; dann wollen wir nachher Hannchen abholen. Sie kommt gewiß auch gern mit.«

Frau Antonie nickte nachdenklich und leise enttäuscht: »Ja.«

»Vielleicht können wir mein altes Boot heute bekommen. Es war ein sehr gutes englisches Boot, aber es ließ sich für mich nicht durchführen – wegen der Zeit. Ich hab's dann an den Fischer Horitz auf dem Kietz verkauft für zehn Taler. Es war fast neu.«

»Abgemacht«, sagte Frau Antonie, »dann spute dich und komm, denn wir wollen nicht so spät zurück sein.«

Nein, sie sagte das keineswegs besonders bedeutungsvoll oder entgegenkommend, eher wie ein Kind zu seinem Spielkameraden sagt, er soll ihn auf einem Streifzug begleiten.

Und auch Heinrich empfand das im Augenblick als nichts andres. All die Dumpfheit von vorher war von ihm abgefallen, die Nebelschleier gesunken, er fühlte sich frisch, fast lustig und so wunschlos, wie er das seit langem nicht gewesen war. In ein paar Minuten stand er schon unten vor dem Haus mit Frau Antonie.

Das erste Mal, daß er mit ihr allein war; und Frau Antonie ging so unbefangen, so selbstsicher und unbeugsam neben ihm, als ob sie schon seit Jahren jeden Nachmittag so zusammen durch die Straßen marschiert wären.

Draußen mochte es heiß sein, aber hier unter den breiten schattigen Laubdächern am Kanal merkte man nicht viel davon. Man sah eigentlich kaum etwas von den Häusern drüben; sie waren jetzt fast ganz von den grünen Laubwänden verdeckt, nur über die Wipfel ragten die grauen Figuren, die auf den Dächern standen, herüber. Jede hielt etwas: die Sichel, die Becher, die Flöte, Leier, Keule, Löwenfell, irgendwelche Embleme, ohne die sie mit Ausnahme dessen, was sie als Geschlechtswesen voneinander trennte – Herren und Damen –, alle völlig gleich gewesen wären; die jene aber so darüber hinweghalfen und sie zu irgendwelchen mythologisch bedeutsamen Persönlichkeiten stempelten, die nicht zu kennen man sich schämen mußte.

Im Wasser des Kanals aber spiegelten sich nicht die Bäume, sondern da glitten die langen, gelben leichtzitternden Fassaden ganz und ungetrübt in die schwarze basaltene Tiefe.

Drüben von der Heiligen-Geist-Kirche hob die Turmuhr an zu schlagen, erst viermal – summ-bum, summ-bum – und dann, nachklingend, die Stunden weisend, drei volle, hellere, lange Glockenschläge. Und von fernen Türmen kamen andere Glockenklänge durch die sonnige Stille.

»Seltsam«, meinte Frau Antonie, »wie anders hier die Kirchenuhren schlagen als bei uns in Berlin.«

»Warum«, rief Heinrich lachend, »sie sind doch wohl überall gleich. Besonders wohlklingend sind sie gerade hier auch nicht.«

»Nein«, sagte Frau Antonie, »aber ich finde, hier in Potsdam – ach Gott, ich habe ja so viel Gelegenheit, das zu hören! –, da wird die Ruhe durch den Glockenschlag unterbrochen, und ganz langsam wandelt sie sich zurück, vergißt ihn noch eine lange Weile nicht. Bei uns in Berlin aber, da ebbte nur der Lärm einen Augenblick, um dann wieder den Glockenschlag ganz zu verschütten und zu verdecken. Ja, man hörte ihn nicht einmal bis zu Ende. Bei uns ist das wie so ein Fels, der einen Augenblick aus der Brandung aufsteigt und sofort wieder von Gischt und Sturzwellen überschüttet wird. Und hier kommt es mir immer vor wie ein Stein, der in einen stillen Teich fällt; wenn er auch schon längst versunken ist, ziehen immer noch die zitternden Kreise nach den Ufern hin.«

Heinrich ging nachdenklich neben Frau Antonie, das heißt, sie gingen nicht nahe beieinander. Zwischen ihnen hätte noch ein Dritter gehen können, und es ging ja auch ein Dritter zwischen ihnen. Das eine »Ach Gott« vorhin hatte Heinrich traurig gemacht.

»Oh«, rief er plötzlich, und das paßte zu seinem Gedankengang, »sieh mal da drüben an der ›grünen Brücke‹ – man nennt sie so, weil sie rot ist! –, sieh mal, da stehen immer noch bei Liepe im Fenster die beiden hohen Gläser mit denselben Himbeerbonbons und den gleichen Maitrankbonbons. Jeden Tag bin ich als Vorschüler – das ist nun bald zwanzig Jahre her – da stehengeblieben. Jeden Tag habe ich mir welche kaufen wollen, und nie habe ich mir welche kaufen dürfen. Ich wüßte mich kaum zu erinnern, daß ich mich je nach etwas so gesehnt habe wie nach diesen Bonbons. Ich habe sogar davon geträumt. Da waren sie aber doppelt so groß und doppelt so grün und doppelt so rot, und man bekam fünfundzwanzig Stück für'n Dreier statt sechs. Und heute würde ich fünfzig Taler dafür geben – gar nicht für die Bonbons selbst, sondern einfach für den Wunsch, sie zu besitzen.«

»Wollen wir uns welche kaufen, Heinrich?« meinte Frau Antonie und nahm den Pompadour hoch.

»Nein, nein – wozu? So werde ich immer die Vorstellung haben, daß sie etwas ganz Köstliches sind, und dann werde ich genau wissen, daß sie zu süß oder zu sauer sind. Hart wie Stein, klebrig und uralt. Nein, nein, am verliebtesten ist man doch eigentlich in Dinge, die man nicht besitzt.«

Heinrich fühlte, das letzte war ungeschickt. Er hätte sich die Zunge abbeißen mögen. Aber Frau Antonie schien den Doppelsinn nicht bemerkt zu haben; nur daß sie das Thema nicht weiterspann – und sie spielte doch sonst gern mit Gedanken, ließ den Faden nicht abreißen –, ja, nur das ließ vielleicht vermuten, daß sie irgendwie dieses Thema scheute.

