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Da waren – also um 1844 – zuerst einmal die Herren Offiziere in Potsdam in den Garderegimentern: übermütige Adelssöhne, die meist nur warteten, daß die Väter ihnen Güter kauften oder vererbten oder daß sie Güter erheirateten, und die solange näselnd, geschnürt, mutwillig und gelangweilt auf die »Kanaille« schimpften und versuchten, mit der vielen freien Zeit und mit dem vielen rollenden Geld auf angenehme Art fertig zu werden.

Man hätte nun glauben können, daß hier, wo der Adel so häufig war wie die Brennessel, die hinter jedem Zaun wächst, man keine besondere Achtung vor ihm hatte – aber gerade im Gegenteil: seine Massenhaftigkeit ließ seine Bedeutung anschwellen. Und doch fühlte er sich nicht gerade wohl dabei. Denn die Lücken, die die französischen Kanonaden von einst hineingerissen hatten, waren längst wieder geschlossen, und nur schneckenlangsam rückte wieder der einzelne aufwärts zu höheren Chargen. Ein neuer Krieg, der etwa wieder die Bahn für viele frei machen würde, war nicht zu erwarten. Ach, man war ja so müde des ewigen Durcheinanderwirbelns, man war ja so froh, die Landkarte irgendwie wieder in Ordnung zu haben! Man war in Europa wie in einem Lazarett: Die Kranken, abgetrieben und ausgeblutet, hatten keinen anderen Wunsch als den, sich gesund zu schlafen. Viel Lorbeeren waren da jetzt beim Kriegshandwerk nicht zu ernten.

Da waren dann weiter die Herren von der königlichen Regierung, welche der Meinung waren, daß ohne ihre Tätigkeit das revolutionäre, unterwühlte Preußen auseinanderfalle wie ein Fuder Heu, das der Wirbelwind packt. Und die deshalb, weil sie das immer wieder verhinderten, so viel Hochachtung vor sich selbst hatten und vor den Titeln, die sie in feiner Abstufung – je nach der Dauer ihres Dienstalters – ihrem Namen zufügen durften, daß sie meinten, Militär wäre für sie doch kaum der geeignete Umgang. Und noch weniger die Herren in der Oberrechnungskammer, da am Kanal in der Patronentasche.

Und da waren dann die Herren von der preußischen Oberrechnungskammer, die wiederum der Ansicht waren, daß ohne sie der Staatsbankrott unausbleiblich wäre. Und weil sie wie der Geist Gottes über den Wassern schwebten, nach hier und dort blitzten, anfragten beim Landgericht in Eylau, wo die drei Dutzend englischen Stahlfedern hingekommen wären, die noch in der letzten Aufstellung des Inventars sub A I 329 figuriert hätten, und weil sie beim Rentamt in Düsseldorf monierten, daß sie in der Abrechnung den Erlös für die Siegellackreste vermißten – auch waren sie Sachverständige für die größere oder kleinere Abmessung des Devotionsstriches, den man den einzelnen Behörden und deren Vertretern zu bewilligen hatte –, ja, wie sollten da die Herren von der Oberrechnungskammer nicht für sich bleiben? Wie sollten sie da etwa mit den Herren Offizieren oder denen von der Regierung verkehren – wenn sie es selbst gekonnt hätten!

Und fürder waren in Potsdam Hofbeamte und Obergärtner und so fort. Und die waren der Meinung, daß die persönliche Berührung mit Mitgliedern des königlichen Hauses, wenn nicht gar mit dem Monarchen selbst, es ausschlösse, daß sie sich so weit vergaßen, etwa mit Leuten näheren Umgang zu pflegen, die dieser Huld nicht teilhaftig wurden.

Und die Lehrer am Seminar und am Gymnasium, und was sonst irgendwie zur Wissenschaft in Beziehung stand, waren darauf bedacht, daß nicht etwa Leute jenseits des Xenophon, von anderer und natürlich geringerer Bildungssphäre ihre Kreise störten – nein, sie hielten darauf, unter sich zu bleiben.

Und endlich erst die Bürgerschaft! Die ließ nicht gerne jemanden auf die Erdbeermuster ihrer Teppiche, in ihre guten Stuben, der nicht hier in Potsdam mit Havelwasser getauft worden war oder der zum mindesten doch in Potsdam zuerst die Zimmerwände angebrüllt hätte, ohne deshalb gerade auf Havelwasser und dessen frühzeitige Verwendung besonderen Wert zu legen – oder daß, selbst wenn er sich zum Havelwasser bequemt hätte, es seine Väter schon getan hatten. Aber das mußte eben schon so sein, denn sonst wären die Kreise gar zu klein gewesen.

Gott, wer gehörte denn eigentlich noch recht zur Bürgerschaft! Kaum zwanzig, dreißig Familien. Das übrige zählte nicht, waren Handwerker, kleine Leute, Arbeiter, Menschen, die zuerst die Mütze zogen. Und auch die zwanzig, dreißig Familien waren nicht mehr das, was sie ehedem waren. Nach dem Krieg war kaum eine wieder recht hochgekommen. Und wenn der alte Samuel Schön nicht damals Häuser gekauft hätte – damals, als sie soviel Hunderte von Talern kosteten, wie sie Tausende wert waren: am Kanal, in der Schockstraße, in der Großen Fischerstraße, in der Nauener Straße und am Hohen Weg –, wer weiß, ob die Schöns heute noch so daständen. Denn mit dem Geschäft war das doch nicht mehr so wie ehedem, wo hundert Webstühle für sie sich mühten und doch nicht alles bewältigen konnten, nicht alles heranschaffen konnten, was gebraucht wurde. Die Maschinen drüben in England brachten einen nach dem andern zum Stillstand. Natürlich wollte das Eduard Schön nicht wahr haben und der junge Heinrich Schön erst recht nicht. Und sie lebten nun, wie einzig und allein der Großvater Samuel hätte leben können, der für seinen Teil gewißlich nichts wie Arbeit und Arbeit und Arbeit gekannt hatte.

Ja, aber wenn auch jedes fein für sich blieb, so galt das eigentlich doch nur für die Großen, die Wirklichen, die Offiziellen, die Familien. Für die Frauen im Häubchen und mit silbernen Stricknadelscheiden; für die Töchter, die Harfe spielten und die Mode von vor drei Jahren trugen: Rosenkränzchen, wenn man längst bei Strohblumen war, und drei Volants, wenn die Röcke schon längst wieder glatt waren und nur mit Band besetzt. Den Jungen, den Halbflüggen, waren diese Käfige zu eng, und sie sahen sich ganz geheim um, wie es drüben aussah bei den andern, mit denen man eigentlich nicht verkehren durfte und mit denen man jedenfalls sich nicht öffentlich zeigen durfte.

Da kamen zum Beispiel so junge Leute im »Froschkasten« zusammen, so ganz geheim am Spätnachmittag, tranken Dämmerschoppen, tranken Potsdamer Stangen – nicht ganz junge mehr, aber meist so in der zweiten Hälfte der Zwanzig oder um dreißig herum. Jede Gruppe hat ein, zwei Abgesandte geschickt; Delegierte, wie zu einem Kongreß. In Räuberzivil: Offiziere, Rechnungskammerbeamte, Hofchargen, Lehrerschaft, Bürgertum. Maltitz – Karl von Maltitz, irgendeiner von den Maltitzens – hatte sie »die Unmöglichen« getauft. Und wenn er von sich aus exemplifizierte, so war der Name nicht schlecht gewählt.

Da war auch der junge Schön – Heinrich Schön – von den Schöns, die die große Seidenweberei am Kanal hatten und noch überall sonst in und um Potsdam in den Katen Weber sitzen hatten, denen sie Arbeit gaben. Er war nebenbei mit einem Fräulein von Mühlensiefen verlobt und sollte zum Herbst heiraten. Die Tochter vom Rat Mühlensiefen aus der Charlottenstraße war da, der in den dreißiger Jahren unter dem alten König viel gegolten hatte, der aber nun mit als erster unter dem neuen König abgesägt und kaltgestellt worden war und seit der Zeit knurrend wartete, daß man ihn wiederholen müsse, um die verfahrene Karre auf den rechten Weg zu bringen. Wenn er noch im Dienst gewesen wäre, hätte er nie zugegeben, daß eine Tochter von ihm einen Kaufmann nähme. Aber so war es wirklich schon ziemlich gleich.

Und dann war da ein von Winterfeldt, der von den »Laubfröschen«. Es gab mehrere Winterfeldts in Potsdam: bei den Hammeln, den roten Strippenjungen, den weißen Mehlsäcken, bei der Regierung. Aber das war der Egbert von Winterfeldt von den Gardejägern, der mit der Literatur liebäugelte und deshalb politisch bei seinen Vorgesetzten als unsicherer Kantonist galt. Immerhin – Furcht brauchte man seinethalben nicht zu haben, denn ein Winterfeldt weiß schon, was er seinem Namen schuldig ist.

Ja, und dann war da Professor Friedrich Wilhelm Schneider – viel älter als jeder, gerade so alt wie zwei von den jungen Dachsen: der Lehrer von Heinrich Schön und Karl von Maltitz auf dem Gymnasium –, ein vertrockneter schäbiger Junggeselle, ein schwerfälliger Koloß, zäh und ernsthaft, heimtückisch und kleinlich und halb närrisch durch den jahrzehntelangen Stumpfsinn seines Berufs. Sein langer Gehrock – riesig wie eine Sargdecke – hatte alle Moden der letzten Jahrzehnte mitgemacht. Er war schwarz gewesen, als man schwarz trug, und er war schon rehbraun gewesen, wie rehbraun gerade erst wieder aufkam. Und jetzt war er langsam grün geworden, was als das Neueste galt – denn Maltitz trug es. Nur daß die schwarze Halsbinde alle Wandlungen mitgemacht hatte, war nicht ganz stilecht.

Professor Friedrich Wilhelm Schneider schrieb, solange man denken konnte, an einem Buch über die Etrusker und sammelte Pfeifenköpfe. Alle Woche fuhr er einmal nach Berlin – früher – in die königliche Bibliothek; aber in den letzten Jahren war er weniger emsig geworden und reiste nur noch alle vierzehn Tage hinüber, trotzdem es jetzt doch nur ein Sechstel der Zeit kostete wie ehedem. Maltitz behauptete zwar, »Schnöffke« wüßte überhaupt nicht, wo die Bibliothek in Berlin sich befände. Er hätte sich erkundigt: Man kenne ihn dort gar nicht. Und alle acht Tage fragte Maltitz von neuem unbefangen (denn Karl von Maltitz hatte eine böse Zunge), wie es denn eigentlich käme, daß jener die Bücher nicht geliehen erhielte und deswegen stets in die Hauptstadt hinüberfahren müßte.

Aber Professor Schneider erwiderte jedesmal gleich todesernst – und es ist anzunehmen, daß er die Frage von einem zum andern Mal glatt wieder vergessen hatte –, todesernst, wie er sich mit allen Fragen, die an ihn herantraten, auseinanderzusetzen pflegte; es wären scilicet natürlich so seltene und kostbare Werke, deren er benötige, daß sich die Bibliothek ihrer nicht begeben könnte, und wenn sogar der König höchstselbst sie fordern mochte.

Wie Professor Schneider zu diesen jungen Kumpanen gekommen war? Nun, wie ein Feldstein dazu kommt, daß ihn die Ackerwinden umranken; er war eben zuerst da, lag zuerst da, wich nicht vom Platze. Und da blieb dem grünen Rankenzeug nichts übrig, als seine lustigen Windungen um ihn zu schlingen. So war es.

Ja, und dann waren noch oft diese und jene dort. Aber heute, heute waren so die vier – der junge Schön, Maltitz, Winterfeldt und Schneider (es war ein Sonnabend, am späten Nachmittag, in der zweiten Hälfte des April und im Jahre des Heils 1844) – die letzten, die aus der kleinen Gaststube da hinten auf dem Kietz in die schöne, rosige Luft hinaustraten, um heimzugehen. Und sie blieben unschlüssig mitten auf dem breiten, baumgefaßten Wege stehen. Eigentlich hätten sie sich trennen müssen, denn ihre Straßen gingen von hier auseinander, nach allen Himmelsrichtungen. Aber keiner wollte mit dem Abschiednehmen den Anfang machen. Das Wetter war aber auch zu schön, um nun gleich wieder unter Dach und Fach zu kommen. Die Straße war völlig menschenleer, gehörte ganz den vieren. Nur hinten, wo sie sich zu einem Platz weitete, spielten kleine Mädchen ein Kreisspiel – das erste Mal im Jahr.

Es war noch ganz hell. Der Himmel aber hing, doch schon ganz unglaubhaft leuchtend und in sich verbrennend, rot und grün über den Häusern. Und ein paar steingraue Putten, die da auf dem Dachrand des Hauses Platz hatten, schienen plötzlich Fleisch und Blut geworden zu sein. Rosig waren sie, wie so kleine Wesen auf alten Bildern – hatten all ihre Schwere verloren. Und man konnte meinen, daß sie jede Minute sich von ihrer Stelle lösen und hinaufflattern mochten in die leuchtende, grenzenlose Klarheit. Und da zudem die Bäume nur erst noch ziemlich dünn belaubt waren – auf dem breiten Weg und vorn am Kanal –, die Linden mit den kleinen Blättchen aus grüner Seide und die Kastanien mit den kleinen hängenden Blättchen, schlaff, wie Kinderhände, die sich müde gespielt ..., und da die hohen Platanen mit der schäligen, wie von Aussatz zerfressenen Rinde noch fast ganz tot und leblos bis in das letzte Zweiglein waren, so konnte die Himmelsklarheit sich deshalb noch ungehindert bis in den äußersten Winkel herabsenken. Und das tat sie auch und erfüllte alles hüben und drüben und überall mit dem gleichen geheimnisvollen, rosigen Schimmer. Deutlich sah man auch oben gegen die Helligkeit ein paar dunkle Drosseln, die reglos auf den höchsten Zweigen saßen und ihre Sehnsucht in das scheidende Licht hinausschmetterten. Und die hellen Zwitschertöne mischten sich seltsam in die Klänge eines altmodischen Militärmarsches, der von ganz weit irgendwo herüberhallte.

»Horch!« sagte Professor Schneider und legte den Zeigefinger mit dem breiten Nagel an die rote, knollige Nase. »Horch! Maltzahn oder Malberg oder wie Sie sonst etwa heißen mögen« – denn Professor Schneider behielt aus Überzeugung seit Jahrzehnten keinen Namen, und er spielte mit ihnen und warf sie durcheinander, wie ein Jongleur ein Dutzend Bälle –, »horch! σάλπιγξ σάλπιγγος sálpinx, sálpingos – die Trompete, der Trompete ..: die Preußen kommen!«

Schön lachte und Winterfeldt lächelte verlegen. Aber Maltitz kniff das eine Auge zu und blinzelte nur seinen ehemaligen Lehrer schadenfroh an und summte statt aller Antwort den Text der herüberschwirrenden Klänge halblaut mit:

»Maria Theresia, zeuch nicht in den Krieg,
Du wirst nicht erlangen den herrlichen Sieg.
Was nützen dir all deine Reiter und Hu-
saren und alle Kroaten dazu!«

Er war ein hübscher, lustiger junger Kerl, der Maltitz, ohne Achtung für irgend etwas in der Welt. Ein leichtes Tuch war er – interessiert und gebildet, unentwirrbar und unzuverlässig, voller Spott und Sarkasmen, begabt und unbrauchbar –, so einer von der Sorte, die stets durch ihre Tüchtigkeit hoch- und stets durch ihre Abenteuerlichkeit wieder herunterkommen. Jetzt war er seit kurzem bei der Regierung. Kein Mensch wußte, wie er dahin gekommen, und noch weniger wußte einer, was er da tat. Schlank war er, elegant und lässig. Einen grünen Frack trug er heute, mit goldenen Knöpfen; graue, faltige, weite Beinkleider mit Steigen und eine silberfarbene Atlasweste. Und eine mattblaue Halsbinde hatte er, die in zwei Enden spitz aus dem Knoten flog. Der helle, geradkrempige Zylinder saß ihm fast im Nacken. Und zwischen den behandschuhten Fingern spielte er mit einem Palmenrohr, in dessen goldenem Kopf ein schwerer Blutstein funkelte. Ja, er gab etwas auf sich, der Maltitz, und er war unbestritten Autorität bei seinen Altersgenossen in allen Fragen des Schicks. Und während Schön und Winterfeldt das Haar zum Beispiel noch kurz trugen und an den Schläfen den Bart etwas heruntergezogen hatten, hatte er das Gesicht ganz glatt. Aber die Haare ließ er hinten über den Rockkragen fallen. Er wußte genau: da die Stirn sehr hoch war, sah das nicht übel aus. Für so etwas hatte Maltitz Sinn.

»Hören Sie, Herr Professor«, fragte er jetzt, als er seinen Sang beendet hatte – und man mußte schon Professor Friedrich Wilhelm Schneider sein, um nicht zu merken, daß der andere ihn nur aufziehen wollte –, »hören Sie, heißt die Trompete eigentlich ›σάλπιγξ‹ oder ›σαλπίγξ‹« sálpinx, salpínx

»Sö sind schon immer auf dem Gymnasium ein Knote und krasser Nichtwisser gewesen – noch schlimmer wie Ihr Busenfreund, der Schön«, sagte Professor Schneider und weidete sich an seiner geistigen Überlegenheit. »Der Däne Madwig sagt: ›σάλπιγξ‹, der Döderlein sagt ›σαλπίγξ‹. Und Vernaleke tritt ihm hierin bei, während wieder disser Boeckh der Ansicht huldigt, daß ein Perispomenon...«

»Hören Sie auf, Professor«, unterbrach von Winterfeldt verzweifelt. Er war sehr groß, schlank, rotbraun, trug die Haare scharf von den Schläfen weggebürstet. Er war nicht so elegant, nicht so Stutzer wie Maltitz. Man sah ihm an, daß er gewohnt war, in Uniform zu gehen, und sich in seinem braunen Gehrock und mit seinem grauen Zylinder nicht recht wohl fühlte. »Haben Sie Mitleid mit mir – ich muß heute sowieso noch manches über mich ergehen lassen.«

»Ach!« rief von Maltitz und zog das »Ach« sehr lang. »Sie wollen noch zu Exzellenz von Thiele in die Betstunde. Seit wann sind Sie denn auch unter die nassen Engel gegangen?«

»Die nassen Engel?« fragte Winterfeldt erstaunt.

»Na ja – so sind sie doch jetzt in Berlin getauft worden, weil sie immer gleich nach der Andacht bei Habel noch ein bißchen weiterzubeten pflegen.«

Der junge Schön lachte vor sich hin. »Nasse Engel« – das lag ihm.

»Man kann sich eben schlecht ausschließen – das fällt auf«, verteidigte sich Winterfeldt und wurde auch oben auf der Stirn rot, wo er sonst hell und weiß war.

»Warum nicht?« sagte Maltitz. »Bei uns ist davon auch die Rede gewesen. Aber ich habe ein für allemal abgewinkt: entweder Eisenbahnen bauen oder Betstunden abhalten. Beides zusammen geht nicht.«

»Dann wäre ich schon mehr für den Schwanenorden«, warf Schön ein. »Dabei wäre wenigstens was zu verdienen, wenn wir die Lieferung der Rittermäntel kriegten.«

Von Winterfeldt guckte sich etwas ängstlich um, ob auch niemand bemerke, daß er bei so despektierlichen Gesprächen zuhöre.

»Als die Griechen anhuben«, warf Professor Schneider ein, »ihre Läben in öppiger Schwälgerei zu fristen, verloren sie das religiöse Gefühl. Und wir stehen heute, wofür viele Anzeichen sprechen, auf demselben Ponkte des sittlichen Niedergangs!«

»Unsere Zeit ist fromm!« rief Maltitz. »Aber Sie brauchen sich nicht zu wundern, Herr Professor, daß mein Carlos hier nicht jenen Glaubenseifer aufbringt wie wir andern – zum Beispiel Sie und Winterfeldt. Ihm stehen doch eben im echten und wahren Christentum noch nicht jene langjährigen Erfahrungen zur Seite, über die Sie verfügen.«

Schön lachte und verbeugte sich mit gekreuzten Armen tief und feierlich vor Maltitz: »Mein Glaube, Sire, ist auch der Ihrige!«

»Er heißt der reichste Mann in der getauften Welt«, entgegnete Maltitz. Und Winterfeldt und der Professor blickten gespannt von einem zum andern, denn sie wußten: da gab es ein Wortgefecht, und sie würden einander nichts schuldig bleiben.

»Da magst du recht haben, mein Roderich«, rief Schön und streckte die Arme mit zärtlichem Pathos nach Maltitz aus. – Denn da Schöns Vater seit kurzem wieder geheiratet hatte, belustigten sich seine Freunde damit, ihn ›Don Carlos‹ zu nennen. Und er spielte wohl oder übel lächelnd diese Rolle. »Gewiß, du magst recht haben. Aber, mein Roderich, was kann ich dafür, daß meine Vorfahren schon stolze Tempel mit geschnitzten Zedersäulen und goldenen Türen gebaut haben und gedichtet haben:

Der Mandelbaum blüht so im Winterfeld,
So tragen Heuschrecken Lasten.
Es weckt keine Kunst die alte Lust –
Du gehst zu des Todes Kammer.
Es harren ja schon auf der Gasse,
In Trauer die stummen Begleiter.

Was kann ich dafür, Roderich, daß deine Vorfahren damals noch mit Steinen schmissen und als landesübliche Begrüßung mit den blanken Zähnen einander an die Gurgel fuhren.«

»Ja, mein Liebling – aber während dann meine Vorfahren auf stolzen Burgen...«

»Ganz richtig, mein Roderich«, unterbrach Schön, »während später meine Vorfahren mit Gold und Edelsteinen handelten, begnügten sich die deinigen in rührender Bescheidenheit damit, diese durch simplen Straßenraub an sich zu bringen.«

Von Winterfeldt lachte mehr und lauter, als die Gelegenheit erforderte, weil sich das Spiel gedreht hatte und er ganz ausgeschaltet war. Aber eigentlich war dem Winterfeldt auch dieses neue Spiel keineswegs lieb. Alles – aber nichts über Religion!

»Werden Sie auch am Fünfundzwanzigsten mit Ihren Schuljungens Spalier stehen, Herr Professor?« fragte Winterfeldt deshalb, um mal von etwas ganz anderm zu reden. Denn am Fünfundzwanzigsten wollte die Kaiserin von Rußland nach Potsdam kommen und der Zar vielleicht auch.

»Ech?« rief Professor Schneider entrüstet und richtete sich hoch und mit Würde auf. »Wenn mein König zu mir sagen wird: ›Obberlehrer – stähe Spalier!‹, so werde ich erwidern: ›Nein, König, äch stähe nicht Spalier!‹«

»Aber Herr Professor!« rief Maltitz mit gut geheucheltem, erstauntem Entsetzen ob dieses abgrundtiefen Demagogentums.

»Nein!« rief Professor Schneider. »Malzahn oder Malberg oder wie Sie sonst heißen mögen – äch werde das nicht tun, denn...«, hier hob er den gestreckten Zeigefinger bedächtig zu Augenhöhe und machte eine bedeutsame Pause – »äch habe das Rheuma.«

Die drei andern sahen Professor Schneider mitleidig nach dem Munde und stöhnten ein bedauerndes »Ach!« Aber keiner sagte ein Wort mehr, sondern jeder kniff fest die Lippen aufeinander, um nicht laut loszupruschen.

Sie waren indessen langsam, einen Fuß vor den andern setzend, ohne daß sie es selbst merkten, ein Stückchen am Kanal entlanggewandert, der da unten zwischen breiten Steinwangen und roten, zerfressenen Ziegelwänden schwarz und reglos dahinzog und den farbigen Himmel, die hohen Bäume und die Figuren und Stuckschädel der Gewehrfabrik drüben im umgekehrten Spiegelbild ganz tief unten, wie auf dem Grunde einer Basaltschale, zeigte.

Und nun standen sie etwas unschlüssig an der breiten Brücke vor den schönen begrünten Steingruppen mit den großen Glaskugeln der Laternen, in denen rotgelb, ohne zu strahlen, die ersten schon entzündeten Lichtfünkchen schwammen.

Und über dem Dach der Gewehrfabrik ragte der schwere Turm der alten Garnisonkirche mächtig, viereckig, mit seinen wuchtigen Baugliedern, mit seinem reichen Zierwerk von Schilden, Helmen, Panzern und Standarten frei und stolz in die Luft empor: grün und grau und rot im Abendlicht. Und der Ordenstern da oben auf seiner Spitze, der breite goldene Stern über dem Adler, leuchtete ganz magisch und unwirklich in seiner einsamen Höhe.

Maltitz und Schön blickten da hinüber, als ob sie ganz den Disput vergessen hätten.

»Sehr wohl, mein Carlos, mein Infant!« rief Maltitz plötzlich mit großer Geste, feuerköpfig und doch voll hofmännischer Courtoisie, denn er hatte sich ganz in die Rolle des Posa eingespielt. »Sehr wohl, mein Prinz« – und es war, als ob er die Worte da oben irgendwo abläse –, »aber wie kommt es trotzdem, daß Gold und Schätze immer noch in Eurem Besitz sind, während zum Beispiel ich ganz blank und bar davon bin! – Nun? Ihr schweigt? – Erkläret mir, Graf Örindur, diesen Zwiespalt der Natur?«

Heinrich Schön wollte eben den Mund zu einer Entgegnung öffnen, aber Karl von Maltitz wartete die nicht ab.

»Ja, und wenn Euch hinwiederum, mein Prinz, Gott so gesegnet hat, wie kommt es ferner, daß Ihr doch nicht den echten Glaubenseifer Euer eigen nennt, den selbst die von Euch so hochgeschätzten Engländer besitzen?«

»Lieber Junge«, fuhr Heinrich Schön auf, und er vergaß ganz seine Rolle als Gegenspieler, »lieber Maltitz, trotzdem ich bisher gefunden habe, daß der wahre Glaubenseifer weniger zentripetal als zentrifugal ist, indem er seine Hauptbetätigung darin sucht, andere zu mißachten, zu schädigen, zu verleumden, zu verwunden oder zu vernichten – kurz gesagt: totzuschlagen, die diesen echten Glaubenseifer nicht besitzen, so muß ich doch schon bekennen: Die da drüben...«, und er zeigte in der Richtung der untergehenden Sonne, »die haben wirklich alle Gründe, bigott zu sein. Wenn ich Engländer wäre, würde ich auch dem Alten Herrn alle Tage dreimal auf Knien dafür danken, daß er mich in dieser elenden Zeit – so wie es heute bei uns steht – als Engländer und nicht als Preuße auf die Welt geschickt hat.«

Von Winterfeldt machte zwar selbst, wie es gerade alle begabten jungen Leutnants taten, heimlich politische Gedichte à la Herwegh, in denen es von »Freiheit«, »Knechtschaft«, »Tyrannei« nur so hagelte und in denen dem deutschen Volke eine schöne und beseligende Zukunft prophezeit wurde. Und er war auch nie so selbstisch gewesen, sie Heinrich Schön etwa vorzuenthalten. Im Gegenteil. Aber das war ihm doch etwas zu radikal! Und er schüttelte unmutig den grauen Zylinder.

Auch Maltitz antwortete nicht. Ihm wurde im Augenblick etwas schwül zumut. So etwas konnte Kopf und Kragen kosten. Aber dann sagte er sich, daß hier draußen doch nur Proleten wohnten und keine Vorgesetzten, die etwa mißbilligend Kenntnis nehmen konnten.

Doch da richtete sich plötzlich – man hatte gar nicht bemerkt, daß er zugehört hatte – Professor Friedrich Wilhelm Schneider zu seiner vollen Höhe auf, als ob er nach einer hochnotpeinlichen Schuluntersuchung – wer in dem Häuschen auf dem Hof seinen Spitznamen angeschrieben hätte – das Schlußwort ergriff: »Hören Sie, Schön« – denn er vergaß nie, daß jemand einmal sein Schüler gewesen, für ihn war und blieb er es dann sein Leben lang, und wenn er Minister wurde –, »hören Sie, Schön«, sagte er, »äch bin der Sohn eines königlich-preußischen Oberförsters – königlich-preußischer Oberlehrer und Professor an dem hiesigen Gymnasio mit fünfzehnhundert Talern Gehalt –, äch werde diesem Gespräch nicht länger beiwohnen! Äch schätze es nicht, wenn junge Leute über ernste Fragen ihr vorlautes Urteil abgäben. Wo so etwas geschieht, stelle äch mäch nicht hin!«

Und damit drehte sich Professor Schneider auf dem Hacken um und schob seine mächtige Gestalt – er war ein breiter, schwerfälliger Koloß mit Beinen wie dorische Säulen – von dannen.

»Aber Herr Professor!« riefen Maltitz, Schön und Winterfeldt, jeder in einer anderen Tonhöhe des Erstaunens, hinter ihm her.

Doch der kümmerte sich nicht darum und schwankte schwer und schwarz und bedächtig, sich auf seinen Stock stützend, mit seinem riesigen Schultermaß an irgendein verschollenes, vorsintflutliches Tier gemahnend, die breite Straße hinab, auf die beiden hohen Obelisken zu, die da hinten schwarz im roten Abendlicht standen. Denn er wohnte drüben, irgendwo ganz drüben am Jägertor, am anderen Ende der Stadt.

Ein paarmal riefen noch Schön und Maltitz in gutgespielter Verzweiflung: »Aber Herr Professor!« Doch wie der aus Hörweite war, sahen die drei einander an und begannen ziemlich unbefangen und ausgiebig zu lachen. Sie wären sicherlich weniger heiter gewesen, wenn die Szene für sie den Reiz der Neuheit gehabt hätte. Aber so oder ähnlich endete eigentlich jede Zusammenkunft mit Professor Friedrich Wilhelm Schneider. Da er nämlich, infolge seines Berufes, nicht gewohnt war, eine andere Meinung anzuerkennen, hatte sich durch die Jahrzehnte zu allen seinen anderen Sonderlichkeiten noch so eine milde Form von Cäsarenwahnsinn herausgebildet. Und bei der maßlosen Hochachtung, die Professor Schneider vor sich selbst, und der maßlosen Verachtung, die er für die ganze übrige Welt hatte, war es wirklich schwer, Zusammenstöße mit ihm zu vermeiden. Nur dadurch, daß Professor Schneider von einem Mal zum anderen diese Zusammenstöße glatt wieder vergessen hatte – denn sein Gedächtnis war ein weitlöchriges Sieb, bei dem fast alles, was nicht gerade eine Kanonenkugel war, hindurchrutschte –, nur dadurch hatten die andern längst verlernt, diese Zusammenstöße besonders tragisch zu nehmen.

»Nun«, rief Heinrich Schön, nachdem er sich einigermaßen wiedergefunden hatte, und wies mit dem Zeigefinger auf sich selbst, »nun, wie habe ich das wieder angestellt? – Ein wundervoller Abend heute! Nicht, mein Roderich? – Wie heißt es doch? ›Daß mir die schönste aller Stunden der trockne Schleicher stören muß!‹ Na ja, nicht ganz, aber item.«

»Ach so«, sagte Winterfeldt und atmete erleichtert auf, denn diese englandfreundliche Gesinnung wäre ihm doch im Ernste etwas peinlich gewesen, »ach so! Aber etwas möhr Achtung sollten Sö doch vor Öhrem...« (Winterfeldt konnte Schnöffke lange nicht so gut kopieren wie Maltitz, der dafür durch Generationen und Generationen unvergessen war.) »...Öhrem alten Lährer haben, der es sich cum otio et dignitate hat angelegen sein lassen, Sä zu ordentlichen Mänschen zu machen.«

»Ach«, rief Maltitz, und die echte Farbe schlug bei ihm durch alle Übermalung hindurch, »was heißt denn: jemand zum ordentlichen Menschen machen! Doch nur, ihn zu einem Menschen machen, der sich in den Sielen des Berufs kaputtreibt! Glauben Sie denn wirklich, daß unsere Prügelschule irgend jemand zu einem Menschen macht? Sie bringen ihm gerade ›άσλπιγξ – σάλπιγγος‹ sálpinx, salpíngos bei. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, Winterfeldt, wie die meisten Pauker im Gymnasium heißen? – Nein? Schneider, Fischer, Bäcker, Wagner, Schuster, Schmidt heißen sie. Da sehen Sie ja am besten, aus welchen Schichten die hervorgehen, denen unser feinstes Menschenmaterial anvertraut wird. Wie kann denn solch einer Menschen erziehen, der selbst innerlich so unerzogen und so ungebildet ist wie ein Leineweber und der...«

»Mein Roderich«, unterbrach Heinrich Schön und legte ihm die Hand auf die Schulter, »aus dir sprechen die Vieren und Fünfen deiner lateinischen Aufsätze bei Schnöffke!«

»Und Ihr, mein Prinz!« rief Maltitz.

»Nein, mein Roderich«, entgegnete Heinrich Schön, »wenn mich mein Gedächtnis nicht ganz im Stich läßt, so habe ich nur einmal...«

»Ja, ja, wenn ich einen beneide, Winterfeldt, so ist es der kleine Schön hier. Sehen Sie, er hat sich nie in seinem Leben durch den Mangel von Gaben bemerkbar gemacht. Und er ist noch weniger durch irgendwelche Gaben peinlich aufgefallen. Es hat für ihn nie Überraschungen und nie Enttäuschungen gegeben.«

»Ach Gott, Roderich«, warf Heinrich Schön mitleidig ein, »du redest ja wie der Blinde von der Farbe.«

Aber Maltitz ließ sich nicht beirren.

»Verstehen Sie, Winterfeldt? Als er geboren wurde, war über ihn entschieden – glatt entschieden. Er brauchte gar nichts mehr zu werden. Er war einfach ›Heinrich Schön junior‹. Im Gymnasium war er nicht gut und nicht schlecht. Ich habe jahrelang hoch über ihm gesessen und Jahre tief unter ihm. Er schwamm immer seelenruhig in der Mitte. Man vergaß mit der Zeit ganz, daß er da war. Und dann hat er so ein ganz klein wenig studiert; das, was ihm so ein ganz klein wenig gefallen hatte. Und dann ist er so ein ganz klein wenig in das Geschäft seines Vaters gegangen, und das wird er dann so ein ganz klein wenig mal übernehmen. Und ein hübscher Kerl ist er auch. Die Mädels haben ihn immer gern gehabt, ohne daß er auch nur einen Finger dazu gerührt hat. Und so'n ganz klein bißchen hat er sich nun verlobt, und so'n ganz klein bißchen wird er nächstens heiraten. Wenn ich einen beneide, Winterfeldt, dann ist es dieser Glücksjunge hier. Und jetzt hat er nun auch noch eine reizende kleine Hexe von Stiefmutter bekommen und spielt schon immer den Don Carlos. ›Mein Anspruch stößt fürchterlich auf meines Vaters Rechte – und doch: Ein Augenblick gelebt im Paradiese – das ist die Stelle, wo ich sterblich bin!‹«

Winterfeldt brüllte vor Lachen. Heinrich Schön stellte sich in Pose, rollte die Augen und tat, als ob er mit kurzer, stürmischer Geste einen Mantelzipfel über die Schulter schlug. »Dein unglückseliger Vorwitz übereilt die fürchterlichste der Entdeckungen!« schmetterte er mit dem Aplomb eines Seidelmann heraus, daß es drüben von den Wänden ordentlich widerhallte. »Nun, Herr von Winterfeldt, hat Ihnen mein Roderich ein Bild von mir entworfen. Soll ich Ihnen mal eine Skizze von ihm geben? – Ein Vetter im Ministerium ist nämlich mehr wert als ein Sack von Kenntnissen. Das hat er sich immer gesagt.« Heinrich Schön wußte genau, daß das nicht so war für Maltitz. »Und dann – nu ja, wem Gott ein Amt gibt, nimmt er den Verstand. Er ist ein ganz klein wenig zerstreut, mein armer Roderich. Wenn er des Abends zum Beispiel weggeht, weiß er nie, wo er am nächsten Morgen aufwachen wird.« Das aber sagte Heinrich Schön nicht wider bessere Überzeugung. »Und endlich – na, Sie kennen das ja:

Spandauer Wind,
Potsdamer Kind,
Charlottenburger Pferd
Sind alle drei nichts wert.«

»Und du?« rief Maltitz.

