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Immerhin – manches war ein wenig anders geworden. Manches hatte sich inzwischen doch geändert – in der Zeit, da der Alte Fritz so geheimnisvoll abgereist war und da jetzt dieses unheimliche eiserne Tier zum ersten Mal zu schreien anhub. Der schöne, hohe, wunderschlanke Turm der Nikolaikirche zum Beispiel, geradeüber vom Rathaus, war mitsamt der Kirche abgebrannt und in sich zusammengebrochen, als ob er nur der Turm eines Kartenhauses gewesen wäre, der in sich zusammenstürzt, wenn eins von den Kindern am Tisch wackelt. Wie eine riesige Feuerlilie war er aufgeflammt, die schnell und grausig schön verblüht. Und gerade wie die andern Kinder es sich nicht verdrießen lassen – nachdem sie das eine grausam geknufft und gepufft –, ihr Kartenhaus von neuem aufzurichten, so hatten sie es auch hier wieder getan. Nur ging das nicht gar so schnell. Und sie wollten es auch nicht so wiederherstellen, wie das früher war – nein, ganz anders. Meister Schinkel hatte zuerst einen griechischen Tempel bauen wollen, aber das wäre doch gar zu heidnisch gewesen, und man hätte wirklich glauben können, daß man da all das Götterpack noch verehrte, das schon sowieso hier von alters her überall (wahrlich nackt und frech genug für eine gute christliche Stadt) sich vagabundierend umhertrieb – auf Gesimsen, Treppen und Balustraden, in Fensternischen und auf Dächern, bei Springbrunnen und in Parkwinkeln, in grauem Stein, in Stuck und in blendender Marmorweiße. Ja, und deshalb – um diesem Vorwurf zu entgehen wollte man jetzt, gerade jetzt, über den Heidentempel eine Kuppel wölben, und man hatte den ganzen Bau eingesponnen in ein Spinnennetz von Gerüsten, Balken und Brettern, aus dem unermüdlich das Hämmern der Zimmerleute und das Quietschen der Winden in den späten, blauen Apriltag klang.

Manches noch war anders geworden – seitdem. Der goldene Atlas vom Rathaus war eines Tages – müde, die Weltkugel weiter zu tragen –, gerade als ob er nichts Gutes ahnte, samt seiner Last, kurz vor der Jahrhundertwende mit einem einzigen Satz von seiner Höhe herabgesprungen. Aber das hatte ihm nichts genützt: er wurde wieder heraufgesetzt und mußte die Weltkugel weiter tragen – wie vorher. Kam, was da mag!

Und das tat es auch – heiliger Herrgott! Wenige Jahre danach, an einem grauen Tage des November, rückten – bewacht von kleinen Trupps der französischen Kittelgarde – ganze Abteilungen von kriegsgefangenen Preußen, recht anders als sie ausgezogen, und ohne Gewehr und ohne Degen und ohne klingendes Spiel, wieder zum Brandenburger Tor ein. Verstaubt und hinkend durchzogen sie in stillem, müdem Schritt, mit Armschlingen und verbundenen Köpfen die Stadt, um sie ebenso still und müde am anderen Ende wieder zu verlassen und zwischen gelben, herabstäubenden Blättern die Saarmunder Chaussee entlangzutrotten, nach dem Friedhof hin, auf dem sie lagern sollten. Und ganz Potsdam war auf den Beinen und lief nebenher und suchte reihauf, reihab nach Angehörigen, Anverwandten und Bekannten. All die vielen Unteroffiziersfrauen, Soldatenliebsten und Soldatenkinder, Eltern und Schwestern ... Und sie drängten sich immer wieder hinzu, wenn auch die Schnauzbärte taten, als ob sie sie mit dem Kolben wegstoßen wollten, um wenigstens die kriegerische Umgangsform zu wahren. Und so langsam trat der und jener aus der Reihe. Und die Kinder, Frauen und Freunde, die Soldatenwirte zerrten andere heraus. Die bröckelten seitwärts ab; die blieben etwas zurück, als ob sie ermüdet und nicht weiterkönnten. Und als der Abend schnell – wie eben solch ein Novemberabend kommt – hereinbrach, da verschwanden sie einer nach dem anderen im Gewühl. Und der Rest – bis auf gar wenige –, der nahm die erste Gelegenheit wahr, um über das niedere, bemooste und bewachsene Mäuerchen des Friedhofes zu »ranzionieren«. Und mancher schlief in dieser Nacht seit Monaten wieder das erste Mal in einem richtigen Bett.