Aber weder in ihren Mienen noch in ihrem Gang war davon etwas zu spüren. Ihr Gang – sie hatte ja nie in letzter Zeit so gehen können, wie sie wollte, und nun wieder junge Tritte neben sich zu fühlen, die vorwärts trieben, in die man sich einspielen konnte, die ihr Tempo aufnahmen – schon das allein machte sie frei, glücklich und unbekümmert.

Sie waren am Theater vorbei, bogen in die Französische Straße ein. Über dem Bassin hinten hingen die Bäume tief herunter, ordentlich müde vor Hitze. Eigentlich war das ja ein Umweg hier herüber; aber sie wollten doch Hannchen abholen. Oh, sie würde schon können. Da war es ja. Da oben war ja der Balkon mit den verliebten Putten.

»Willst du einen Augenblick warten?« meinte Heinrich. »Nur einen Moment, ich komme gleich zurück.«

»Weißt du, Heinrich«, sagte Frau Antonie, und sie bemühte sich, ganz unbefangen zu sein, »versprich mir eins: Nimm mir das nicht übel, was ich jetzt sage, trage es mir nicht nach, gib mir von vornherein einen Freibrief – sonst sage ich es nicht.«

»Aber was sollte ich dir wohl etwa übelnehmen können, kleines Frauchen?«

»Sieh mal, du wirst mit deiner Braut später noch öfters hinausfahren?«

»Ja, das hoffe ich.«

»Du bist auch schon oft mit ihr hinausgefahren?«

»Gewiß.«

»Würdest du heut einmal mit mir allein rudern?« Ganz klar, ganz fest sagte das Frau Antonie, ohne Zucken, ohne Nebensinn. »Denk mal, mit dir kann ich reden, wann ich will, und schweigen, wann ich will, aber dann muß ich sprechen, auch wenn ich nicht will. Wenn ich mit dir bin, bin ich so gut wie allein mit alldem da draußen; aber wenn Hannchen mit dabei ist, dann sind wir eben immer drei Menschen, die sich miteinander beschäftigen müssen. Nimmst du's mir übel? Ich will denken, du bist mein Ruderknecht, der Gondoliere, den ich für ein, zwei Stunden in meine Dienste stelle, den ich nicht einmal sehe und dessen gleichmäßige Ruderschläge mich so angenehm blinzelnd und schläfrig machen. Kannst du gut rudern?«

»Wer kann von sich sagen, daß er etwas gut kann? Aber ich habe viel auf dem Wasser herumgelegen, auf der Themse. In England versteht man das Rudern besser als bei uns.«

»Nimmst du's mir übel?«

»Gewiß nicht, kleine Frau.« – Es ist vielleicht das beste so, sagte sich Heinrich, ich sehe ja, daß ich nichts für sie bin. Vielleicht lerne ich daraus.

Schon waren sie ein Stück weitergegangen. Frau Antonie blieb einen Augenblick zögernd stehen und sah zu Boden, als ob sie in ihrem Entschluß wankend werden wollte. »Ach komm«, sagte sie dann.

»Ja«, meinte Heinrich, »nun müssen wir hier herüber, am besten durch die Lindenstraße; wir haben einen Umweg gemacht; wir gehen dann gleich ums Militärwaisenhaus.«

»Oh, das ist das Waisenhaus – wie nett, das wußte ich nicht; wie hübsch die Kuppel da oben mit der offenen Säulenhalle. Ist es innen auch so hübsch?« Und dabei lugte Frau Antonie in die Tür hinein, in die riesige, runde, schneeweiße Halle mit den Treppen und Umgängen, die mit ihren Eisengittern ganz hoch emporführten, einer über dem andern, bis oben in die steile, lichte Höhe hinauf.

Auf dem steinigen Hof marschierte und übte unter einem schnauzbärtigen Feldwebel eine Abteilung kleiner Kerlchen, blond, blauäugig, in Drillichkitteln, mit langen, weiten Hosen und schweren Nagelschuhen: Kinder, kleine Dreikäsehochs, Steppkes, die sich und ihren Drill sehr ernst nahmen und denen doch das Vergnügen dabei aus den hellen Augen leuchtete.

Frau Antonie kam nicht los davon.

»Das sind nun alles Waisenkinder?« fragte sie.

»Ja«, meinte Heinrich, »wohl meist.«

»Kann ich nicht hingehen und sagen: Herr Unteroffizier, sehen Sie mal den Kleinen dahinten, den kleinen Strohkopf mit der Stupsnase, er tritt schon zweimal mit dem falschen Fuß an und stört Ihnen nur die Front. Jetzt ist er wieder eine halbe Elle zurück. Wirklich, er nützt Ihnen gar nichts. Seien Sie so gut, geben Sie ihn mir mit. Bei mir kommt das nicht so drauf an, ob er mit dem rechten Fuß mal antritt. So etwas müßte man eigentlich haben, dann wäre manches anders.«

Das wollte sie nun wirklich nicht sagen – nein, das letzte nicht.

»Aber du hast doch schon einen großen Sohn«, rief Heinrich lachend, »man kann doch nicht immer alles auf einmal haben wollen. Du bist doch hier bei uns nicht auf der Kindergesellschaft, wo man die Papeterie und das gestickte Taschenbuch gewinnen kann.«

»Ach du«, entgegnete Frau Antonie wegwerfend, und jetzt lachte sie auch, »was habe ich denn schon von dir! Und kaum habe ich dich – kommt 'ne andere und schnappt dich mir weg. Und du läßt dich weder erziehen noch verziehen. Nein, du zählst nicht. An dir habe ich einen schlechten Kauf gemacht.«

»O sieh mal«, sagte Heinrich immer noch lachend – jetzt hatte auch er alle Befangenheit verloren, alle Benommenheit (vielleicht wurde ja noch alles gut), »da drüben haben immer ›Die Unmöglichen‹ getagt. Weißt du, Maltitz, ich, Schneider, Winterfeldt und eine ganze Bande noch.«

»Warum gehst du eigentlich nicht mehr hin?«

»Ich habe doch keine Zeit«, log Heinrich. »Aber nun bin ich doch wirklich neugierig, ob mein altes Boot noch da ist«, setzte er hinzu, ohne die Pause verdächtig lang werden zu lassen.

Aber Frau Antonie fühlte wohl, daß Heinrich von diesem Gespräch loskommen wollte. Und sie war gewiß nicht die, die ihn dabei festhielt. Sie wußte nur zu genau und mußte es ja täglich und stündlich für sich selbst in Anspruch nehmen, daß die Notlüge die einzige Möglichkeit ist, um den Verkehr von Mensch zu Mensch aufrechtzuerhalten.