»Ich bin nicht aus Potsdam, ich bin – zufälligerweise aus Sakrow.«

»Ach so – deshalb!. Also – Kinder, die in Sakrow geboren, sollen Glück in der Liebe haben, mein Infant.«

Drüben vom Turm der Garnisonkirche begann das Glockenspiel ganz laut seinen Choral zu klimpern, in hellen, singenden Tönen. Und wenn der eine Ton noch nicht verklungen war, so klang schon der andere dazwischen. Und im gleichen Augenblick wechselte mit klappenden Schritten und klirrenden Griffen und kurzen gehackten Kommandorufen jenseits vor dem »langen Stall« der Posten. Der neue kam, der alte marschierte ab, automatenhaft, eckig, mit unglaubwürdig taktmäßigen Bewegungen. Erinnerte an die Männerchen, die aus einem Uhrtürchen kommen, sich hinstellen, umdrehen, Griffe und Bewegungen machen und wieder verschwinden. »Üb immer Treu und Redlichkeit«, stümperte Winterfeldt sich zusammen.

»Nein«, rief Maltitz, »hören Sie denn nicht – es ist ja ›Lo-be den Her-ren, den mäch-ti-gen Kö-nig der Eeeer...‹«

»Also voll! Heiliges Kanonenrohr!« rief Winterfeldt. »Wie lange das schon hell bleibt! Und ich muß mich ja noch umziehen, und in einer Viertelstunde fängt die Chose bei Exzellenz von Thiele an. Man hat mich sowieso da schon auf dem Strich. Morjen, Leute!« Und damit kommandierte Winterfeldt sich selbst »Marsch, marsch!«, nahm den rechten Arm kurz an – denn er war sonst gewohnt, bei »Sprung auf!« den Degen festzuhalten – und lief sehr schnell, mit kurzen Sätzen über die Brücke, jagte an dem erstaunten Posten vorüber und entschwand bald den Blicken, während man das Trapp, Trapp, Trapp noch eine Weile im Ohr behielt.

»Na«, sagte Maltitz, indem sie langsam über die Brücke gingen, »möchtest du heute nacht da drüben Posten stehen! Ich glaube, dem Soldaten ist auch nicht extra zumute. Denk mal, wenn des Nachts um zwölf mit einem Schlag die ganze Kirche hell wird und drin die Orgel zu brausen beginnt und schwarze verhangene Leichenwagen lautlos herankommen und altmodische Kaleschen vorfahren und altmodische verschollene Gestalten ganz still aus dem Wagen gleiten und hinter der Kirchentür verschwinden – möchtest du da Posten stehn?«

Sie hätten nicht beide in Potsdam aufgewachsen sein müssen, wenn sie nicht von Jugend auf immer wieder und wieder von all den seltsamen Dingen hätten munkeln hören, die hier an der Garnisonkirche sich nachts zutrügen.

»Nein, nein, ich glaube so etwas nicht«, sagte Heinrich Schön, »aber ich müßte lügen, wenn es mir angenehm wäre, heute nacht hier Posten zu stehen. Ein bißchen unheimlich wäre mir die Ecke hier oben schon. Es würde ja nichts passieren; aber es würde einem doch so übern Rücken gehn, wenn's zwölfe schlägt, sicher – jedem von uns!«

»Im Vertrauen«, tuschelte Maltitz und wandte sich plötzlich mit sehr vergnügtem Lächeln an Schön, »ich für meine Person würde auch keinen Wert darauf legen, heute mitternacht hier Posten zu stehn – aus den allerverschiedensten Gründen nicht. Ja, ja, alter Junge, man ist so klug, und dennoch spukt's in Tegel – wir sind+...«

Aber damit schwieg Maltitz, als ob ein Fallbeil – ritsch – dem Gedanken den Kopf abgeschlagen hätte. Doch Schön vermißte die Fortsetzung gar nicht. Es war durchaus nicht nötig, daß man sprach, wenn man so nebeneinander unter den hohen Bäumen der Plantage dahinging. Hie und da wurden jetzt die Laternen angezündet, die in ihren eckigen Glaskäfigen an rostigen Ketten mitten über der Straße hingen – kleine, betrübliche Öllampen waren das, die scheinbar nur um ihrer selbst willen brannten, weil es ihnen Spaß machte, nicht etwa, um Häuser, Bürgersteige und Dämme zu nächtlicher Zeit sichtbar zu machen. Man mußte immer zwei Laternen anzünden, damit man die dritte Laterne finden konnte. Jeder Potsdamer empfand die Hanföl-Lämpchen zuzeiten der englischen Gasbeleuchtung als einen Skandal, und doch hätte es jedem leid getan, wenn man ihnen durch heldenhaften Magistratsbeschluß den Garaus gemacht hätte.

Aber heute brauchten sie eigentlich gar nicht angezündet zu werden, diese Lämpchen, denn es wollte nicht recht dunkel werden. Und die Vögel, die zwitschernd und schreiend noch einmal über den Platz flogen, von einer Taxushecke hüben in die andere Taxushecke drüben, glaubten das auch. Und außerdem stand Mondschein im Kalender – wozu brauchten da Laternen zu brennen! Aber je tiefer und glühender die rote Kuppel da oben sich verzehrte, desto dumpfer und dämmriger wurde es doch langsam unten in Plätzen und Straßen, und die Häuser und die Dächer und die Bäume davor auch all das Figurenwerk auf den Gesimsen, erst noch beglüht wie von einem verglimmenden Scheiterhaufen verloren doch langsam jede Eigenfarbe und standen nur noch in schwarzen, scharf umrissenen Flecken mit sprühenden Umrissen gegen die Feueresse des sterbenden Himmels.

Und dazu die Luft – die Luft! Diese erste milde Frühlingsluft, die nach jungem Laub und Erde und frischem Grün roch, ordentlich schwer war von all den Dingen, die sie versprach – die da kommen sollten.

Nur ganz wenige Menschen begegneten den beiden. Irgendwelche Tritte hallten zwar auf dem Bohlenweg oder über einem Brückenbogen, aber man sah nichts. Hie und da tauchte dann aus einer Seitenstraße ein Soldat mit einem Mädchen auf, sie im Umschlagetuch, mit bloßem, wohlfrisiertem Kopf, er im Waffenrock: rot oder weiß, ein dunkler oder hellerer Fleck, groß und schwer – beide ganz still, ganz langsam dahinschleichend.

»Wie haben mein Infant geruht, über den Rest dieses Abends zu verfügen?« fragte Karl von Maltitz plötzlich in tiefer Unterwürfigkeit und zog seinen Arm aus dem des andern. »Werdet Ihr Euch noch zur Fürstin Eboli nach der Charlottenstraße begeben oder in das Schloß zurückkehren?«

Heinrich Schön lächelte leise vor sich hin. »Die strenge Etikette des Hofes, mein Roderich«, sagte er und legte in gutgespielter Bewegung die Hand auf die Schulter des andern, »erfordert, daß ich der Fürstin Eboli noch heute meine Aufwartung mache. Aber der Abend ist köstlich, zu köstlich, um bei einer blakenden Sinumbralampe zuzuhören, wie die Fürstin auf der Laute einige sanfte Liedlein..., ja, und zuzusehen, wie ihre erlauchten Eltern in einer Ecke ganz versunken eine Patience legen, die nie aufgeht, ohne dabei das glückliche Brautpaar auch nur eine Sekunde unbeaufsichtigt zu lassen. Ich meine, daß so etwas für Winterabende ganz unterhaltsam sein mag; aber wie heute... Ach, riecht das gut! Nein, ich fürchte fast, die Fürstin wird wohl heute vergeblich auf mich warten.«

»Verdrungen, nur verdrungen von einer Nebenbuhlerin«, jammerte Maltitz in den heißen Klagetönen der Eboli.

»Du irrst, mein Roderich! Aber dir kann ich es ja sagen, ich werde nachher vielleicht noch so ein bißchen durch den Abend flanieren, hinten um die Heilige-Geist-Kirche gehen. Und da wird ganz zufällig, geradeüber von der Fischerstraße, da, wo der große goldene Karpfen über der Tür ist, an der Stadtmauer unter dem Dunkel der Bäume, eine weiße Schürze sich loslösen. Und einer wird ganz leise pfeifen: ›Zu Bett, zu Bett, ihr Lumpenhund'...‹ Und dann wird es mich an die Hand nehmen, ganz vorsichtig den Bootssteg entlangziehen und einen von Vaters Kähnen von der Kette losmachen und mich herüberrudern mit kurzen, schnelltreibenden, gleichmäßigen Schlägen, unter all den Sternen hin und über all die sich spiegelnden Sterne fort – bis drüben ans andere Ufer. Und da sind in den Weiden sehr nette, stille Plätze.«

»Gesellschaft können sie die allerbeste haben«, zitierte Maltitz. »Nein, nein, sie mag ja reizend sein, deine Havelnixe, aber ich könnte doch nicht eine Viertelstunde mit ihr zusammen sein, ohne sie mir später in zwanzig Jahren als die Fischern Wulkow vorzustellen, breit wie'n Eierkuchen, pockennarbig, mit ihrem schwarzen Markthut, in ihrem grünen Marktstuhl vor ihren Fischtienen Donnerstag nachmittag aufm Wilhelmsplatz. Man versteht gar nicht, wie es möglich ist, daß sie sich da hineingezwängt hat in den kleinen Holzschlitten. Und wenn sie drin ist, begreift man nicht, wie sie je wieder 'rauskommen wird ... ›Wie is'n? Na – Spiegelkarpen? Hechte? Junge Plötzen? Wat winschen Se denn, Herr Jraf?‹«

Schön lachte.

»Aber natürlich, mein Roderich, damit du's weißt: Wir sind noch ziemlich lange zusammengeblieben, und dann mußte ich noch Korrespondenzen mit Krefeld erledigen, weil doch jetzt, solange der Alte Herr nicht da ist, alles doppelt auf mir lastet. Und da wäre es doch zu spät geworden. Verstehst du?«

»Ich denke, der Herzog Alba, der olle Müllner, führt bei euch die Truppen gegen Flandern?« rief Maltitz laut.

»Gewiß, mein Sohn – aber was geht das eigentlich die Fürstin Eboli an?«

»Und wann wird denn nun der König Philipp mit seiner jungen Gattin nach Madrid zurückkehren?«

»Sie werden wohl in den nächsten Tagen kommen«, erwiderte Schön, plötzlich in einer ganz anderen Tonlage.

Und eine Weile hörten nun die beiden dem Takt ihrer Schritte zu, der auf dem Bohlenbelag, der den Bürgersteig bildete, klar und rhythmisch von allen anderen Geräuschen – und selbst die kleinstädtische abendliche Stille hat deren immer noch genug – sich löste.

Der junge Schön wußte, was Maltitz jetzt dachte, was Maltitz jetzt von ihm hören wollte. Und er war gar nicht überrascht, als der begann: »Sag mal, Heinrich – warum hat eigentlich dein Alter Herr wieder geheiratet? Begreifst du das?«

Heinrich Schön war es nicht lieb, darüber zu sprechen.

»Er ist ja lange genug Witwer gewesen – sechzehn Jahre; du erinnerst dich ja, Mutter ist damals so gräßlich an der Cholera morbus ...«, knurrte er. »Vielleicht war es ihm dann zu einsam, wenn ich nun auch weggehe. Ich habe ihn nie nach seinen Beweggründen gefragt. – So stehen wir nicht.«

»Ja«, sagte Maltitz langsam, »das weiß ich. Aber in seinem Alter ..., nicht wahr, er ist gerade so alt wie mein Vater: an sechsundfünfzig?«

»Siebenundfünfzig«, zerrte Schön aus zusammengekniffenen Lippen hervor, »er sieht wohl viel jünger aus.«

»Gewiß, er hält sich noch ganz gut. Aber wenn er durchaus noch einmal heiraten mußte – das hat er mit sich abzumachen. Gut: 'ne Frau von vierzig, fünfundvierzig Jahren, eine respektable Witib – solche Misses Wadman, die den Onkel Tobias heiratet aus Tristram Shandy ... Na ja, ich schätze solche Damen außerordentlich – sie sind so verständnisvoll. Aber so ein junges Ding, das ist doch ein gewagtes Experiment, meine ich.«

»Sie soll sechsundzwanzig sein«, sagte Heinrich Schön. Es war ihm peinlich, darauf zu antworten.

»Hier erzählt man, sie wäre ganz jung: zweiundzwanzig. Du kannst dir ja denken, wie sich die guten Potsdorfer ihre Münder zerreißen«, entgegnete Maltitz. »Also werden es wohl so gerade vierundzwanzig sein das arithmetische Mittel.«

»Ich weiß es nicht – ich kenne sie ja auch kaum. Ich glaube, ich habe sie viermal in meinem Leben gesprochen.«

Maltitz mußte doch hören, wie ungern der andere antwortete. Aber er ließ nicht locker.

»Sie soll aber entzückend sein – eine kleine, piekkluge, schicke charmante Person. Wie ein brasilianischer Kolibri, sagt Brandek, der sie von Berlin her kennt. Na dann jehört se ja hierhin zu uns nach Potsdam... Sage mal, Carlos, verstehst du eigentlich, warum all diese Beamtenfrauen hier so unsagbar – athesphatos, das singt schon der Vater Homer –, so unsagbar degoutant sind? Wie wollene, gestrickte Schlafmützen, die schon dreimal mit Eybscher Gallseife gewaschen sind. Sie erinnern mich immer an hausbackene Napfkuchen: so klietschig, mit Wasserstreifen. Ich nehme an, sie wird sich hier unerhört wohl fühlen. Endlich kann ich schon verstehen, daß dein Alter Herr so was heiratet – ihm ist es nicht übelzunehmen. Aber daß sie ihn heiratet – nee, weeßte, Carlos, das zu fassen, fehlt mir die Begabung.«

»Sie wird ihn wohl gern haben«, entgegnete Heinrich Schön, in einem Ton, der hieß: Höre schon endlich auf davon. In Wirklichkeit wußte er ja zu genau, daß die Dinge ganz anders lagen. Das heißt, sie hatte seinen Vater wohl nicht genommen, um ihren Eltern das Geschäft zu retten, wie man drüben in Berlin klatschte, sondern einfach um so weiterzuleben, wie sie es gewohnt war. Es konnte gewiß niemand von ihm verlangen, daß er – Heinrich Schön – dieses Wesen besonders schätzte; es war ja zu abstrus und lächerlich, mit fast dreißig Jahren plötzlich eine neue Mutter geschenkt zu bekommen. Und dann noch solch eine, die sicher nicht älter war als er. Aber dafür, daß ihm – nur bei dem Gedanken an sie – Wut, Scham und Ekel hochstieg, ordentlich die Kehle preßte..., dafür lag doch wirklich kein Grund vor. Er hatte hundertmal versucht, sich das in Ruhe klarzumachen. Aber er konnte sich nicht überzeugen. Und deshalb war das Don-Carlos-Spiel, das die anderen – besonders Maltitz – mit ihm trieben, ihm gerade recht: Da merkte man doch nichts von seinen wahren Empfindungen. Nun, er würde ja Gott sei Dank bald aus dem Haus kommen und nicht mehr ewig von neuem an diese Peinlichkeiten erinnert werden.

»Ja«, sagte Maltitz nach einer Pause – er hatte sich ganz darein verbissen –, »nimm es mir nicht übel, was ich da sage: Sicherlich ist es doch, geschäftlich betrachtet, ein Unrecht gegen dich von deinem Alten Herrn – er enterbt dich doch teilweise damit, daß er noch ...«

»Warum?« unterbrach Schön. »Erstens habe ich ja mein mütterliches Teil, von dem ich mehr als angenehm leben könnte. Und zweitens: Wer sagt dir, daß er das tut? – Wir werden dann, wenn ihre Eltern nicht mehr sind, das Berliner Seidenhaus ganz und öffentlich übernehmen, wie wir es jetzt eigentlich schon pro forma und im geheimen übernommen haben. Und das Geschäft ihrer Eltern wird ihr und ihren Erben...« (das Wort brachte er schwer heraus) »damit erhalten bleiben – was wohl sonst mehr als fraglich gewesen wäre. So liegen die äußeren Dinge. Nein, sehen wir es doch mal etwas genauer an, mein Roderich: Wenn mir vor kurzem jemand gesagt hätte: Dein Vater wird mit bald sechzig Jahren noch einmal heiraten – ich hätte ihn laut ausgelacht! Und wenn mich jemand fragt, ob es recht oder unrecht ist, daß er es tut, so antwortet mein Verstand – wohlgemerkt, mein Verstand – immer wieder: Es ist recht! Du meinst, das Andenken meiner Mutter...? Wer sagt denn, daß er das in sich verwischen wird? Er hat sie nie mehr mit einem Wort erwähnt, weder mir gegenüber noch sonst einem, und er ist nie ohne rote Augen aus ihrem weißen Damastzimmer gekommen, zu dem niemand außer ihm den Schlüssel hat – vor sechzehn Jahren so gut wie vor einem Monat. Und wenn er es wirklich verwischen sollte – die Zeit pflügt eben alles in den Boden. Wer wird sechzehn Jahre nach unserem Tode denn noch an uns denken? Und wenn er noch so sehr in unserem Leben an uns gehangen hat. Und welches Recht haben wir, das von einem Menschen zu fordern? Also ...«

»Gut«, sagte Maltitz und hob dozierend seinen Stock. »Aber das erklärt immer noch nicht, daß man in seinem Alter ein junges Ding ...«

»Sag mal, Karl, hast du eigentlich mal empfunden, daß dein jetziges Leben etwas Provisorisches ist und daß du es nur auf dich nimmst, weil es ein Versprechen in sich birgt – irgend etwas in Aussicht stellt, durch das dieses blödsinnige Dasein, diese gleichmäßig sich abhaspelnde Kette ineinander verhakter Tage und Jahre plötzlich sinnvoll und lebenswert wird?«

»O ja«, sagte Karl von Maltitz, »weiß Gott, das habe ich! A qui le dites vous?«

»Und kannst du nicht begreifen, daß man plötzlich von dem Gefühl geschüttelt wird, daß neun Zehntel, ja vielleicht noch mehr der Zeit verronnen ist, ohne daß irgend etwas daran dächte, dieses Versprechen einzulösen! Und daß man dann corriger la fortune spielt, das Leben betrügt, weil man doch irgend etwas von ihm in Händen halten will, weil man doch nicht ausgeschlossen sein will, weil man Anteil haben will. Und daß man da versucht, diesen Schmetterling – sagtest du nicht vorhin etwas von Kolibri? –, diesen kleinen, goldschillernden Wundervogel ›Glück‹ – ich weiß, das Wort trifft nicht, aber ich finde gerade kein besseres –, sich einzufangen, besinnungslos, ohne an ein Nachher zu denken? Ich glaube, Maltitz, es ist sehr schwer für uns, die Handlungen eines Menschen zu verstehen, der den doppelten Weg zurückgelegt hat wie wir und über dem immer die Erkenntnis schwebt: Mal kommt die Stelle, wo der Weg plötzlich abbricht und der bodenlose Abgrund sich öffnet – eine Erkenntnis, die wir doch noch zeitweise vergessen können.«

»Da magst du nicht unrecht haben, Carlos. Ich bin auch langsam zu der Meinung gekommen, daß nicht nur die Völker unüberbrückbar getrennt sind durch Sprache und Denken, sondern noch weit mehr die verschiedenen Lebensstufen. Und daß jedes Jahrzehnt eine andere Anschauung vom Leben hat, die das vorhergehende gar nicht fassen kann.«

»Und doch«, unterbrach Schön, »trotzdem man sich das sagt, mein Roderich, es ist gräßlich schwer, das sich zu eigen zu machen. Ganz tief da unten sitzen irgendwelche Empfindungen von Lächerlichkeit, von Untreue, von Verrat. – Verrat! An wem denn? An dir? Was ist dir versprochen? Nichts! Untreue? Gegen das Wesen, das dich in die Welt gesetzt hat? Warum denn? Die könnte niemand auch nur mit einem Spinnenfaden mehr an sich ketten. Die ist ja längst weg von der Erde. Nein, nein, ich glaube, es ist das Peinliche und Komische zugleich, sich plötzlich jemand, der für einen so völlig aus der Dunstschicht der Menschlichkeiten herausgerückt ist, als Seladon, als Liebhaber, vorzustellen. Es ist zuletzt die Lächerlichkeit! Ich las mal irgendwo, daß die Mädchen in den öffentlichen Häusern in China Fächer haben, die auf der einen Seite köstliche Bilder von Tempeln und Göttern, von Mandarinen und Prinzessinnen in goldenen Sänften, von harmlos spielenden Kindern unter blühenden Obstbäumen zeigen – und gerade, wenn man darangeht, diese Bilder zu bewundern, dann drehen sie diesen Fächer lächelnd um und zeigen dem Fremden, daß er auf der Rückseite Szenen von einem ganz, ganz anderen Charakter trägt – du kannst dir schon denken. Ich glaube, man würde vielleicht darüber lachen. Aber das Lachen würde einem selber weh tun, man würde sich unwürdig dabei vorkommen.«

»Cela dépend, mein Prinz«, sagte Maltitz und pfiff einen lustigen Triller, einen frech musikalischen Schnörkel um diese Worte, während er den Stock schwirren ließ.

Sie waren indessen am Wilhelmsplatz angelangt. Ein Karree von Bäumen – Häuser hinter ihnen. Schwarz umrissene Figuren oben gegen den erstorbenen Himmel. Ein paar Dutzend Lichtpünktchen von Laternen an den Straßenrändern, sich im Wasser spiegelnd. Brücken wie Schemen. Die Straßen hinauf- und hinabtanzende Glühwürmer an ratternden Wagen. Feste Soldatenschritte und zartes Getrippel auf irgendwelchen Bohlenwegen und Seitengängen, Schatten, bunte Uniformen – alles mehr geahnt als erkannt. Und oben, zwischen dünnbelaubtem Gezweig, der Mond groß und orangefarben, mit breit verzerrtem Lächeln auf dem wie angetrunkenen Gesicht.

»Bitte sehr – beiläufig der Mond!« schleuderte Maltitz hervor, einen Wiener Freund kopierend.

»Ach Gott!« rief Schön, und er war selbst froh, von dem letzten Thema loszukommen. »Wie lange habe ich diesen alten Burschen da oben nicht gesehen! Ich dachte wirklich, er wäre nach Amerika ausgewandert, dieser Sünder und Kuppler. Ist es dir schon aufgefallen, wie oft in den Büchern Mondschein ist? Kaum ist die Sonne weg, schon breitet der Mond ›seine milden, taghellen Dämmerschleier über die betauten Wiesen‹. Bei Eichendorff zum Beispiel scheint der Mond Tag und Nacht. Und wieviel Mondnächte hat man denn erlebt? Wie vieler erinnert man sich? Ja, einer, einer – einer!«

Eine geschlossene Hofequipage rollte vorüber, gut federnd, auf weichen Rädern, mit bebänderten Lakaien. Und die Pferde hatten doch einen anderen Trab und Tritt als solch ein Postwagen. Man erkannte nicht einmal, ob es Braune, Füchse oder Rappen waren. Aber man spürte ihr heißes Blut und ihren starken Atem.

Schön und Maltitz blickten unwillkürlich hin und versuchten das Dämmern zu durchdringen, wer wohl da drin säße. Und sie sahen – plötzlich erschreckend – in das blasse, von einem vorüberhuschenden Lichtschein überflackerte Gesicht eines alten Mannes – halb Goethe, halb Napoleon. Er hatte sich scheinbar mühsam nach vorn gebeugt, um in den Mond da hinten zu starren, mit so unwirklich großen, dunklen, tiefen Augensternen, daß sie wie zwei Achatkugehn unter dem Alabasterweiß der hohen Stirn saßen.

Maltitz zog zusammenzuckend den Zylinder; man sah ihm an, daß es ihm heiß wurde dabei vor plötzlicher Erregung und Freude.

»Wer war denn das?« fragte Schön fast ängstlich.

Aber Maltitz hörte nicht. »Ach Gott, vielleicht dachte er gar nicht an den Mond – vielleicht sah er ihn gar nicht! Vielleicht dachte er an seine Gicht – oder wie hundsschlecht sie vorgestern in Berlin seinen ›Gestiefelten Kater‹ gespielt hatten.«

»Soso. Unser zweiter Graf von Gleichen?« rief Schön. Denn so hatten die Potsdamer Ludwig Tieck getauft, wegen der beiden Frauen, die nebeneinander neidlos sich in die Sorge um sein altes Leben teilten.

»Ich denke mir, er wird doch den Mond gesehen haben«, begann Maltitz von neuem, ganz erregt. »Jaja, und er wird sich eben das nämliche gesagt haben wie du: ›Alter Bursche, lebst du immer noch? Freund und Wandergenosse meiner Jugend?‹ Aber der Ton und die Worte werden vielleicht anders gewesen sein, nur ein schwingendes Empfinden: ›Herr Gott, wie schwach bin ich, wie krumm und wie krank! Ich kann kaum die rechte Hand zum Kutschenschlag heben. Und du bist noch genau der gleiche wie vor fünfundvierzig Jahren, wo du mich des Nachts manchmal draußen hier im Wald mit deinen grünen Schleiern zugedeckt hast! Ja, ich fahre nun hier, in den Atlaskissen der Hofkutsche – ich mache diesen neumodischen Schwindel mit der Eisenbahn nicht mit, soweit kann es ein Mensch bringen; mit Kutscher und Lakaien vorne fahre ich. Und doch – ich möchte nur noch einmal draußen im Wald, unter dem Wehen und Flattern deiner grünen ...‹«

»O nein, Maltitz – ich fürchte, der Anlaß, weswegen er nach dem Mond sah, ist viel trivialer. Um nichts in der Welt hätte er den Atlassitz seiner Hofequipage vertauscht, geschweige denn um ein Plumeau von simplem Mondschein. Nein, er wollte wohl sich überzeugen, ob der Mond auch keinen Hof hat und ob das Wetter nicht etwa umschlägt. Denn für Leute, die gichtisch sind, ist so etwas weit bedeutsamer als alle grünen Schleier von feinster Seidengaze. Du wirst sagen, daß das erzprosaisch ist. Aber ich glaube, bei allen Leuten, deren Geschäft die Poesie, ist das Leben eine sehr prosaische Geschichte.

Bei uns, die wir mit ledernen Schriftsätzen oder mit seidenen Bändern handeln, kann's gerade umgekehrt sein. Wir haben genug Prosa an unserem Schreibtisch.«

»Man merkt«, sagte Maltitz, »daß du verlobt bist. Sage mal – ich wollte das schon lange fragen: Wie fühlst du dich denn so eigentlich als Bräutigam? Ich möchte das zu gern wissen. Ich habe immer von klein an riesig gern Reisebeschreibungen gelesen, von so ganz fernen Ländern, wo man nie hinkommt – das ist so hübsch gruselig.«

»Ach Gott«, sagte Heinrich Schön lächelnd und drohte mit dem Finger, »spotte nicht. Eines schönen Tages, wenn du an gar nichts denkst, kommt auf einmal so eine mit 'nem Lasso angesaust. Und ehe du noch deinem Pferd die Sporen gibst, fliegst de schon aus dem Sattel und – rietsch, ratsch! – biste für dein Leben skalpiert... Spotte nicht!«

»Nee, nee, so was passiert mir nicht.« Maltitz schüttelte geringschätzig den Kopf. »Dazu bin ich schon zu lange auf dem Kriegspfad.«

»Lieber Freund, es hat ja auch seine großen Vorzüge: Du kannst in ein braves, gutes Bürgerhaus gehen, sooft du willst, ohne daß es peinlich auffällt und Gerede gibt. Und immer morgens und vormittags und nachmittags und um Mitternacht – wann es auch sei – wird dich jemand, irgendein junges oder altes weibliches Wesen, fragen, ob du etwas zu essen haben willst: eine Erfrischung, eine Labung, ein Gläschen eigenen Johannisbeerwein, einen selbstangesetzten Nußschnaps oder wenigstens einen werderschen Apfel? Er wäre vorzüglich. Und ob du ja oder nein sagst, es wird dir nichts nützen – du wirst wie eine Gans genudelt. Und dann wird immer noch irgend etwas für dich aufgehoben in der Röhre stehen – von gestern, von vorgestern, vom letzten Sonntag...«

»Ja«, unterbrach Maltitz, »wäre es da nicht vielleicht zweckmäßiger, man nähme gleich ein Abonnement im ›Einsiedler‹? Da kann man wenigstens den Markör anblasen, wenn es einem nicht schmeckt. Und man darf auf dem Teller lassen, soviel man will, ohne daß es einer übelnimmt und schmollt.«

»Vielleicht! Aber hat dir schon einmal jemand eine solche Geldbörse gehäkelt?« sagte Heinrich Schön und zog ein kleines perlgehäkeltes Geldtäschchen mit blankem Stahlbügel heraus und hielt es unter einer blinzelnden Laterne dem Maltitz unter die Augen. »Sieh mal mit Rosen, rosa Rosen und einem Vergißmeinnichtkranz darum, und auf der anderen Seite mit einer Lyra und einem Lorbeerzweig darüber! Hat dir schon einmal jemand so etwas gehäkelt? Bitte?«

»Ja, eine junge Dame hat so etwas mal versucht. Aber die hat es nachher Gott sei Lob meinem Nachfolger geschenkt.«

»Und hat dir jemand solch ein Notizbuch gestickt hm?« Schön brachte mit Taschenspielergeschicklichkeit ein Notizbuch aus der Innentasche seines braunen Gehrocks und knipste damit nach Maltitz hin. »Mit einem Blumenkorb, der von einem Adler getragen wird, auf der einen Seite?«

»Hier ist aber ein Liebestempel drauf, wenn ich nicht irre – du mußt es verwechseln.«

»Laß mich ausreden: und einen Freundschaftstempel in Lebensbäumen auf der anderen? Und hat man dir jemals eine Schlüsseltasche gestickt – hier – mit einem Hundekopf? Ja? Auf taubenblauem Grund? Also! – Ja, und hat man dir eine Uhrkette aus Haaren ...?«

»Um Himmels willen! So lange seid ihr doch noch gar nicht verlobt. Das muß deine Braut auf Vorrat gearbeitet haben – anders ist das undenkbar.«

Aber Schön achtete des Einwurfs nicht. Er war im Feuer. Halb spielte er seine Rolle, halb war sie ihm ernst. »Ja, und bringt dich immer, wenn du fortgehst von ihr, ein Mädchen die dunkle Treppe hinunter – groß, ganz blond, ganz blauäugig, mit Armen wie Schwanendaunen so weiß, ganz treu, ganz still, wie aus einer Novelle von Fouqué? Es fehlt nur die weiße Feder auf dem Sammetbarett und der Falke auf dem Handschuh ...«

»Nein, nein«, unterbrach Maltitz nachdenklich, »warte mal, blond stimmt nicht...«

»Und singt dir – nur dir, keinem sonst – ein junges Mädchen aus gutem Hause ganz allein zur Laute von Chamisso ›Frauenliebe und Leben‹ vor: ›Seit ich ihn gesehn, glaub' ich blind zu sein‹? Ja?«

»Nein, nein, nein«, rief Maltitz lachend und entsetzt, »nein!«

»Darum, lieber Freund, gehet hin und tuet also.«

Maltitz schüttelte. »Sieh mal«, sagte er langsam, »es gibt zwei Sorten von Menschen, mein Carlos: Solche, die ihren Lebenszweck darin sehen, ein Gemälde ihr eigen zu nennen, einen Meister ersten, zweiten, dritten Grades, oder auch nur eine armselige Kopie, von der sie sich dann selbst glauben machen wollen, es ist ein Meisterwerk. Bis ihnen dann eines Tages, oft sehr bald schon, die Augen aufgehen. Und dann gibt es solche, die sich nichts Schöneres denken können, als durch eine Gemäldegalerie zu gehen, wo ihnen nichts auf die Dauer und doch alles als kurzes, wundervoll überraschendes Geschenk gehört, wo sie ihre Lieblinge haben, zu einem Bild immer wieder zurückkehren, ohne deshalb andere ganz zu übersehen, wo sie sich von einem Bild losreißen können, wenn es ihnen paßt, wo sie, heimgehend, noch ganz erfüllt von den tausend Erinnerungen, von dem bunten Traum Wirbel von Gestalten sind. Wer, meinst du, Carlos, ist wohl der aufrichtigere und feinere Kunstfreund? Der, der für Gemäldegalerien schwärmt, oder der, der nach zwei Jahren sein Bild bei sich zu Hause über dem Sofa in der guten Stube kaum noch ansieht? Nein, ich werde mich wohl nicht freiwillig meiner Dresdner Galerie begeben. Denke dir, Carlos: zweitausendeinhundertfünfundsechzig Bilder – von den duftzarten Pastellen und den zierlichen Elzevirausgaben der Miniaturen ganz zu schweigen.«

Heinrich Schön lachte. »Nun, und ob mich der Diener hinauswerfen wird, wenn ich trotzdem einmal versuche, dort einzudringen?«

»Der Diener nicht«, sagte Maltitz. »Aber du wirst eben immer nur wie ein gehetztes Wild durch die Säle jagen und dich kaum trauen, nach rechts und links zu blicken. Während ich bis an mein seliges Ende nach Lust und Laune ein fröhlicher Flaneur, unbehindert, von einem Bild zum andern, von einem Saal zum andern, gehen werde. Jawohl, mein Carlos, so ist es.«

Schade um das Büschchen am Rand der Rasenrabatte, dessen erstes, zaghaftes Grün Maltitz bei diesen Worten vergnügt und übermütig mit seinem Stock zertrommelte. Nun, bis der Sommer kam, hatte es das schon längst wieder vergessen.

»Es ist doch eigentlich sträflich und sündhaft von uns, Maltitz«, rief Schön und klapste sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, daß es nur so schallte, »von uns ja nicht, aber von mir, ein so reizendes Wesen wie Hannchen, ein so entzückendes, gläubiges Geschöpf, wie meine Braut ist – wundervoll wie das köstliche rosa Wölkchen da oben neben dem Mond, das ganz Licht und ganz Zartheit ist –, so ein Geschenk, das mir das Glück gemacht hat, vielleicht nur, um zu zeigen, wie ungerecht es in der Welt zugeht – und da ergehe ich mich hier in so lästerlichen Reden! Man ist doch ein schlechter Hund. Sag mal, Maltitz, warst du mal verliebt? Nicht so einfach ein bißchen verliebt: nein, man macht eine Wasserpartie mit x jungen Leuten, und da im anderen Boot sitzt etwas Blondes. Und man sieht hin – und wenn es hinsieht, sieht man weg. Und wenn es wegsieht, sieht man wieder hin. Mit allen spricht man, aber nicht mit ihr. Man ist nachher immer in ihrer Nähe, den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend, und hat eine Todesangst davor, sie könnte ein Wort zu einem sagen: daß man ihr ein Glas Limonade besorgen soll oder etwa einen Schal aufheben. Und dann geht man nach Haus. Und alle anderen gehen fort – aber sie nicht. Sie bleibt. Den ganzen nächsten Tag im Geschäft, die nächste Nacht – immer bleibt sie. Sie ist immer da, immer um dich – du kannst gar nichts anderes tun: nicht arbeiten, nicht lesen, nicht schlafen, nichts essen, sondern nur an sie denken+... Ja, kennst du das? Und kaum ist dreiviertel Jahr herum, dann geht man mit so einem leichtfertigen Absalon und redet von den Weibern wie ein Franzose! Pfui!«

All diese Dinge brachte Schön halb lächelnd, halb ernst hervor. Aber Maltitz verstand es doch. Geschmacklos war er nicht.