Der General Bourcier aber forderte zweimal mit gezücktem Degen die Potsdamer auf, die Gefangenen – nach Art von zugelaufenen Hunden – auf dem Rathaus abzuliefern. Doch da er zugleich den Spitzen der Einwohnerschaft bedeutet hatte, er wäre zwar hin und wieder einmal durch den traurigen Beruf des Kriegsmannes gezwungen, Befehle gegen die Menschlichkeit zu erlassen, aber würde sie als Sohn nicht nur der ruhmreichsten, sondern auch der zivilisiertesten Nation dieses Erdballs nie ausführen lassen – ja, ihm als dem Schüler der großen Enzyklopädisten widerstrebe das noch ganz besonders –, so dachte auch niemand daran, dem Ansinnen nachzukommen.

Und – im Vertrauen – keine Seele war froher über diese Tatsache als Bourcier selbst. Denn erstens putzte das wunderschön sein gutes, menschliches Herz, und zweitens: Was hätte er denn um Himmels willen mit den Gefangenen noch anfangen sollen? Eine feindliche Armee, in die sie zurückkehren konnten, gab es kaum mehr. Und sonst kosteten sie doch nur Geld, schönes, blankes Geld, das man wirklich und wahrhaftig besser für die eigenen Mannschaften verwenden konnte. Und ihrethalben hätte man aus dem Land auch nicht mehr auspressen können, als man schon so tat. Also warum in aller Welt sollte man nicht diese paar tausend hungrigen Mäuler für sich selbst aufkommen lassen.

Vivant Denon hingegen – der welterobernde Napoleon der bildenden Künste –, dessen guter Geschmack außerhalb alles Zweifels war, er hatte bald danach fünfzig schöne, große Kisten richtig säuberlich verschließen lassen, nachdem sie bis zum Bersten mit all den Sachen – Bildern, Möbeln, Porzellanen, Bronzen, Skulpturen – gefüllt worden waren, die er, Vivant Denon, aus Potsdam für würdig befunden hatte, in Paris die Museen und Schlösser zu zieren. Und Vivant Denon hatte diese Fracht unter sicherer Bedeckung gen Westen geschickt. General Vandamme jedoch meinte außerdem – und das war seine private Anschauung –, wenn er einen so langen Spaziergang gemacht hätte, so könnte er sich auch ein paar Andenken mitnehmen. Jeder, der eine Reise machte, brächte sich gern was mit, damit er zu Hause desto lebhafter an die Eindrücke der Fremde sich erinnern könnte. Und da das Gedächtnis seine schwache Seite war, so brauchte er etwas viel zu seiner Unterstützung. Und Vandammes Offiziere hatten ein noch viel schlechteres Erinnerungsvermögen; sie plünderten nicht gerade, aber sie sammelten Kuriositäten mit der Pistole in der einen und der Reitpeitsche in der andern Hand.