Richtig – da lag ja das Boot; es war schmal und lang, aus braunem Holz, wie man es sonst hier nicht kannte, eben in England erbaut. Kein schwerer Uckermärker mit breiter Brust und kräftigen Fesseln, gut zum Ziehen war es, überhaupt kein Nutzding, sondern elegantes, rassiges, englisches Vollblut, hager, schlank, dünnbeinig, nervös. Das Boot lag halb im Schilf, halb auf dem Ufer. War leidlich gehalten. Nur ein bißchen Wasser mußte herausgeschöpft werden, aber das hatte sich vom Regen angesammelt. Und ein Schwanenpaar schien es sonst zu bewachen, denn es ging nur unwillig zur Seite, als man einsteigen wollte.

Natürlich könne er's haben, vor'n paar Jroschen, solange er wolle; aber er solle mit sein' Fräulein Braut nich so weit fahren, es könnte ein Jewitterchen geben.

Was in der Sprache des Fischers Horitz hieß: Es wird ein Gewitter geben.

Und damit schob der Fischer Horitz das Boot ab, patschte noch ein paar Schritte nach, daß es ganz aus dem Schilf herausglitt – dem Schilf, das es raschelnd streifte, knickte, niederdrückte und das sich doch gleich wieder aufrichtete, als ob nichts geschehen; ein sammetgrüner, klirrend und flirrend unruhiger Wald, ganz von Sonne durchglüht.

Heinrich hatte lange nicht gerudert, und wie leicht das wieder ging. Es war eine Freude für ihn, sich vor- und zurückzuwerfen und bei jedem Riemenzug zu fühlen, wie der lange, schmale Kiel sich vorwärts über das Wasser schob, mit einer Bewegung, die sonst keinem Ding oder Wesen eigentümlich ist – ganz eine Sache für sich.

Und schöner war es noch, daß jedesmal, wenn er aufsah, wenn er die Ruder mit gepreßten Handgelenken nach vorn stieß, daß sie schnurrend mit der Kante über das Wasser strichen, daß er da Frau Antonie mit einem langen Blick ansehen durfte, die ganz still mit großen Augen am Steuer träumte und dabei mit den beiden Stricken, unbewußt leise spielend, taktierte.

Aber bald spürte Heinrich es doch in den Armen, oben in den Schultern. Er war es nicht mehr gewohnt, hatte das Tempo zu schnell genommen. Und von nun an zog er langsamer, gleichmäßiger, verteilte die Kraft richtig, kam herein, merkte dann aber gar nicht mehr, daß er an den Rudern saß. Der Himmel war ganz blau, nur ein paar Wolken dahinten – weiße Watteballen von Wolken – schwammen still und reglos in all dem Blenden. Sie hatten etwas vom Rauch der Geschütze – wenn er so einen Augenblick ganz ruhig über dem Rohr in der Luft steht, rund, geballt und sich langsam aus sich selbst vergrößernd. Die Sonne brannte aufs Wasser wie auf ein Messingbecken. Und doch war das Wasser nicht blau, schien nicht den Himmel zu spiegeln, sondern hatte ein seltsam bleifarbiges, blankes, öliges Leuchten, anders als sonst.

Es war von Insekten überflogen, das Wasser, von schnurrenden Eintagsfliegen wie weißen Schneeflocken, dummen, ziellos taumelnden Wesen, die scheinbar gar nicht wußten, was sie mit ihrem Lebenstag in all der Sonne anfangen sollten. Sie setzten sich an den Rand des Bootes, ließen sich ein Stück mitführen und fielen dann ab ins Wasser, ertranken einfach mit gebreiteten Flügeln, wurden von springenden Fischen geschnappt.

»Seltsam«, sagte Heinrich, »vier Jahre leben sie da unten als Larve und einen Tag oben in der Luft, und wenn sie ins alte Element zurückwollen, kommen sie elend darin um. – Arme Burschen!«

Heinrich hatte im Augenblick Mitleid mit aller Kreatur.

»Ich glaube immer«, meinte Frau Antonie – und eigentlich wollte sie auf etwas anderes entgegnen –, »daß man eben nie in ein altes Leben zurückfinden kann, wenn man ein neues kennengelernt hat, daß man ertrinkt, wenn man es versucht.« Aber warum das jetzt sagen, das ging ja nur sie an. »Ja, ich glaube immer, ob solch Tier einen Tag lebt oder wie wir viele Jahre, es hat genau das gleiche vom Dasein wie wir. Es empfindet eben den einen Tag ebensolang wie wir fünfzig Jahre. Und ich meine, jedes Leben, auch das einfachste, weiß von sich.«

»Es wird soviel von der Welt wissen wie wir, kleine Frau« – Heinrich ließ das Boot treiben –, »verstehst du was von mathematischen Dingen, ahnst du, was eine Tangente ist?«

Frau Antonie lächelte zustimmend – ihr drittes Lächeln.

»Nun, irgendwoher kommt sie aus dem Endlosen, berührt den Kreis in einem Punkt und irrt wieder ins Endlose hinaus. Meinst du, daß eine Tangente viel über Wesen, Art und Gestalt des Kreises aussagen kann? Nun, ich denke immer, ebensoviel können wir über das Leben aussagen. Kommen aus dem Endlosen, berühren es in einem Punkt und irren wieder ins Endlose. Nur Dummköpfe geben vor, etwas zu wissen.«

Heinrich machte kaum hin und wieder einen Schlag, träumte lieber zu Frau Antonie hinüber, ließ das Boot an den Seerosenblättern entlangtreiben. Draußen glitt irgendeine Zille, hing ein Segel in der Flaute, ächzte ein Werderscher Marktkahn. Ganz hinten lagen die Türme von Potsdam, in Licht zerflossen und gelöst wie riesige Blütenstiele verschollener Wasserblumen, die aus dem Grund emporstiegen. Und hier drüben, hinter Schilfgürteln, hoben sich die Linien der Kiefern. Das Schilf war an den Rändern von Schwertlilien, Winden und Wasserfenchel durchflochten, durchsetzt mit Weiß und Gelb, hoch, krautig, hohlstenglig und trügerisch. Die jungen Bleßhühner duckten nieder, tauchten und flüchteten ins Röhricht. Ganze Scharen, immer jedes Gelege noch für sich. Und der Rohrspatz mit seinen großen, klugen Augen zwitscherte, schelpte und schimpfte in dieser Wildnis und hielt sich braun und flügelschlagend an einem schrägen, wippenden Halm fest.