»Geliebter Carlos«, begann er bedächtig, »es tut ziemlich not, daß du wieder mehr mit vernünftigen Männern, wie ich das zum Beispiel bin, zusammenkommst, damit du nicht von neuem in den frauenhaften Fehler verfällst, ernste, philosophische Erörterungen in das subjektive Gebiet persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse zu ziehen. Wir sprachen, wenn ich nicht irre, über das Eheproblem an sich – rein abstrakt –, über seine Licht- und Schattenseiten. Und du erzählst mir von deiner Braut, gewiß einer ungewöhnlich schätzenswerten, reizenden jungen Dame, von der ich sonst überaus gern von dir höre, die aber doch hier – wie du zugeben wirst – gar nicht zur Diskussion stand.«

Schön salvierte sich. »Nein, nein, gewiß nicht, aber verstehst du: Wenn man so viel an solch ein liebes Ding denkt, dann hat man eben leicht mal das Herz auf der Zunge.

Maltitz pfiff still und lächelnd etwas vor sich hin, das so ähnlich klang wie ›Wenn hier ein Topf mit Bohnen steht und da ein Topf mit Brüh', dann lass' ich Brüh' und Bohnen stehn und geh' zu meiner Marie‹, und erinnerte sich dabei an die Wulkow'n. Nein, der kleine Schön spielte keine Komödie vor, sagte er sich. Er spricht schon die Wahrheit, die er selbst glaubt. Nun ja, jedes Schiff hat einen Notanker. Und das Leben eines jungen Menschen – dafür hatte Maltitz Verständnis – ist eben ein wenig fest im Weiblichen verankert.

»Höre mal«, sagte er und blieb stehen, »um mal von ganz etwas anderem zu reden: Ich möchte von dir etwas wissen. Wie geht es denn den Webern hier bei uns? Da kriegen wir nämlich aus Schlesien über die Leineweber immer Berichte, es ginge ihnen so jammerbar. Dönniges schreibt zwar, es wäre kein Notstand, es ginge ihnen vorzüglich. Aber ich glaube, wir müssen von Staats wegen da was tun. Sonst sitzen wir wieder mal nachher zwischen Baum und Borke. Du weißt doch in so was Bescheid, mein Sohn. Das hast du doch gelernt. Also 'raus mit de Weisheit!«

»Den Leinewebern«, meinte Schön – und im Augenblick war Heinrich Schön junior ein ganz anderer als den ganzen Abend –, »denen geht's schlecht, sehr schlecht. England macht sie glatt tot mit seinen neuen Maschinen. Und die Fabrikanten, die ebenso billig mit den alten Handstühlen liefern müssen, schinden sie, bis ihnen das Blut unter den Nägeln hervorspritzt. Und dazu kommt dann noch dieses unsaubere Tauschsystem gegen Lebensmittel.«

»Aber hier?« warf Maltitz ein.

»Nein, hier in Potsdam liegen die Dinge ganz anders. Hier sind vor allem Seidenweber und Bandweber, und die brauchen nicht zu hungern, weil ihre Ware immer Preis hält. Sie hungern auch hier nicht. Aber sie stehlen. Wir setzen jährlich soundso viel auf Diebstahl von vornherein mit in die Bilanzen. Du weißt doch, wie der Alte Fritz gesagt hat: Ich habe keine Furcht, wenn mir auch die Feinde mein ganzes Land nehmen; wenn sie mir nur Caputh und Nowawes lassen, denn meine Caputher und meine Nowaweser stehlen mir sicher in acht Tagen alles Verlorene wieder zusammen.«

Maltitz lachte. »Sehr nett, sehr nett!« sagte er. »Aber weißt du, Carlos, ich meine immer, wir sollen eigentlich weder dem Armen noch dem Reichen sein Wesen, seine Unarten, auch seine Gesinnung übelnehmen, denn wir können überzeugt sein, es wäre die unsere, wenn wir arm oder wenn wir reich wären.«

»Mit dieser Anschauung, mein Roderich, wirst du in Spanien nicht sehr viel Karriere machen.«

Indessen waren sie doch ein ganzes Stück am Kanal weitergekommen. Und der Mond war langsam über die Bäume drüben hochgerückt und lief jetzt Schritt für Schritt, wie ein treuer Pudel, neben den beiden her. Die trunkene, lustige Orangefarbe war von seinem breiten Gesicht gewichen; er war klein geworden, alt, zusammengeschrumpft, kein grotesker Riesenkürbis mehr eine simple Netzmelone, gelbgrün und knubblig. Und vor sein Gesicht hatte er ein großes, ganz dünnes, hauchfeines Tuch gezogen, das in mannigfachen Rissen und Fetzen nach allen Seiten hin in dem dunklen phosphoreszierenden Nachthimmel zerflatterte. Und er behagte sich darin – der Mond –, es immer wieder in die Luft zu schleudern und es immer wieder einzuholen und sich darin einzuwickeln, gleichsam um die Langeweile zu vertreiben.

»Hallo!« rief Maltitz, »›Dem Vergnügen der Einwohner‹!« Und hob die Hand mit theatralischer Gebärde zu der Inschrift empor, die da oben auf der Front des Schauspielhauses in grünlichem Licht geisterte. Wie klar diese mächtigen Säulen und die Hermen im Dunkel der Nischen und selbst da oben der schreitende Zug kühler, ernster Götter und Göttinnen im Mondenschein lagen. Und wie jedes auf dem Untergrund scharfe, dunkle Linien zog – übertrieben, wie in der Zeichnung eines Dilettanten. Und dahinter das schwere Gebäude – der Leib eines mächtigen Tieres –, ganz tief, in schwarzen, undurchdringlichen Schatten. Melancholische, krasse und unwillkürliche Gegensätze waren das – nicht von dem Maler Sonne erfunden, sondern von dem Radierer Mond auf Schwarz und Weiß gebracht.

»Bis hierher und nicht weiter. Hier trennen sich unsere Wege, verklingt unserer Seelen zartes Saitenspiel – lebt wohl, mein Prinz!«

»Aber warum wollen wir nicht noch ein wenig zusammenbleiben?« warf Schön fast ängstlich ein. Wenigstens noch ein Weilchen, nur so lange, bis es zu spät für mich ist, jene da in der Fischerstraße zu treffen, setzte er für sich innerlich hinzu. Denn er hatte doch schon im voraus Reue ob seiner zukünftigen Sündhaftigkeit. Aber er wußte genau, daß ihm diese Reue recht wenig nützen würde, wenn es ihm nicht gelänge, mit Hilfe eines Assistenten über jene gefährliche Viertelstunde zwischen neun und ein Viertel zehn hinwegzukommen, allwo die weiße Schürze unter den Linden an der Stadtmauer auf und ab spazierte.

»Liebster, bester Mensch – es geht nicht. Sagtest du nicht vorhin, wenn mich nicht meine Erinnerung trügt, du müßtest eigentlich noch Briefschaften mit Krefeld ordnen? – Nun, im Vertrauen, ich hoffe, du kannst verschwiegen sein: Auch auf mich wartet noch ein ganzer Stapel von äußerst delikaten Geheimakten, die unbedingt noch heute abend erledigt werden müssen.«

Der junge Schön konnte das Gesicht von Maltitz zwar nicht erkennen, da es im Schatten lag, aber er hätte auf den Doppelklang der Worte besser achten müssen, als er es tat.

»Oh«, sagte er unbefangen, und man hörte seiner Stimme die Genugtuung an, einen Freund zu besitzen, dem der Staat so wichtige Dinge anvertraute. »Oh, dann tut es mir sehr leid. Der Dienst geht vor.«

Maltitz brach in ein Gelächter aus und legte Schön zärtlich die Hand auf die Schulter.

»Du bist ein reizender junger Mann – ich liebe dich, Schön! Wirklich, Carlos, ich bin dir freundschaftlich zugetan, aber die Musen und Grazien haben nun mal leider nicht an deiner Wiege gestanden, sonst würdest du nicht einen Augenblick daran zweifeln, daß es nichts Köstlicheres in der Welt gibt als eine liebe, kleine Frau, die ganz heimlich in den Torweg eines Hauses huscht, in dem sie eigentlich nichts zu suchen hat. Gewiß, du bist ein guter Junge, Schön, aber leider ein bißchen provinziell, trotz London und Lyon. Und für die feineren Nuancen des Daseins fehlt dir bis dato noch der Sinn. Na, vielleicht kriegst du ihn noch. Ade! Setzen wir vertrauensvoll unsere Hoffnung auf die neue Königin. Au revoir, mein Prinz!«

Die letzten Worte kamen schon aus dem Monddämmer heraus. Nicht mehr von Maltitz, sondern von einem unscharfen, sich bewegenden Etwas, das sich mit verliebter Hast entfernte und das alsbald in der Schattenseite der Straße ganz untertauchte, um zu einem flüchtigen, verebbenden Schall von Tritten zu werden.

Heinrich Schön wollte dem noch etwas nachrufen. Aber er besann sich. Wozu denn? Eigentlich doch ein böser Filou, dieser Karl von Maltitz – aber ein amüsanter Bursche! Sein Alter Herr hatte schon recht, wenn er es nicht gern sah, daß sie viel zusammen waren. Schon wegen des Spielens. Nicht wahr? In zwei, drei Monaten, wenn er verheiratet wäre mit Hannchen, würden sie ja schon von allein auseinanderkommen. Das macht sich dann so von selbst. Schade eigentlich! Denn so für den Kneiptisch und für einen Abendspaziergang war er unersetzlich – von je.

Wundervoll diese Mondnacht! Und wie still dabei auf den Straßen. Das sitzt nun jetzt alles so in den Häusern um die runden Mahagonitische, um den Lampenkreis, ißt, stickt, plaudert, tratscht, spielt Karten, nimmt eine Kerze von der Anrichte, gähnt, will ins Bett..., und das hier sieht keiner. Oder unten den Schwan im dunklen Wasser. Wie er ganz leise so im grünen Schimmer dahintreibt. Jetzt quert er eine zitternde gelbe Lichtbrücke von der Laterne drüben. Wie sagt doch Eichendorff? Weiß nicht, was sie schlagen so tief in der Nacht – es ist doch keiner, der mit ihnen wacht! Nein, Nachtigallen sind noch nicht zurück. Doch! Sie müssen ja schon hier sein... Vielleicht werde ich noch heute welche hören. Drüben vom Babelsberger Park her. Es muß schön sein, wenn so die ersten langgezogenen Triller übers Wasser hinziehen und man sich nicht klar ist, ob es nicht doch das melodische Gurgeln im Kielwasser des Bootes ist, das man dafür... Horch da: Signale, von den Jägern. »Zu Bett, zu Bett, ihr Lumpenhund', es schlägt die letzte Viertelstund'.« Ja, nun würden auch bald die letzten Tritte drüben im Schatten unter den Bäumen verhallen, und man würde einen hellen Rock ganz leise über die Brücke oder an den Häuserreihen entlanghuschen sehen, und man würde dann in anderer Richtung die Nägelstiefel trappen hören – ganz grell und hell und schnell durch die Dämmerung hin. Denn wenn es das dritte Mal ansetzt: »Zu Bett, zu Bett, ihr Lumpenhund'« – aber das jetzt kam ja wohl vom ersten Garderegiment herüber. Nein, er wollte doch nach Hause gehen – da hinten ist es ja schon –, wie es sich für einen braven, verlobten jungen Mann ... Wenn man ihn sähe ..., und solch ein reiner Kristall, ein blondes, sanftes Kind wie Hannchen... Heinrich Schön war es ganz heiß in den Augenwinkeln..., »ein unbeschriebenes Blatt«. –

Ach, wer soll ihn denn hier draußen jetzt sehen! Und wer soll es ihm verargen, wenn er an einem solch wundervollen Abend ... Er wäre ein Narr, wenn er sich da in das dumpfige Zimmer setzen würde, schlafen könnte er doch nicht! Und was soll er denn jetzt noch tun? Nun, nun – die Lyoner Muster wären auch da. Er könnte sich ebenso mal das zweite Kassabuch vornehmen, denn wenn irgend etwas nicht stimmte, wäre Polen offen, wenn der Alte käme ...

Eigentlich zu lächerlich das nun von ihm! Heinrich Schön sprach es innerlich nicht einmal aus, nannte es nicht bei Namen. So beschämend! Er hätte doch wenigstens damit warten können, bis er aus dem Haus ist. – ›Ach, Ihr Herr Vater hat wieder geheiratet?‹ – Wie das einen angrinste! Man kann doch nicht jedem ins Gesicht schlagen... Aber der Alte Herr hätte sich doch überlegen können, daß das Leben wie ein Kartenhaus ist: Mit jedem neuen Stock, der aufgesetzt wird, wächst die Gefahr des Einsturzes. Er ist doch sonst so klug! – Gewiß, er soll noch Jahrzehnte leben – bei ihnen wird man ja alt, der Großvater war auch über achtzig ... Immerhin, deshalb kettet man doch nicht solch ein junges Ding an sich. Und er hat sie doch mit goldenen Ketten an sich gekettet. Was war es denn anders? Komödie! Iffland, Kotzebue, Rührstück: daß er ihr so gefallen, daß er sie von Kind an geliebt und sie ihn. Sie hat ebensowenig daran gedacht, daß sie einmal die Werdersche Kirche heiraten würde oder Oliver Cromwell wie diesen da. Sie wurde eben ganz einfach von den Eltern draufgezahlt bei dem Handel, zugegeben wie der Knochen beim Schlächter. Doch eigentlich zu häßlich und schmutzig! Sie wurde gekauft von dem Alten Herrn, wie er einen Coupon Seide oder ein Dutzend neuer Türkenschals kauft.

Warum mußte er nur plötzlich an einen Stich von Dürer denken, den ihm einmal Maltitz – der hatte immer so etwas – gezeigt hatte. Wie hieß er doch? »Der gewalttätige Alte.«

Warum denn nur an einem so köstlichen silbernen Abend an solch quälerische Dinge denken! »Sie war gefaßt auf Liebe und empfing ein Diadem.« Herr Gott im Himmel, ist das ein Leben!

Na, die paar Monate noch...

Heinrich Schön reckte die Arme. Er hatte das unabweisbare Gefühl, daß es ihm wundervoll wohltun würde, wenn er jetzt jemanden verprügeln könnte. Irgend jemand – er brauchte ihn gar nicht zu kennen. Einen ganz harmlosen Mitbürger und Untertan. Bis ihm der Arm lahm würde. Den Kutscher vielleicht von dem Mietswagen, der da hinten angerasselt kam. Was hatte der Bursche gerade hier entlangzufahren und alles mit dem Lärm von seiner alten Karre und seinen plumpen Gäulen zu füllen! Man kann ja von einem Pferdeknecht keinen Sinn und Respekt vor dem dämmrigen, sanften, lispelnden Weben einer Mondnacht verlangen. Immerhin könnte ihn doch sein Herr wenigstens belehren, daß das geschmacklos ist, gerade an einem Abend wie heute, an einem so bezaubernden... Und wenn er wenigstens noch nach dem Berliner Tor abböge! Aber hier, den Kanal entlang – was hat er denn hier zu suchen?

Hundert Nadelspitzen schlugen Heinrich aus der Stirn.

Aber sie wollten doch nicht vor Mittwoch kommen – nicht vor Mittwoch! Nein, er sah gar nicht hin nach dem Wagen. Er wußte genau, wer dadrin saß. Er fühlte es in den Nerven, so wie man im Halbschlaf fühlt, wenn jemand im Zimmer ist.

Also, nun mußte er ja sowieso diesen Abend zu Hause bleiben. Der Frage war er auf jeden Fall enthoben. Sonst hatte er sich immer gefreut, wenn der Vater von einer Reise zurückkam. Mehr als er sich zugeben mochte. Denn wenn sie auch ganz verschieden waren und stets äußerlich kühl und fast förmlich blieben, so kamen sie doch nicht schlecht miteinander aus und waren sich in ihrer Weise zugetan wie zwei, die eben schon lange Zeit beisammen sind und aufeinander angewiesen.

Aber das war nun mit einem Mal ganz anders geworden. Und in Heinrich Schön schlug im Augenblick die lange zurückgedämmte Erregung hoch, und er mußte mit sich kämpfen, hart kämpfen, um das Blut zur Ruhe zu zwingen. Nun, auf die Dauer würde er ja doch nicht mit dieser Person unter einem Dach bleiben.

Ach – und die Straße lag da, ganz unbefangen, so schön hell im Mondenschein Haus bei Haus, mit den dünnen Schattenmustern der Bäume auf den Wänden. Und da war ja ihre Auffahrt, die Rampe, das geschwungene Vortreppchen, breit und einladend. Die vier Steinpfeiler standen wie immer grünlich und grau mit den schwarzen Kugeln aus Eisenbändern darauf, und das leichte, sich windende Blätterwerk des Gitters schwebte und schwang sich rechts und links, hinauf und hinab und hinüber, von einem zum andern. Ganz deutlich sah man, wie es mit jeder Eisenknospe und jeder Eisenranke seinen dünnen beweglichen Schatten über den hellen Weg, die geschnitzte Tür und auf die helle Mauer warf. Und die zwei kugeligen Linden rechts und links, die unten Wache hielten – nicht vor den beiden Enden der Freitreppe, sondern in der Mitte, dort, wo sie sich in eine kleine Steinbank ausbauchten –, sie taten eben das gleiche und zeichneten im Mondlicht ihr Seidenlaub nach auf die grünliche Wand und über die gewölbten, sprühenden Katzenaugen der Scheiben hin. Ganz still träumte das alles ... Und doch schien schon irgend etwas sich zu regen, irgend etwas schien aufzuhorchen, zu erwachen in diesem Haus, weil ein Wagen vor ihm halten wollte. Um einen vorüberfahrenden Wagen hätte sich das Haus nie gekümmert. Aber von einer Kalesche, die anhalten will, nimmt ein altes, rechtes und ehrliches Haus stets Notiz.

Heinrich Schön überlegte, das heißt überlegte ohne Worte, ob er schnell hineinhuschen sollte, oder ob sich ihm etwa doch noch Gelegenheit böte, in Richtung Fischerstraße abzuschwenken.

Aber da sah er auch schon seinen Vater aussteigen, und er mußte lächeln – innerlich lächeln, nicht ohne Rührung –, daß dieser schon ein wenig bequeme Herr, daß der mürrische König Philipp wie ein junger Galan auf der anderen Seite der Kalesche herauskletterte und, ohne auf die Beschaffenheit des Dammes zu achten, eiligst hinten herumlief, damit er seiner jungen Frau den Kutschenschlag öffnen und ihr beim Aussteigen behilflich sein könnte.

Und da im Augenblick vergaß Heinrich Schön alles, was er den Abend gedacht und gesprochen, und sprang selbst von der anderen Seite zu, um zu helfen.

Und die beiden standen vor dem Wagen, vor dem Tritt, im Mondlicht sich gegenüber. Das junge zierliche Wesen in Silbergrau aber – ein wenig über ihnen –, das mit mattblauen Seidenschuhen nach dem Kutschentritt tappte, legte jedem, Vater und Sohn – Eduard Schön und Heinrich Schön –, rechts wie links, ganz zart und weich und doch für einen Mann fühlbar bis in die letzten Wirbel, eine ihrer kleinen Händchen auf die Schulter und verweilte so einen ganz kurzen Augenblick – kaum einen Bruchteil einer Sekunde –, und doch lange genug, um gleichsam damit anzukündigen, daß sie von diesen beiden nunmehr Besitz ergriffe – nur einen Bruchteil einer Sekunde verweilte sie, ehe sie lächelnd zu den zweien auf die gleiche Höhe hinanstieg.

»Sieh an – der Junge! Wo kommst du denn her? Bist du nicht bei deinem Hannchen?« rief König Philipp laut und lachend durch die Nacht und mehr rhetorisch, als daß er eine Antwort erwartete.

»Wir wollten Heinrich eigentlich überraschen«, kam es fast gleichzeitig von einer weichen, nicht hohen Stimme mit einem leisen vibrierenden Nebenklang, einer Stimme von sattem, gedämpftem Rot, die sich anschmiegte und streichelte. »Schade!«

»Ich hab' mir schon gedacht, daß Sie, daß heute meine neue kleine Frau Mutter kommt«, log Heinrich Schön freundlich, das heißt, er wollte sich einreden, daß er sich zur Freundlichkeit zwänge, aber es war ihm das keineswegs so schwergefallen, wie er geglaubt hätte.

»Vater und Mutter sind was für kleine Kinder«, unterbrach der alte Schön und sah von einem zum andern. »Große Menschen sind gut Freund miteinander – das ist mehr wert.«

Heinrich Schön blickte seinen Vater ungläubig und erstaunt an. Diese Melodie war ihm ganz neu. Die kannte er von ihm noch nicht.

Und Eduard Schön fühlte diesen Blick, trotz Dämmer und Mondschein.

Sie waren sich eigentlich nicht sehr gleich beide. Nur, daß sie alle zwei keine Schlafrockmenschen waren, sondern solche, die von früh bis in die Nacht gestiefelt und gespornt waren – wörtlich und bildlich. Aber sonst waren sie sich wirklich nicht sehr ähnlich. Der Alte war gut einen Kopf kleiner als Heinrich. Sehr adrett vom Scheitel bis zur Sohle, in braunem Rock, lehmfarbener Weste und hellen Beinkleidern; ansehnlich und voll Haltung – und steif das Kinn zwischen den Vatermördern über der kunstvoll geschlungenen, breiten Krawatte. Alles an dem breiten, bartlosen Gesicht war scharf wie mit dem Messer geschnitten, und jeder Zug dann noch eigens mit dem Grabstichel nachgearbeitet, hart, klar. Graue Augen, kalt wie graue Steine. Und ein schmaler Mund, gerade wie ein Strich, von dem man nicht glaubte, daß er je lächelnd Lippe von Lippe bringen könnte. Von der geraden Nase aber zum Mund und vom Mund zum Kinn – wieder die tiefen, harten, scharf gezogenen Linien des Grabstichels. Und um die Augen weiter solche, nur daß sie feiner und spitzer ausliefen. Aber immer Linien – Linien. Und dazu vor die Ohren gestrichen das angegraute Haar, aber noch voll, streng gescheitelt, ganz glatt und gepflegt; doch durch das jahrzehntelange unerbittliche Striegeln und Bügeln um jede Willkür gebracht, um jede Eigenheit als Haar, so daß es ganz den Charakter des Gesichts angenommen hatte: mit dem Messer geschnitten und mit dem Grabstichel nachgearbeitet.

Man fühlte eben an allem, daß dieser Mann, der von anderen soviel forderte wie von sich selbst, gewiß nicht ungerecht war, aber wenig Sinn hatte für Dinge und Menschen, die außerhalb seiner Linie lagen. Und deswegen mußte zwischen ihm und Heinrich Schön so etwas wie eine Fremdheit und geheime Spannung bestehen – das drängte sich einem auf, wenn man die zwei nur nebeneinander sah.

Bei Heinrich Schön – das war eben eine andere Rasse. Es mußte durch die Mutter irgendwie ein ganz anderes Blut hineingekommen sein – oder von wer weiß wann wieder plötzlich durchgeschlagen sein –, so wie sich durch eine zehnmal überweißte Wand das alte Rot oder Gold, das sie einst trug, wieder hindurchfrißt. Denn der Mutter sah Heinrich Schön eigentlich ja auch nicht sehr ähnlich. Er war schlank, ging etwas lässig und vornübergebeugt, hatte ein schmales, längliches Gesicht, bräunliche Haut, hohe, gewölbte Stirn, schmale, eingeschnürte Schläfen und sehr dunkle Augen, die weich und lässig waren, ebenso wie der weiche, kleine, etwas sinnliche Mund, der stets sich wie lächelnd öffnete. Und das weiche, etwas sinnliche Kinn. Aber eine scharfe, etwas gebogene Nase mit feinen Flügeln, dünnen, beweglichen Flügeln, hob doch wieder das auf, was vielleicht Auge und Mund zu verraten schienen, und gab Willen und Tatkraft, die doppelt überzeugten, weil sie nicht wie bei Eduard Schön offensichtlich zur Schau getragen wurden und das ganze Wesen infiziert hatten. Nebenbei versprach der Kopf mehr, als er hielt. Da kam man schnell dahinter. Das Unbewußte hatte ihn geformt, das Verborgene, noch Schlummernde, nicht das Bewußte und Seiende. Aber man mochte trotzdem Heinrich Schön gern ansehen. Und vor allem Frauen kamen nicht leicht mit den Augen von diesem Gesicht los. Vielleicht gerade deshalb, weil sie fühlten, daß der junge Mensch da noch gar nicht wußte, welche Macht er über sie haben konnte, und wie ein scheuer Junge dort bettelte, wo er selbstherrlich schenken durfte... Nein, zwischen Eduard und Heinrich Schön mußte Spannung sein, von je, von seiner Schulbank, von seiner Kinderstube an. Wenn sie auch nie bisher zu harten oder grellen Zusammenstößen geführt hatte.

Und vielleicht empfand das die junge Frau, als sie jetzt von einem zum anderen blickte und dann mit den Augen auf Eduard Schön haftenblieb, als wollte sie sagen: Höre mal, wie kommst du eigentlich zu so einem Sohn, der so ganz anders ist, als du bist?

»Nun bin ich aber froh, daß wir bei uns zu Hause sind, Antonie. Ob uns Frau Petzel nicht gehört hat?« rief Eduard Schön, während er gemächlich so im Mondschein die breiten, geschwungenen Stufen hinaufging, neben seiner jungen Frau und Heinrich Schön.

Aber da bog sich auch schon der Messinggriff der alten, eichengeschnitzten Tür herunter, der schwere Türflügel knarrte auf, und ein erhobenes Etwas – es steckte in schlotterndem Weiß – kam zuerst mit einem dreiarmigen Messingleuchter, auf dem drei gelbe Kerzen flackerten, zwischen der Türspalte hervor. Und dann, wie sich die Tür weiter öffnete, gewahrte man halb im Kerzengeflacker, halb im Mondschein Frau Petzel, oben säuberlich von einer puffigen Haube umrahmt, unten aber in flatternder Dürre von Nachtjacke und rosa Flanell umhüllt.

»Ach, der Herr ist da, und die junge Frau – und so unerwartet! Das ist aber nett! Wenn ich nur geahnt hätte, so hätte ich wenigstens...«

Eduard Schön sah etwas indigniert an Frau Petzel vorbei, in den dämmrigen, breiten Hausgang hinein, in dem irgendwo hinten eine weiße Treppe in großem Bogen aufwärts führte. Und dann blickte er wie entschuldigend zu seiner jungen Frau herüber. Er schämte sich. Das war ja ein vornehmer Empfang. Hätte er doch geschrieben!

Aber die zwinkerte lustig und spinös mit den Augenwinkeln. »Macbethen, nich trippen!« flüsterte sie in Erinnerung an irgendeine Berliner Anekdote.

Und Heinrich Schön, für den das etwas war, begann zu lachen. Er wollte es eigentlich nicht. Und im gleichen Augenblick gluckste und zwitscherte seine neue Mutter los wie jemand, der ein Instrument, das er lange Zeit nicht in der Hand gehabt, mit ersten, zagen Griffen wieder erprobt, ob es auch nicht gelitten und ob er auch noch drauf spielen kann. Und Heinrich Schön lachte nur noch mehr und noch lauter. Und Antonie Schön geborene Arnstein, Frau seines Vaters, erwiderte dieses Lachen. Und irgendwo ganz außerhalb waren plötzlich die anderen, und nur die beiden jungen Menschen mit ihrem Lachen waren allein.

»Nun, jedenfalls freut es mich«, sagte Eduard Schön lehrsam, »daß du so vergnügt in dein neues Heim einziehst. Das ist Frau Petzel – du mußt dich gut mit ihr stellen.«

»O Madame«, sagte Frau Petzel und verbeugte sich knicksend, was bei ihrer Tracht etwas absonderlich wirkte.

»Wegen der Schlüsselgewalt und der Kochgeheimnisse, nicht wahr, Petzeln?«

»Ach ja – mein Mann hat mir viel von Ihnen erzählt.«

»Und das ist Auguste, ihre rechte Hand. Nicht wahr, Auguste?«

Und Auguste, die auch von irgendwoher aufgetaucht war – eine breite, tatkräftige und vierschrötige Fischerstochter aus Ferch, die, solange ihr Bräutigam bei den roten Husaren diente, gleichfalls zu dessen Leidwesen hier in Potsdam Dienst genommen hatte –, Auguste zog schon mehrmals erst den roten Handrücken und dann die schwielige Handfläche über die kräftige Rundung der weißen Schürze hin (Auguste war noch unentblättert, im Gegensatz zur Petzeln), um sich für die Dinge vorzubereiten, die da kommen würden. Aber die junge Frau Schön war nicht sehr für Händeschütteln. Das lag ihr nicht. Solche Bewegungen übersah sie mit einer Gelassenheit, die ihren Jahren alle Ehre machte.

»Ach, Auguste«, sagte sie nur und lächelte, daß man weiße Oberzähne sah.

»Und das ist Wilhelm.« Und Eduard Schön winkte einem mürrischen kleinen Mann in blauer Schürze zu, der hinten im Hausgang etwas unschlüssig eine alte Stallaterne schwenkte. »Na, Wilhelm, was machst du? – Wilhelm, siehst du, hat die tägliche Sisyphusarbeit, das Kontor zu reinigen. Aber auch jene Omphale« – er wies auf Frau Petzel – »spannt ihn sich ein, und wenn wir Gesellschaft haben, dann verwandelt er sich in Ganymed, der den Göttern die Speisen zuträgt.«

Die junge Frau lächelte wieder. Aber dieses Mal lag das Lächeln in den Augen und ging zu ihrem Mann hinüber wie der Sprühregen eines chinesischen Feuerwerkstäbchens, das in ganz kleinen, schnell folgenden Sternchen angenehm prickelnd verpufft.

Hoho, sagte sich Heinrich Schön, reizend! Sieh einer den Alten Herrn! Gustav Schwab, die schönsten Sagen des klassischen Altertums! Warum auch nicht? – Orpheus machte Steine tanzen.

»Nun haben dir aber alle ihre Aufwartung gemacht. Bloß unser alter Buchhalter, der Müllner, fehlt noch. Müllner wohnt nämlich auch bei uns, oben in der Mansarde. Man hat ihn schon mit eingebaut, damals, als der Alte Fritz das Haus errichten ließ. Aber Sonnabend, weißt du – na, es hat so jeder seine Eigenheiten+... Also; Petzeln, wie ist das? Können wir noch etwas bekommen? Solch einen kleinen Magenschluß? – Laß nur, Antonie. Die Petzeln wird schon noch etwas im Hintergrunde haben. Und du, Heinrich, hilfst uns dabei+... Wo warst du denn? Bei den ›Unmöglichen‹, wie dein Busenfreund von Maltitz immer sagt? – Ein ganz amüsanter Bursche, dieser von Maltitz, Antonie. Aber zweimal durchs Fegefeuer gegangen. Also? Wo? Na, auf uns kannst du rechnen, auf mich und Antonie. Wir klatschen nichts an Hannchen weiter. Das versprechen wir hoch und heilig. Nicht wahr?«

Eigentümlich, Heinrich Schön war doch gewiß sonst bei seinesgleichen nicht um eine Antwort verlegen. Aber sobald er seinem Vater gegenüberstand, war ihm die Rede abgeschnitten, und er brachte nur gleichgültiges Zeug heraus, so daß eigentlich von allen Menschen dieser Welt gerade einer ihn nie so gesehen hatte, wie er war und sich gab, und zwar – wie das so geht – gerade der, der ihn am besten kennen sollte.

Doch da stieß schon die vierschrötige Auguste, die auf einen Wink der Frau Petzel schnell hereingelaufen war und in aller Hast Kerzen angezündet hatte – hier und da drüben, immer ein paar an Kronen und Wandleuchtern, wo es gerade traf –, stieß schon Auguste rechter Hand eine breite Doppeltür auf, so daß die Innenseite mit dem vergoldeten Muschelwerk nach außen schlug wie der köstliche, reich verzierte Titel eines Buches, das sich unvermutet aufblättert. Dahinter aber schwebte nun der große, mattblaue Raum mit seinen tauigen Kristallkronen und Wandampeln, mit dunklen Pfeilerbildern und Türgemälden, mit all seinen altmodisch gerundeten Möbeln in rötlichem, vielfach gebrochenem Kerzenschimmer. Denn die langen und willkürlich geteilten Spiegel, die in Vergoldung zwischen den Fenstern saßen, und die vielen kleinen Spiegelgläser, die oben noch in das goldene Spinnennetz eingesetzt waren, das von Ecke zu Ecke kleine, wohlgenährte, sich rekelnde Putten über die Decke hin ausgespannt hielten – sie fingen alle den rötlichen Kerzenschimmer, ließen ihn aufflackern und blitzen, warfen ihn sich zu, von hier nach dort, und woben ihn zu lichten Schleiern durcheinander, die den ganzen langen Raum mit ihren zitternden Schwingungen erfüllten. »Nun, Antonie, wie gefällt es dir – bei dir?« sagte Eduard Schön. »Richtig, du bist ja noch nie hier draußen gewesen.« »Ist das immer so fein bei uns?« meinte die junge Frau, und sie lächelte wieder mit den Augen – ein zweites Lächeln für ihre Vertrauten. Eine andere hätte vielleicht übermäßige Freude und Entzücken zur Schau getragen, denn dieser Raum, von Großvater her ganz unverändert, hatte in Bürgerhäusern, selbst in Potsdam, kaum noch seinesgleichen und wurde nur noch durch den großen Saal oben im ersten Stock überboten.

Aber die junge Person hier war eine von denen, denen man nichts schenken konnte und die selbst die reichste Gabe immer noch durch das Geschenk überbot, daß sie sie annahm.

Eduard Schön hob mit so zarten Fingern, als wolle er eine Seidenprobe gegen das Licht halten, ihr den silbergrauen Umhang von den Schultern und breitete ihn sorgfältig über einen Sessel aus. Und einen Augenblick stand die junge Frau noch in ihrer Schute, ließ den Kopf nach rechts und links gehen, mit dunklen, aufnehmenden Augen, von den römischen Landschaften mit ihren malerisch grauen Ruinen in hohen Wandfeldern zu Pan und Syrinx und von Pan und Syrinx zu Luna und Endymion, ehe sie langsam, mit verträumten Fingern – alles an ihr war in Betrachtung versunken – die breiten Schleifenbänder aufband und den Hut (sie schüttelte dabei die Locken an den Schläfen zurecht), als müsse das so sein, Heinrich zureichte, damit er ihn irgendwo solange unterbrächte, bis sie ihn selbst nachher wieder an sich nehme. Sie wußte Männer zu beschäftigen.