Ja, aber wieder nach einigen Jahren, dann klappten auf dem Bornstedter Feld und auf dem Paradeplatz und vor dem Jägertor die preußischen Griffe, und der Staub flog wie Goldschleier um die schwenkenden und vorlaufenden Reihen. Und die französische Besatzung wunderte sich und freute sich, wie fleißig eigentlich ihr Bundesgenosse exerzierte. Aber wenn man genauer hingesehen hätte, so hätte man bemerken können, daß schon nach ein paar Monaten immer wieder ein anderer dort stand und daß sich die Gesichter in den Kompanien und Bataillonen merkwürdig schnell änderten. Immer wieder ein anderer stand da, der genauso das Gewehr hob und bajonettierte, wie der vor ihm.

Dann sollten jedoch urplötzlich – man wußte nicht recht, weshalb – die französischen Militärvorräte ganz schnell nach Brandenburg und von dort über die Elbe gebracht werden. Und sie packten auch die großen Ballen schönen blauen und roten Franzosentuches auf einen alten Spreekahn und schleppten und stießen das plumpe Ungeheuer den Fahrländer Kanal herunter. Nicht gar viele Mann waren dabei. Denn die nicht unter den weißen Bettüchern Rußlands sich der schwer verdienten Ruhe hingaben, waren eben jetzt anderwärts weit nötiger als gerade hier. Und die paar Franzosen riefen gar ängstlich mit ihren wenigen harten deutschen Brocken die Bauern und alle, deren sie gerade habhaft werden konnten, an, ob sie nicht schon von den Kosaken etwas gespürt hätten. »Ja«, sagten die, »natürlich. Hier kommen jetzt alle Tage welche vorbei. Gestern waren schon 'ne ganze Menge da, und heute kommen noch viel mehr.« Und da gingen die Franzosen mit sich zu Rate und wurden sich darüber einig, daß solche Zille doch kein rechtes kanonenschweres Kriegsschiff sei, das man mit Vorteil verteidigen könnte, und außerdem wäre der Landweg für sie kürzer, abwechslungsreicher und bei den unsicheren Zeiten auch sicherer als der langweilige Wasserweg. Und sie stiegen kurz entschlossen vom Schiff und wählten deshalb den angenehmeren Landweg. In Potsdam trugen aber noch jahrzehntelang, als schon niemand mehr an Bourcier und seine Kittelgarde dachte, die kleinen Jungen und Mädchen ganz wunderhübsche blaue und rote Röckchen aus Franzosentuch.

Eine beträchtliche Zahl von Kisten und Kasten aber kam fürder eines schönen Tages wieder anspaziert, und man stellte die silberbeschlagenen Möbel des Alten Fritz wieder in die blauen Räume, und man hing die Watteaus und Lancrets und Détroits wieder an die alten Nägel, und man stellte auf die verwaisten Postamente die Uhren und Bronzen und Marmorfiguren zurück – sofern sie sich in Paris noch vorgefunden hatten.

Ach ja, manches war anders geworden, aber doch nicht gar soviel.

Unten am Heiligen See, etwas abseits, hatte sich – ja, das wollen wir noch sagen – ein König von Preußen ein Schlößchen bauen lassen, ganz am Rand des Wassers ganz aus Marmor und auf einem Unterbau von Marmor. Und der, der gerade eben König war, hatte sich ebenfalls, als ihm als Kronprinz die Zeit zu lang wurde, nunmehr weit drüben, etwas abseits, ein zierliches Landhäuschen errichten lassen, das einen letzten, jahrtausendealten Traum von offenen Säulenhallen und von buntem Freskenschmelz aus den Eklogen und Idyllen des Vergil und Siculus hier hoch oben aufgefangen hatte. Ein wenig steifledern und nüchtern zwar und auch für Menschen bestimmt, die ganz und gar nichts von der heiter beschaulichen Lebenslust besaßen, die diese Umgebung fordert. Immerhin – es war doch köstlich, licht und freundlich und inmitten von Büschen von Rosen und Flieder und von Maiglöckchen und von geschnörkelten Teppichbeeten. Und später, im Herbst, war es ganz umwallt und eingezäunt von Mauern von Astern, Georginen, Amarante und Verbenen, die alle miteinander einen kurzen Monat lang sich redlich mühten, das Nebelland vergessen zu machen.