»Oh, hör mal Heinrich, eine Nachtigall.«

Heinrich lachte. »Nein, du Stadtkind, das ist der Vogel Kerrikik. Paß auf: Kerrikik, kerrikik – der Rohrspatz.«

»Wir haben kein Glück mit Nachtigallen«, meinte Antonie fast traurig. »Meine Mutter war lange Zeit stolz darauf, daß sie so wohnte, daß sie immer ganz spät noch eine Nachtigall, ganz spät im Lindenbaum, singen hörte. Es war ja auch eine Nachtigall. Aber sie saß nicht im Lindenbaum, sondern in einem Bauer auf einem Balkon im vierten Stock. Und nach Mitternacht immer erst schoben die Leute sie heraus, wenn sie es vor Gebrüll nicht mehr aushalten konnten. Und ich habe noch nicht einmal eine Nachtigall im Bauer gehört.«

»Hier gibt's viel«, meinte Heinrich. »Der Alte Fritz hat sie hier eingeführt, Hunderte hat er aussetzen lassen. Er hatte wohl auch das gern, genau wie seine Windspiele. Ich glaube, Biche, Thisbe und Alkmene sind die einzigen Wesen, die der alte Herr da oben wirklich in der Welt geliebt hat.«

»Plus je connais l'homme, plus j'aime le chien.« Je mehr ich den Menschen kennenlerne, desto mehr liebe ich den Hund

Es war doch hübsch, wie sie so fuhren und plauderten. Sie vergaßen alles und alle: Eduard Schön und Hannchen Mühlensiefen. Wenn man Heinrich gefragt hätte, wann er Hochzeit mache, so wäre er wie aus einem Traum aufgefahren; und wenn man Antonie gefragt hätte, ob sie wüßte, wann ihr Mann heute zurückkäme, so hätte sie sich die Augen gerieben. Und doch blieben sie beide ganz sie selbst, verloren nichts, gewannen nur durch den andern.

Gewiß, Heinrich hing noch mit den Blicken an ihrer hellen, besonnten Gestalt, wie sie da so saß mit dem weiten Rock, der grünen Schute und ganz voll Leben – seltsam, entzückend, köstlich. Er betete sie an, er war glücklich und froh, sie zu sehen, aber es verwirrte ihn nicht, wie es das tausendmal getan hatte, wenn sie nur ins Zimmer trat, wenn er nur ahnte, jetzt würde sie die Klinke herunterdrücken.

Langsam hatte sich der Himmel etwas bezogen, und die Sonne sah wie durch weißen Flor – nicht mehr goldgelb und glühend, sondern still und silbrig.

Heinrich fiel ein Vers ein. Von wem war er doch? Ach, das konnte nur Eichendorff sein.

»Von Lüften kaum gefächelt,
Im wolkenlosen Blau,
Die Sonne verschlafen lächelt,
Wie eine schöne Frau.«

Frau Antonie drohte ihm mit dem Finger. »Nicht, Heinrich, keine Verse. Das Land ist so entzückend unliterarisch. Ich finde, eine Landschaft ist nur so lange wirklich wundervoll, wie keine Sentimentalität mit ihr getrieben wird. Und dann, Heinrich: Wie reizend könnten sich Männer und Frauen miteinander unterhalten, wenn sie nicht immer dasselbe Gespräch führen würden.«

Heinrich lächelte still vor sich hin – er dachte an mancherlei Gedankengut und Erinnerungsfracht, die nur sein Eigentum waren.

»Nein«, sagte er, »ich glaube, das ist falsch. Wie reizend unterhalten sich Männer und Frauen miteinander, eben weil sie nur immer das gleiche Gespräch führen.«

Frau Antonie drohte wieder mit dem Finger – so etwas lag ihr ja eigentlich sehr, aber heute, nein, heute nicht.

»Maltitz«, sagte sie, »Mal-titz!«

Aber der Fischer Horitz hatte schon recht gehabt. Plötzlich war der Himmel stahlfarben, ganz bezogen. Vor fünf Minuten hatten sie noch hingesehen, da war er silbrig und hell gewesen, hesig, wie man sagt, und nun richtiger Gewitterhimmel, und dazu plötzlich, als ob Feuer vom Himmel fiele. Ganz still – kein Lufthauch. Die Vögel krochen ins Schilf, selbst die Rohrspatzen stellten ihren Streit ein und duckten sich.

Viel würde es ja nicht geben, man müßte sehen heranzukommen, ehe der Wind einsetzte oder der Regen lospeitschte – dann freilich konnte es böse werden.

Oh, da war ja solch kleiner Graben, ein fast geschlossener, halb schon verschlammter Kanal, und von da hatte man es auch nicht mehr weit zum alten Tornower Krug. Da konnten sie unterstehen.

Ein paar Tropfen fielen schon, einsam, schwer, klatschend, schlugen in den stählernen glatten Spiegel, daß er ängstlich zitterte wie ein Mutterherz. Und dann kam so ein leises Mückensummen feiner Tröpfchen hinterher; man merkte gar nichts von ihnen, spürte sie kaum, aber man hörte sie summen, ganz hell, ganz zart, ganz hoch, sah, wie sie die Wasserfläche rauhten gleich einem Wolltuch – keinem groben Bauernloden, nein, einem feinen seidigen Wolltuch vergleichbar, das doch seine Rauheit nicht verbergen kann.

»So, nun rechts ..., links ..., wieder etwas rechts, da ist ja die Mündung. Jetzt haben wir's geschafft. Ja, wer das wissen konnte!«

Das Wässerchen zog sich schmal und fast ganz verwachsen ins Land hinein, so daß Heinrich den Gegendruck in den Schultern spürte. Es war ganz mit Schilf umrandet, mit Seerosen fast bedeckt, mit Hopfen verrankt, der sich um Erlen mit tausend Fäden gesponnen hatte. Riesige Pestwurzblätter und große Ampferblätter, breit wie ein Kris, wie ein javanischer Doppeldolch, mischten sich mit den hohen Dolden, die auf den Wiesen standen. Und drüben blinkten Kirschbäume ganz rot in der Last der Früchte.