Heinrich Schön sah seiner jungen neuen Mutter eigentlich zum ersten Mal in seinem Leben in diesem Augenblick frei ins Gesicht. Er hatte sie in Berlin ein paarmal besuchen müssen, aber er hatte sie nie angesehen. Und sie war damals auch noch nicht die gewesen, die sie heute war. Da war sie noch Tochter, noch halb befangen, halb bedrückt; nicht groß, zierlich, leicht zu übersehen, man mußte sie entdecken, aus ihrer Umgebung herausschälen, um zu empfinden, daß sie mehr war als ein absonderliches, etwas verzogenes Mädchen, daß hinter ihrer dunkelfarbigen scheinbaren Häßlichkeit, hinter diesen fast ungleichmäßigen Zügen – sie hatten etwas von einer edlen, aber im Guß ein wenig mißlungenen Bronze –, daß dahinter eines schlummerte, das die Alltäglichkeit der offenkundigen Schönheit weit zurückließ. Und nun war in wenigen Wochen alles Unfreie, Befangene, Bedrückte und Unbefriedigt-Suchende von ihr abgefallen wie der Kelch des Mohns, wenn die Blütenblätter sich glätten und öffnen. Klugheit, Witz und Leidenschaft aber hatten, befreit, begonnen, Augen und Züge, Haltung und Gestalt, Sprache und Bewegung umzuformen.

Heinrich Schön konnte sich dem nicht entziehen, so gern er sich auch Lügen gestraft hätte. Er wollte irgendwoanders hinsehen, ganz unbefangen, aber er kam nicht mit den Blicken von ihr los, wie sie jetzt so mitten im blauen Raum stand und die Augen schweigend und versonnen wandern ließ – hell im Kerzenlicht, mit ihrem weißen Kleid aus irgendeinem weichen Sommerstoff. Ganz, ganz schlicht war das; nur mit einem schmalen Streifen veilchenfarbiger Seide besetzt um den einfach gelegten Schal, der das Mieder teilte, um den Doppelvolant des bauschigen Rocks und um die drei Rüschen, in denen die kurzen Halbärmel herabfielen. Das längliche überschattete Gesicht zwischen den blauschwarzen Haarwellen jedoch, Schultern und Hals und schlanke, schmale Arme und der schöne, breite, gefüllte Raum oberhalb der Brüste glänzten daraus hervor wie Perlmutter. Aber nicht wie rosiges, weißes Perlmutter, sondern wie dunkles, solches von grünlichem Silberglanz.

Heinrich Schön erinnerte es an Eidechsen, die im Süden an den Mauern der Weingärten emporhuschen. Oder Brandek hatte schon nicht unrecht: wie ein brasilianischer Kolibri. Nein, das schien nicht nur wie letztes verwässertes Spaniolenblut wie bei ihm, sondern Spaniolenblut, das in Urwäldern, in Tropenhitze und Fiebern Feuer, Grazie und kranke Müdigkeit in sich eingetrunken hatte. Wie hatte er doch gesagt, der Brandek? Ein erotisches Wunder ... Aber hübsch wie Hannchen war sie nun einmal durchaus nicht. Und jung eigentlich sah sie auch nicht aus. Ihm lag diese Sorte wirklich nicht. Immerhin, die Augen hatten schon Leben, und um die Nasenflügel – klein, gemeißelt, wie bei edlen Pferden –, da zitterte schon das Widerspiel von Laune. Gott, und das ganze Ding war erst eben dreiundzwanzig. Vier Jahre jünger als er, nur ein Jahr älter als Hannchen. Und sollte mit einem Mann, der vierunddreißig Jahre länger Lotse in den Stürmen ...

»Na, Heinrich«, rief Eduard Schön, der etwas von den halbbewußten Gedanken, die sich der Luft mitgeteilt zu haben schienen, erraten hatte, »na, Heinrich, du siehst dir ja deine neue Mutter recht genau an. Gefällt sie dir denn? Nicht wahr, so alte Seidenweber wie wir wissen, was hübsch ist. Ihr müßt euch aber miteinander vertragen – hört ihr?«

»Oh«, rief Heinrich Schön lachend, während er den Hut unterbrachte, »an mir soll's nicht liegen – ich bin kein Spielverderber.«

»Na weißt du«, sagte Eduard Schön zu seiner Frau, »der Junge hat leider nie eine Schwester gehabt, bei der er ein Privatissimum in Courtoisie hätte belegen können. Und Hannchens Erziehung läßt noch sehr viel zu wünschen übrig. Solange sie mit ihm nur verlobt ist, wagt sie sich noch nicht recht mit der Sprache heraus. Na, das wird später schon anders, nicht wahr?«

Indessen hatten Frau Petzel und Auguste lautlos aufgedeckt, hinten an einem ovalen Tisch, ohne daß ihnen jemand gesagt hätte, daß sie heute hier hätten essen wollen und nicht oben in dem kahlen Zimmerchen, wo sie sonst zu speisen pflegten. Und sie hatten feines Porzellangeschirr mit braunroter Bemalung aus den Glasschränken genommen, das sonst nur höchstens einmal im Jahr zu Ehren kam; Silber und Weinkannen, Gläser, reich geschliffene grüne und purpurne; große dreiarmige Leuchter mit schweren Kerzen hatten sie entzündet über alldem und so ein kleines lichtes Eckchen geschaffen, eine freundlich einladende Oase inmitten der prunkend-altmodischen Feierlichkeit des Raumes.

Und ganz zauberhaft schnell hatte Frau Petzel roten und weißen Wein eingegossen und allerhand angenehme Dinge in die geschweiften Porzellanschüsseln getan: kaltes Geflügel und eingelegte Fische, gezuckerte Früchte und Fleischsalat. Zerbrechliches Gebäck hatte sie in einem Silberkorb zu einer kunstreichen Pyramide geschichtet. Sogar eine nicht mal alltägliche Eierspeise stieß – unvermutet, wie Ziethen aus dem Busch – zu den übrigen Truppen, kaum daß die drei Platz genommen hatten. Und zu alledem hatte Frau Petzel noch Zeit gefunden, das Aphoristische ihres Äußeren in epische Breite einzukleiden. Wie sie all das fertiggebracht hatte, das war ihr Geheimnis, selbst wenn man die Erfahrung und Umsicht einiger Dezennien dabei in Anschlag brachte.

»Du hast ganz recht gehabt«, sagte Antonie Schön geborene Arnstein leise und flüsternd, und gerade das stimmte zum Augenblick, »mit der muß man sich stellen. Ein reines Tischleindeckdich – wie hervorgezaubert! Und wie charmant das alles angerichtet ist. Wirklich – ein improvisiertes Gedicht ohne einen falschen Reim. Der Improvisator Langenschwarz könnte das nicht.«

»Nun«, meinte Eduard Schön, »unser neuer König« – er nannte ihn stets so, trotzdem das Königsein doch schon in vier Jahren für jenen den Reiz der Neuheit verloren haben mußte –, »unser neuer König, der könnte auch froh sein, mein Liebling, wenn unter all seinen Ministern auch nur einer wäre, wie du ihn hier übernimmst.«

»Aber eins sage ich euch«, rief die junge Frau, »von so feinem Porzellan wird bei uns nicht für alle Tage gegessen. Ich würde mich zu Tode grämen, und das wollt ihr beide doch gewiß nicht – von dir weiß ich es zwar, aber von Heinrich ist mir das nicht so sicher –, zu Tode, wenn davon auch nur bei einer Sauciere die Tülle abgestoßen würde.«

»Oh«, sagte Heinrich, »dieser Gefahr werden wir nicht ausgesetzt sein. Wir essen gewiß nur heute zu Ehren der jungen Herrin vom Großvaterporzellan. Wie ich die Petzel kenne, deckt sie morgen schon wieder mit dem Alltagsgeschirr. Und da kann niemand behaupten, daß er sich zu Tode weinen würde, wenn von einer Sauciere der Henkel abgestoßen wird. Im Gegenteil, ein Mensch von Geschmack würde es sogar als Wohltat empfinden. Es ist solch höchst philiströses, bedrucktes, rheinisches Steinzeug, wie man es jetzt hat. Aber wie wir die Hände unserer Fercher-Auguste das erste Mal zu sehen bekamen, beschlossen wir beide, Vater und ich, einstimmig, zu Steingut überzugehen.«

Die junge Frau Schön lachte leicht und flackernd. Nette und wohlgesetzte Worte erfüllten sie stets mit silbernem Behagen. Und auch Eduard Schön versuchte seiner Heiterkeit Ausdruck zu geben, soweit das für ihn möglich war. Er war innerlich froh darüber, daß sich alles so gut anließ und daß seine junge Frau für Heinrich so sicher und unbefangen den Ton traf.

Denn warum es leugnen? Es hatte erst Mißhelligkeiten zwischen Vater und Sohn gegeben, und selbst als schon scheinbar der Frieden geschlossen war, hatte sich Heinrich Schön noch geweigert, bei der Trauung zu erscheinen. Und er hatte hierfür eine geschäftliche Reise zum Vorwand genommen, die er nicht unterbrechen könne. Eduard Schön aber wünschte um alles in der Welt nicht, daß sich diese Szenen nun wiederholten; schon seiner jungen Frau wegen nicht, die doch von dem nichts wissen und merken durfte, was hier hinter dem Vorhang sich ereignet hatte – und die es natürlich gerade deswegen wußte und gemerkt hatte. Ebenso wie sie ja nicht wissen und merken durfte, daß sie der Tauschwert war, die Sicherheit, die das befreundete Haus Markus Arnstein gestellt hatte – dafür, daß es von den Potsdamer Schöns gestützt worden war; und die doch das von der ersten Stunde an gewußt hatte und die Eltern schwer hatte fühlen lassen, daß sie es wußte, ohne daß sie es deshalb auch nur mit einer Silbe erwähnt hätte oder daß es ihr gegenüber erwähnt worden wäre. Nein, Antonie Arnstein war nicht solch eine, der man lange Vorträge zu halten brauchte über etwas, das sich begeben hatte und das mit seiner stummen, schwingenden Anwesenheit die Räume und die Seelen erfüllte. Sie sah schon den Dingen auf den Grund, wenn sie auch über sie hinweglächelte.

»Es wäre auch undankbar von uns, dieses Porzellan nicht hoch in Ehren zu halten«, rief Eduard Schön immer noch lachend, »denn von ihm sollte eigentlich Heinrichs Anwesenheit in Potsdam behördlich abhängig gemacht werden, ja, fast möchte ich sagen, seine Anwesenheit an sich.«

Heinrich Schön zog die Stirn in Falten.

»Warum?« fragte Frau Antonie leichthin und lächelte leise in sich hinein, während sie sich vorbeugte, um durch das Knipsglas die zierliche rotbraune Malerei auf der Rundung einer Salatiere zu betrachten. »Ich sehe zwar, zärtlich genug geht es hier gewißlich zu auf diesen rosigen Wolkenkissen, und an Liebesgöttern fehlt es auch nicht. Immerhin, Eduard, bin ich etwas im ungewissen über die kausalen Zusammenhänge.«

»Ganz einfach, mein Liebling«, sagte Eduard Schön recht langsam, und er weidete sich dabei an dem Ausdruck lebhafter Spannung im Gesicht seiner Frau, »weil für dieses Porzellan-Service, von dem wir heute essen, aus der Königlichen Manufacture – es kostete hundert Friedrichsdor –, es dem Schutzjuden Samuel David Schön auf besonderes Ansuchen huldvollst permettieret wurde, alle seine Kinder am Ort zu verheiraten. Und das jüngste eben jener Kinder – für das das ganz besonders galt – ist ein gewisser Eduard Schön. Und eben jener Eduard Schön hätte sicherlich noch auf diesen Freibrief mal zurückgreifen müssen – er liegt wohlverwahrt in dem Geheimfach meines Sekretärs –, wenn nicht inzwischen der Kaiser der Franzosen und der Pastor Schulze von der Nikolaikirche sich seiner angenommen hätten. Das heißt, der eine mehr der mosaischen Gesamtheit, der andere hingegen seiner persönlich. Und so steht – wenn auch etwas weitläufig, liebe Antonie – diese Bratenschüssel hier mit meinem Sohn Heinrich in Beziehung. Komm, wir wollen ihn leben lassen – ihn und sein Hannchen!«

»Nein«, rief Heinrich belustigt, »das wäre unrecht. Wir wollen doch erst einmal auf das Wohl der jungen Herrin trinken. Ich habe es noch gar nicht getan – ich muß es nachholen. Später komme ich, kommen wir erst.«

Antonie Schön hob das Glas und winkte Heinrich nur mit den Augen zu. Aber Heinrich fühlte das mehr, wie wenn die Gläser geklungen hätten, empfand das, als ob ihn jemand streichelte.

»Also – Hannchen! Ich freue mich schon auf sie wie auf eine neue Freundin«, sagte sie und drehte dann, statt abzusetzen, das Glas noch eine ganze Weile bewundernd hin und her.

»Der vielen Bilder künstlich reiche Pracht,
Des Trinkers Pflicht, sie reimweis zu erklären.«

Eduard Schön nickte und lächelte etwas beängstigt, wie jemand, der ohne Schlittschuh über eine Eisbahn gehen soll.

Heinrich Schön schüttete den dunklen Wein mit einem langen Zug hinter und setzte sein Glas nieder. »Das ist ein Saft, der eilends trunken macht.«

Eduard Schön atmete auf, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte.

Frau Antonie aber hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und betrachtete immer noch den roten und goldenen, reichgeschliffenen Kelch, den sie – den bloßen Ellbogen auf das Damasttuch gestützt – in der Hand hielt. Und Hand und Glas schienen zusammenzugehören und ineinander überzugehen. Der Wein jedoch hatte ihr Farbe in die Wangen gebracht und trieb einen zitternden Unterstrom von Rosenrot unter dem dunklen Perlmutt der Haut dahin.

Eduard Schön kam nicht mit den Augen von ihrem Gesicht los. Und auch Heinrich Schön fühlte sich durch den Wein, die Kerzen, den feierlichen Raum und durch die zierliche Eigenart seiner neuen jungen Mutter seltsam bewegt. Er hätte sprechen mögen – hübsche Dinge liebenswürdig sagen, Musik hören mögen, Gedichten lauschen, schweigend und behaglich auf das Knistern der Kerzen achten. Er hatte das Gefühl des Schwimmens, des Getragenwerdens von einem kristallenen Element, das ihn in lauen Wellen umstrich. Und er glaubte, daß das nur von dem Burgunder käme.

»Ja«, begann er, »auch die Gläser hier haben ihr Schicksal und ihre Geschichte – alles hat hier seine Geschichte: ich, der Vater, die Petzel, Auguste, der alte Müllner, jedes Bild an der Wand. Und die junge Frau wird hier auch noch ... Nein, aber ich wollte von den Gläsern sprechen. Da war einmal ein Mann, das war ein großer Zauberer, und der sagte, er könne Gold machen. Und hier auf dem Kaninchenwerder – was man heute die Pfaueninsel heißt –, da hatte er seine Öfen und Schmelztiegel und Pfannen, und der Rauch stieg in dicken Wolken von der einsamen Insel empor, so daß niemand sich dahin traute. Denn in stockfinsterer Nacht sah man den Zauberer oft am Ufer in einem Feuerschein auf und ab wandeln. Und ein großer, feuriger Hund lief heulend hinter ihm her. Oder er fuhr auch auf der Havel – nicht in einem Boot, sondern in einem mächtigen goldenen Schwan dahin, der, von unsichtbarer Hand getrieben, langsam und flügelschlagend, majestätisch über die Wasserfläche glitt. Auch zeigte er einmal draußen der ganzen Hofgesellschaft die Gräfin im Tauberg. Er zündete in einer Mainacht ein Feuer an, hüllte sich in einen maulwurfsgrauen Mantel, warf allerhand Gewürze und Salze in die Glut hinein, sprach ein unheimliches Abrakadabra. Und wie sich der Rauch verzogen hatte, da sah man durch den Hügel, vor dem sie standen, hindurch, als ob er aus Glas wäre. Und man sah, mit einer Spindel und in verschollener Tracht, die schöne Gräfin, die verzauberte Gräfin im Tauberg ... Ja, und dann hat dieser Alchimist auch Gläser gemacht, rote Rubingläser. Und weil er selbst Kunkel von Löwenstern hieß, so nennt man die Gläser noch heute Kunkelgläser. Und das ist ihre Eigenart: Wenn man so eins« – Heinrich hatte seinen Pokal schon lange zur Hand genommen und während des Erzählens immer, als ob er etwas an ihm entdecken wollte, in den sprühenden, rubinleuchtenden Schliff geblickt –, »ja, wenn man in so eins nur lange genug hineinblickt, so kann man auch die schöne Gräfin im Tauberg darin sehen. Nicht jeder – gewiß nicht jeder, aber ich zum Beispiel sehe sie jetzt.«

Eduard Schön wurde lauter, als es sonst seine Art war. »Ich auch!« rief er. »Ich auch! Das war ja eine ganze Rede, Heinrich. Seitdem er mit Hannchen verlobt ist, entdeckt man immer neue Gaben an ihm.«

Frau Antonie bestätigte mit einem Lächeln – mit ihrem zweiten Lächeln in den Augenwinkeln für ihre Freunde und Vertrauten –, daß sie diese Huldigung verstanden hatte.

»Weißt du, Heinrich«, sagte Eduard Schön ganz leise und ziemlich unvermittelt, »ich glaube, ein junger Mensch begreift so etwas gar nicht ... Ich wenigstens habe es früher nicht gewußt, heute weiß ich es: Das Schönste, was es auf der Welt gibt, ist doch das Lächeln einer Frau.«

Heinrich Schön sah seinen Vater an und fühlte ein Stechen in den Augenwinkeln.

Aber die junge Frau schien auf die Worte nicht geachtet zu haben.

»Der hat schon recht, der gesagt hat: Nicht weniger als die Zahl der Grazien und nicht mehr als die Zahl der Musen dürfen um einen Tisch sitzen«, meinte sie mit halbgeschlossenen Wimpern. »Aber ich ziehe doch noch die Zahl der Grazien vor.«

»Darüber ist gar kein Wort zu verlieren«, rief Heinrich.

»Du bist ungerecht, mein Liebchen«, warf Eduard Schön dazwischen. »War es nicht auch immer ganz nett zu zweien?«

»Gewiß«, meinte Frau Antonie, »aber ein rechtes Gespräch soll wie ein Federball sein: leicht, und man darf nie vorher wissen, wer ihn fängt und wer ihn zurückschlagen wird.«

»Ja, dann mußt du eben schon später mit Hannchen hier wohnen bleiben, Heinrich. Platz ist ja genug im Haus.«

»Warum nicht?« rief Heinrich lustig. Heute war er für alles zu haben.

Nun begann auch Antonie zu plaudern. Sie besaß die Kunst, kleine Erlebnisse amüsant zu servieren. Und sie erlebte immer etwas. Wenn sie über die Straße ging, fiel ein Milcheimer plötzlich um und schuf Verwirrung, und irgend jemand sagte gerade in dem Augenblick, wo sie vorüberschritt, ein Wort, das eine ganze Lebensgeschichte war. Jetzt schilderte sie die paar Hochzeitsgäste: unmögliche kleinstädtische Verwandte. Einer aus dem Magdeburgischen hätte nichts Besseres zu tun gehabt, als ihr bei der Gratulation eine lange Litanei zu erzählen von dem »Pappegei« einer Dame, der nur sprach, wenn man ihm Sauerkraut gab. Aber einmal, wie er da war, an ihrem Geburtstag, sollte er vorgeführt werden, aber »Pappegei fraß an dem Geburtztag den ganzen Sauerkraut und sagte gornischt«.

Die anderen lachten unbändig.

Und die jungen Leute aus dem Geschäft hätten auch an der Hochzeit teilgenommen. Da wäre einer, der ein wenig geistesschwach wäre, aber sonst eine brave und verläßliche Seele. Einmal hätte er Pech gehabt, als man ihn zum Militär ausheben wollte. Er würde schon freikommen, hatte er erklärt. Er würde einfach sagen, er hätte einen krummen und steifen Finger. »Am Mittag kam er schon wieder. ›Na, Karl‹, sagte mein Vater, ›wie war's denn?‹ – ›Strafkompanie Torgau‹, grinste Karl. ›Ach jeh, und warum denn das?‹ – ›Na, der Arzt hat gesagt: »'n steifen Finger haben Se? Lassen Se doch mal sehen. Und wie war er denn früher?« »Na so!« habe ich gezeigt.‹« Die junge Frau pikte mit ihrem spitzen, schlanken Zeigefinger über den Tisch. »›Strafkompanie Torgau‹, sagte der Offizier, der dabeisaß. Aber nachher ist Karl doch wieder zu uns ins Geschäft gekommen. Wo sollte er denn sonst hin! Und nun hält er sich Tauben hinten auf dem Speicher. Und wie wir von der Hochzeit weggingen – Eduard, du hast das vielleicht nicht gesehen –, da turkelte er immer auf dem Hof 'rum, hinter einer weißen Taube her, die gurrend in der Sonne zwischen den Steinen pickte und kreuz und quer lief und aufflatterte und sich wieder setzte, um wieder ein paar Schritte zu machen. Und Karl taktierte mit dem erhobenen Finger dazu und sagte sehr schwer, denn die Zunge wollte nicht mehr so recht: ›Taube, dein Herr ist besoffen! ‹ Und wenn die Taube, über diese Mitteilung bekümmert, nach einer anderen Ecke des Hofes flatterte, dann turkelte Karl immer wieder hinterher, um sich von neuem vor sie hinzustellen: ›Taube, dein Herr ist besoffen.‹ Und als dann die weiße Taube ganz verzweifelt oben auf die Dachrinne flog, da taktierte Karl ganz verstört und mühselig mit den beiden Händen zum Speicher hinauf, um dem Unschuldsvogel ja das traurige Ereignis einzuprägen: ›T-t-taube, dein Herr ist besoffen.‹« Es war köstlich, wie sie das mit einer halblauten, schmiegsamen, belustigten Stimme erzählte. Man sah ordentlich die Taube sich mit weißen Federn in der Sonne spreizen, hörte sie gurren und rucken und dazwischen immer wieder in angstvoller Steigerung die Stimme des Betrunkenen.

Eduard Schön fing an, von kaufmännischen Dingen zu berichten. Er hätte neue Muster mitgebracht, Züricher Neuheiten, in Crêpe Assandrine und Crêpe Garcia, in Barège, karierten Chamäleons und Gros Variés. Manches davon wäre sicher gut zu verwenden. Er glaube, daß die schottische und karierte Mode noch anhalten würde, und ob auch all seine Orders befolgt worden wären – er würde gewiß manches monieren müssen.

Heinrich Schön war keineswegs ohne Anteil für das Geschäft, ja, er liebte es sogar wie ein Erbgut, das jeder, der es bisher besessen, höher hielt als sich selbst, und das auch er einmal so halten wollte. Und er mochte ebensowenig die Aufregungen missen, die es mit sich brachte, die Anspannung der Nerven: ob auch das, was man auf den Markt werfen würde, Beifall fände oder ob es durch irgendeinen unberechenbaren Einfluß von irgendeiner Weltecke her plötzlich wertlos würde und unverlangt bliebe. Aber Heinrich Schön wußte trotzdem nichts, was ihm in diesem Augenblick gleichgültiger gewesen wäre als Crêpe Assandrine und karierte Chamäleons.

»Ja, ja«, sagte er und streckte die Nase über die Öffnung des Kelches. Wie der Wein duftete! Schade, daß Hannchen nicht da war! Und da gab es Menschen, die über Gros Variés reden mußten!

Die junge Frau Antonie Schön geborene Arnstein sah eine ganze Weile belustigt von ihrem Manne zu ihrem Sohn herüber.

»Höre mal, Eduard!« sagte sie endlich. »Ich liebe Blumen über alles. Aber ich habe immer einmal davon geträumt, damals, als ich in die Schule ging, ob man nicht Linnés Namen auf irgendeine Weise aus dem Gedächtnis der Menschen löschen könnte.«

Eduard Schön war noch nicht lange genug mit Frau Antonie verheiratet, um dies zu verstehen. Aber Heinrich Schön wußte schon, wo sie hinauswollte. Er begann sofort von irgend etwas anderm. Der alte Schön jedoch ging nicht so leicht über eine Unklarheit hinfort. Das war nicht seine Art.

»Wie meintest du doch, meine Gute?« fragte er freundlich, aber doch nicht ohne einen harten Klang irgendwo am Ende eines Wortes.

»Gott, Schatz«, sagte Frau Antonie mit einer ganz leisen Gequältheit im Ton, »ich liebe Seide über alles, ich bin zwischen Seide aufgewachsen – ich kann stundenlang mit den Fingerspitzen über einen schönen Coupon hinstreichen, ich kann darin wühlen, wenn sie ganz weich ist wie Crêpe de Chine, ich kann sie mir an die Schläfen halten, weil sie kühler als Eis ist, und ich kann sie in die Sonne legen, dann strahlt sie wie die schönsten Blumen. Aber ich will nicht wissen, ob sie beschwert ist und wieviel Fäden+... Wenigstens heute nicht, Schatz. Ich habe schon zu Hause nichts anderes gehört. Dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr könnt ihr, kannst du mir jeden Tag einen ganzen Vormittag lang davon erzählen, und ich will mir Mühe geben, alles zu lernen – aber nicht heute, wo ich die erste Stunde hier bin! Da will ich mir einreden, ich bin eine Fürstin, die mit zwei vertrauten Freunden im blauen Saal ihres Schlosses+... Ich bin eines gestrengen Großherzogs Favoritin, mit einem Kopf voll Kapricen und Launen – und wenn ich will, so werfe ich das Glas gegen die Wand+... Nein, nein, ich tue es ja nicht! Oder stampfe mit meinen hohen Hackenschuhen über königliches Porcelaine dahin – du sagst doch immer ›Porcelaine‹ – oder winke einem Pagen, der zitternd und mit großen, verliebten Augen hinter meinem Stuhl steht, er soll mir das letzte Madrigal bringen und die Kerzen am Spinett entzünden – ich möchte ein wenig singen –, er soll mir den Almanach reichen, in dem der Hofdichter in altmodischen, neckischen Reimen meine zärtliche Schönheit+..., aber nichts heute von dem neuen englischen Dampfwebstuhl und dem Gros Variés mit Doppelschuß – heute nicht!«

Eduard Schön nickte nachsichtig zu der Narretei seiner kleinen Frau. Wenn sie länger verheiratet gewesen wären, so hätte er wohl den Gedanken bemängelt, daß eine anständige Bürgersgattin sich so weit erniedrigen könnte, sich in das Dasein einer Favoritin, einer keineswegs legalisierten Person, hinüberzuträumen.

Heinrich Schön aber hatte sich nach der Rede seiner neuen Mutter dabei ertappt, daß er die ganze Zeit über mit halbgeschlossenen Augen, im Stuhl zurückgelehnt, dagesessen hatte und dem hellen Geplätscher der Worte, der ihm neuen Musik, gelauscht hatte.

»Nun«, sagte er auffahrend, »befehlen Votre Altesse das Madrigal? Die Kerzen drüben am Hammerklavier sind im Augenblick entzündet. Oder geruhen Sie lieber+...«

Eduard Schön sah auf. In seinen Augen blitzte so ein ganz kleiner geheimer Neid. Man war doch alt. Man sollte wieder von der Jugend lernen, Scherze ernst zu nehmen und Ernstes scherzhaft.

»Nein«, rief die junge Frau, »mich plagt nur eine Sorge: Als ich von Hause fortging, habe ich vorher einem Bataillon meiner besten und vertrautesten Freunde Marschorder nach Potsdam gegeben. Sind sie hier eingetroffen? Ich möchte sie gern noch heute abend begrüßen und ihnen sagen, daß ich oft Sehnsucht nach ihnen gehabt habe in den letzten Wochen. Und daß sie es hier nicht schlechter haben sollen als zu Haus. Und gewiß so vornehm wohnen sollen, wie es liebenswürdigen Edelleuten geziemt.«

»Die Stunde ist etwas vorgerückt für Charaden, Liebchen«, sagte Eduard Schön unsicher.

Aber Heinrich Schön lächelte. »Die Freunde und Verehrer haben schon alle in Reih und Glied Aufstellung genommen. Man kann sagen, sie stehen Rücken an Rücken. Einige aber sind ganz außer Rand und Band gekommen, aus Freude darüber, daß sie nunmehr Votre Altesse wiedersehen dürfen.«

Eduard Schön sah von seiner jungen Frau zu Heinrich herüber und von Heinrich zu seiner jungen Frau und hatte ganz unbestimmt, aber doch peinigend die Empfindung, daß er eigentlich hier der dritte in diesem Raum war, der immer wieder fruchtlos versuchte, in die Lebenssphäre der anderen einzudringen.

»Ach«, sagte er in plötzlicher Erleuchtung, »richtig, deine Bücher! Du hast ja immer schon nach ihnen gejammert. Aber die kannst du wirklich morgen begrüßen. Du kommst dann nicht von ihnen los – und kleine Kinder müssen früh schlafen gehen.«

»Tyrann! Ungeheuer!« Frau Antonie war aufgesprungen und stand groß und seltsam schön, durch Wein und Worte erregt, hell und stolz gegen den blauen, dämmrigen Raum. »Nur zehn Minuten! Ich will ihnen nur guten Tag sagen. Und morgen hattest du doch überhaupt versprochen, mir Potsdam zu zeigen.«

»Nein«, rief Eduard Schön, der sich gleichfalls erhoben hatte, stolz und glücklich, und bog liebkosend mit der Rechten ihr Kinn ein wenig zurück, so daß Heinrich das wundersam geschnittene Profil plötzlich scharf und vom Kerzenlicht vergoldet gegen die Dämmerung erblickte, wie eine Kamee – wie eine Kamee! »Nein, mein Liebling, das hätte ich nie gewagt. Ich hatte nur versprochen, dich der Stadt Potsdam zu zeigen – nicht wahr, Heinrich? Ist das nicht richtiger?«

Die junge Frau schmollte wie ein Kind: »Wo sind meine Bücher?«

Heinrich trat zu den beiden und nickte. »Wenn ich auch auf Potsdam nichts kommen lasse, so scheint es mir doch, als ob du nicht ganz unrecht hast.«

»Und an meine alten Herrschaften muß ich auch noch schreiben.«

»Das hat noch lange Zeit«, unterbrach Eduard Schön mit gutem Spiel. »Frau Kolkhorst, unsere Botenfrau, die die Briefe 'rüberträgt, geht erst wieder Dienstag nach Berlin. Ja, ja, Antonie, hier bist du in der Kleinstadt. Hier ist das nicht so mit dreimal täglich Post wie bei dir zu Hause. Daran mußt du dich nun mal gewöhnen.«

»Und was sollten wir denn auch mit täglicher Post«, akkompagnierte Heinrich. »Wer schreibt denn in Potsdam überhaupt Briefe? Und wer einen Brief bekommt, muß immer erst zum Pastor gehen, ihn sich vorlesen lassen.«

»Meine Bücher!« rief die junge Frau lachend, mit der schmerzhaften Geste der Rachel. »Ich bin versklavt! Man umzingelt mich! Man ist im Komplott gegen mich!«

»Komm nur, Liebling, die werden morgen bei Tageslicht und Sonnenschein sich viel besser präsentieren.«

»Oh, sie haben sie verbrannt, diese beiden Barbaren! Mir schwant Schreckliches!«

»Sie gaben für den Großinquisitor ein herrliches Ketzerfeuer«, rief Heinrich.

»Nein, Sire, mich hintergeht man nicht. Sie sind durchschaut!« deklamierte Antonie mit den Worten des Großinquisitors.

Heinrich Schön sah betroffen zu Boden. Das war doch ein eigenartiger Zufall+... Und es dauerte eine kleine Weile, bis er, zum ersten Mal befangen an diesem Abend, herausbrachte: »Aber morgen früh werden sie bestimmt, wie der Vogel Phönix, aus Rauch und Asche in neuem Glanz erstehen.«

Eduard Schön gab Heinrich die Hand.

Aber seltsam – während sie sonst ganz als Vater und Sohn, als Vertreter zweier weitgetrennter Generationen, sich gegenüberstanden, schien plötzlich die Altersgrenze verwischt zu sein.

»Nun«, sagte er halblaut, mit einem Blick auf Antonie, die eben drüben ihren Schal sich um die Schulter legte und den Hut an geknüpften Schleifenbändern sich um den Unterarm hing, »nun, Heinrich, ich denke, du hast keinen Grund mehr, mir böse zu sein.«

»Gewiß nicht.«

Dann aber, als Eduard Schön bemerkte, daß seine Frau aufblickte, fiel er in einen anderen Ton. »Hallo«, rief er hinüber, »glaube nicht, daß du hier nur Rechte hast – du hast auch Pflichten! Wir werden demnächst einmal Hannchen einladen müssen, mit den Eltern – und deine Eltern und ein paar Leute sonst. Ja, erinnere mich – zieh kein Gesicht, Antonie, es geht nun mal nicht anders.«

Frau Antonie knickste tief einen langen parodistischen Hofknicks. »Guten Abend, Frau Rätin! Nein, wie mich das freut, daß Sie doch gekommen sind, trotzdem Sie gestern große Wäsche hatten.«

»Ich bitte dich, Liebling«, rief entsetzt Eduard Schön, der die Tür geöffnet hatte, »wenn das die Dienstleute hören!«

»Sö lassen von jöh den nötigen sittlichen Errnst errmangeln, Arnberg, Arnthal, Arnstein oder wie Sie sonst heißen mögen«, kopierte Heinrich Schön, mit dem erhobenen Zeigefinger taktierend.

»Ach Gott, ja«, seufzte die junge Frau. Ihr Gesicht war plötzlich starr geworden und ihr Blick leer und grübelnd. Aber nur den Bruchteil eines Augenblicks war das – so wie man etwa einen Gegenstand durch ein laufendes Rad sieht. Dann legten sich auch schon wieder Laune, Regsamkeit und Lächeln über Züge und Augen. Wo sie nur ihre Gedanken hatte! Es war doch nicht zwölf Uhr, daß man sich demaskierte!

Eduard Schön hatte nichts bemerkt. Wenn selbst sein Alter ihn feinhörig für den Wechsel eines Tones hätte machen müssen – sein Glück war zu jung, um auf solche Dinge zu achten.

Heinrich Schön aber war mit einem Schlag traurig geworden und versuchte vergeblich, diese ganze rätselhafte Traurigkeit in sich niederzukämpfen.

»Gute Nacht«, sagte er, »schlaft wohl« – und ging eilends die breiten, niederen Stufen der schöngeschwungenen Treppe hinan.

Die Petzel hatte alles erleuchtet. Sogar die Laternen, die die pausbäckigen goldenen Engel in den Treppennischen hinter ihren geschnörkelten Eisengittern hielten, die großen vergoldeten Laternen, in denen die Lichter sonst alle Jubeljahre einmal entzündet wurden.

Und hinter sich hörte er noch seinen Vater erklären: »Alles dir zu Ehren, Antonie – alles dir zu Ehren, meine Süße.«

Heinrich Schön ging still in sein Zimmer, das oben im ersten Stock lag und nach der Rückseite auf Hof und Garten mit einem großen, hohen Fenster hinausblickte. Nach der Straße zu, die ganze Breite des Hauses einnehmend, nur zwei armselige Zimmerchen rechts und links neben sich duldend, lag mit mächtigen weißen Flügeltüren der grüne Saal. Und auf der anderen Seite – sie schauten gleichfalls nach Hof und Garten – waren dann die Räume des Vaters.