Ja, und dann die Bäume und Sträucher um Sanssouci, um den Weinberg – wie der Alte sagte –, die waren hoch und dicht geworden, und sie ließen nicht mehr die Sonne frei und unbehindert auf alle Beete und Boskajen brennen, sondern sie schufen nunmehr allenthalben grüngoldene Streumuster von Sonnenflecken, und sie warfen den weißen Nymphen, die einst ihre nackten, kühlen Leiber, ihre wohlgeformten Brüste und Rücken in der prallen Sonne gewärmt hatten, nun geschämig grüne Schleier über.

Sie stiegen schon gen Himmel diese Bäume – fast so hoch und steil, wie aus dem Rund der Fontäne der Wasserstrahl es tat, der nun auch seit ein paar Jahren sein Kristall hoch hinauf in die Luft warf, um es in tausend Silberkugeln wieder aufzufangen. Der vergoldete, rauschebärtige Neptun von einst aber, der an dieser Stelle inmitten seiner Heerschar fischschwänziger Genossen (er, durch dessen erzene Ader niemals – fast niemals – das weiße Blut der Erde geronnen war und vor dem doch der König, wenn er dem greisen, gichtischen Lord Marshall in seinem Stoßwagen das Geleit gab, so gern noch einen Augenblick plaudernd verweilte, ehe er nach oben abbog) – ach, der war nun auch längst vermorscht, zerbrochen und eingeschmolzen.

Jaja, manches war eben anders geworden – seitdem!

Wo waren denn all die Maler und Bildhauer, die Wachsbossierer, die Holz- und Steinschneider, die Stukkateure und Vergolder hin, die einst hier Beschäftigung über Beschäftigung gefunden? Sie machten, daß sie fortkamen, als die Zeiten anders wurden. Sie hielten es mit den Piemontesen, den Seidenzüchtern, die Sehnsucht nach der Heimat bekommen hatten und einer nach dem andern bei Nacht und Nebel davongegangen waren. Und die letzte Erinnerung an jene und ihre Tätigkeit – die Maulbeerbäume, Hecken und Plantagen überall ringsum: in Bornim und Bornstedt, in Geltow und Glienicke, in Sakrow und Werder –, sie wucherte auch nur noch einige Zeit nutzlos fort und fiel dann der Axt und der Vergessenheit zum Opfer, bis auf einige wenige armselige und unbeachtete Reste. Und die Webstühle, die wurden eben auf die Remisen und Speicher gebracht, zerschlagen und als Brennholz in den Ofen gesteckt. Überall hatten ja hier Webstühle gestanden für Band und Seiden, für Strümpfe und Mützen, für Leinen und Kattune, für Etamine und Kaschmire und Gros de Naples. Und nun war kaum noch der vierte Teil davon in schnurrender und surrender Tätigkeit. Und selbst Samuel Schön & Co. waren längst nicht mehr das, was sie früher gewesen.

Ja, manches war eben anders geworden seitdem. Aus einer reichen und betriebsamen Stadt, auf der dank des Genies eines Mannes aller Augen in Europa ruhten, war eine arme, stille Stadt geworden, in der selbst der Hof kleinbürgerlich blieb. Aus einer unternehmsamen Kaufmannsstadt war eine karge und bescheidene Beamtenstadt geworden. Und wenn auch die festen Marschtritte der Kompanien noch auf den Dämmen klangen und das Getrappel der Pferdehufe sich an den Hauswänden brach, die Kanonen und Lafetten über die Kopfsteine ratterten – es waren doch nicht mehr die dabei, die Friedrichs Feinde vor sich her gejagt hatten, sondern Söhne der müden Sieger von 1815 waren es, mürrisch und unfroh in immer wiederkehrendem Gamaschendienst und um tausend Hoffnungen betrogen.


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