»Merkwürdig«, meinte Heinrich, »das hat hier so etwas Englisches, süßlich, zahm, bigott, von prüder Gouvernantenliebenswürdigkeit. Es kann auch ebensogut bei Richmond sein.«

»Ja.« Frau Antonie lächelte, und in Heinrich zuckte es, sie zu küssen. (Nein, so gefeit war er doch noch nicht.) »Ja, jetzt weiß ich es, ich kam nicht darauf, es sieht aus wie ein Farbenkupfer von Moorland, unwahrscheinlich, arrangiert, nett-bunt, Gewitterhimmel dazu, mausgrau und schwarz, und dann unser Boot da mittendrin. Wie ein Moorland. Ich müßte nur einen Rechen haben, mit Kornähren umwunden.«

»Ja, aber nun müssen wir aussteigen. Wir müssen ein Stückchen die Landstraße hinauf bis zum Wirtshaus. Das hat einen reizenden alten Garten, und da warten wir's ab, bis es vorüber ist. Viel gibt's ja nicht.« Es knurrte in der Ferne. »Und da«, rief Heinrich, »sieh mal, dort blüht schon der Holunder. Von allen Blumengerüchen habe ich ihn am liebsten. Wenn Tannen richtige Blüten hätten, müßten sie so duften. Er hat die Herbheit und keusche Härte von etwas ganz Starrem, Innigem und die süße Sprödigkeit einer Siebzehnjährigen. Und doch macht er mich immer fast traurig – der Holunder, denn er ist so der letzte Nachzügler. Mit ihm fängt es schon wieder an, sachte bergab zu gleiten draußen. Ich hätte gar nicht gedacht, daß wir jetzt schon soweit sind.«

Und Frau Antonie lächelte ihn an, Heinrich Schön an; sie ging dicht neben ihm, und sie war doch ganz fern von ihm, sie war selbst stolz darauf, wie sie sich hielt. Sie dachte daran, daß sie eigentlich jünger war als er und er dabei doch viel, viel jünger als sie. Und das gab ihr eine gewisse Überlegenheit, eine Befriedigung, ein leichtes Triumphgefühl. O nein, sie konnte sich schon auf sich selbst verlassen. Sie war schon Herrin ihrer selbst, stärker als ihr Schicksal.

Ach Gott, was wissen wir denn von dem da oben – und wie der die Dinge lenkt. Ich habe schon Menschen durchkommen sehen, die aufgegeben waren, und andere sterben sehen, als der Arzt das Wort aussprach, daß sie nun außer Gefahr sind. Vielleicht ist alles Zufall. Vielleicht ist nichts Zufall.

Ein kleiner Wind setzte ein. Nicht so ein Sturm vor dem Gewitter, der Staubwolken vor sich herpeitscht, der die Bäume kämmt, Blätter abreißt und sie die Straße hinuntertanzen läßt oder über das Feld hinaustreibt oder zu dem blauschwarzen Himmel emporjagt, der, wie eine Schwadron Kürassiere, das Korn auf den Feldern niederreitet – nein, gar nicht solch ein Wind war es. Nur eine ganz kleine Regung der Luft, nicht zusammenhängend, hie und da auftauchend in der bleiernen Schwere und in leisen kleinen Wirbeln hinziehend, den Staub vorsichtig aufnehmend von der Straße, daß er sich drehte und in kleinen Wirbeln wie neckisch und koboldartig dahintanzte. Jetzt hier, dann drüben, scheinbar an drei Stellen zugleich.

»Oh, sieh mal«, sagte Heinrich, »bei uns gibt es da einen seltsamen Aberglauben. Hier sagt man, das sind die Seelen der Bräute, die auf ihrer Hochzeit nicht getanzt haben und die nun darin ewig tanzen müssen, in diesen kleinen Staubwirbeln.«

Es gab nichts in der Welt, was Heinrich in diesem Augenblick nicht hätte tun oder sagen dürfen. Er hätte sich wie ein Rasender gebärden können, er hätte sich die Kleider vom Leibe reißen können, er hätte vor Frau Antonie niederfallen können, alles hätte er tun dürfen – aber nicht diese paar Worte sagen, die ihm gerade so einfielen als eine kleine melancholische Reminiszenz aus seiner Kinderzeit, eher nebensächlich als bedeutsam.

Man sagt, daß durch einen abrollenden Stein eine Lawine entsteht. Aber so ist das nicht; sondern – ohne daß man irgendeinen Grund dafür angeben kann – vielleicht ist es nur ein Schall oder ein Windhauch oder ein plötzlicher Sonnenstrahl –, hebt sich plötzlich die ganze Schneedecke, und die Riesenbreite eines Hanges gleitet zu Tal, alles mitreißend im weißen Strudel. Sie bricht Wälder nieder und hinterläßt Einöden und Tod.

Oder habt ihr einmal ein Gefährt in voller Fahrt umschlagen sehen? Vielleicht war es gar kein Stein, jedenfalls hat man ihn nicht vorher bemerkt. Sicher, man war meterbreit von der Böschung entfernt gewesen, und plötzlich, ehe man noch die Menschen hört – das ist ein ganz hoher schwebender Ton, wie die Oberstimme einer Sirene –, ein dumpfes Krachen, Klirren, eine ganze Orgie nicht zu deutender und zu beschreibender Laute. Und dann sieht man Pferdeschenkel, die sich spannen und zittern, einen wirren Klumpen von Dingen, Scherben und Gliedern in einer unheimlichen, durch nichts getrübten Stille.

Nein, Heinrich hätte das nicht sagen dürfen.

Frau Antonie sah ihn an, von ganz unten herauf; sie stand an einem kleinen Kirschbaum, der voll von Früchten war.

»Die Seelen der Bräute, die auf ihrer Hochzeit nicht getanzt ...«

»Aber was ist denn, Toni?«

Und dann kamen die Tränen und das Schluchzen, Tränen, als ob sie zerfloß, und ein Schluchzen, das sie warf, so daß sie sich kaum am Baum festhalten konnte. Sie war ganz von sich, hatte alle Macht über sich verloren, die sie durch Monate bewahrt hatte.

Heinrich war neben ihr, und dann hielt er sie im Arm. Es sah aus, als ob sie miteinander rangen, so taumelten sie.