Ganz leise drückte Heinrich Schön den Türgriff nieder. Seine Angeregtheit und Lustigkeit hatte sich fast in Melancholie gewandelt, in bleierne, mutlose Schwere. Er konnte sich nicht Rechenschaft geben, woher dieser Stimmungsumschlag kam. Es war doch kein Grund dazu. Und doch hatte er Angst, seinen Gedanken Worte zu leihen, bangte sich davor, der Linie seiner Empfindungen zu folgen. Und eine ganze Weile stand er so im grünlichen Dunkel und drückte die Stirn an die Scheiben, sah über mondhelle Dächer und leis verschleierte Baumkronen, sah in der schwingenden Helligkeit des Nachthimmels ein paar zerstreute Sterne zittern – ganz wenige in der weiten Klarheit –, hörte fernes Hundegebell und das Jammern verliebter Katzen von den Schornsteinen, Glockenschläge ... und wollte nicht denken – nur nicht denken! Und erst als drüben auf der anderen Seite des Hauses Licht gemacht wurde, das sich wie ein breiter Balken nach draußen zu den Ästen und jungen Blättern der Bäume gleichsam wie eine Brücke hinüberlegte, kehrte sich Heinrich Schön und tappte nach Feuerzeug und Kerze. Und im Augenblick verlosch und versank alles draußen – hüllte sich in Dunkelheit und Schweigen. Und die Weingirlanden um die roten Tapeten, Tische, Stühle, ein schwarz bezogenes Sofa, ein Spiegel mit goldenem Rahmen, ein Schreibschrank und Bücherrücken auf einem Bord, das Weiß seines Bettes all das trat aus dem halbbewußten Nichts hinüber in die Welt des Bestehenden.

Heinrich Schön entkleidete sich langsam, tief versonnen, ohne Kontrolle über irgendeine seiner Bewegungen. Mechanisch, ohne zu wissen, was er tat, löschte er das Licht. Und mit dem gleichen Schlage kehrte alles zur alten Wesenlosigkeit zurück...

Er wollte nicht denken, sondern schlafen – schlafen. Und er konnte nicht schlafen, sondern er mußte denken – denken.

Sonst stand immer wie eine Art Nachtgebet für jeden Abend Hannchen auf dem Programm. Aber heute tauchte sie bloß irgendwo am Rande seiner Vorstellungen wie ein blonder, helläugiger Schemen auf und glitt wieder ins Jenseits zurück. Der Gedanke, daß sein Vater mit einer fremden Frau hier unter diesem Dach..., die Vorstellung von Zärtlichkeiten... Er hatte geglaubt, daß so etwas leichter zu ertragen wäre. Er hatte doch gesehen, wie dieser alternde Mensch unter dem Übermaß seines jungen Glücks sich aufgerichtet hatte wie eine schon halbwelke Pflanze, die mit allen Wurzelfasern den unerwarteten Regen eintrank. Und nun kam er nicht darüber hinweg. Wenn er nur nicht ihr Gesicht gesehen hätte in dem Augenblick, da sie die Maske abnahm! Wenn es eine Puppe wäre, ein Nichts, ein schönes Stück Fleisch – aber es war doch ein Mensch mit Sinnen und Leben und Fühlen, seltsam und tief, wie ein Stück Kunst ... O ja, sie war schon jemand! Wenn es auch nicht seine Art war. Sie war jemand, das hatte er eben erkannt – aus jedem Wort und jeder Bewegung, aus dem ganzen Rhythmus ihres Seins: eine feingeprägte Münze, eine gutgeschnittene Gemme, ein Stück vergeistigter, durchseelter Natur, das leiden mußte, unerdenklich leiden unter alldem, und das doch lächeln mußte und das vielleicht dabei nach Jugend schrie und nach Worten und Tönen, die sich mit den ihrigen kreuzen sollen – wie Florettklingen, bis sie mitten in die Brust des andern ...

Und Heinrich Schön fiel in den Schlaf hinab, tief hinab in den Grund des Schlafes, des Unbewußten, des Jenseitigen, des schwarzen, dumpfen, sausenden Nichts – wie ein Stein, der in einem reglosen Wasser versinkt und lautlos bis auf den weichen, schlammigen Grund hinabgleitet, als müsse er dort für alle Zeiten verweilen ...

Ziemlich spät wurde er wach, und es dauerte eine ganze Weile, bis er aus dem halben Dämmer des Erwachens wieder im Bild aller Geschehnisse war.

Richtig, der Vater war ja gestern gekommen und seine neue Mutter. Sie hatten noch zusammen Abendbrot gegessen, und er hatte auch irgend etwas von ihr geträumt. – Was denn nur? So klar und greifbar war das nicht mehr. Aber sie waren zusammen im Park spazierengegangen, und er hatte sie immer von der Seite betrachtet, gegen die braunen Bäume – denn es war Herbst. Und dann mit einem Mal war eine Gemme daraus geworden, eine große, goldgefaßte, leicht vergilbte Gemme auf dem Grund von gebändertem Achat ... Damit war er wohl aufgewacht. Denn er konnte dieses Schmuckstück noch zeichnen. Und heute war Sonntag. Nicht solch Alltagsonntag, der sich von den Wochentagen dadurch unterscheidet, daß man nur eine Stunde im Geschäft ein paar Arbeiten erledigt, ein paar Briefe schreibt, zu denen man Ruhe braucht, und der sonst ebenso grau dahinfließt wie jeder andere Werktag. Nein, solch Sonntagmorgen, der seinem Namen Ehre macht.

Wundervoll, diese Ruhe und diese kühle Luft, die da hereinkommt, wenn man das Fenster aufstößt – wundervoll der noch mattblaue Morgenhimmel über den Dächern und über dem Garten, durch den die Sonne hinstreicht! Und wie das junge Grün noch licht und bescheiden an den Zweigen zittert, an Linden und Kastanien, als wäre es ganz verwirrt von Lebensglück. Die Birke dahinten weht – eine weiße Braut – mit grünen, zarten Schleiern. Ganz so rosig, so Korallenstöcke, wie sie es noch vor wenigen Tagen waren, sind ja die zwei Birnbäume nicht mehr, etwas ist schon abgeweht und liegt in breitem Rund mit matten Punkten auf dem weichen Boden – man kann es deutlich sehen. Aber dafür beginnen jetzt erst die Beete drüben an der Mauer ordentlich zu flammen – in blauen, veilchenfarbenen und roten Flecken, Szillen, Bisamhyazinthen und Tulpen –, sie erinnern in den Farben täuschend an den einen Schal, den wir im vorigen Jahr führten. Und horch! Da – nein, der Pirol kann das noch nicht sein. Wohl ein Star oder der Fink, der sich in diesem Jahr etwas Neues ausgedacht hat. Was für ein Tag heute! Man möchte jeden niederschießen, der behauptet, daß es einmal wieder Nacht wird. Und dann war es zudem noch Sonntag. Da frühstückten sie ja immer nach alter Überlieferung im Gartenzimmer.

Und dieses Gartenzimmer liebte Heinrich Schön von allen Räumen des Hauses. Denn dieses Gartenzimmer war ja gerade so alt wie er. Um die Zeit, da er auf die Welt kommen sollte, hatte sein Vater den Anbau errichten lassen: ein einstöckiger Pavillon, mit dem Haus verbunden. Er schob sich zum Garten vor und führte an drei Seiten mit wenigen breiten Steinstufen zu ihm hinab. Einfach mattgrün war der Raum getüncht – licht und kühl, stets ganz hell und doch voller Dämmerung von den Bäumen ringsum. Und weiße Flügeltüren hatte er – nach jeder Seite eine. Jede mit dem gleichen schweren Messinggriff in der Form einer Seejungfrau. Die Fenster aber gingen tief, fast bis zum Boden hinunter. Nur unten ein dichtes Holzgitter, aus Ringen gebildet, sorgte dafür, daß man sie nicht etwa als Tür nahm und versuchte, durch sie ins Freie hinauszuklettern. Es machte Heinrich Schön schon froh, wenn er nur an das Gartenzimmer dachte. Es war sein Reich, stand in Austausch- und Wechselbeziehungen zu ihm. Aber das Liebste für Heinrich Schön war eben doch die Decke: erst oben herum ein ganz breiter, weißer Stuckfries – Muscheln aneinandergereiht, deren jede von zwei sich bäumenden Delphinen umrahmt wurde. Und darüber eine ganz schlichte weiße Decke, leicht und flach sich wölbend, die mit weißen, aufgesetzten Stucksternen in regelrechten Abständen besetzt war. Wie ein reichgestirnter Winterhimmel sah das aus. Und überall gab es einen anderen Blick in den Garten hinaus und in die Büsche hinein, die vor den bemoosten Steinstufen Wache halten. Und ganz wenige Möbel standen zudem nur in dem großen Raum: ein paar gelbe Tischchen, ein paar helle Stühle, ein heller Bücherschrank und ein heller Schreibschrank, alles dünnbeinig, hochbeinig, zierlich – wie junge Rehe. Sie schienen keinen Verkehr miteinander zu haben, sondern standen fast jeder für sich allein und schüchtern an einer Wand oder auf einer blumigen Parzelle des Teppichs.

Heinrich Schön liebte diesen Raum am meisten von allen in diesem Hause. Da würde man also heute wieder frühstücken und essen – und ferner könnte er außerdem noch den ganzen lieben langen Tag mit seinem Hannchen zusammen sein! Da fühlte man doch wenigstens mal wieder, weshalb man auf der Welt war.

Jedenfalls wollte er schon hinuntergehen. Die Eltern – es war das erste Mal, daß er das sagte, und der alte Haß stieg wieder in ihm auf, zerschlug alle Erfahrung und Erkenntnis von gestern –, die Eltern würden ja wohl noch nicht aus den Betten gefunden haben. Und dann könne er – wundervoll, noch ganz allein für sich eine Stunde – da unten ...

Aber Heinrich Schön hatte sich getäuscht. Als er herunterkam in das Gartenzimmer, das heute ihm doppelt licht und freundlich schien von all dem jungen Grün und rosigen Birnbäumen, die von draußen hereinschauten, da warteten sein Vater und seine junge Mutter – sie war in einer hellgeblümten Matinee, aber schon ganz frisiert, ohne das Häubchen, das Ehesymbol, und auch sein Vater war frischer und weit adretter schon angetan, als Heinrich es sonst sonntags um diese Zeit von ihm gewohnt war –, warteten schon mit Ungeduld auf ihn. Sie spotteten über den Langschläfer, der an einem solchen Tag nicht aus den Posen könnte.

Heinrich entschuldigte sich. Es wäre doch für Sonntag nicht spät.

»Ja«, meinte sein Vater behaglich und stellte die Tasse auf das Tischtuch. »Das kommt davon, wenn man verheiratet ist. Ich wäre gern noch etwas liegengeblieben, aber Antonie hatte keine Ruhe, die mußte zu ihren Büchern. Und meinst du, ich werde mich mit der Regierung anlegen? Das überlasse ich den jungen Demagogen.«

»Ich glaube«, sagte Heinrich Schön und zog sich einen der hellen, dünnbeinigen Stühle heran, »ich glaube, die Demagogen haben vielleicht recht, aber sie haben keine Zukunft.«

»Ich hoffe es«, sagte Frau Antonie ernst. »Was sollte man sonst hoffen?«

Heinrich Schön ertappte sich dabei, wie er mit ziemlich unverhohlener Bewunderung zu seiner neuen Mutter hinüberblickte. Er hatte ihr unrecht getan, sagte er sich – sie war doch ein ganzer Mensch. Und wie sie dort saß, ungezwungen und doch ganz gefüllt mit Lebenskraft! Er hatte gestern gemeint, sie wäre eine Abendschönheit mit ihrem dunklen Teint, nur für Kerzenlicht – ein Nachtschatten, eine Lonicera, die man am Tage übersieht und die plötzlich im Halblicht sich weit und hell öffnet und durch den betörenden Duft giftig und sinnverwirrend alles in ihren Bannkreis zieht. Und jetzt sah er, daß sie eigentlich gerade das nicht war und daß alles Kapriziöse, Erotische ihres Wesens im hellen Licht noch weit schillernder sich offenbarte. Man stand vor ihr wie vor einer fremdländischen Pflanze, über die man sich doch nicht wundert, wenn man ihr in einem Park, einem Herrengarten begegnet.

Eduard Schön lachte etwas mitleidig vor sich hin. »Dummchen!« sagte er endlich. Er war schon in dem Alter, in dem man es nicht liebt, daß der Boden, auf dem man steht, etwa wanken würde!

Frau Antonie zuckte etwas, kaum merklich, mit dem Mund – sie gewann wortlos Schlachten – und ging zu einem anderen Thema.

»Ich muß mich noch bedanken«, sagte sie, »bei dem, der mir meine Bücher so reizend eingeordnet hat.«

»Und du darfst es auch bei dem tun, Antonie«, unterbrach Eduard Schön, »der dir in edler Gesinnung seinen zweiten Bücherschrank überlassen hat.«

»Nein, mein Liebling«, rief Frau Antonie, »das ist eine gewiß löbliche, aber rein im Materiellen liegende Angelegenheit. Das andere ist ein Gruß, eine Aufmerksamkeit – das ist mehr, liegt im Geistigen ...«

Heinrich errötete wie ein Kind; denn eigentlich hatte er die Bücher, um deren Unterbringung ihn sein Vater fast in jedem Brief gebeten hatte, da hineinstellen wollen, in das Schränkchen, wie sie kamen. Aber bei dieser Arbeit hatte er begonnen, Titel zu lesen – er hatte aufgehorcht: Aha, da ist jemand! – und ohne sich Rechenschaft zu geben, Ähnliches zu Ähnlichem gestellt. Und dann war von Maltitz zufällig dazugekommen, und für den war Bücherordnen von je etwas – er berauschte sich geradezu in Buchtiteln und liebte den leichten Modergeruch des Papiers über alles –, Maltitz war gekommen, und sie hatten zusammen wohl eine Stunde die Bände von einem Fach ins andere geschoben, bis es sich herunterspielte wie eine Tonleiter.

»Ich hätte vielleicht einiges noch anders gemacht: Ich hätte zum Beispiel nicht den Heinrich von Ofterdingen neben das ›Leben eines Taugenichts‹ gestellt. Das ist nicht ganz harmonisch – doch das sind Kleinigkeiten.«

»Ich wußte nicht«, sagte Eduard Schön, nicht ohne einen leisen Anflug von Eifersucht auf diese elenden Bücher, »daß dabei so zarte Rücksichten genommen werden müssen. Für mich ist bisher ein Bücherschrank immer nur ein Bücherschrank gewesen.«

»O ja«, entgegnete Frau Antonie, und wieder hatte sie dieses ganz leichte Zucken der Oberlippe so, daß sie plötzlich die Zähne, weiße, starke Zähne, nur halb deckte. »0 ja, es gibt Leute, die ordnen Bücher nach der Größe – nach Augenmaß oder mit dem Zollstock; dann gibt es Leute, die stellen die gebundenen und die angebundenen, die mit Lederrücken und die in Pappe oder mit Kaliko zusammen; dann gibt es solche – Bibliotheksmenschen –, die stellen die Bücher nach dem Abc auf oder nach Dichtern. Und dann gibt es eben endlich wenige andere, die haben ein ganz unklares Gefühl, daß ein Bücherschrank etwas Geschlossenes sein muß, wie eine Sonate, in der jeder Ton, jede Variante nur da und eben da stehen darf – nirgends anders. Sie haben unter sich eine geheime Verbindung wie die Freimaurer und erkennen einander durch verborgene Zeichen. Und dadurch, daß Heinrich die Bücher in der Weise geordnet hat, dadurch hat er mir eben unseren Gruß der Freimaurergesellschaft beigebracht. Und das bedeutet mehr, als sich von einem Holzkasten trennen.«

Eduard Schön war nicht mehr eifersüchtig auf die Bücher. »Gott«, sagte er, »Mädel, wenn man dich so reden hört!« Und führte ihre Finger an die Lippen. »Die wird uns hier noch ganz umkrempeln! Die Verfassung will sie sogar ändern. Ich habe gesagt, ohne dich geht das nicht, Heinrich.«

»Ja, ja«, sagte Heinrich lachend, »hier ist das nicht so wie in eurem liberalen und aufrührerischen Berlin; hier bei uns in Potsdam ist man konservativ bis in die Knochen.«

»Oh!« rief Frau Antonie bekümmert. »Und eine Petition hätte auch keine Aussicht auf Erfolg? Die vereinten Stände könnten nicht ...?«

»Antonie möchte nämlich, daß wir jeden Morgen hier unten zusammen frühstücken. Ich habe gesagt, Heinrich, dazu mußt du nach den Hausgesetzen deine Einwilligung geben.«

»Ja«, meinte Heinrich Schön und spielte nachdenklich mit einem Löffel, »ohne uns unserer Hoheitsrechte zu begeben, hoffe ich wohl, daß wir dieser uns submissest unterbreiteten Petition unter Vorbehalt huldvollst Gewähr winken können. Nicht wahr, Alter Herr?«

»Herrlich!« rief Frau Antonie, strahlend von heller Begeisterung. »Damit habt ihr mir eine große Freude gemacht. Des Morgens, da treffen wir uns also hier. Und wenn ihr 'rüber ins Geschäft gehen müßt, nehme ich mir ein Buch oder eine Handarbeit und bleibe noch sitzen. Oder ich gehe einfach hinaus in den Garten. Ich will ganz brav sein – keine Blume abbrechen. Aber jeden Tag muß ich einmal über den Rasen gehen – das muß ich –, ganz vorsichtig, aber ich muß es tun.«

»Ja, aber ob das gerade für unseren Rasen vorteilhaft sein wird, Närrchen?« warf Eduard Schön lachend ein.

»Sieh mal, Schatz« – und man konnte nur schwer erraten, ob sie nur scherze oder ob es ihr Ernst damit sei, denn ihre großen Augen schimmerten ganz feucht –, »seit Jahren träume ich davon, einen Garten in dieser Welt zu finden, in dem man nicht von irgend jemandem angebrüllt wird, wenn man über den Rasen läuft. Wie schön das sein muß, kann ich mir nicht einmal ausmalen. Selbst im Paradies sind die Leute angebrüllt worden.«

Eduard Schön lachte aus vollem Halse.

»Oh, dann ist aber England«, rief Heinrich Schön, »besser dran als das Paradies. Da geht alle Welt auf dem Rasen, und niemand brüllt.«

»Hör mal«, unterbrach der alte Schön, »nun müssen wir uns aber schlüssig werden, was wir heute unternehmen. Du weißt, daß ich der Stadt Potsdam« – darauf tat sich Eduard Schön etwas zugute – »unsere kleine Frau Antonie hier ... Oder wollen wir lieber ins Schauspielhaus? Da ist nachmittags Konzert. Die Wunderschwestern Milanello, sie spielen unter anderm den ›Karneval von Venedig‹ mit Variationen; das soll ganz unerhört sein, wie sie das spielen – überall ist man begeistert davon. Ich muß ja sagen, ja sagen – ich habe sie alle gesehen und gehört: Leopold Meyer, Thalberg, sogar Liszt, den Propheten des Klaviers, alle –, ich lege keinen Wert auf die Milanello. Aber du, Antonie, vielleicht?«

»Ach nein«, sagte Frau Antonie fast wehmütig, »weißt du, neulich hat Mendelssohn in der Garnisonkirche den ›Israel in Ägypten‹ dirigiert. Das war das letzte, was ich in Berlin noch gehört habe – das heißt, ich habe sogar mitgesungen –, und den Eindruck möchte ich nicht gern ...«

»Also abgelehnt! Papierkorb!« rief Eduard Schön lärmend. »Dann machen wir es so: Du gehst doch zu Hannchen – grüße von uns –, und wir lassen den Geheimrat und die Rätin bitten, irgendwo draußen unser Gast zu sein. Vielleicht nehmen wir uns nachher einen Wagen – das können wir alles dann sehen. Wir kommen hin und holen euch ab. Dann machen wir gleich Besuch dabei.«

Der alte Müllner erschien mit vorgestrecktem Kopf im breiten Rahmen der Flügeltür. Er hatte auch am Sonntag einen langen weißen Schwanenkiel hinter dem Ohr, der, wie stets, unter dem Rand der fuchsigen Perücke geschickt noch einmal verankert war. Das alte, gelbe Gesicht war eine unfertige Tonskizze aus lauter Knubbeln und Knoten. Man sah noch nach langen Jahrzehnten ordentlich die Daumenarbeit des Bildhauers da oben. Es erinnerte an einen halbleeren Sack mit Kartoffeln, aus dem überall Rundungen herausquellen. Und es saß über einem sehr langen, hageren, spukhaft und seltsam vertrockneten Körper, der in einen blauen Rock gewickelt und in eine schwarze Halsbinde gepreßt war, aus der riesige Vatermörder hervorspritzten. Hier in dem lichten frühlingsmäßigen Raum wirkte der alte Müllner ganz unglaubwürdig, verirrt und unheimlich, wie von Theodor Amadeus ersonnen.

»Heiliger Himmel – der Irenäus Schnüspelpold!« flüsterte Frau Antonie halblaut und nur für sich.

Heinrich lächelte. Er kannte seinen Hoffmann. »Und die schöne Griechin«, sagte er im gleichen Ton, halblaut, für niemand sonst bestimmt und doch vernehmbar.

Eduard Schön war aufgesprungen. »Ach, Müllner!« rief er. »Herr Müllner – meine Frau.«

Von der Tür kam ein Knurren; man wußte nicht, war das der Türflügel, der in den Angeln knarrte, oder sagte der Alte irgend etwas?

Und schon war Eduard Schön im eifrigen Gespräch mit Müllner, hatte den lichtgrünen Morgen, seine junge Frau, seinen Kaffee, die siegende Helligkeit der frischen Sonne und all die anderen angenehmen Luxusdinge des Daseins weit von sich zurückgeschoben. Es gab auch viel zu besprechen. Und in den Briefen hatte er doch nicht so über alles sich berichten lassen.

»Hör mal, Heinrich«, rief er herüber, denn er war an den Schreibschrank getreten und hatte ihn geöffnet, so daß die große, blanke Platte herabgefallen war und Frau Antonie erstaunt nach der Wunderwelt hinübersah, die sich da drüben plötzlich erschlossen hatte, mit blanken Säulen und mit goldenen Kapitälen, mit Stufen aus Buchs- und Rosenholz und mit eingelassenen, auf Kupfer gemalten Bildchen. Und doppelt war sie erstaunt, warum ihr Mann, der sonst gewiß kein Bücherwurm war, gerade da in der Mitte, allwo sich sonst meist ein Tempelchen zu öffnen pflegt, Kortums – sie konnte es deutlich lesen –, Kortums gesammelte Werke in schönen Lederbänden aufbewahrte. Aber auf einen Druck durch eine geheime Feder drehten sich die Bücher – es war ja nur ein Attrappe –, und es kam statt ihrer ein Türchen zum Vorschein, mit sauber eingelegten Hölzern. Aber auch hierfür wollte kein Schlüssel passen. Und wieder auf einen anderen Druck traten zwei Kästchen an die Stelle der Tür. Aber auch sie hätte nie irgend jemand öffnen können, soviel er auch bastelte, und nach ihnen erschien erst das Fach, dem Eduard Schön ein paar kleine Kalikohefte entnahm, in denen er so seine letzten geschäftlichen Ergebnisse zu buchen pflegte. Und langsam wandelte das Mittelteil wieder Druck auf Druck zurück durch alle seine Phasen, bis es von neuem als die gesammelten Werke des Sängers der Jobsiade ganz unschuldsvoll und unverdächtig in die Welt sah.

»Hör mal, Heinrich«, rief Eduard Schön und blätterte suchend in den langen, schmalen Büchern, »du könntest uns eigentlich etwas hier helfen. Oder laß nur, es geht auch ohne dich. Nicht wahr, Müllner? – Antonie, du mußt mich schon eine Viertelstunde entschuldigen, mein Liebling. Oder vielleicht zeigt dir Heinrich solange den Garten. Viel ist da zwar nicht zu sehen. Und dann bleibt es dabei: Du erwartest uns beim Geheimrat, nicht wahr, Heinrich?« Mit »nicht wahr?« schloß Eduard Schön fast jede Rede.

Frau Antonie hatte sich erhoben. »Ach ja«, sagte sie mit geschürzter Oberlippe, »ich wollte schon vorhin in den Garten gehen.« Und damit trat sie neben Heinrich über die zwei, drei breiten, vergrünten Steinstufen hinab. Und sie stützte sich ganz leise – wie gestern abend, als sie den Wagen verließ – auf seinen Arm.

Heinrich begann zu erklären: hier ständen Stachelbeeren und dort Johannisbeeren – sie blühten gerade –, und dort wären Erdbeerbeete und da hinten Himbeeren – doch die blühten noch nicht. Diese Obstbäume wären Birnbäume. Jene Birke wäre die letzte von dreien, aber es schien, als ob sie jetzt weiterkäme. Die Bäume dort müßten bald achtzig Jahre alt sein. – Die Linden wären noch von den ersten, die der Alte Fritz aus Holland hätte einführen lassen. – Und die Eiche sollte noch viel älter sein. Im Sommer hätten sie da am Haus sehr schöne Rosen aus der Seydlerschen Zucht. Die Tulpen hätte man zu tief gesetzt, und das hätte ihnen geschadet. In wenigen Tagen würde der Flieder ganz auf sein und der Rotdorn ebenso. Sie wären mit dem Schloßgärtner Fintelmann befreundet, und der berate sie manchmal. Frau Antonie schritt unhörbar, mit ganz leisen Schritten neben Heinrich her. Sie war nicht viel kleiner als er, und sie sah im Freien noch besser aus als im geschlossenen Raum, mit ihren leichten, stolzen Bewegungen. Vielleicht nicht in einem Feld, auf einem Acker, auf einer Chaussee – da gehörte sie nicht hin. Aber ein gepflegter Garten mit vielen Blumen und reichem Grün, mit Gartenfiguren und breiten Bänken schien der gegebene Rahmen für sie zu sein. Natur – nutzlos und geistvoll, in der leichten Melancholie, die allem Schönen eigen und auf die bestechendste Formel gebracht.

Heinrich Schön dachte daran, daß man in England es früher geliebt hatte, die Dame nicht in ihrem Haus, sondern in ihrem Garten zu malen – und er empfand und verstand plötzlich die Ergänzung dieser beiden Dinge.

»Oh«, rief Frau Antonie, die bisher kaum gesprochen hatte, »ist das hier schön bei euch! Was ist das für ein Vogel, der da singt? Ich möchte so etwas alles kennenlernen – ich weiß davon gar nichts.«

Heinrich blieb stehen, um zu lauschen: »Es ist nur ein Star – die sind schon lange hier.«

Frau Antonie war mit ihm stehengeblieben. Es war hinten in der Sonne, bei den Erdbeerbeeten, die erst wenige Blätter auf den schwarzen Boden legten – dort, wo der Garten an einen anderen stieß und man das Schönsche Haus durch die Bäume kaum sehen konnte. Das heißt, jetzt blinkte doch unten das Gartenzimmer mit seinen hohen Fenstern und breiten Türen durch die jungbelaubten Büsche und durch die niederhängenden Zweige.

»Hören Sie, Heinrich«, begann Frau Antonie zaghaft, und Heinrich fiel es auf, daß sie sich ja noch nie geradezu angeredet hatten und daß sie jetzt noch »Sie« zueinander sagten, »hören Sie, Heinrich« – und sie wandte ihm das volle Gesicht zu, das dem seinen ganz nahe war, und er erschrak, als er sah, daß seiner jungen neuen Mutter das helle Wasser in den Augen stand –, »sind Sie noch böse auf mich? Sie dürfen nicht böse mit mir sein.«

Heinrich sah sie an und lächelte. »Man kann auf Antonie Arnstein vielleicht böse sein – mit ihr nicht.«

Frau Antonie griff nach seiner Hand.

»Nein, Heinrich, Sie müssen mir glauben – ich bin nicht schlecht, und ich bin nicht falsch. Ich will mich hier nicht eindrängen, ich will niemandem etwas fortnehmen.«

Heinrich stand verlegen. Was sollte er denn sagen ... In diesem Hause durfte nur eine Frau sein, und da sie nicht mehr da ist, darf auch keine an ihre Stelle treten? Oder sollte er sagen: Doch, Sie rauben mir etwas, nicht das bißchen Geld und Habe, das mir Ihrethalben mal vorenthalten wird – das kommt nicht in Betracht ... Was sollte er antworten?

Frau Antonie fühlte das.

»Sie dürfen nicht mehr böse auf mich sein, sonst gehe ich fort«, sagte sie. Und die Tränen lösten sich von ihren Wimpern und tropften über das Gesicht. »Wirklich, das habe ich nicht verdient mit dem, was ich getan habe. Wir müssen gute Freunde werden, das müssen wir, Heinrich. Ich habe doch sonst niemanden hier – keinen von meinen Menschen.«

»Gewiß«, sagte Heinrich, während er ganz langsam weiterging, um damit den Anschein zu erwecken, er hätte die Tränen nicht bemerkt, »ich denke, wir werden mit der Zeit auch gute Freunde werden, Frau Antonie. Wer könnte Ihnen wohl auf die Dauer ... Und selbst wenn Sie unrecht ...«

»Nein, nein, Heinrich!« unterbrach Frau Antonie fast schmerzhaft. »Nein, nein! Sie sollen mir nicht, wie die anderen, hübsche Dinge sagen, nur weil Sie sich glauben machen, daß ich hübsch bin! Kann man denn von euch nie als Mensch genommen und verstanden werden? Ihr macht einen ja ganz mutlos.«

Heinrich war betroffen von diesem Ton. Das war keine Schminke – das war echte Farbe.

»Sie müssen begreifen«, sagte er langsam, »das ist ja für mich alles auch nicht so einfach. Versprechen Sie, mir behilflich zu sein, daß es das wird. Und dann verspreche ich Ihnen: Wir werden gute Freunde.«

Frau Antonie war wieder stehengeblieben und senkte den Kopf, als suche sie etwas am Boden.

Und Heinrich sah durch die schweren Locken, die über Hals und Stirn fielen, daß sie eine Blutwelle bis an die Haarwurzeln erröten machte.

»Man verspricht nichts, was bei anständigen Menschen Bedingung ist«, sagte sie kurz. Heinrich fühlte, wie sie dabei die Oberlippe schürzte, und er schämte sich seiner Worte von vorhin.

»Nein, nein«, rief er, »so wortwörtlich war das nicht gemeint. Wir sind doch keine Kinder mehr.«

»Das glaube ich auch«, antwortete Frau Antonie und hob den Kopf in die volle Sonne und lächelte ihn an – mit ihrem zweiten Lächeln für Vertraute.

Heinrich fiel das Wort seines Vaters ein von gestern abend: Das Schönste, was es auf der Welt gibt, ist doch das Lächeln einer Frau.

»Aber wir mußten eben einmal sprechen – je eher, desto besser.«

»Nein«, rief Heinrich, und er fühlte, daß er nicht die volle Wahrheit sprach. »Wir hätten vielleicht gestern noch sprechen können, da ich Sie nicht kannte. Heute war es unnötig, hieß doch nur, offene Türen einrennen – das hätten wir beide wissen können.«

»Heinrich! Antonie! Wo steckt ihr denn?« kam es heiter und laut vom Haus her durch die Bäume. »Ich verstehe das nicht – Ihr bleibt doch so lange! Als ob es die hängenden Gärten der Semiramis wären oder der Park von Muskau.«

»Ja«, rief Frau Antonie schon von weitem. »Ich bin ganz begeistert, wie schön der Garten ist. Und Heinrich hat mir alles erklären müssen. Ich habe eine Menge gelernt: Ich kann jetzt schon Spargel von Erdbeeren unterscheiden.«

»Roh oder gekocht, Närrchen?« rief Eduard Schön lachend durch die Bäume zurück – sie sahen ihn immer noch nicht.

Aber er hatte sich noch nicht über seinen Witz beruhigt, als sie bei ihm waren.

»Also, Heinrich, grüß Hannchen, empfiehl uns dem Geheimrat und der Frau Rätin. Und wir kommen dann gegen Mittag. Es bleibt so wie verabredet.«

»Gewiß, Heinrich«, sagte Frau Antonie, die sich an die Seite ihres Mannes gestellt und ihren Arm in den seinen geschoben hatte. »Also, es bleibt dann so, wie wir es vereinbart haben ...«

Heinrich Schön gab seinem Vater die Hand, um sich bei ihm zu verabschieden. Dann aber beugte er sich vor und berührte mit den Lippen die Fingerspitzen seiner jungen Mutter. Er tat es fast feierlich, als wollte er ein stillschweigendes Übereinkommen damit besiegeln.

»Hoho! Sieh den Jungen an! Man wird Hannchen davon in Kenntnis setzen müssen!«

Und als Heinrich Schön schon lange seinen Hut genommen und das Haus verlassen hatte, stand Eduard Schön immer noch in der offenen Tür des Gartenzimmers und war sehr belustigt, wie ungemein spaßhaft und feierlich der Junge sich benommen hätte. Aber dann meinte er, er wolle doch lieber hineingehen oder sich etwas umnehmen – die Sonne trügt –, ihm sei etwas kühl, und er müsse vorsichtig sein. Antonie solle auch ein Tuch um die Schultern nehmen und nicht so gegen ihre Gesundheit wüten. Er vergaß aber, daß sich in bald vier Jahrzehnten die Begriffe von Warm und Kalt und Zuträglich und Schädlich wandeln und verschieben.

Heinrich Schön ging langsam und in ungeklärten Worten und Gedanken am Kanal entlang. Das Gespräch von vorhin hatte ihn erregt und zugleich niedergedrückt. Er hatte so etwas wie Mitleid mit dieser Frau bekommen, die mit einem Schlage ganz allein ihr Leben formen mußte und doch so jung noch war, und zugleich wie Achtung vor dem Mut, es zu tun, ohne dabei zuerst an sich selbst zu denken. Wenn es noch irgendwer gewesen wäre, etwas Gleichgültiges, das man beim Dutzend zugibt, dann hätte ihn ja das nicht so erregt. Aber das war diese Antonie Arnstein doch nicht. Sie hatte nichts von einer Blume, von einem gewachsenen Ding, das uns gefällt einfach als Ausdruck des Seins – nein, sie war nicht wie der Bau, den ein kluger und kunstreicher und begeisterter Architekt ersonnen, von innen heraus gestaltet hatte und an dem nun überall, an jedem Fenster, jedem Gesims der Gedanke seines Schöpfers sich offenbarte. Und diese Schönheit gehörte ihr ganz allein, sonst niemandem auf der Welt – war unveräußerlich, kein Geschenk, das man mit einer Frau kaufen kann oder das einem eine Frau zu Füßen legt oder das ...

Heinrich Schön blieb stehen, lehnte sich an die Brüstung und blickte zu dem dunklen ziehenden Wasser des Kanals hinab. Er liebte das. Es war ihm nicht klar, weshalb – aber das langsam ziehende Wasser hatte es ihm von je angetan. Drüben führten Leitern an der Böschung hoch; alt, morsch, glitschig, und flachkielige Fischerkähne schwankten leicht mit den zitternden Ringen, die der Widerschein des Lichts auf ihre Flanken und Schnäbel warf. Er betrachtete die Eisengitter mit den dicken Zapfen und dazwischen die vierkantigen Stangen, an denen er immer als Junge geturnt hatte – die rote Ziegelböschung mit dem grünen, bemoosten, von runden grauen Flechten besetzten Sandsteinrändern. Er sah die Kastanien von drüben, jung belaubt, hellgrün von der Sonne durchleuchtet – sah, wie sie sich in dem dunklen, zerrinnenden Element spiegelten. Mächtig griffen sie mit langen Zweigen hier in die Luft hinaus, während sie nach den Häusern hin mit kurzen, hängenden Ästen scheu herübertasteten. An einen Adler wurde Heinrich Schön dabei erinnert, den er mal draußen auf der Pfaueninsel gesehen hatte und der auf der Stange hockte und den einen Flügel reckte, während er den anderen anzog. Nie beide – immer nur den einen ...

Und plötzlich fiel Heinrich Schön ein, daß er doch zu Hannchen müsse. Und es wurde ihm bewußt, daß er eigentlich die ganze Zeit über an sie gedacht hatte, daß jeder Gedanke sich auf sie bezogen hatte und daß er, ohne ihren Namen zu nennen, sie immer in Gegensatz gestellt hatte. Ja, das war eben ganz etwas anderes, das konnte man gar nicht vergleichen, das war wirklich wie eine Blume, wie solche große weiße Winde, die sich an Schilf oder Weidenzweigen emporrankt und die in der Morgensonne plötzlich gleich einem Gotteswunder wie helle Sterne weiße, runde Blumen öffnet – so unerhört rein und keusch und lieblich, daß man davor hinknien möchte und es kaum zu berühren wagt.

Und im Augenblick packte Heinrich Schön eine solche Sehnsucht nach seinem großen, blonden Mädchen, daß er anfing zu laufen, in hastigen Sätzen, und erst als ihm Menschen entgegenströmten, die aus der Kirche kamen, mäßigte er sein Tempo, denn es waren sicher Bekannte dabei, und irgend jemand hätte ihn doch fragen können, warum er es so eilig hätte. Er versuchte ganz unbefangen in den jungen, blauen Tag zu sehen. Nett – das! Die flache Kuppel der französischen Kirche stand mit ihren breiten Rippen wie ein großer Hühnerkorb im sonnigen Grün. Und drüben, jenseits des Bassins, blinkten die holländischen Ziegelhäuser mit großen, weißen, gekrausten Muscheln an den geschweiften Giebeln, blinkten in roten und hellen Flecken durch die breit ausladenden, aber noch durchlässigen Linden und spiegelten sich mit all der Tiefe des Himmels über sich – ein klein wenig nachdenklich und erstaunt ob der Seltsamkeit und Weite dieser Welt – in dem stillen, glatten Wasser zu ihren Füßen.

Ach, und da drüben wohnte ja schon Hannchen von Mühlensiefen. Früher hatte er das Haus nie beachtet, es nie gesehen. Dann hatte er begonnen, es zu studieren, durch lange Zeit und auf vielen Wegen, von nahe und von der gegenüberliegenden Seite. Und jetzt, da er dort ein und aus ging, kannte er es so genau, daß er sich getraut hätte, es mit geschlossenen Augen aufzuzeichnen. Man hätte das ganze Häuschen in die Tasche stecken können. Und doch hatte es etwas von einem kleinen Schloß, das sich aus dem verborgenen Park von irgendeinem mediatisierten Duodezfürstentum bei Nacht und Nebel hierher nach Potsdam in die Charlottenstraße verirrt hatte. Das Häuschen hatte ein riesenbreites Portal mit Steinstufen davor, und trotzdem hatte das ganze Haus nur acht Fenster. Aber jedes Fenster war lang und hoch wie einer von der ersten Kompanie des ersten Garderegiments. Und es war in der Mitte kreuz und quer geteilt, von weißen Holzbändern wie von weißem Riemenzeug. Etwelche Fenster waren oben gerundet, und etwelche waren glatt und eckig. Und die runden hatten Schlußsteine – er brauchte gar nicht mehr hinzusehen –, in Lorbeerzweige gebettet, und die eckigen hatten nur Flechtwerk. Zwei Vasen aber – viel zu schwere, viel zu wuchtige Dinger – standen oben auf dem Gesims vor dem rotbraunen, alten Dach. Und jede Seite endlich, jede Flanke des Häuschens, hatte noch zum Überfluß im ersten Stock einen Balkon: schmal wie ein Ellenstock, eigentlich nur geschaffen, um rechts wie links den beiden Putten (es waren also deren im ganzen acht) Raum zu gewähren. Und von diesen Putten, wie das so geht, war immer eine männlich und eine weiblich. Und deshalb versicherten sie in Stellung und Gebärden sehr angelegentlich einander, daß sie sich nicht gleichgültig wären. Diese liebenswürdige Tatsache hatte Heinrich Schön immer zum Trost gereicht, und er hatte sie keineswegs übersehen, sondern sie als günstige Vorbedeutung genommen.

Denn ich weiß nicht, ob ich das schon gesagt hatte: Dem alten Geheimrat von Mühlensiefen war die Sache mit dem jungen Schön zuerst nicht recht gewesen. Endlich kann man doch bei allen Konzessionen, die man dem Zeitgeist zu machen gewillt ist, nicht so mir nichts, dir nichts über die Abstammung fortgehen und zudem noch einen Bürgerlichen, der zu guter Letzt noch Kaufmann ist, mit offenen Armen in die Familie aufnehmen – einfach nur deshalb, weil er wohlhabend ist ...

Und einzig die Tatsache, daß alle, die für Hannchen in Betracht kamen, auch nichts hatten, hatte den Alten bestimmt, in den sauren Apfel zu beißen und in diese geplante Verbindung einzuwilligen. Immerhin würden er und seine Gemahlin, die Frau Rätin, eine geborene von Grävenitz, es nicht ungern sehen, wenn sie das unschuldige Kind noch einige Zeit bei sich behalten könnten – besonders da es das einzige und letzte wäre, das sie zu vergeben hätten. Und so hatte sich die Verlobungszeit schon bald dreiviertel Jahr hingezogen, ohne daß ein Ende abzusehen war. Und jedesmal, wenn von der Hochzeit die Rede war, bekam die Frau Rätin – Aurelie, geborene von Grävenitz – Weinkrämpfe, und man mußte schnell zu etwas anderem übergehen. In Wahrheit aber, um Farbe zu bekennen, hofften die alten Herrschaften immer noch, daß für ihr Hannchen der Richtige käme, waren aber viel zu klug, dieser vagen Hoffnung wegen für ihr Kind eine so gute Partie wie den jungen Heinrich Schön zu verscherzen.

Und Hannchen von Mühlensiefen, die anfangs wohl nicht viel anders gedacht hatte und wie die Königin Anna sich gebärdet hatte – annehmen heißt nicht geben –, war mit der Zeit ganz willenlos dem jungen Heinrich Schön verfallen, hatte ihm ihre kleine unschuldige und beschränkte Seele ganz geöffnet, sehnte sich krank nach ihm und liebte ihn, daß sie schon zu zittern begann, wenn sie nur draußen seine Schritte hörte. Und gerade dadurch hatte sich eigentlich Heinrich Schön, ohne daß er sich dessen bewußt zu werden wagte, schon wieder von Hannchen langsam entfernt – wie es ja gemeiniglich auch in der Liebe nach den Gesetzen der Polarisation von Anziehung und Abstoßung geht, indem stets das Übermaß des einen drüben den Zeiger nach der anderen Richtung hin beeinflußt.

Und so begann schon aus dem rosigen Nebel, der Heinrich Jahr und Tag angenehm umflort hatte – begann schon für kurze, unbewachte Augenblicke das keineswegs erfreuliche Bild der Wirklichkeit hervorzutreten. Doch nur, um sich allsogleich wieder rosig zu verschleiern. In diesen Augenblicken aber stand Hannchen vor ihm, wie sie eigentlich war: ein schönes, aber berauschend geistloses Stück Fleisch, mit großen Vergißmeinnichtaugen – Veilchen in Milch gekocht –, ein kleinliches und beschränktes Wesen von geringem Verstand, ohne jede Bildung außer mangelhaften Schulkenntnissen. Und was schlimmer war: ohne jeden Bildungstrieb. Sentimental und bigott, dem flachesten Alltag hingegeben. Das war aber für Heinrich Schön nur so ein Wolkenriß. Ehe er noch recht hinsah, war schon wieder alles rosig umflort und lieblich verschwommen. Und nur, daß in allerletzter Zeit immer häufiger dieser Wolkenriß plötzlich aufzuckte, hatte Heinrich Schön etwas verwirrt und seinen Glauben ein wenig erschüttert, daß das nur eitel Täuschung sei. Er schrieb es aber der inneren Unbefriedigtheit zu, die nun mal eine längere Brautzeit für die, so es angeht, mit sich bringt, und meinte, daß, wenn wirklich bei Hannchen irgendwelche Eigenschaften derart im Keime vorhanden sein sollten (was ihm ja bei dieser Umgebung kaum wundernehmen konnte), sie unter seinem Einfluß – und wenn Hannchen erst ganz Herrin ihrer selbst wäre – sich schnell und spurlos verlieren würden.

Heute aber war Heinrich Schön voll Sehnsucht nach seinem blonden Hannchen, und die rosige Wolke, in die er sie in seiner Liebesblindheit gehüllt hatte, zeigte nirgends Risse, sondern umhüllte sie ganz und gar. Und dann war wirklich ein so köstlicher Tag! Der Himmel hatte die Erde mit dem jungen Grün und allem, was da war, in die Arme genommen, als könne er sich gar nicht satt daran küssen.

Und dann hatte Heinrich Schön ihr ja so sehr viel zu erzählen! Er war geladen voll mit Neuigkeiten, und er stürmte ordentlich die alte, knarrende Stiege hinauf. Denn das Häuschen ähnelte bedenklich den Talern, die man von seinem königlichen Erbauer zu Zeiten des Siebenjährigen Krieges geschlagen hatte und von denen noch der Spruch ging:

Von außen schön,
Von innen schlimm,
Von außen Friedrich,
Von innen Ephraim.

Aber siehe da! Während sonst schon in der Tür auf sein doppeltes Klingelzeichen – und man konnte es hören, drei Häuser weit, es war eine Bestie von einer Schelle – Hannchen ihm sogleich entgegenflog (und Heinrich fieberte vor Ungeduld, daß es geschehe), dauerte es eine ganze Weile, bis ihm heute geöffnet wurde. Und zwar von der Frau Geheimrätin selbst, die noch die Kantenmantille über dem beigefarbenen Kleid hatte und ihre Kirchenbrosche »Glaube, Liebe und Hoffnung« in Lebensgröße aus Elfenbein am Halse trug und zum Überfluß ein rotsamtenes Gebetbuch in den behandschuhten Fingern – es waren braune Filethandschuhe – hielt, als wolle sie noch eigens unterstreichen, daß sie eben aus der Kirche heimgekehrt war.

Die Frau Geheimrätin war weiß wie ein Schneehühnchen und hatte ein würdiges, feistes Gesicht mit vielen Falten in dem welken Fleisch. Doppelkinn und Wangen glichen schlechtgestopften Polstern, die geschwellt sind und doch lappig und haltlos. Dabei sah sie seinem Hannchen zweifellos ähnlich, die Frau Geheimrat, groß und stark wie sie war, mit den gleichen blauen Augen, die aber bei ihr allen schwärmerischen Glanz verloren hatten und reglos, wie aus blauem Straß, in dem Gesicht saßen. Diese Augen mochten ja nicht immer so reglos, spitz und kalt gewesen sein. Aber seit ihr Mann pensioniert worden war, war die Würdigkeit der Frau Geheimrat ins maßlose gestiegen. Denn während früher eigentlich jeder wußte, wer sie war, mußte sie jetzt selbst dafür Sorge tragen, daß man es auch nicht vergäße und sie auch genugsam ästimierte. Und das hatte sie mit der Zeit im Verein mit einer selbstgefällig zur Schau getragenen Gottergebenheit vollends unleidlich gemacht, so daß Heinrich Schön, der oft versucht hatte, ihr gute Seiten abzugewinnen, sich immer wieder hatte sagen müssen, daß die Mutter seiner zukünftigen Frau doch eigentlich eine herzlich unsympathische Dame war.

Auch jetzt blickte sie ihn an, als ob sie ziemlich indigniert über diese frühe Störung wäre und als ob die Ankunft dieses Weltkindes sie unangenehm aus ihren frommen Betrachtungen herausrisse.

»Nun, Heinrich«, sagte sie, und der Ton hatte eine seltsame Familienähnlichkeit mit dem vom Professor Friedrich Wilhelm Schneider – schmeckte nach Schule –, »unser Kind war gestern sehr unglücklich, weil Sie nicht gekommen sind.«

»Ach, Frau Rätin«, meinte Heinrich etwas schuldbewußt, aber im gleichen Augenblick fiel es ihm ja ein, daß es gestern ganz anders abgelaufen, als er es beinahe beabsichtigt hätte, und das ließ ihn seinen Kopf wieder stolz heben.

»Ja, es ging aber wirklich nicht«, setzte er mit würdiger Diplomatenmiene hinzu, denn er wollte mit seinen Neuigkeiten erst vor Hannchen auspacken.

»Der junge Winterfeldt, den ich gestern in der Andacht bei Exzellenz von Thiele traf« – und Frau Geheimrat von Mühlensiefen legte ihre ganze Gottseligkeit in das Wort »Andacht« und ihren ganzen blaublütigen Stolz in die »Exzellenz von Thiele« –, »der Leutnant von Winterfeldt erzählte mir aber, daß er noch vor kurzem mit Ihnen zusammen gewesen wäre.«

Ein ganzer, verdächtig brodelnder Höllenpfuhl, ein cancantanzendes Sündenbabel reckte sich bedrohlich hinter diesen schlichten Worten auf. Denn Frau von Mühlensiefens Frömmigkeit wäre nur einseitig gewesen, wenn sie nicht im Gegensatz zu ihrer weißen Seele bei allen anderen die schwärzeste Verkommenheit gemutmaßt hätte, mit der verglichen die der Sodomiter nur eine harmlose Kindergesellschaft genannt werden muß. Ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben, beschäftigte sich die Frau Geheimrat Aurelie von Mühlensiefen innerlich eigentlich mehr mit der Kehrseite ihrer Frömmigkeit als mit der Frömmigkeit selbst (eine Eigenheit, mit der sie nebenbei nicht allein dastand und die anscheinend im Wesen der Frömmigkeit begründet ist). Trotzdem aber wollte sie diesen in Sünden verlorenen Jüngling nicht unermahnt entlassen, und sie schloß deshalb: »Es hätte Ihnen auch nichts geschadet, Heinrich, wenn Sie in unsere Andacht gegangen wären. Dort ist jeder gute Christ willkommen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Heinrich Schön etwas brüsk, denn die Frau Geheimrat fing an, ihm die Sonntagslaune zu versalzen. »Und außerdem ging es wirklich nicht.«

»Oh«, entgegnete Frau Rätin zerschmelzend und verschränkte beide Hände über dem frommen roten Sammetbüchlein, das auf der Wölbung ihres Rockes einen sicheren Platz gefunden hatte wie ein Milchnapf auf dem Küchenbord. »Vor dem Tische des Herrn, Heinrich, sind wir alle gleich. Und Bürgerliche sind uns ebenso willkommen wie unseresgleichen.«

Heinrich Schön verschluckte eine Antwort. Er wollte um jeden Preis ein Ende machen.

»Ist denn Hannchen noch in der Kirche?« fragte er. »Vielleicht kann ich ihr etwas entgegengehen...«

Die Frau Rätin schlug die Augen empor, nach Art der büßenden Magdalena von Pompeo Batoni oder der heiligen Cäcilie, die in einem schwer verzeichneten Stahlstich bei ihr in der guten Stube hing, und sagte mit dem Ton schmerzvoller Duldung – mit dem Ton ›So seid ihr Männer!‹: »Ich glaube nicht, daß das arme Kind heute die innere Ruhe gehabt hat, um in das Haus Gottes zu treten.«

»Eo melius – desto besser! Mühlberg, -thal, -stein, -feld oder wie Sie heißen mögen«, rief Heinrich Schön, Professor Schneider kopierend, übermütig, »denn ich habe ihr große Neuigkeiten zu erzählen«, und damit klinkte Heinrich (die Unterhaltung hatte man im Flur geführt) lachend die Tür auf.

Die Frau Rätin aber sah ihm kopfschüttelnd nach. Das war ja ein Mensch ohne Erziehung, der mit dem Heiligsten Spott trieb.

Das Zimmer lag hell in der Sonne. Und die Sonne hatte viel Platz darin, denn es war ziemlich leer: an der einen Wand stand ein birkenes Sofa, breit und ausladend, und vor dem Sofa stand ein einbeiniger Tisch mit einer behäkelten Decke. Zwischen den beiden Fensternischen aber war der Pfeilerspiegel mit breiten Nähten im grünlichen, stumpfen Spiegelglas. Man sah sich darin stückweise und wie in einer Wolke von Absinth. Und dann hielt ein altes klappriges Spinett schon über dreißig Jahre an der anderen Wand aus. Und Nähtischchen und ein paar Sessel hatten sich die Fensterplätze gesichert unter den gerafften Mullgardinen, unter stockdürren Palmen, Gummibäumen, Meerzwiebeln und Plektoginien. Die heilige Cäcilie aber war in die vier Mühlensiefen-Grävenitzschen Großeltern über das Sofa geraten und verdrehte ob ihrem Mißgeschick noch mehr die Augen, als sie es sonst tat, während im Gegensatz hierzu über dem Spinett Raffaels Sixtina mit Meyerheims Mohrenwäsche Freundschaft geschlossen hatte. Und in Wahrheit sahen die Stahlstiche auch beide ganz gleich sammetschwarz und schneeweiß aus. Die ganze Rückwand aber des Zimmers war der Kunstfertigkeit der Frau Rätin vorbehalten. Denn dort hingen in Birkenrahmen (ganz groß, in bunter Wolle auf Kanevas gestickt) zwei Kindlein, die mit einem Schäfchen spielten – unschwer als Christus und Johannes zu erkennen. Und als Pendant (gleichfalls in Wolle, aber ein wenig langgezogen und mit schiefer Schulter) fast lebensgroß, mit allen Orden: ein Brustbild Friedrich Wilhelm des Dritten. So daß genugsam bewiesen wurde, daß in diesem Hause der himmlischen wie der irdischen Obrigkeit die gleiche Verehrung gezollt wurde. Auf dem Ofenschirm aber hatte die Frau Rätin in einer gestickten Schweizerlandschaft mit Gießbach und Gletschern, mit Kühen und Wäldern, mit Sennerinnen und Sennern sich ausgetobt.

Einen schwelgerischen Luxus jedoch, einen wahren Paroxysmus endlich entwickelte das Zimmer in Antimakassars: auf dem grünen Ripssofa, auf jedem Sessel, jedem Stuhl, auf dem niedrigsten Hockerchen – wo sie gar keinen Sinn hatten – lagen diese weißen, grobmaschigen, geknüpften Decken als Schoner und Schützer gegen das Haaröl, das brave Klettenwurzelöl, das irgendein findiger Kopf als Makassaröl von den Sundainseln in die Welt hinausposaunte. Und sie waren dabei völlig deplaciert – Festungen, die nie umstritten wurden. Denn Heinrich Schön brauchte noch kein öl, um den Haarwuchs zu fördern, und der alte Geheimrat von Mühlensiefen brauchte es nicht mehr, denn er trug seit zwanzig Jahren eine Perücke. Sonst aber betraten wahrlich nicht viel männliche Wesen die gute Stube bei Mühlensiefens, auf die nebenbei die Frau Rätin so stolz war, als ob doch jedes Stück die Zierde des Grünen Gewölbes in Dresden gewesen wäre.

Hannchen saß in einem hellen Morgenkleid in einer Fensternische am Nähtisch. Aber sie wandte den Kopf nicht. Diesen Fensterplatz bevorzugte Hannchen vor allen andern des Hauses, weil dort das Licht durch ihr Haar spielte und es golden erschien, während es im Schatten und im Zimmer nur allzu leicht aschenfarbig und langweilig wirkte. Ihr einziger Kummer aber dabei war, daß die Sonne wiederum ihrer Haut nicht zuträglich sich bewies, indem sie alsbald, sowie sie kräftiger zu brennen begann, ihr auch schon einen netten Sattel von Sommersprossen über den Nasenrücken legte. Meist aber pflegte Hannchen von Mühlensiefen das Problem so zu lösen, daß sie zwar die Haare gegen die Sonne, das Gesicht aber gegen das Fenster kehrte und so den Vorteil des einen genoß, das andere hingegen vermied. Heute jedoch saß sie aus zwiefachen Gründen mit dem Gesicht dem Fenster und der Sonne zu. Erstens wollte sie schmollen – ihre Mutter, die Frau Rätin, hatte das für nötig erachtet –, und zweitens hatte sie noch ihre Papillotten ein – sie sah aus wie der Löwe in Pyramus und Thisbe mit der Perücke aus Hobelspänen – und nestelte nun daran, sie möglichst schnell zu entfernen. Denn sie hatte die vorgefaßte und nicht unrichtige Meinung, daß Papillotten, Nachtjacken aus Flanell und ähnliche Dinge für einen Bräutigam sans doute verfrüht sind, während sie für den Ehemann gerade gut genug sind. Und deshalb wandte sie das Gesicht Heinrich Schön nicht zu.

»Na, Hannchen, meine Süße – einziges kleines Hannchen, was ist denn?« rief Heinrich Schön, mehr belustigt als erstaunt oder bekümmert. Denn er pflegte die Verstimmungen Hannchens wie die Launen eines Kindes nicht schwerzunehmen.

»Oooh«, sagte Hannchen langgezogen und tränenreich und streifte Heinrich wenigstens mit einem ihrer blauen Vergißmeinnichtaugen, wandte wenigstens die eine Kopfhälfte nach Heinrich um, von der sie die Lockenwickel schon abgezupft hatte, während sie an der anderen eifrig zauste, »geh fort, du bist schlecht.«

»Ja«, meinte Heinrich Schön und schlich ganz leise hinter Hannchen und sah lächelnd auf Hannchen und ihre Tätigkeit hinunter. »Ja, fortgehen, das wollen wir auch, mein gutes Herz. Denn heute ist ein wundervoller Tag – der prächtigste seit zehn Jahren und fünf Monaten. Es ist warm und doch nicht warm, und die ganze Luft von oben bis unten ist mattblau wie indische Seide, von der man einen Dreimeterschal durch einen Verlobungsring ziehen kann. Die Bäume werden ganz grün, geradezu während man sie ansieht. Drei Schwalben habe ich über dem Bassin flitzen sehen – wirkliche Schwalben. Und nächstens gehe ich nach Bornim, Maikäfer sammeln. Und bei solchem Wetter werden wir beide doch nicht zu Hause bleiben wollen!«

Jetzt hatte Hannchen von Mühlensiefen auch ihre andere Kopfhälfte à jour gebracht und drehte Heinrich Schön das ganze Gesicht mit den beiden tränenden Augen zu. Sie wollte so gern böse und abweisend sein, und sie glaubte auch, daß sie es sich und den Ihrigen als verlassene Dido schuldig wäre. Aber es ging so schwer. Denn sie war doch heilfroh, daß nun Heinrich endlich gekommen war. Sie hatte sich eine ganze Rede zurechtgelegt, in der sogar das Wort »Ungetreuer« vorkam. Aber sie brachte nichts als schluckend und schluchzend wie es in Bertram de Born heißt: »In Tränen schmolz des Königs Zorn« –, schluchzend und schluckend heraus: »Das mußt du aber nicht wieder tun, Heinrich!«

»Das hängt ganz von meinem Vater ab«, meinte Heinrich Schön so leichthin. »Was kann ich dafür, daß der Alte Herr konstant heiratet? Und überhaupt: Warum von tausend Vätern just eben diesen Vater mir

Man konnte nun von Hannchen von Mühlensiefen alles behaupten, aber für Rätsel war sie nicht. Und besonders schillerfest noch weniger. Sie kannte nur »Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften« bis zur sechsten Zeile und »Eilende Wolken« bis zur fünften – damit war ihr Programm erschöpft. Don Carlos hatte sie bei Stehmann in der Fünftalerschule leider nicht gelesen, und so war sie nicht im Bilde und kehrte – trotz der zu befürchtenden Sommersprossen – das Gesicht schmollend wieder ganz dem Fenster zu.

»Pfui, du liebst mich nicht mehr«, sagte sie. Das aber sagte sie jede Woche dreimal und war der Meinung, daß es bei allen erdenklichen Gelegenheiten paßte.

»Mein süßer Liebling, mein Goldmädel, meine Zuckerschnute, dein Wort hoch in Ehren – aber das lügst du in deinen Hals hinein!« rief Heinrich Schön lachend und versuchte dabei, indem er vorsichtig über den neugeformten Hängelocken Hannchens Kopf packte, ihn zu sich zurückzudrehen.

»Ich habe gestern so auf dich gewartet, Heinrich«, schluckte Hannchen wieder, »das darfst du nicht noch einmal tun!«

»Ja, angebetetes Geschöpf« – und jetzt hatte er ihren Kopf zu sich herumgedreht –, »da mußt du dich bei meinem Alten Herrn beschweren. Der ist nämlich gestern abend nach Hause gekommen, und zwar mit unserer neuen Mutter.« Daß er ganz unerwartet gekommen, ihn überrascht hatte, als er just dabei war, sich auf Nebenwegen zu verlieren, verschwieg Heinrich Schön wohlweislich.

Hannchen hatte nun eigentlich vorgehabt, weiter zu schmollen, und irgendein unklares Gefühl sagte ihr auch, daß, wenn Heinrich vorher etwas davon gewußt hätte, sie es doch auch hätte hören müssen. Und daß gestern abend... Aber das kam alles nicht mehr an die Oberfläche, wurde durch die Neuigkeit einfach überflutet. Das war etwas für Hannchen von Mühlensiefen! Da hatte sie zu reden, zu hören und zu fragen. Denn Hannchen von Mühlensiefen hatte zwar nur einmal bei den alten Arnsteins in Berlin mit Heinrich zusammen Besuch gemacht, aber diese zehn förmlichen und belanglosen Minuten hatten genügt, um eine tiefe Abneigung gegen ihre zukünftige junge Schwiegermutter ihr einzupflanzen – eine Abneigung, die man fast als Haß bezeichnen konnte. Sie fand alles an Antonie Arnstein manieriert und unanständig: jedes Wort, jede Bewegung, die Kleidung, die Interessen, die Art, mit Männern zu sprechen – alles erschien ihr fremd und unverständlich, abstoßend und zu ihr selbst in unversöhnlichem Widerspruch. Aber den Ausschlag gab doch eigentlich die Erwägung, daß durch das Dazwischentreten dieser da irgend etwas dividiert würde, das ihr eigentlich einmal später voll und ganz gehören müsse. Und trotzdem es sich hier oder gerade weil es sich hier um Summen drehte, die für sie und ihr Elternhaus außerhalb jeder Vorstellung lagen, so empfand sie es um so härter, was ihr hier einmal entzogen werden sollte.

Und wie aus einem winzigen, unbedeutenden Samenkorn oft in kurzer Zeit eine ganze Pflanze mit Blättern, Stielen und Blüten wird, ohne daß irgendwer sich erklären könnte, wie das zugeht, so war aus dem winzigen Anlaß, gleichsam aus diesem Körnchen von Unbehagen, das sie vor acht, zehn Wochen in kurzen Minuten empfunden hatte, eine ganze große Pflanze von Haß und Klatsch und Verdächtigungen erwachsen und schoß immer weiter ins Kraut, mit geilen, giftgrünen Blättern und neidgelben Blüten. Und das war um so erstaunlicher, da eigentlich gar nichts da war, aus dem das Körnchen weiter Säfte und Kräfte hätte saugen können, kein Boden, der ihm Nahrung zuführte. Denn Heinrich Schön hatte es stets vermieden, von seiner neuen Mutter zu sprechen. Und sooft Hannchen von Mühlensiefen, die sich gern an Menschen rieb, die sie nichts angingen – sooft sie auch auf sie kam und sich in reicher frauenhafter Fabulierkunst mit ihrer Persönlichkeit beschäftigte, war Heinrich Schön auf ein anderes Thema übergesprungen, was ja einem Mann, der zu seiner Unterhaltung mit einer Frau noch das stumme Spiel der Lippen hinzufügen darf, nie besonders schwer wird (wie Heinrich Schön überhaupt daran gewöhnt worden war, die Frau als ein Wesen zu nehmen, das man zu ernst nimmt, um es ernst zu nehmen).

»Nun, was hat die Person gesagt? Wie war sie zu dir? Wie hat sie dich ...?« Hannchen überschlug sich in Fragen. Aber Heinrich Schön hörte nur das Wort »die Person«. Vielleicht hatte es Hannchen schon hundertmal vordem über Antonie Arnstein gesagt, aber er hatte nie darauf geachtet. Jetzt trieb das Wort, bei dem sich vielleicht Hannchen gar nichts Böses gedacht hatte und das nur ihre Ansicht kennzeichnete, Heinrich Schön das Blut in die Schläfen. Und über dem rechten Auge zog sich plötzlich eine tiefe Falte hoch.

»Weder mein Vater noch ich«, sagte er halblaut und mit einem Ton, den Hannchen von Mühlensiefen nicht kannte, »pflegen eine ›Person‹ zu heiraten.« Und damit kehrte er sich um und begann im Zimmer auf und nieder zu gehen. All seine Sonntagslaune war verflogen – alles Gefühl diesem Mädchen gegenüber, das da am Fenster in der Sonne saß, war im Augenblick erstorben, starr, eisig, gleichgültig geworden, zu tiefer Fremdheit gewandelt. Er wußte selbst nicht, wie das zuging.

Hannchen von Mühlensiefen hatte schon öfter – wie das landläufig unter Brautleuten ist – kleine Kampeleien mit Heinrich Schön gehabt um Dinge, die nicht wert waren, daß man drei Worte drüber verlor. Und es hatte sie am Ende befriedigt, wenn er einlenkte und sie verzeihen konnte. Aber diesen Ton, der so leise war wie das Wispern einer Birke und so scharf wie ein Sägeblatt, hatte sie dabei nie gehört. Und sie fühlte erschrocken die Entfremdung aus ihm heraus. Nein, jetzt durfte sie es nicht darauf ankommen lassen!

»Aber Geliebter!« rief sie (das Wort »Geliebter« lag auf ihrer blonden Linie), »habe ich das gesagt? Du mußt dich verhört haben, oder ich muß mich versprochen haben. Schon deinetwegen, Heinrich, würde ich so etwas nie wagen, nie denken.«

Heinrich Schön ging wortlos in dem langen Zimmer auf und nieder. Er wollte gern diese Stimmung wegwischen, aber es gelang nicht. Er kam sich kindisch in seiner Erregung vor, aber sie war stärker als er.

Hannchen von Mühlensiefen empfand das. Und wie er das nächste Mal auf seiner stummen Wanderung in ihre Nähe kam, tat sie das Klügste, was eine Frau tun kann: Sie verließ sich auf die unwiderlegliche, angeborene Logik ihres Geschlechts, sprang auf und hielt ihn fest.

»Du sollst deinem Mädchen nicht böse sein!« rief sie und verknotete die weißen Arme hinter seinem Hals, hing sich an ihn, preßte den blonden Kopf in den Nacken zurück und zog sich seinen so nahe, wie es linde Gewalt vermochte. »Nicht böse sein«, wiederholte sie und schürzte durstig und verlockend die Oberlippe über ihren weißen Zähnen.

»Nein, nein, mein Süßes«, begann Heinrich Schön, als er wieder aus dem rosigen Nebel emportauchte, »ich bin es ja nicht. Aber du weißt gar nicht, wie unrecht du der jungen Frau damit tust. Es ist kein Wunder, Hannchen, daß du es tust. Ich habe ihr ja auch bis heute unrecht getan – und vielleicht nicht so von ihr gesprochen, wie es sich schickt und wie sie es verdient. Wir haben gestern zusammen noch zu Abend gegessen – es war ziemlich spät, als sie kamen –, unten im kleinen Saal. Die Petzel hatte sich selbst übertroffen. Und dann haben wir heute im Gartenzimmer zusammen gefrühstückt, und ich habe noch ein paar Minuten im Garten mit ihr allein geplaudert. Und ich muß bekennen: Ich bin selten so angenehm enttäuscht worden; ein kluges, liebenswürdiges, taktvolles Wesen, das eine Menge gelernt hat. Mein Alter Herr, Hannchen, der wußte schon, was er getan hat, als er die nahm – so was wächst nicht hinter jedem Zaun, das findet man nicht alle Tage. Und ohne dir zu nahe zu treten, mein geliebtes Küken: In ihrer Art ist sie auch hübsch; vielleicht war sie es früher noch nicht, aber jetzt ist sie es geworden. Man sieht das nicht so gleich – es ist eben ganz etwas anderes –, aber sie kann sich wundervoll bewegen. Und wenn sie spricht, dann lebt alles an ihr. Ich glaube, wir haben viel gewonnen mit ihr, und wir werden viel von ihr haben. Ich meine für uns, für unser Haus mal später. Ich stelle mir das sehr nett vor – na, du wirst ja auch sagen, daß ich recht gehabt habe, wenn du sie erst näher kennst. Wir hätten ebensogut viel übler fahren können, denn zusammen auskommen müssen wir doch. Eigentlich tut sie mir ja in der Seele leid, denn es ist doch unnatürlich. Nun denke: Du solltest mit einem Mann, der weit über dreißig Jahre älter ist, stets zusammen leben!«

Hannchen von Mühlensiefen hatte eigentlich wenig von alldem gehört. Denn als Heinrich Schön begann – nicht ohne eine gewisse freudige Erregtheit über die Erlebnisse von gestern und heute –, das Loblied auf Frau Antonie zu singen, hatte sie sich aus seinen Armen gelöst und war zu ihrem Fensterplatz zurückgekehrt. Die geistigen und seelischen Eigenschaften hätte sie der jungen Frau gern konzediert – das bedeutete nicht viel –, aber daß ihr Heinrich sie hübsch, sogar mehr als hübsch fand und mit leuchtenden Augen davon erzählte, das ertrug sie nicht. Denn es lag nicht in ihrem Wesen zu begreifen, daß es andere Frauen außer ihr auf der Welt gab. Jede schien ihre Existenz in Frage zu stellen, und es war gleichsam Notwehr, wenn sie sie vor sich selbst und Heinrich Schön gegenüber herabsetzte. Und sie war schon eben dabei, gegen Frau Antonie ins Feld zu ziehen, als die letzten Worte Heinrichs an ihr Ohr klangen, und sie fühlte, daß sie an dieser Stelle viel besser einhaken konnte, da ja die beste Abwehr der Hieb ist.

»Warum nicht?« sagte sie ganz gleichmütig, still und verträumt, »ich könnte auch einen älteren Mann heiraten, wenn er nur sonst nett zu mir ist.«

»Oh«, meinte Heinrich leise und scharf und nahm seine Wanderung wieder auf, »jammerschade! Mein Alter Herr ist nun nicht mehr zu haben. Aber ich würde es mal mit Professor Friedrich Wilhelm Schneider versuchen – ihr würdet vorzüglich zusammen passen.«

Darauf war Hannchen von Mühlensiefen nicht gefaßt, und da sie keine Antwort wußte, so besann sie sich auf ihre angeborenen Argumente und begann zu weinen. »Du liebst mich nicht mehr! Und wie kannst du so etwas sagen – und das ist schlecht von dir! Und so bist du in der letzten Zeit überhaupt! Ich würde nie ...«

Ach Gott! Große geistige Gaben hatte nun Hannchen von Mühlensiefen gewiß nicht, aber Tränen kleideten sie vorzüglich. Sie wurde dann noch sanfter und veilchenblauer, und man empfand ihr gegenüber, wenn man auch hundertmal recht hatte, mit tiefer Beschämung, was man doch eigentlich für ein hundsmiserabler und gemeiner Kerl war. Sie verfügte über jene Sorte von Frauentränen, die ein Verlobter hunderttausendmal wegküssen möchte und die einen Ehemann zum Selbstmord treiben können ...