»Oh, nicht weinen, my sweet, my dearest, my beloved child« (warum sprach er nur englisch mit einem Male!) »nicht weinen, du mein geliebtes Herz, du. Ich habe dich ja so wahnsinnig lieb, so über alles Maß. Ich bin ja seit Wochen und Monaten an der Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann. Oh, du – nicht weinen, mein einziges Leben, du!«

Aber Frau Antonie antwortete nicht. Sie schluchzte, schluchzte ... Und die Tränen strömten ihr. Und da suchte Heinrich ihre Lippen: sie fraßen sich fast ineinander. Sie stürzten zusammen wie zwei Flammen, schmiegten sich – sie waren am Wegrand neben dem Baum hingesunken – zitternd aneinander und küßten sich besinnungslos auf Mund, Augen, Stirn, Hals, Nacken. Das schlug zusammen wie Wellen; es quoll über. Als Heinrich sich emporrichten wollte, hing sie an seinem Nacken und preßte ihn wieder zu sich herab.

»Ich habe mich gewehrt, gesträubt, Tag und Nacht. Es ist stärker. Oh, du mein großer Junge, du mein geliebtes Kind, du. Du, erzähl mir von deiner Mutter, deiner Jugend. Wo warst du, was hast du bisher getan, wie konntest du so lange ohne mich sein? Ich möchte alles von dir wissen, jede Minute deines Lebens, alle Stunden, die du ohne mich warst, alle Menschen, die dich gern hatten, ich möchte ganz du sein, in allen deinen Gedanken leben; es soll nichts in dir sein, an dem ich nicht Anteil habe und von je gehabt habe. Ich bin ja so unersinnbar unglücklich und einsam. Es ist nicht wahr, daß wir an der Schlechtigkeit der Menschen zugrunde gehen; man erdrosselt uns mit Güte. Wie sagtest du: Die Bräute, die auf ihrer Hochzeit nicht getanzt haben.« Und wieder begann sie zu weinen. Und ihre Tränen mischten sich mit den schweren Regentropfen, die immer dichter niederschlugen, bis es in kurzen, böigen Striemen herabpeitschte.

Sie rissen sich vom Boden.

»Komm«, sagte Frau Antonie, »bleib hier unter den Bäumen. Wir müssen zum Krug. Ach du, Kind du, Liebling, wir wollen nicht wissen, was werden soll, wir wollen nur wissen, was ist. Ich habe ja noch nie jemand liebgehabt außer dir. Ich wußte ja gar nicht, was das heißt, sich nach jemand sehnen, eh ich zu dir ins Haus kam. Ach, es ist nicht zum Ausdenken. Was habe ich für Wochen und Monde hinter mir! Und immer lächeln, immer lächeln!«

Sie wollte schon wieder weinen.

»Laß, ich weine nicht mehr.«

Und sie weinte nicht mehr, sie lächelte sogar still vor sich hin. Ebenso wie oben der Himmel, der auch wieder seine letzten Tropfen gesandt hatte und die Sonne zwischen zwei abziehenden Wolkenballen hindurchblinzeln ließ, mit langen, halbhellen Strahlen, die in den Regentropfen ganz grell und bunt widerblitzten.

Sie kamen zum Wirtshaus. Es lag zwischen Bäumen mit einem kleinen Garten an der Dorfstraße. Der Wirt, der ihnen Milch brachte, hatte ein Gesicht wie ein Marktschreier, wie ein Schaubudenbesitzer. Die Hühner, die sich vor dem Regen unter eine Bank geflüchtet hatten, kamen wieder hervor, denn sie waren auf die Gäste zum Teil angewiesen und heischten Tribut.

Frau Antonie zeigte auf die Bank, an der noch die Regentropfen hingen in zierlicher Reihe, eine Sammlung von gelben, roten, grünen, blauen und weißen Edelsteinen, die ihr Feuer und ihr Farbenspiel änderten, je nachdem man vor- oder zurücktrat.

»Oh, sieh nur, diesen Juwelenladen. Ach Gott, warum ist die Welt so wunderbar und köstlich und das Leben so wahnsinnig traurig? Nein, nein, Heinrich, es ist ja nicht mehr traurig. Komm, Junge, wir können uns nicht lange aufhalten, wir müssen zurück. Was habe ich immer auf dich gewartet des Abends, wenn du kamst; wie hat mir immer das Herz geklopft, wenn ich dich draußen hörte!«

Heinrich hatte eigentlich bisher wenig gesprochen. Er hatte das Gefühl eines Mannes, der einen hohen und gefährlichen Berg erklommen hatte, beseligt, alles sich zu Füßen sieht und doch kaum einen Fuß zu setzen wagt und fast schon ahnt, welch grausiger Abstieg ihm bevorsteht.

Als sie wieder an jener Stelle vorüberkamen – sie hielten sich an den Händen, gingen im stillen Schritt, so wie es Heinrich damals geträumt hatte; vielleicht war es überhaupt dieser Weg gewesen, den er gesehen hatte. Richtig, er schien ja wie feucht und trocknete in unregelmäßigen Flecken ab ... Als sie an jener Stelle vorüberkamen – das Gras an der Wegböschung war niedergedrückt –, fielen sie sich wieder in die Arme und tranken Küsse in wilder Erregung, bis ihre Schläfen im Wahnsinn hämmerten und ihre Finger sich verkrampften. Nein, nein, das nicht. Er müßte der Stärkere sein. Bisher hatte er gar nicht an diesen alten Mann gedacht. Nein, das ging nicht.

»Wenn man uns nun unser Boot gestohlen hat?« sagte Heinrich, das heißt, es sagte es aus ihm.

»Oh, sieh mal«, meinte Frau Antonie, als sie schon im Boot war, »sieh doch mal das Käferchen, das den Sandhang da hochkriecht und immer wieder herunterfällt. Als ob man seinem eigenen Leben zuschaut. Ich komme mir bei euch in dem großen, einsamen Haus oft vor wie ein Käfer, der sich in einen Baum verflogen hat.«

Und dann glitten sie wieder über die knirschenden, halb gebogenen Seerosenblätter hin, von der Strömung getrieben ins freie Wasser hinaus, das ganz still lag und lichtblau. Der Himmel war von neuem klar – nur am Horizont hatte er eine helle Schärpe. Die Sonne stand wieder frei im Blau, war aber schon ziemlich weit unten; und der fast volle Mond hing drüben, weiß wie eine Feder, wie ein Schwanenflaum, der hochgewirbelt, in seiner schimmernden Höhe.

Frau Antonie hatte im letzten Augenblick sich ein paar Blumen abgerissen – Mohn, Skabiosen, Kornblumen – und hielt sie lässig träumend in der Hand. Heinrich zog still und gleichmäßig an den Rudern, und plötzlich sang er ganz leise ein Lied, das die Wulkow immer sang, ein altes Fischerlied mit vielen, fast wirren Strophen, deren Sinn kaum noch kenntlich war und die doch so wundervoll sich zu dem Ruderschlag fügten.

»Drei Petzen wohl vor dem Wind
Und ein Ruder hinter dem Wind ...«

Und langsam kam bei dem Gesang über beide so etwas wie Scham, und sie wagten sich kaum anzublicken.

O Gott, wenn jetzt das Boot umschlüge: Frau Antonie würde die Arme breiten, lautlos, und den Kopf im Nacken, mit geschlossenen Augen sich herabsinken lassen.

Aber das Boot lief so glatt, so still, ohne Schwanken, und dahinten sah man wieder den Schilfstreifen, Bäume, das Haus dazwischen, wo sie hin wollten.

Es war doch später geworden, als sie glaubten. Die Sonne war im Sinken, das Wasser war von hellster Bläue zur Nelkenfarbe übergegangen; das heißt, die Kielstreifen hinter dem Boot und die schwimmende Dünung von ein paar Schiffen da drüben waren ganz weiß geblieben, ganz licht, schwankend und streifig. Die Sonne aber schlug von ihrem hinabgleitenden, rotschwelenden Ball aus eine schmale, lange Feuerbrücke über die riesige Fläche; und vorn schwamm und gründelte das Schwanenpaar, das sich wohl als rechtmäßige Besitzer des Bootes fühlte und es schon zurückerwartete. Es sah prächtig aus, das Schwanenpaar, wie es jetzt die Feuerbrücke kreuzte, daß es ganz glühte wie aus der Esse gezogen, und wie es dann in die nelkenfarbenen Flächen hinüberglitt, um dort plötzlich weißer als Elfenbein zu werden.

»Man lernt wirklich die Schwäne hier lieben«, meinte Frau Antonie. »Ich mochte sie sonst nicht; sie sind so leer und gespreizt. Aber hier, wo es so viele gibt, sieht man erst, was sie doch für vornehme und königliche Vögel sind.«

»Ja«, meinte Heinrich, warum fiel ihm das nur gerade ein, es stand in seiner Potsdamer Chronik: »Ja, es gibt seit Friedrich Wilhelm dem Ersten viel Schwäne hier; es sind zahme Schwäne, aber trotzdem« (das war ihm wörtlich geblieben) »man schon viele tote Schwanen gefunden hat, hat doch niemand einen sterbenden singen hören.«

Frau Antonie schwieg.

Sie stiegen aus. Der Fischer Horitz kam.

»Na, was häw ich secht mit den Wetter?«

Und im Augenblick, wie sie wieder Potsdamer Pflaster unter den Füßen hatten, war alles anders. Die Schönheit und das Glück waren von ihnen gewichen, und es blieb eigentlich nur Trauer, Scham und Ratlosigkeit.

In Heinrich begann wieder jenes Wühlen und Hämmern und Pochen und Grübeln, und er ging sehr ernst und still neben Frau Antonie her.

Die war rot, und in ihr zitterte die Süße und die Erregung noch nach. Sie hatte die Empfindung, als müsse sie in alle Welt hinausschreien: Das soll mein Liebster sein. Das ist mein Liebster. Und wenn es auch Wahnsinn, unmöglich – er bleibt es doch. Ich bin nicht für Massenschicksale – ich nicht, Antonie Arnstein –, ich gehe meine Wege. Als sie aber das Haus sah, war sie doch tief beklommen. Die Gitter, die sich an der Brüstung herunterschwangen, streckten ordentlich Krallen nach ihr aus. Die schwere Tür sperrte ihren Rachen auf, als ob sie sich, einmal schließend, nie wieder öffnen würde. Die Erinnerung an ihre Eltern und deren Hilflosigkeit kam ihr, an ihren Mann, der ja gut war, wirklich gut. All der alte, reiche Prunk, die Wohlanständigkeit dieses Hauses seit Generationen, noch vom Porzellangroßvater her, ja, von noch früher, kamen ihr zum Bewußtsein; die eisernen Gesetze, in denen hier das Leben ablief und in denen es kein Rechts und kein Links gab, nur ein Geradeaus. Und sie war ganz mutlos: ein Vogel, der im Bauer flattert und den Kopf sich an den Stäben wundquetscht.

»Hallo«, rief Eduard Schön, ganz unbefangen, munter, ohne jeden Nebenklang. (Er war schon wieder zurück, er wollte dann morgen noch einmal fahren.) »Hallo, ihr Bummelanten, wo habt ihr denn gesteckt?«

»Wir waren auf dem Wasser«, meinte Frau Antonie einfach. Nichts konnte einfacher gesagt werden; sie sagte es mit der ganzen natürlichen Verstellungskunst der Frau, deren eine Frau sich vielleicht schämen kann, aber die angeboren ist, eine Waffe, die sich im Moment von selbst herauskehrt, wie die Krallen der jungen Katze vorschnellen oder so wie ein Augenlid bei Gefahr sich schließt.

»So«, meinte Eduard Schön langgezogen. (Ach, das war ja unmöglich: nein – wegwischen.) »Habt ihr euch gut unterhalten? In den Regen seid ihr doch nicht hineingekommen? War Hannchen mit?«

»Sie konnte nicht – sie will ein andermal mitkommen«, sagte Frau Antonie im gleichen Ton wie vorher. Innerlich kämpfte Frau Antonie damit, ihm alles ins Gesicht zu schreien, aber sie brachte es nicht fertig. Oh, um sich hätte sie keine Bedenken gehabt, und wenn er sie aus dem Hause gejagt hätte, so wie sie ging und stand, und wenn sie kein Dach mehr überm Kopf hätte haben sollen. Aber der alte Mann!