Heinrich Schön eilte zu Hannchen und nahm sie in die Arme. »Geliebtes Wesen, du mußt doch einen Scherz verstehen!« (In Wahrheit war es gar kein Scherz von ihm gewesen.) »Sieh mal, wie köstlich das Wetter draußen ist. Da darfst du doch nicht weinen. Und nachher kommt mein Vater und Frau Antonie. Die wollen mit uns und deinen Eltern irgendwo draußen Mittag essen. Da darfst du doch nicht weinen! Was sollen denn die denken, wenn du rote Augen hast! Die denken, wir schlagen uns und beißen uns und balgen uns. Und das ist doch nicht wahr. Was wollen wir uns denn gerade heute den schönen Tag verderben – wir haben ja noch so viel Zeit dazu, wenn's draußen recht grau und griesgrämig ist.«

Eigentlich sehnte sich Hannchen von Mühlensiefen ja auch nach nichts anderem als Sonnenschein; und als die Frau Geheimrat nach ein paar Minuten hereintrat, da war wirklich alles eitel Licht und Fröhlichkeit. Die beiden saßen eng umschlungen auf dem Ripssofa, die Köpfe sicher auf den Antimakassars gebettet, und sie fuhren etwas, nur etwas, mit den Gesichtern auseinander, um doch Distanz zu wahren und es nachher wieder nicht allzuweit zu haben.

Frau Geheimrat von Mühlensiefen aber hatte inzwischen einen Teil ihres sonntäglichen Kriegsschmuckes abgelegt und auch die Schute mit der häuslichen Tüllhaube vertauscht.

Und eingedenk der Mahnung, daß man auch die Heiden speisen soll, trug sie auf einer Schüssel irgend etwas, das dampfte und angenehm nach Äpfeln roch.

»Hier, Heinrich«, sagte sie in heiterer Gottseligkeit, »das haben wir Ihnen auf Hannchens besonderen Wunsch von ihrer Speise aufheben müssen. Ich habe es draußen selbst noch mal warm gemacht.«

Heinrich begann die Gnadenarie aus »Robert der Teufel« zu singen: »Gnade! Gnade! Gnade! Ich muß ja heut noch so schrecklich viel essen. Ich bin nämlich in einer Mission hier. Sie brauchen nicht zu erschrecken, Frau Geheimrat, es ist nicht die innere Mission« (das war eine Spitze und ging auf bestimmte Erlebnisse der Frau Geheimrat), »nein« – hier machte Heinrich ein unbeholfenes Knickschen –, »mein Vater und meine Frau Mutter lassen Herrn und Frau Geheimrat recht sehr bitten, und ob Herr und Frau Geheimrat so liebenswürdig wären, heute irgendwo draußen mit ihnen zu Mittag zu speisen. Mein Vater ist nämlich gestern abend gekommen, und deswegen war es mir auch unmöglich...«

Weiter kam Heinrich nicht. Denn nun gab es ein Kreuzfeuer von Fragen, eine reine Inquisition. O ja, sie wäre sehr liebenswürdig, gescheit und mache den Eindruck einer wohlunterrichteten jungen Dame. Auch sähe sie so aus, als ob sie in ihrer jungen Ehe sehr glücklich...

»Ja«, meinte Frau Geheimrat und blickte aus ernsten Augen, »ob wir aber heute nachmittag mit Ihren Eltern zusammen sein können... Erstens hat der Rat den Abend für seinen alten Freund Exzellenz von Sellenthin reserviert, und dann wollten wir eigentlich nachmittags die Wunderschwestern Milanello hören, von denen hier alle so entzückt sind und die ja besonders die Variationen zum ›Karneval von Venedig‹... Ja, aber ich will sehen, Heinrich, wenn ich den Rat irgendwie bestimmen kann... Wilhelm! Wilhelm, komm doch mal bitte nur einen Augenblick!«

»Gleich, liebe Aurelie«, klang es leicht verrostet hinter einer weißen Tür hervor. Und nach einer kleinen Weile kam aus einem halbdunklen Nebenraum, mit zwinkernden Äuglein – wie ein Maulwurf, den man ans Licht zieht –, kam in gestickten Morgenschuhen, gesticktem Käppchen, im grünen Schlafrock mit Troddeln, mit grünem Augenschirm über der runden Hornbrille, der Herr Geheimrat herein. Er hatte einen Gänsekiel in der Hand, denn man hatte ihn direkt von seinem Stehpult abberufen, an dem er täglich mehrere Stunden an seinen Memoiren schrieb, die unter dem Titel »Ein Diener seines Königs. Erinnerungen eines Ungenannten« die Welt über mancherlei Gefahren aufklären sollten, an denen Preußen ohne die rettende Tätigkeit eben jenes Ungenannten sicherlich zerschellt wäre. Er war vor dreißig Jahren als junger Assessor mit beim Wiener Kongreß gewesen, sprach davon nur in geheimnisvollen Andeutungen, als ob die Grenzregulierung von Europa einzig und allein sein Werk wäre, und fühlte sich als Schüler Metternichs in undurchdringlicher Diplomatie.

Er war groß, hager, schon von den Jahren etwas gekrümmt, versuchte aber immer noch, sich so gerade zu reißen, als müsse er – eingezwängt in den gestickten Staatsrock mit allen Orden, den Dreimaster im Arm – zur Neujahrscour im Schlosse vorüberdefilieren. Er war durchaus keine polternde Feldwebelnatur, sondern sehr verbindlich und überlegen, immer lächelnd, mit den hageren, bartlosen, pergamentenen Zügen; gewohnt, jedes Wort auf die Waage zu legen, das er sprach. Und trotzdem er nie offensichtlich unfreundlich war, hatte er doch eine sichere Art, jede Vertraulichkeit von sich fernzuhalten, jedes laute Wort bei anderen zu dämpfen, jedes Lachen im Keim zu ersticken. Man brauchte kein Fenster zu öffnen – es wurde kühl, wenn er ins Zimmer trat, und wenn es vorher noch so heiß gewesen war. Und nach zehn Minuten fror man.

»Nun, Aurelie«, meinte, sich umblickend, der Herr Geheimrat nach erwartungsvoller Pause – denn er verschwendete sich nicht, »weshalb störst du mich? Ah, der junge Herr Schön!« Der Geheimrat winkte lächelnd mit zwei gekrümmten Fingern.

Und doch war in diesem einen »Ah!« in komprimierter Form all das enthalten, was die Frau Rätin und Hannchen vorher in wortreichen Viertelstunden festgestellt hatten.

Heinrich wollte eben seinen Sermon beginnen. Aber die Frau Rätin fiel ihm ins Wort.

»Höre mal, Wilhelm, könntest du nicht für heute nachmittag deine Versprechung mit Exzellenz von Sellenthin rückgängig machen?«

Der Geheimrat erfuhr zwar in diesem Augenblick erst, daß er beabsichtigte, mit Seiner Exzellenz von Sellenthin den Nachmittag zusammen zu verbringen, den er seit Jahr und Tag nicht gesehen hatte. Aber er legte doch das Gesicht in sehr ernste, nachdenkliche Falten und schwenkte, leise summend, den Kopf hin und her.

»Sieh mal – Heinrich sagt uns eben, daß sein Vater gestern zurückgekommen ist und gern den Tag mit uns verbringen möchte, um uns mit seiner jungen Gattin näher bekannt zu machen. Ich muß bekennen, daß ich mich auch sehr darauf freue. Ich denke, du könntest ihnen – und uns«, setzte Frau Rätin nach einer kleinen Pause hinzu, »wohl den Gefallen tun.«

Heinrich Schön, der schon, durch die dampfende Apfelspeise bestochen, sein Urteil über die Frau Geheimrat umstoßen wollte, stellte von neuem fest, daß sie doch ein unausstehliches Geschöpf war.

Der Herr Geheimrat lächelte verbindlich und beschrieb mit dem Gänsekiel ein Häkchen. »Insofern«, sagte er, »hätte es sich schon geziemt, wenn ich etwas früher davon hätte Kenntnis nehmen können. Andererseits stehe ich mit meinem Freunde so, daß ein Billett von mir, welches ihn über die Tatsachen belehrt, beziehungsweise eine kurze mündliche Rücksprache genügt, mich zu entschuldigen. Ich hätte Exzellenz ja gerne um einige intimere Informationen aus seinem Ressort gebeten, die ich in den ›Erinnerungen‹ streifen muß – nun, ich stehe nicht an zuzugeben, daß ich mich ebenso freuen würde, eine so liebenswürdige junge Frau näher kennenzulernen, der nicht nur der Ruf eigenartiger Schönheit, sondern auch der von brillierendem Geist und großer Bildung vorangeht.«

Und der Geheimrat blickte im Kreise umher, als verlange er Anerkennung, in welch weltmännischer Art er sich und die Seinen verträte.

Aber nur Heinrich Schön lächelte erfreut.

Frau Aurelie liebte es nicht, daß in diesem Hause die Schönheit eines anderen Wesens außer der ihrer Tochter Hannchen erwähnt wurde – es sei denn jene, die sie früher ihr eigen nannte. Und Geist und Bildung wurden noch weniger von ihr geschätzt, ja, sie wurden sogar, als dem Seelenheil und der wahren Erkenntnis verderblich, von ihr arg mißachtet. Und endlich mal war doch Hannchen auch bei Stehmann in die Fünftalerschule gegangen ...

»Höre mal, Wilhelm«, unterbrach sie deshalb ziemlich brüsk, »in diesem Aufzug kannst du aber unmöglich Herrn und Madame empfangen. Sie würden einen netten Begriff von mir bekommen – und sie können jede Minute hier sein. Ich muß auch noch nach deinen Sachen sehen.«

Und damit schob sie ihren Gatten sanft wieder durch die weiße Tür ab, aus der er vorher aufgetaucht war, und verschwand selbst mit ihm, an ihm bastelnd und zupfend.

Hannchen von Mühlensiefen und Heinrich Schön aber zogen sich wieder auf ihren grünen, antimakassargeschützten Sofaplatz zurück und überließen sich dem, was Brautleute für ihre Aufgabe halten. Und sie pausierten nur, um über irgendwelche Belanglosigkeiten zu schwatzen. Denn Hannchen von Mühlensiefen sprach viel und gern. Sie hatte ewig von tausend Menschen und Dingen zu erzählen, ohne gerade denen besonders neue und unterhaltsame Seiten abzugewinnen. Und doch hörte Heinrich Schön gern dieses Geplauder, war ganz gefangen von diesem süßen, harmlosen Unsinn, bei dem er so wundervoll ausruhen konnte und der ihn verliebt lächeln machte, wie man über die kleine, spielerische Seele eines Kindes lächeln muß. Und wenn Hannchen gar nichts mehr zu reden wußte, dann fing sie an, ganz ausführlich die Geschichten zu erzählen, die sie gerade in der Leihbibliothek las. Denn Hannchen war die eifrigste Leserin bei Riegel und hatte stets irgendeinen speckigen Band vom Rambach, Fouqué, Lafontaine, Spindler oder der Mühlbach in den rosigen Fingern. Heinrich Schön hatte oft versucht, ihr anderes von seinen Büchern dafür in die Hand zu schmuggeln, aber Hannchen war nie mit einem seiner Bücher zu Ende gekommen. »Wilhelm Meister« war ihr nicht spannend genug, und »Kater Murr« zu verwirrt. Und so kehrte sie stets reumütig zu den »Schicksalen der Jungfrau auf dem roten Felsen« zurück, in denen ein schwarzer Ritter, Kurt von Knippenstein, eine große und fast verhängnisvolle Rolle spielte – ein geradezu unwahrscheinlich schlechter Mensch, der seine Lebensaufgabe darin sah, Nonnen weltlichen Berufen zuzuführen, aber endlich, nachdem er durch drei dicke Bände getobt, von der reinen Liebe der Jungfrau geläutert, der irdischen und der himmlischen Gerechtigkeit überliefert werden konnte.

Sonst hatte dieser Kurt von Knippenstein das höchste Entzücken Heinrich Schöns gebildet, und er hatte zwischen Küssen und Lachen nicht genug von ihm hören können. Aber heute hörte er nur unaufmerksam hin – wie dieser die Heirat mit der pockennarbigen Prinzessin kühn ausschlug – und beschloß innerlich, doch wieder Versuche mit »Wilhelm Meister« zu machen. Überhaupt hatte er plötzlich Sehnsucht nach irgendeinem Wort, das etwas mehr war als dieses Alltagsgeplauder – Sehnsucht, irgend etwas zu sagen, was Widerhall finden müsse, Schwingungen auslösen. Aber sowie er von anderem begann, fühlte sich Hannchen unliebsam in ihrer Erzählung unterbrochen und wartete nur, daß er Atem hole, um den Faden der Schicksale jenes verbrecherischen Individuums in redseliger Einförmigkeit weiterzuhaspeln, so daß Heinrich seine erfolglosen Versuche bald aufgab und sich, wenn einmal die Reihe an ihn kam, auf die stumme Unterhaltung beschränkte, in der er nicht zu fürchten brauchte, von seiten seiner Partnerin Mißverständnissen ausgesetzt zu sein oder ohne Widerhall ins Leere sprechen zu müssen. Immerhin war dieses Gespräch so amüsant, daß die beiden – trotz der offenen Fenster – ganz den Wagen überhörten, der durch die sonnige Sonntagsstille lärmte und vor dem Hause anhielt, und daß sie erst auseinanderfuhren, als oben die aufdringliche Schelle ging, welche ja die Eigenschaft hatte, das ganze Haus bis in den fernsten Winkel zu alarmieren.

»Also paß auf, Hannchen, du wirst sehen, ich habe recht.« Aber noch ehe draußen geöffnet wurde, kamen durch eben jene weiße Tür, durch die sie vordem verschwunden waren, Herr und Frau Geheimrat von Mühlensiefen herein und nahmen wortlos und erwartungsvoll, in altmodischer Feierlichkeit, auf zwei grünen Ripssesseln nebeneinander Platz und saßen da, ganz steif und ernst wie die ägyptischen Könige. Der Herr Geheimrat war – jetzt in seinem braunen Rock, aus dessen ungeheurem Kragen der kleine Kopf wie der einer Schildkröte hervorkroch, mit seiner breiten Halsbinde, mit dem offiziellen, verbindlichen Diplomatenlächeln im pergamentenen Gesicht, frisch rasiert, mit der Sonntagsperücke, ohne Brille und Augenschirm –, war gut um zehn, fünfzehn Jahre jünger als vorhin im offiziösen Schlafrock. Und die Frau Geheimrat hatte den elfenbeinernen Kirchenschmuck mit einem noch ausgiebigerem Amethystschmuck vertauscht, der nicht nur den hohen, aber sittenreinen Busen zierte, sondern auch an Ohren und Handgelenken sich bemerkbar machte. Und sie zupfte und strich an den Falten ihres weiten, beigefarbenen Seidenkleides und lächelte milde.

Im Augenblick aber, da das Mädchen (es patschte auf bloßen Füßen) die Tür öffnete und Eduard Schön neben Frau Antonie im Rahmen der Zimmertür erschien, erhoben sich die beiden wie auf Kommando und schritten nebeneinander – sie hatten in feiner Voraussicht sich Raum gelassen –, und schritten beziehungsweise rauschten lächelnd mit ausgestreckten Händen den Eintretenden entgegen. Es war so still und feierlich im Raum, daß Heinrich die Orden – der Herr Geheimrat hatte sie in Miniaturform angelegt – bei den sanft wiegenden Schritten des Geheimrats zart klirren hörte.

Aber sie hatten die Rechnung ohne Frau Antonie gemacht. Denn was die steife Feierlichkeit anbetraf und das gefrorene Lächeln auf den Zügen, war sie den beiden trotz ihrer langjährigen hoffähigen Übung bedeutend überlegen. Sie kehrte den Spieß um: Sie wurde nicht empfangen, sie empfing. Und nur ein ganz leises und blitzendes Zucken ging dabei vom äußersten Winkel ihrer beiden durch das Lächeln ein wenig geschlitzten Augen zu Heinrich Schön hinüber, der auch aufgestanden war und Hannchens Arm genommen hatte. Ein kleines, sprühendes Feuerwerk, das ihm vermittelte, daß sie diese Komödie außerordentlich belustigte.

Eduard Schön aber war ganz devotes Lächeln und heimlicher Stolz, weil er seine junge Frau in ein solches Haus einführen könne. Und er zitterte leicht mit der Stimme, als er sagte: »Herr und Frau Geheimrat gestatten wohl, daß ich Ihnen meine Gattin vorstelle.«

Das Wort »Gattin« gab Frau Antonie einen Frisson.

»Oh«, sagten der Geheimrat und die Frau Rätin in gleichem Atem, »wenn ich mich recht erinnere, so hatten wir ja schon den Vorzug.« Und dann erhielt, nachdem man Platz genommen hatte, der Herr Rat allein das Wort.

»Angebrachtermaßen«, sagte er, »gebe ich der Hoffnung Ausdruck, daß unsere zukünftigen Beziehungen allerfreundlichster Natur sein mögen. Ingleichen aber wünsche ich der jungen Frau, daß sie sich in ihrem neuen Heim wohl fühlen möge; wenn ich auch in Verfolg zu bedenken gebe, daß Potsdam zwar Residenz ist, doch immerhin an weltstädtischem Gepräge nicht mit jenem Ort wetteifern kann, in dem aufgewachsen zu sein die junge Frau sich schmeicheln darf.«

»Nun, lieber Wilhelm«, meinte die Frau Rätin, »die junge Frau wird ja in ihrem neuen Heim genug Arbeit vorfinden, um die großstädtischen Vergnügungen nicht zu vermissen. Es ist ja doch nie alles so, wie man es wünscht. Und sonst – wir hier werden eine christliche Mitstreiterin immer mit offenen Armen aufnehmen. Und ich hoffe, daß wir Sie bald bei unseren schlichten Veranstaltungen begrüßen können.«

Frau Antonie lächelte.

»O nein, Frau Rätin, ich fürchte: weder das eine noch das andere. Wenn man eine Maschine hat, die gut geht, mit einem tüchtigen Werkmeister, ist es – das wird Ihnen mein Mann bestätigen – unklug, sie selbst zu bedienen oder gar die Absicht zu hegen, sie zu verbessern. Und eine solche gleichmäßig und sicher arbeitende, wohlbediente Maschine habe ich ja hier vorgefunden. Und was das andere betrifft, so gibt es wohl nichts, wozu ich weniger Beruf in mir fühlte und das meinem innersten Wesen mehr widerspräche.«

Frau Rätin war auf ihrem Stuhl noch etwas steifer geworden. Der Herr Rat hatte seine Verbindlichkeit um eine Nuance zurückgeschraubt. Es entstand eine Pause. Von draußen hörte man auf dem Balkon die Spatzen piepen, die zwischen zwei zärtlichen Puppen sich einen Platz für das Nest suchten.

Eduard Schön war zusammengezuckt – das war deutlich!

Aber Heinrich Schön, der neben Hannchen saß und ihre Hand hielt, suchte mit den Augen Frau Antonie, um ihr beizustimmen. Jetzt hatte er doch hier einen Bundesgenossen. Hannchen hingegen nahm mit einem Blick bei Frau Antonie Inventur auf.

Herr Geheimrat von Mühlensiefen ging ostentativ auf ein anderes Thema über und fragte nach den Etappen der Hochzeitsreise. Und Frau Rätin begann mit Frau Antonie von der Aussteuer zu sprechen. Sie möchte sie gern einmal sehen. Sie müsse ja nun auch einmal bald daran denken – für ihr Hannchen, so schrecklich ihr auch die Aussicht wäre, sich von ihrem Kind zu trennen. Aber sie hätte schon begonnen, ein viertel Dutzend Negligéhauben aus feinster Gaze de Paris ..., und sie hätte deren gewiß auch sehr kostbare mitbekommen.

»Gar keine«, meinte Frau Antonie und lächelte.

»Oh!« rief die Frau Rätin tief erschrocken, denn Tüllhauben waren in ihrer Vorstellung für eine junge Frau das allerwichtigste.

»Nein«, sagte Frau Antonie, »ich liebe sie nicht. Sie sind so aufdringlich und indiskret. Sie erzählen jedem sofort, daß man verheiratet ist – und das ist doch eine private Angelegenheit.«

Hannchen blickte Heinrich an, als ob sie damit sagen wollte: ›Person! Person! Eetsch Person!‹

Aber Heinrich bemerkte den Blick nicht. Er war anders beschäftigt.

Die Frau Rätin nickte in christlicher Duldsamkeit und Nächstenliebe.

»Oh, meine liebe junge Frau«, sagte sie hinschmelzend, »Sie werden noch erfahren, wie gut es oft im Leben für ein weibliches Wesen ist, als verheiratete Frau vor den Anfechtungen der sündigen Welt geschützt zu sein.«

Frau Antonie wollte antworten, daß sie nie bisher gewußt hätte, daß von der Haube eine solche Wunderwirkung ..., aber da begann der Herr Geheimrat in umständlicher Weise ein Kompliment für sie zurechtzudrechseln, denn er wollte doch zeigen, daß er gegen weibliche Reize nicht unempfindlich und daß er als ehemaliger Hofmann mit allen Regeln der Courtoisie wohl vertraut war. Er erklärte, daß die junge Frau ihrer Zeit voraus sei, und er könne das begreifen, daß sie, trotzdem man ja noch April schriebe, schon in jenem Monat sich befände, der von alten Zeiten her als der der Liebe angenehm bekannt sei. Er sähe es daran, daß sie als convallaria majalis oder Maiblume, wie es im Volksmund heißt, sich kostümiert hätte, und in Wahrheit ähnele, ja in Wahrheit gliche sie auch diesen lieblichen Kindern Floras zum Verwechseln.

Frau Antonie trug nämlich ein helles, breitärmeliges Mullkleid, das in vielen Volants weit und glockig herabfiel, und eine grüne, seidenbezogene Schute dazu, mit hellgrünen Bindebändern, mattgrünem Knicker, mattgrüne Handschuhe und mattgrüne Seidenschuhe. Und so war der Vergleich nicht einmal ungeschickt, wenn auch äußerlich. Nur ein schmaler, poceauroter Schal, den sie unter den Armen durchgezogen hatte, unterbrach diese Schlichtheit von weiß und grün.

Eduard Schön verbeugte sich dankbar und tätschelte dabei die Hand seiner Frau. Heinrich dachte, daß eine indische Calla in ihrer ganzen fremdartigen Seltsamkeit besser paßte. Aber Frau Rätin sah von Hannchen zu Frau Schön und von Frau Schön zu Hannchen.

»Ja«, sagte sie, »ich wollte Sie schon bitten, liebe Madame Schön, ob Sie uns nicht mal in der nächsten Woche für ein paar Stunden das Kleid überlassen könnten; ich wollte mir gern für Hannchen den Schnitt abnehmen.«

»Ach«, rief Frau Antonie lachend und gutmütig, »liebes Fräulein Hannchen, ich würde an Ihrer Stelle Protest erheben, wenn man mir etwas Derartiges aufhängen wollte. Ich habe ganz andere Dinge für Sie. Das hier war vor zwei Jahren einmal Mode. Morgen besuchen Sie mich – wir sehen mit Heinrich zusammen mal durch, was ich habe, denn für wen würden Sie sich sonst putzen! Und dann lassen wir meine Schneiderin aus Berlin herüberkommen. Für Sie zu arbeiten muß ihr ja ein Vergnügen sein.«

Frau Antonie sagte das sehr freundlich, denn sie hatte Gefallen an Hannchen, wie man es an einem mattblauen Wölkchen hat, das mit vielen Schwestern zusammen am Himmel steht; wie man es an einem Reh hat, das einem zufällig über den Weg läuft und das einen durch das angenehme Spiel der Formen fesselt, ohne einen auch nur einen Augenblick darüber zu täuschen, daß es eben nur ein hübsches kleines Tier ist, wie es die Natur hundert – und tausendfach in ihrer schönen Gedankenlosigkeit aus sich herausschleudert.

Und Frau Antonie ahnte nicht im entferntesten, welche Rolle ihr in dem Seelenleben Hannchens von Mühlensiefen zuerteilt war.

Es entstand eine kleine, peinliche Pause, bis Frau Rätin Aurelie geborene von Grävenitz – ihr Gesicht hatte sich parabolisch verschoben, hatte Eiform angenommen – das Wort ergriff, um den Gedanken derer von Mühlensiefen Ausdruck zu verleihen. Denn erstens war das ja eine versuchte Auflehnung gegen die mütterliche Autorität, zweitens erschien es ihr mit ihren religiösen Grundsätzen unvereinbar, daß etwa eine reine Jungfrau sich einem Manne zuliebe putzen sollte, da hierin eine verwerfliche Aufreizung zur Sinnlichkeit, die nicht nur nicht unterstützt, sondern im Gegenteil bekämpft werden müsse, zu sehen war. Und fürder pflegte sie alle Kleider für sich und ihre Tochter selbst anzufertigen. Dem verweichlichenden Luxus mit kostspieligen Hausschneiderinnen leistete sie keinen Vorschub. Aber sie sprach nur das letzte aus und legte in Blicke und Gebärden die ersten beiden.

»Solange ich verheiratet bin«, sagte sie, »ist noch keine Schneiderin über meine Schwelle gekommen. Ich mache alles für Hannchen selbst.«

»Ach so«, sagte Frau Antonie, scheinbar voll Bewunderung, und blieb dabei mit den Blicken auf Hannchens Kleid haften – und in den Augen flackerte ihr eine nicht zu überbietende Heiterkeit auf. »Ach so! Gewiß!«

Und plötzlich erschien Heinrich Hannchens Kleid mit den Bändern, Schleifen, Fältchen, Volants überladen, altmodisch mit den aufgenähten Röschen, steifleinen und nüchtern; Kleinstadt, Provinz. Er sagte sich, daß es ja zu ihrem ganzen Wesen, zu ihrem schlichten, blonden, sonnigen Seelchen wundervoll passe. Er wollte sich das einreden, daß sie gar nicht anders gehen dürfe, aber im letzten Winkel seines Herzens regte sich doch der Wunsch: wenn sie nur etwas im Wesen von der jungen Frau da annähme – Nerv, Fingerspitze, Geschmack, Bewußtheit ...

Selbst Eduard Schön fühlte, daß es nötig war, den Gesprächsstoff zu wechseln.

»Nun, Herr Geheimrat«, sagte er – und er brachte vor Verbindlichkeit keinen Satz zu Ende –, »hoffentlich hat Ihnen mein Sohn es ausgerichtet, daß ich mich unendlich freuen würde, wenn Sie mir die Ehre ... Ich denke, Sie haben nichts dagegen ..., also wie machen wir das am besten? Nicht wahr, wir essen draußen bei Blume? Ich habe mir erlaubt, die Gedecke zu bestellen. Immerhin wird es schwerhalten, daß wir allein in einer Kalesche ... Es wären sechs, sieben mit Johann, aber man könnte ja noch, wenn man sie bekäme, eine Landaulette ...«

»Oh«, rief Heinrich, »warum denn? Hannchen und ich, wir gehen. Ich gehe wirklich lieber bei dem herrlichen Wetter. Ach ja, Kind!«

Hannchen von Mühlensiefen wäre nun für ihr Leben gern gefahren. Nicht des Fahrens wegen – daraus machte sie sich wenig –, sondern um aus dem Wagen herauszugrüßen. Sie sagte nichts, aber man merkte es ihrem Gesicht an, daß sie nicht einverstanden war.

»Wirklich«, rief Frau Antonie, und sie vergaß sich, ihre Heirat, ihren Mann und alles – sie war ja doch eigentlich blutjung! –, »ich möchte auch viel, viel lieber gehen! Wenn Sie vielleicht meinen Platz, Fräulein Hannchen, im Wagen ...«

Herr und Frau Geheimrat von Mühlensiefen tauschten einen kurzen Blick.

»Du unterschätzt doch die Entfernung hier, mein Liebling«, fiel Eduard Schön belehrend ein und spielte verlegen mit seinem Stock.

Frau Antonie hatte wieder zurückgefunden. »Ach ja, gewiß. Es würde mir auch wohl etwas zu weit sein, mein Freund.«

»Also, Hannchen«, dekretierte Frau Geheimrat von Mühlensiefen, »du gehst also dann mit dem jungen – mit deinem Bräutigam, und wir treffen uns draußen. Denn es scheint mir nicht ziemlich – wenigstens war das zu meiner Zeit so –, daß ein Brautpaar allein in einem offenen Wagen ... Für ein Mädchen aus gutem Hause würde mir das höchst unpassend ...«

»Ja, ja«, lachte der Herr Geheimrat von Mühlensiefen, und sein Lachen hörte sich an, wie wenn ein Blechlöffel die Steintreppe hinunterpurzelt, »ja, ja – höchst diffizile Etikettenfragen, verehrter Herr Schön senior. An meiner lieben Frau ist eine Zeremonienmeisterin für Dührenberg-Leiningen verlorengegangen. Damit müssen wir uns abfinden. Das ist ein Grävenitzisches Erbteil.«

Hannchen muckschte, hatte Tränen in den blauen Veilchenaugen. Sie hatte sich so auf den Wagen gefreut. Und Heinrich war um sie beschäftigt und schwor ihr beim Barte des Propheten, daß er später jeden Tag zehn Stunden mit ihr ausfahren würde, wenn sie erst nach niemandem mehr zu fragen hätten.

Antonie aber sah zu den beiden hinüber, lächelte mit ihrem feinsten, seltsamsten Lächeln, und in ihren Blicken schwamm so ein Fünkchen Neid, ganz geheim, ganz hinten irgendwo ... Herrgott noch mal, wenn sie heute so irgend jemanden unter den Arm packen und mit ihm hinauswandern könnte, daß von der ganzen Welt nur die Blüten, das junge Grün, Vogelzwitschern, Himmel da oben, der Takt ihrer Schritte und der Zwiegesang ihres Blutes bliebe!

Hannchen ging hinaus, um sich Hut und Schal zu holen und sich für den Nachmittag noch ein wenig zu verschönen, während Frau von Mühlensiefen Eduard Schön wortreich auseinandersetzte, welches Opfer ihr Mann gerade heute ihnen dadurch brächte, daß er sich ihnen anschlösse. Und der Geheimrat versicherte, daß das nicht der Rede wert sei, und stellte es dadurch erst als etwas Besonderes hin.

Frau Antonie aber war an den Tisch getreten und hatte ganz wie zufällig das Buch aufgeschlagen, das dort lag. Denn es fiel ihr sehr schwer, an irgend etwas Gedrucktem vorüberzugehen. Sie hatte erst einen Blick auf den Titel geworfen: ›Die Jungfrau auf dem roten Felsen‹ – ach so! – und dann auf die blauen Initialen des Lesezeichens, das heraussah, und hatte den Deckel ganz unauffällig wieder geschlossen.

Heinrich Schön jedoch hatte es bemerkt und lächelte etwas beschämt zu seiner jungen Mutter hinüber.

»Meine Braut findet daran Vergnügen«, sagte er entschuldigend, so wie ein Erwachsener zum anderen über eine amüsante kleine Ungezogenheit eines Kindes spricht.

»Wenn man so reizend ist, darf man auch das tun«, sagte Frau Antonie. »Wenn Schönheit noch literarisch wäre – was bliebe uns dann?«

Da kam ihr Mann, stellte sich zu ihr und legte seinen Arm um sie.

»Na, Heinrich«, sagte er vieldeutig, »wollen mal heute sehen, was sich machen läßt. Es ist mir deshalb eigentlich ganz lieb, daß wir nicht zusammen fahren.«

Unten knallte der Kutscher, dessen Pferde wohl ungeduldig waren, mit der Peitsche, so daß es wie Schüsse durch die stille, sonnige Straße ging.

Frau Geheimrat hatte ihren neuen Schal umgenommen – eine ganze kleine Stadt hätte man mit seinen roten Riesenmustern zudecken können – und komplimentierte sich an der Tür mit Frau Antonie herum, die immer wieder knicksend sich weigerte, zuerst zu gehen, den untertänigen Ernst im Gesicht und innerlich aufs höchste belustigt, daß es ihr so gut gelang, diese Szene aus Kotzebues »Kleinstädtern« in die Wirklichkeit zu übertragen.

Und der Herr Geheimrat und Eduard Schön konnten natürlich auch nicht vor den Damen das Zimmer verlassen. Und wer weiß, wie oft der Kutscher noch mit der Peitsche geknallt hätte, wenn nicht endlich Frau Rätin sich auf ihre Würde besonnen und vorangerauscht wäre, nicht ohne Heinrich noch einmal zuzurufen, daß sie nicht so lange auf sich warten lassen sollten. Und da sie ja durch den Park gehen könnten, statt daß sie, wie sie, »langweilig« außen herumzufahren brauchten, so würden sie wohl kaum nach ihnen dort sein. Denn da die Seele der Frau Rätin von der Sündigkeit der anderen überzeugt und erfüllt war, so war sie schon im geheimen beängstigt, ob sie hier nicht etwa den schlechten Trieben der Verdorbenheit Vorschub leiste. Und außerdem war sie mit sich nicht ganz einig, ob sie nicht etwa die Heiligkeit des Sonntags in eitler Weltlust entweihe, wenn sie in einem Wagen ausführe. Denn wenn man sich auch vor kurzem in frommen Kreisen Potsdams dahin geeinigt hatte, darin keine Entweihung zu sehen, so war die Frau Rätin noch keineswegs gewiß, ob das von dem später in Frage kommenden himmlischen Instanzenzug nicht etwa doch dafür genommen wurde.

Aber der Wagen war schon gar nicht mehr zu hören – schon längst draußen – sein Rasseln verhallt, als Hannchen von Mühlensiefen noch immer nicht zurückgekommen war. Heinrich Schön ging ungeduldig in dem hellen Zimmer auf und nieder, blieb mal auf den dicken, verzeichneten Fingern der heiligen Cäcilie mit den Blicken hängen und mal auf dem verführerischen Busen der büßenden Magdalene, und er tat das eigentlich nur, um nicht nach der »Jungfrau auf dem roten Felsen« zu sehen, die da in marmoriertem Karton selbstgefällig auf der gehäkelten Tischdecke lag. Er hatte sich eigentlich sehr vor Frau Antonie geschämt. Gar nicht so für Hannchen – aber das fiel doch auf ihn zurück. Was hatte er überhaupt aus sich gemacht! Wie ledern, alltäglich und selbstgefällig ging sein Dasein hin. Immer von heute auf morgen. Heinrich Schön hatte plötzlich die Wut in sich zu demolieren. Er hätte am liebsten die Bilder von den Wänden reißen mögen, hinauswerfen, all dieses grinsende, langweilige Zeug. Und die Sessel mit ihren Antimakassars hinterher. Und diese Gummibäume und toten Blattpflanzen obendrauf. Er hörte ordentlich die Porzellantöpfe auf den Stuhlbeinen zerklirren und die Scherben aufs Pflaster spritzen. Er konnte sich gar nicht erklären, was ihn so verstimmt hatte. Ach Gott – und dabei so wundervoll diese alte strahlende Sonne da draußen! Und drüben der Himmel wie ein blanker Silberschild ..., und die Lindenblätter, die sich mit kleinen, blinzelnden Augen ... Und draußen blühte gewiß das Obst in weißen Klippen den ganzen Pfingstberg herunter. Wie prachtvoll und nutzlos grausam dieses Leben war!

Da kam Hannchen von Mühlensiefen herein, und Heinrich Schön mußte durch all seinen plötzlichen Unmut lächeln. Irgend etwas an ihr kam ihm verändert vor.