»Na«, sagte Eduard Schön und strich seiner Frau mit hageren Fingern die Wangen; es war schon ziemlich dunkel im Hauseingang, und er konnte ihr Gesicht kaum sehen, »nu hast du doch mal deine Wasserfahrt gehabt. Kleine Kinder müssen ihren Willen bekommen, sonst weinen sie. – Aber nu hör du mal, mein Sohn. Ich wäre ja heute abend gar nicht wieder hereingekommen, da ist aber noch eine Unsumme nicht gemacht mit der Kollektion für Degebrot. Das müssen wir mal besprechen. Das geht nicht so. Da ist zum Beispiel die Assandrine-Serie ganz unzureichend. Wollen wir ins Kontor gehen?«

»Ach nein«, sagte Heinrich, »komm, Vater, gehen wir hier ins blaue Zimmer solange.«

Heinrich blickte sich um. Frau Antonie war nach oben gegangen. Im blauen Zimmer war es recht dämmrig, so daß man wirklich nicht mehr sehr viel sehen konnte. Durch die Bäume draußen kroch zwar noch etwas Licht herein und machte all die Vergoldung an Decke, Tür und Wänden rot erglühen. Aber es war doch recht dämmrig. Man konnte kaum sein Gegenüber genau erkennen. Es hätte einen Maler gereizt – diese Stimmung; für Seidenproben war sie nicht sehr geeignet. Eduard Schön meinte, man soll vielleicht eine Lampe bringen. »Nein«, entgegnete Heinrich, »laß nur, wir können ja auch so sprechen. Du warst heute drüben – wie fandest du es?«

Eduard Schön schüttelte sich – er hatte sein strengstes Kaltnadelgesicht.

»Ich wollte es dir nicht sagen. Ich bin seit langem der gleichen Meinung. Ich bin dagegen, daß man Degebrot 'rüberschickt.«

»Ja«, meinte Eduard Schön – eigentlich liebte er solche Sprache, liebte die Menschen von wenigen Worten; das war ja er selbst. »Wen in aller Welt kann man denn herüber nach Rio schicken?«

»Gar keinen.«

»Unmöglich – das weißt du ja so gut wie ich.«

»Geschickt soll niemand werden – ich gehe.«

»Heinrich, bist du wahnsinnig geworden?«

Eduard Schön war aufgesprungen, riß den kleinen Sessel herum und hielt sich an der Lehne.

»Deine Frau hat vorhin nicht ganz die Wahrheit gesprochen, Vater.«

Heinrich konnte die Züge seines Vaters nicht recht erkennen, trotzdem sie sich gegenüberstanden. Aber er sah, wie das Gesicht weiß wurde, fahl, als läge es plötzlich im Mondschein.

»Sie sagte, daß Hannchen heute nicht mitkommen konnte – das ist richtig.«

»So«, meinte Eduard Schön, mit einem Klang, der schon seine ganze Wesenheit als Vokal verloren hatte.

»Aber sie sagte, wenn ich mich recht erinnere, daß sie ein andermal mitkommen wird. Das wird sie nicht tun! Ich fahre noch heute abend nach Berlin und bleibe vorerst da. Ich bitte dich, ordne das andere, denn ich könnte nicht schreiben, ich könnte nicht reden und parlamentieren. Ich kann nicht – ich kann nicht!«

Das letzte schrie Heinrich heraus. Er hatte die Führung über sich selbst verloren.

»Aber Heinrich«, begann Eduard Schön, er wollte es nicht glauben; er wollte sich einreden, er höre schlecht, verstehe falsch.

»Nein, Vater, rede mir nicht zu. Das ist ja nicht von gestern auf heute. Diese Quälerei geht ja schon Monate.« (Der arme, alte Mann! Er mußte lügen, Wahrheit ist oft zu schwer. Heinrich hielt die Szene nicht mehr aus.) »Du weißt, ich habe da so eine Affäre. Weißt du es nicht? Nein, ich dachte, du ahntest es. Nicht das hier, sondern ... Na, das ist ja gleich. Man spricht ja hier davon. Du hast nichts gehört? Also nicht! Ja und dann: Wir passen auch nicht zusammen, Hannchen und ich. Es ist ja schon bis jetzt eine einzige Qual gewesen. (Lügen! Lügen!) Besser vorher als nachher. Laß dreiviertel Jahr, laß ein Jahr darüber hingehen, dann ist schon alles anders. Aber dringe heute nicht etwa in mich, tu es nicht, ich bin am Rand meiner Kräfte, ich breche zusammen. Ich fahre jetzt nach Berlin. Ich werde da eher zur Ruhe kommen. Komm morgen herein, dann besprechen wir alles. Adieu, empfiehl mich deiner Frau!«

»Gut«, sagte Eduard Schön nachsichtig, so wie man zu jemandem spricht, dem man der Form wegen nachgibt, und dachte dabei: Laß ihn das ruhig beschlafen; morgen wird er schon vernünftiger sein und anders über die Sache denken. »Gut, fahre nach Berlin, wenn du willst. Du kannst dir ja im Geschäft ansehen, was ich herausgelegt habe, und dann sprechen wir morgen weiter. Aber ich möchte eigentlich nur wissen, wie du dir das ausmalst.« Eduard Schön hatte seine alte Farbe und seine alte eiserne Ruhe wiederbekommen. Gottlob, daß die Sache nur unangenehm war, aber ihn eigentlich nicht näher betraf. Nein, so etwas kam tausendmal vor, war peinlich, sehr peinlich, aber in drei Monaten vergessen. »Und was soll denn nun aus den ganzen Möbeln werden? Es ist doch alles bestellt. Das kostet dich« (sie hatten getrenntes Vermögen) »doch Tausende.«

»Das kann man sich ja morgen überlegen, Vater.« Heinrich hatte schon die Klinke in der Hand. »Gute Nacht, ich versäume sonst den Zug.«

Draußen stand Frau Antonie. Sie kam eben herunter, hatte sich wohl umgezogen. Es war fast dunkel im Hausgang. Und doch fühlte Heinrich, wie ihre Augen auf ihm brannten, mit einer tief angstvollen Frage auf ihrem Grunde.

»Wo willst du noch hin, Heinrich?«

»Ich muß noch nach Berlin fahren, kleine Frau.« Er sprach ganz wie sonst, ohne Erregung, selbst ohne Rührung. »Vater bringt da keine guten Nachrichten mit, und da muß ich mal sehen, was los ist.«

»Fahr man, mein Junge«, rief Eduard Schön. Er war doch stolz auf ihn. Wie ruhig er das sagte. Nur nichts merken lassen! Seine Sorte! – »Dann komm ich morgen hin.«

»Adieu, Antonie.«

»Nun«, sagte Eduard Schön lachend – Heinrich hörte es noch in der Tür –, »was meinst du, mein Liebling, kann man von der Petzel zum Abend bekommen? Ich bin hungrig wie ein Wolf!«


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