»Nun«, sagte sie, stellte sich vor ihn hin, stützte die Hände in die Hüften – ein schönes, breites, goldblondes Menschending, das in Blüten stand wie ein Apfelbaum draußen, »nun, Heinrich, wie gefalle ich dir in meiner neuen Frisur?«

Richtig, ja, sie hatte das Haar so am Hinterkopf in drei Puffen, in drei Schleifen hochgenommen, wie das Frau Antonie trug.

»Zum Küssen«, sagte Heinrich. »Und wenn mich nicht deine Alte Dame schon vorher ermahnt hätte, daß sie uns mit ihrem biblischen Fluch bedächte, sofern wir nicht zeitig kämen, würde ich mich nicht bedenken, dir dieses nachdrücklich und ausführlich zu beweisen.«

»Ach Gott«, Hannchen hing sich an ihn, »wir haben eben noch jemand getroffen und sind aufgehalten worden. Ja – und sieh mal –, die Blumen habe ich mir auch vom Hut getrennt, ich glaube, man trägt keine Rosen mehr.«

»Närrchen!« rief Heinrich, küßte sie und wirbelte ihren Kopf zwischen den Händen hin und her. »Hundchen, du. Du mußt Rosen tragen – und viele Löckchen, überall um deinen netten kleinen Dummkopf. Das ist ja gerade das Reizende an dir, das von vorgestern – du mit deinen deutschen Veilchenaugen. Aber komm, Schatz, draußen ist es wunderschön.«

Hannchen von Mühlensiefen nestelte leise die Arme von Heinrichs Schultern los und trat von ihm zurück. Irgend etwas hatte sie verwirrt und betroffen gemacht. Nicht die Worte. Denn selbst wenn in den Worten der Grund hierzu gelegen hätte, so hätte sie das auch nicht alsogleich empfunden. Worte mußten meist mehreremal bei Hannchen anklopfen, ehe ihnen geöffnet wurde. Aber Küsse sind verräterischer als Worte, verstehen weniger zu lügen als Worte, ihren Sinn zu verbergen, sprechen eine feiner artikulierte Sprache, plappern oft das aus, was verschwiegen werden soll, sprechen das aus, wessen man sich selbst noch kaum bewußt ist. Und wenn, wie man sah, Hannchen von Mühlensiefen nicht besonders hellhörig war, was Worte anbetraf, so beherrschte sie doch den ganzen Sprachschatz und die ganze Grammatik jenes anderen Dialekts. Und in ihm hatte ihr Heinrich Schön eben etwas mitgeteilt, das sie tief erschrocken hatte und das ihn sicher auch erschrocken hätte und das er abgeleugnet hätte, mit hundert Eiden, und doch nicht hätte ableugnen können, wenn sie es ihm gesagt hätte. Hannchen fühlte plötzlich: seit gestern war es anders zwischen ihnen geworden – nicht eine kleine Mißstimmung, eine Trübung, eine leichte Wolke, die vorüberzieht, nein, anders, ganz anders. Durch irgend etwas war sie, Hannchen von Mühlensiefen, da aus dem Brennpunkt, aus dem Mittelpunkt gedrängt worden. Vordem hatte sie es nur geahnt. Sekundenlang war es ihr nur aufgedämmert, um wieder zu verschwimmen. Aber jetzt, nachdem Frau Antonie fortgegangen war, empfand sie es wie etwas, das nicht mehr zu bestreiten war, wie etwas, zu dem Stellung man suchen müsse, wie etwas, mit dem man sich abfinden müsse. Es brauchte ihr gar keiner mehr zu sagen, was das war und wer das war – sie wußte es schon. Und wenn er es auch noch gar nicht wußte – sie wußte es.

Und ganz nachdenklich – wie das sonst gewiß nicht ihre Art – stülpte Hannchen ihre Schute über und nahm den weißen Seidenschal um die breiten Schultern.

»Ja, Heinrich, wir müssen nun wohl gehen«, sagte sie. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen. Aber sie beherrschte sich. Damit hätte sie es ja nur noch schlimmer gemacht.

Doch wie Hannchen von Mühlensiefen so draußen neben Heinrich herging, Arm in Arm, in gleichem Schritt, die lange, gerade Straße hinab, durch die weiße Luft und die helle Sonne dahin, die ganz zarte grüne Schattenmuster von den Zweigen abzeichnete, Schatten, die erst bewiesen, wie doch schon die Sonne herabbrannte und leuchtete – eigentlich so warm, wie sie es dem Kalender nach gar nicht durfte –, kaum sprechend, ganz eingewiegt in den Rhythmus des Schreitens, ganz umfangen von Gold und vom Licht des blauen Tages, von dem leisen Sonntagsschlummer in Seitengassen und über braunen Dächern – denn nie, selbst nicht in der allertiefsten Nacht, schläft eine Stadt so spürbar wie in der grellen Mittagssonne –, da verdämmerte doch das von vorhin wieder in ihr, wurde Täuschung, zog sich zurück vor der freudigen Wirklichkeit. Und auch Heinrich Schön, in dem jene plötzliche Welle von Unmut noch nachzitterte, fühlte angenehm das stille, blonde Schreiten neben sich und die Köstlichkeit des Tages. Und er fiel ganz wieder in die alte angenehme Melodie seines Daseins zurück, die leicht verliebt und spöttisch und sorglos dahinträllerte.

»Es ist heute zu köstlich, mein Dreierschäfchen! Hast du mal in der See gebadet, im Meer, in einem richtigen Meer?«

»Woher soll ich wohl im Meer gebadet haben?« gab Hannchen ganz indigniert zurück, so als ob sie Heinrich nach höchst unschicklichen Dingen gefragt hätte. Denn erstens war weder in Berlin noch in Grüneberg noch in Freienwalde Meer gewesen – und zweitens: Selbst wenn es noch dagewesen wäre, wovon ja versteinerte Seeigel und Muscheln Zeugnis geben, so hätte es Frau Aurelie von Mühlensiefen geborene von Grävenitz doch nie erlaubt, daß ihre Tochter Hannchen es etwa leichtfertig zu so sündhaften und sinnlichen Betätigungen wie Baden benutzt hätte.

»Ja, wenn du mal in der See gebadet hättest, würdest du wissen, was ich meine. Vielleicht eine ganze Woche lang ist das Wasser schwer und unbewegt und dick, riecht nach Tang, schmeckt brackig und warm. Und plötzlich, eines schönen Morgens, hat sich der Wind gedreht, und es kommt von draußen, aus dem unendlichen Ozean herein eine kalte, klare Flut, mattgrün, lichtblau, kristallen, bewegt, ziehend, unendlich durchsichtig in der Sonne. Und wenn man untertaucht, dann spürt man die salzige Frische, diese Leichtigkeit in Mund, Augen, Nüstern, mit jeder Pore seines Körpers – man kann gar nicht genug davon bekommen; man fühlt fast, wie das durch einen hinzieht, von einem Besitz nimmt, und beneidet ordentlich den Fisch, daß er da immer drin leben kann, in dieser hellen, strömenden Lebensflut ... Und solch ein Tag ist heute.«

»Aber hier ist doch gar keine See«, warf Hannchen ein, die nur in den Büchern aus ihrer Leihbibliothek den sicheren Boden der Wirklichkeit zu verlassen pflegte.

»Nein, mein goldenes Dreierschäfchen – nein! Aber der Wind hat sich gedreht. Die Luft hat heute was von diesem Seewasser: Sie ist kühl und wie gärender Wein, und sie geht einem durch und durch. Sie kommt von weit her, aus unberührten Ländern, aus Rußland und von Norwegen. Ich rieche, ich sehe das, ich fühle das überall.«

»Aber mein Junge«, warf Hannchen von Mühlensiefen dazwischen (einreden ließ sie sich nun nichts), »man kann doch Luft nicht sehen!«

»Doch, doch. Siehst du dahinten den Baum und den Himmelsrand darüber? Da ist das ganz weiß und hell und zittert ordentlich vor Klarheit und Sonne und Frische. Gar nicht blau ist es wie oben. Sonst war es immer grau da unten oder rosig oder violett all die Tage. Aber heute ist das wie Bergkristall oder ganz helle Amethyste. Und das fühle ich.«

Sie waren vor dem Brandenburger Tor, und drüben begann der Park.

Heinrich war stehengeblieben, um ihr das zu zeigen. Am liebsten hätte er sie auf offener Straße geküßt. Er war ganz von sich und trunken von dem schönen Tag.

»Du, wir müssen doch gehen«, sagte Hannchen und zog ihn ungeduldig am Arm, »meine Mutter redet immer gleich. Und Hunger, weißt du, habe ich auch.«

Ach ja, richtig, da waren ja irgendwo jetzt der Herr Geheimrat und die Frau Geheimrat Aurelie, geborene von ..., Mitglied des Magdalenenvereins, und Exzellenz von Sellenthin und Exzellenz von Sowieso – lauter hochadlige alte Knacker, die vor Vornehmheit und Langeweile vor sich selbst den Hut abnahmen. Und der Herr Steueradjunkt, der der Frau Geheimrat die Hand ..., richtig, da waren die ja irgendwo und warteten auf ihn. Alles Leute, die gerade das Gegenteil von ihm waren und wollten, das gut fanden, was er schlecht fand, das verteidigten, was er angriff. Und etwas von der Stimmung von vorhin, der Stimmung der klirrenden Scherben, kam wieder über Heinrich Schön, und er griff in seinem Unmut gehörig aus, so daß Hannchen kaum mit ihm Schritt halten konnte und sich baß wunderte, warum in aller Welt ihr Bräutigam es so eilig hatte, zu ihren Eltern zu kommen. Und so schlimm war es doch wirklich nicht. Vorhin auf der Straße – ja, aber hier im Park war doch jetzt kein Mensch. Sie würde schon eine Ausrede finden. Denn da Hannchen ein so wundervoll freies Gesicht hatte, das einfach nicht lügen konnte, so nützte sie – wenigstens ihren Eltern gegenüber – diese Gottesgabe weidlich aus und erzählte mit größter Unbefangenheit ihnen Dinge, die nicht gestogen und nicht geflogen waren.

Aber Heinrich mäßigte seinen Schritt nicht. Und er achtete kaum auf das Finkenpärchen, das in dem langen Lindenweg unten um die Knubben und hellen, jungen Wildschößlinge flatterte und vor den beiden verliebt und verbuhlt hertrippelte, um sich dann auf einen Ast zu schwingen und sie mit langgezogenen Trillern gleichsam auszuspotten ob der Gebundenheit ihres Menschentums.

Und erst als oben von der Terrasse der längliche gelbe Schloßbau mit seiner grünen Haube – er sah nur mit den Augen herüber – am Hügelrand unter dem Blau zwischen hohen Baumkronen ihnen zuwinkte, da kam Heinrich ins Schlendern, fühlte wieder das blonde, süße Leben neben sich und gab sich dem Zauber des Augenblicks hin.

Gott, war das still und sonnendurchglüht ringsum in dem jungen Buchenlaub und in den zagen, rötlich sprießenden Eichen und in den sich dehnenden Linden, die alle noch die Strahlen durchließen, bis in die Büsche, bis auf den Rasen und bis auf die weißen und gelben Tücher der Anemonen, die nicht allein unter dem Buschwerk sich breiteten, sondern die ihre Vorposten selbst mitten in die smaragdenen Rasenflächen hinausgeschoben hatten, um auch dort ihre Blütensterne zu runden Flecken von Silber und Gold zusammenzudrängen. Alles war lässig in der Mittagssonne. Selbst die Vögel schmetterten keine Strophen, sondern gaben sich nur leise Zeichen von Ast zu Ast, von Eiche zu Tanne: »Komm hierher, hierher, hierher!« Überall blühte irgend etwas, oben und unten, und sah mit silbernen oder goldenen, mit purpurnen und mattblauen Augen träumerisch nach dem Licht. Selbst die Goldfische in dem Becken der Fontäne – sie ging nicht, ruhte sich noch aus – zogen nicht einmal wie sonst im Kreis umher, da doch niemand kam, ihnen Brot zu werfen, sondern wärmten faul und verschlafen die roten Rücken in der Sonne. Und ein paar weiße Falter mit gelben, orangefarbenen Flügelrändern trieben wie Blüten, die der Wind abgerissen und fortgetragen, über die Spiegel der träumenden Teiche.

Kaum ein Mensch weit und breit. Nur Grün und alle Buntheit und alles Blühen. Und das nackte Weiß der Statuen und Gruppen und Vasen durch die Büsche allenthalben durch Taxuswände und beschnittene Buchengänge lüstern versteckt, im Grün verschleiert, von der Sonne beglüht, vom Schatten gekühlt; überall nacktes Weiß nackter Götter; nackte Frauen, die sich wohlig dehnen; nackte Frauen, die entfliehen wollen, nicht entfliehen können, die überrascht zusammenschrecken und doch freudig nicht erschrecken; die schreien, weil sie geraubt werden – und doch schreiend sich gern rauben lassen. Männer dazu, die vorgeben, Helden und Götter zu sein, mit geschwellten Armen, breiten Brustkörben, Schwerter zu schwingen und Lauten zu schlagen, erfüllt von Streben, hohen Zielen nachjagend, und die doch nur ein Streben und ein Ziel zu kennen scheinen: eben jene weißen, nackten Glieder, denen alle ihre Blicke gelten, alle ihre Kämpfe, alle ihre Taten, all ihr Sang ..., die Lohn sind, Genuß, Vergessenheit, Inhalt aller Wünsche und allen Ringens. Überall blinkte das nackte Weiß durch die Büsche.

Oder gar es lagen in vergessenen Nischen, unter hängenden Weiden vergrünten Sandsteinfiguren – keine kühlen Marmorschemen, sondern wirklich wie von Leben durchrieselt; weich, lässig und schwellend und schlafend in der Sonne, Nymphen, die sich vor der Mittagsglut ein wenig in den Schatten geflüchtet und an denen man nur leise vorüberging, als ob man fürchten konnte, daß sie jeden Augenblick erschrocken aufspringen möchten, um wieder im Grün der Büsche zu verschwinden.

Heinrich sprach wenig. Er war ganz gefangen von dieser moosgrünen, sonnigen Ruhe, die eben doch keine Ruhe war, sondern die leise Musik der tausendfachen Atemzüge des Lebens ringsum. Jetzt begriff er, daß es nicht sinnlos so lange Winter und Frost und tot und grau und Regen und Sturm gewesen war – nein, man würde ja sonst gar nicht wissen, was ein Tag wie dieser zu bedeuten habe!

Aber Hannchen pustete und sagte, daß es doch schon recht warm »mache« und daß sie lieber gefahren wäre. Ja, gewiß, so nett es auch wäre, mit ihm hier allein zu gehen, fügte sie auf ein Zucken seines Armes hinzu.

Denn für Hannchen von Mühlensiefen war ein solcher Frühlingstag etwas, das sich von selbst verstand – jedes Jahr zur gleichen Zeit –, sozusagen die Verpackung des Daseins, die vom Verkäufer gratis zu liefern war und von welcher es üblich war, Notiz zu nehmen, wie man es etwa von den Zugaben wie Wasserfall, Regenbogen, Ruine und Abendröte mit Ausrufen des Entzückens tun mußte.

»Oh«, sagte Heinrich, während sie langsam hügelan stiegen, und wies auf die lange, gelbe Fassade, die da oben, zwischen Bäumen von dem breiten, dunklen, epheuberankten Kegel der Mühle überragt, in der Sonne brannte, »oh, da sind ja gleich die Neuen Kammern! Nun hat es mein süßes Kind nicht mehr weit. Oder soll ich dich tragen? Sieh mal dort!« Und er zeigte auf eine Marmorgruppe, die am Wege stand. »Hier scheint ja der Frauenraub obligatorisch zu sein.«

»Ach nein«, sagte Hannchen – sie nahm alles ernst –, »wenn jemand kommt! Und ich bin dir auch viel zu schwer.«

»Na, dann laß dich wenigstens ziehen«, rief Heinrich, packte Hannchens Hand und rannte mit großen Schritten den Weg hinan, Hannchen von Mühlensiefen, die lachte und sich sträubte, nachschleifend, bis sie beide hoch aufatmend auf der Chaussee oben stehenblieben und sich in die Arme schlossen.

»Du – hier kann man uns sehen. Ich glaube, da hinten sitzen sie schon. Ich bekomme das von meiner Mutter dann wieder acht Tage zu hören.«

Richtig, da hinten standen vor dem Café Blume schon Tische und Bänke, unter den hohen Kastanien, dicht an der Straße. Helle Kleider blinkten durch die Bäume, und man winkte. Eigentlich war das alte Häuschen mit den paar Räumen und der großen Halle davor kein Wirtshaus – nur ein Kaffeelokal für den Nachmittag, Haltestelle für Reiter, die einen Trunk nahmen, dem Pferd den Hals klopften und weitertrabten.

Aber Eduard Schön hatte sich den Wirt verpflichtet und war stolz darauf, daß man ihm hier ein Essen bereitete. Oder um der Wahrheit die Ehre zu geben (es war das ein kleiner Betrug von ihm seiner Frau und den Geheimrats gegenüber, und nur Heinrich war Mitwisser), daß man ihm, seinem Essen und seinem Wein, den er durch die Petzel vorausgeschickt hatte, hier Geschirr und Bedienung stellte.

Den Herrn Geheimrat hörte man zuerst. »Ah, da sind ja unsere beiden Sünder!« meinte er und zog sich die Schüssel mit Geflügel herüber.

»Ihr kommt doch so spät?« rief ihnen Frau Geheimrat entgegen. Sie hätte das auch gesagt, wenn sie vor ihnen da gewesen wären, nur um zu zeigen, daß sie sich stets ihrer Mutterpflichten bewußt war.

»Hier sitzt es sich wundervoll«, meinte Frau Antonie und grüßte Heinrich mit den Augen.

»Na, beim Gehen mag's warm sein, zum Sitzen ist es noch etwas zu kühl«, rief Eduard Schön herüber. »Es ist doch ein ziemlich eingebildetes Vergnügen. Kommt nur schnell, ihr müßt schon nachexerzieren.«

»Ich fürchte«, sagte Frau Antonie, »es wird nicht lange dauern, denn wir haben euch wirklich nicht viel übriggelassen.«

Heinrich kam neben Antonie zu sitzen, geradeüber von seiner zukünftigen Schwiegermutter.

»Nun lasse nur die Kinder erst essen, Wilhelm«, tuschelte Frau Rätin geheimnisvoll andeutend und vor Rührung leicht schluckend.

»Nein, Hannchen, du mußt dein Tuch umbehalten – man kann nämlich die Bräune kriegen, wenn man sich heißgelaufen hat und Zug bekommt«, meinte der Geheimrat leichthin, der es liebte, bei Tisch angenehme Dinge zu sagen.

Und heißgelaufen hatte sich Hannchen. Sie war ganz rot. In ihren Wangen lachte und jacherte das Leben.

Über den weißen Tisch mit Gläsern, Tellern, Flaschen zuckten helle und grüne Flecken von den Sonnenstrahlen, die durch die eben sich breitenden Kastanienblätter kamen. Und sie liefen verspielt mit dem Windhauch, der die Zweige bewegte, über Dinge und Menschen, über helle Kleider und blaue und grüne Röcke und schwarze und graue Zylinder hin. Frau Antonie huschte so ein Lichtschimmer, ein Sonnenfleckchen, über Haar und Gesicht, hielt mal an den Augen und war im nächsten Moment schon hinten in den blauschwarzen Flechten und machte ihr Lächeln, ihre Augen, das ganze geheime Zucken ihres Mundes nur noch kapriziöser und schillernder.

Sie sprach wenig, schien aber guter Dinge zu sein.

»Der Sommer hat sich einen Tag vorweggenommen«, sagte sie zu Heinrich.

Eduard Schön war jetzt viel herumgekommen und erzählte, daß er überall im Lande die gleiche Mißstimmung gefunden hätte. Das war Wasser auf die Mühle des alten Geheimrats, der auch mit den Zeiten unzufrieden war – wenn auch im anderen Sinne. Boyen war ihm vor allem ein Dorn im Auge, und Bunsen, und zu seinen Zeiten, sagte er, wäre ein Mann wie Boyen cum infamia kassiert worden, und er begriffe nicht, wie man einen Menschen von so übertrieben liberaler Gesinnung – um nicht demagogischer zu sagen – im Ministerium dulden könne und sich nicht entblöde, ihn noch mit der Ausarbeitung einer Konstitution zu betrauen. Natürlich, sagte er, müsse man »dem Zeitgeist Rechnung tragen« und dürfe man nicht »das Kind mit dem Bade ausschütten«. Aber Boyen hätte für alle politisch nicht Blinden nur zu deutlich »der Katze die Schelle umgehängt«. Eben durch Konzessionen nähre man die Unzufriedenheit. Wie aber sollten unter einem Monarchen wie dem vierten Friedrich Wilhelm andere Zustände erwartet werden. Einem Herrscher, von dem es nicht möglich wäre, Entscheidungen zu bekommen, der die Sachen Wochen und Wochen hinausschöbe und mit Mühe und Not vor dem Schlafengehen ein paar Unterschriften leiste. Sein König hätte, fast bis an sein Ende, täglich alle Unterschriften, die ihm vorgelegt wurden, gegeben und wäre demnach mit den Regierungsgeschäften niemals im Rückstand gewesen.

Frau Antonie suchte mit den Augen nach jemand, mit dem sie einen Blick des Einverständnisses wechseln könnte – sie gönnte sich das nicht allein, sie mußte irgend jemand lautlos zurufen: Sage mal, findest du das nicht auch unerhört komisch?

Aber da ihr Mann todernst lauschte, sehr geschmeichelt, daß ein mit den Dingen so vertrauter Politiker ihm Belehrungen zukommen ließ, da die Frau Rätin, wie man sagt, an den Lippen ihres Gatten hing, Hannchen mit einer Hühnerkeule so eifrig Zwiesprache hielt, daß sie sicher nicht ein Wort von der Rede ihres Vaters vernommen, geschweige denn begriffen hatte, so fand sie nur bei Heinrich Gegenliebe.

Und es geschah das gleiche wie am Abend vorher: daß sie beide – Heinrich Schön und seine junge Mutter Antonie, geborene Arnstein – plötzlich zu lachen begannen; erst leise und glucksend, dann mühselig kämpfend, um es zu unterdrücken, schließlich aber frei und unbefangen, laut und herzlich loslachten, alles und alle um sich vergessend – nur zwei Menschen, die sich verstanden.

Der Herr Geheimrat brach mitten im Satz ab, setzte seine allerernsteste Amtsmiene auf und sah starr und spitz und pergamenten auf sein Weinglas.

Frau Geheimrat bekam ein so langes Gesicht, als wäre sie plötzlich unter ein Bügeleisen geraten.

Hannchen aber vergaß vor Schrecken, den Hühnerknochen zum Munde zu führen, saß da wie die Küchenmagd in Dornröschen, die genascht hatte. Nun brauchte sie keine Beweise mehr.

»Was gibt's denn, mein Närrchen?« meinte Eduard Schön nachsichtig.

»Ach«, sagte Frau Antonie langsam, um Zeit zu gewinnen, »ich dachte eben daran, daß wir, die Hohe Regierung, doch ganz andere Dinge beschlossen hatten und daß wir auch soeben trotz Boyen und Bunsen eine neue Konstitution für das unmündige Volk ausgearbeitet haben, um es zu beglücken.«

Der Herr Geheimrat verwandelte seine Maske wieder in das Lächeln der Verbindlichkeit. Solche Umschreibungen liebte er. Diese kleine Frau war doch sehr charmant.

Das Gesicht der Frau Geheimrat rundete sich wieder. Eduard Schön bekam stolze Augen, Hannchen begann von neuem, sich mit ihrem Hühnerknochen zu beschäftigen (aber das hätte sie wohl auch so getan), und nur Heinrich wußte nicht, was er davon zu halten hatte, und blickte fragend zu Antonie hinüber. Immerhin, irgend etwas war hier vorgegangen. Das fühlte er. Das alles waren wohl nur Vorreden gewesen. Das eigentliche Thema stand noch nicht zur Diskussion.

Aber schon hatte der Herr Geheimrat das Kinn in die Vatermörder gezogen und hub an, und die Frau Geheimrat saß dabei. Und je länger der Geheimrat sprach, desto mehr wurde sie geladen von Rührung und Feierlichkeit, wie eine Leydener Flasche mit immer mehr Elektrizität geladen wird, je länger der Induktionsapparat schnurrt.

Der Herr Geheimrat sagte, daß er und seine Gattin Aurelie sich schweren Herzens entschlossen hätten, nunmehr ihr geliebtes Kind aus dem Hause zu geben, nur um ein neues (dieses war auf Heinrich gemünzt) dafür zu gewinnen, daß sie ferner der Hochzeit nicht nur keine Schwierigkeiten, sondern fürder, in Anbetracht vielmehr, daß, da es schon in dem Buch der Bücher heiße: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei« – kurz, daß sie sich hinwiederum freuen möchten, wenn die jungen Leute bald daran dächten, ein eigenes Heim zu bauen, wozu ja auch jetzt der Nestbau der lieben Vögelein als vorbildliche Anregung ..., ja, das erneute Glück im Elternhause Heinrichs...

Heinrich begriff langsam, was diese Rede zu bedeuten hatte. Alles, was problematisch war, war plötzlich gelöst, was in nebliger Ferne lag, war in die Nähe gerückt, was lange und heiß ersehnt, sollte verwirklicht werden. Und er sagte sich, daß dies einer jener Augenblicke wäre, von denen man meint, daß sie selten und köstlich sind in unserem Leben, wie bestandene Examina – Glücksempfindungen, die uns heiß machen müssen und berauschen, still und gerührt, Entscheidungen für Jahrzehnte, für die ganze Linie des Daseins...

Und Heinrich saß da und belauerte sich, wartete gleichsam, ob nicht irgendeine von all den Empfindungen bei ihm anklopfen würde, und war baß erstaunt, daß auch nichts davon geschah und er nur fühlte, wie Kälte und ein leises, ängstliches Zittern in ihm hochstiegen. Aber war das nicht immer so gewesen bei ihm? Er konnte seine Freude nie so zeigen. Das würde wohl nachher kommen, wenn er allein wäre.

Doch viel über sich nachzudenken, dazu kam Heinrich nicht. Denn kaum hatte der Geheimrat das Gehege seiner Zähne wieder geschlossen – vielleicht nur, um einen Augenblick zu ruhen –, da entlud sich die Frau Geheimrat, die ja wie eine Leydener Flasche mit Rührung und Feierlichkeit gefüllt war, nach allen Seiten mit einem knatternden Kreuzfeuer von Schlägen und Funken in Form von Küssen, die sie mit Tränen betaute. Sie küßte nach rechts und links, sie küßte mit Nuancen, sie küßte Heinrich etwas weniger stürmisch als ihre Tochter, die sie weinend immer wieder in die Arme schloß, beglückwünschte und bedauerte: »Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne folgen«, als ob sie sie schon in diesem Augenblick in das Brautbett geleiten müsse. Sie küßte ihren Mann wie eine, die sagt: Na, komm her, Oller – heute mal. Sie sank weinend, aber mit Beherrschung Eduard Schön in die Arme, der sonst gewiß wenig für Gefühlsausbrüche zu haben war, und streifte seine Wange. Sie küßte selbst Frau Antonie, und sie küßte ausgiebig, denn sie hatte ein ziemliches Mundwerk. Und nur durch den Umstand, daß sie sich zu einem stillen Gebete sammelte, gelang es dem Kellner, sich durch die Flucht zu entziehen.

Aber seltsam – die beiden, die es eigentlich am meisten anging, waren recht still und sahen sich kaum an. Heinrich war im Augenblick wie benommen, und Hannchen wiederholte Heinrichs Schweigen nur von neuem das gleiche, das ihr vorhin seine Küsse gesagt hatten. Und das machte sie ganz mutlos.

Die Frau Rätin aber nahm das als bräutliche Scheu ihrer Tochter und strahlte ob des schönen Ergebnisses ihrer Erziehung.

Und erst als Frau Antonie ihr Glas hob und Heinrich zuwinkte: »Das Brautpaar!« und ganz leise und klingend hinzufügte: »Auf baldige Nachfolge!«, da schlang plötzlich Heinrich, ganz plötzlich, wie jemand, der durch die Hast seiner Gebärden es vertuschen wollte, daß er mit seinen Gedanken fernab gewesen, seine Arme um dieses blonde Kind da neben sich.

Denn er hing ja doch an diesem großen, lichten Menschenwesen mit all seinen Sinnen, liebte diese gerundeten mattblauen Augen, denen man auf den Grund sehen konnte wie bei einem Gletscherwasser; liebte die kühle, hohe Stirn darüber, rein und weiß, diesen stolzen Hals, wie ein Säulenschaft; diese Arme, die wie weiße Taue, fest wie Lianen, sich um seinen Nacken verknoten konnten; liebte jeden Atemzug von ihr, den er wie wellendes Leben spürte, wenn er sie an sich preßte. Gerade der Gegensatz zwischen diesem herangereiften Menschengebilde, das in seiner strahlenden Blondheit etwas von jenem Obstbaum da hinten hatte, der über und über voller Blüten stand und in dem das Leben vollbewußt und sieghaft sich verkündete – gerade der Gegensatz zwischen dem und der kleinen, flackernden und ahnungslosen Kinderseele, die damit verschwistert war, hatte ja Heinrich Schön sonst immer entzückt und gerührt. Aber in diesem Augenblick empfand er zum ersten Mal, quälend und unbestimmt, die Dissonanz. Und je mehr er dieses weiße Stück Leben an sich preßte, desto schmerzhafter schien es ihm, daß es von sich selbst nichts wußte, ohne Stimme, Ton und Gesang war, daß nichts vermochte, ihm seine Klänge zu entlocken – eben das, was sonst seinem Rausch das Lächeln gegeben hatte.

Und Heinrich verlor sich von neuem in Grübeleien – mitten zwischen den Küssen. Was war er denn? Wer war er denn? Welches Recht hatte er denn, zu fordern, und was hatte er dagegen zu bieten? – Nun gut, er war Heinrich Schön, Heinrich Schön junior, Fabrikantensohn, Fabrikant, einer von Tausenden, der ungenannt und ungekannt, wie er gekommen, wieder gehen würde. Warum sollte ihm dann immer mehr bereitet sein als den andern?

Aber schon trank – er hörte sich gern reden, ja, er hörte eigentlich niemals jemand anders reden als sich selbst – der Geheimrat offiziell das Wohl Eduard Schöns und seiner jungen Frau. Und Eduard Schön erhob sich dagegen und sprach seinen Spruch auf die Brauteltern, auf Herrn und Frau Geheimrat, und zog sich mit weit mehr Glück aus der Affäre, als Heinrich erwartet hatte. Auch Frau Antonie war ganz stolz auf ihren Mann, streichelte ihn und küßte ihn sogar.

Der Wein und die Wärme des Mittags, die Behaglichkeit nach dem Mahl taten das Ihrige; man fing an zu plaudern, unterbrach einander und gab sich unbefangener als vorher – soweit das bei einem Teil der Tischgenossen möglich war. Eigentlich waren alle froh, daß das diplomatische Diner, das Zweckessen vorüber war.

Der Geheimrat erzählte eine Geschichte vom alten Friedrich, dem Maschinenmeister auf der Pfaueninsel, der so wundervolle Elfenbeinarbeiten mache und der die ganze Werdersche Kirche mit all ihren Türmen und Gitterchen »extrafein ausgearbeitet« hätte. Und da wären letzten Sonntag auch zwei Minister – die Namen zu nennen, verbiete ihm seine Courtoisie – auf der Pfaueninsel bewundernd davorgestanden. »Sehen Sie«, hätte Savigny gesagt, »die Grobschmiedehände dieses Mannes sich an – und damit macht er solche zierlichen Arbeiten.« Dabei hätte er auf ein Gitterchen getippt und es zerbrochen. »Ja, ja, Exzellenz«, hätte der alte Friedrich gesagt, »die Grobschmiedehände machen's eben, und die Ministerhände zerbrechen's.«

Heinrich dachte bei sich, daß solche Geschichten doch bloß Räte a.D. erzählen. Aber schon rief Eduard Schön, ob der Herr Rat wüßte, wie man die Rosse, die Pferdebändiger vor dem Schloß nenne in Berlin. Das wäre das Letzte. – Das wußte der Rat noch nicht. »Der gehemmte Fortschritt und der beförderte Rückschritt.«

Nun machte Frau Antonie aus ihrem Herzen keine Mördergrube mehr und summte: »Gibt's denn gar kein' Weg, gibt's denn gar kein' Steg, der uns führt aus dieser Sklaverei?« Und Heinrich akkompagnierte. Das aber ging nun doch nicht, und sie empfingen einen strafenden Blick von Eduard Schön – wie zwei Kinder, die bei Tisch nicht artig sind, aber der Gäste wegen nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.

Und sogleich begann Frau Antonie, um diesen Eindruck zu verwischen, von einem alten Onkel zu erzählen, der gern den Mund etwas voll nahm: Auf der Hochzeit, nach der Trauung hätte er ihr väterlich die Hand auf den Scheitel gelegt und ihr nachdenklich und melancholisch in die Augen geschaut. »Gott, Mädchen, nun heiratest du schon – wie die Zeit vergeht! Ich erinnere mich noch so deutlich, als ob es gestern gewesen wäre – ich vergesse doch überhaupt nichts –, wie ich die Nachricht von deiner Geburt bekam. Es war zwischen Petersburg und Moskau – eine bitterkalte Winternacht, meterhoher Schnee, die Sterne funkelten, die Wölfe heulten nur so hinter dem Schlitten her, das ist kein Vergnügen gewesen, mein Kind. Und wie wir auf der Poststation Halt machen – was ist da? –, ein Brief für mich von deinem lieben Vater, der mir mitteilte, daß ihm ... – ›Am zweiten Juli‹, unterbrach ich ihn schnell, ›eine Tochter geboren wurde, der man den Namen Antonie gegeben hatte. Das Klima und die vielen Wölfe in Rußland, weißt du, Onkel, das muß doch eigentlich grausig sein.‹ – ›Am zweiten Juli‹, meinte der Onkel etwas kleinmütig, ›dann verwechsle ich das wohl mit Richard, der ist im Dezember geboren.‹ – ›Nein, nein, Onkel, mit Richard kannst du das sicher nicht verwechseln, Richard ist im August geboren.‹ – ›Na, wer kann denn das wieder gewesen sein?‹ rief der Onkel ganz unglücklich. ›Da siehst du wieder, mein Kind, mein Kopf – wie'n Sieb, nichts behalte ich mehr.‹«

Alle lachten. Heinrich besonders. Es war doch zu nett, wie Frau Antonie eine solche Kleinigkeit aufbaute und servierte. Und wie ihre Züge dabei lebten: diese kleine, kokette Nase, deren dünne Flügel jedem Wort folgten, mal mitleidig zitterten und immer das Gesicht veränderten ... Er kam nicht los davon.

Das Wort »Hochzeit« aber war das Stichwort für Frau Aurelie gewesen, und sie zappelte schon, daß Frau Antonie mit ihrer Geschichte zu Ende kam. Dann aber legte sie die Ruder ein: Wo sie hinziehen wollten?

Oh, meinte Heinrich, er hoffe, in einem ihrer Häuser am Kanal für sie beide ein Plätzchen zu schaffen. Er möchte nirgends anders wohnen, denn dort sei er aufgewachsen.

»Gut«, sagte die Frau Rätin, so als ob sie meinte: genehmigt! Immerhin wäre es ihr lieb, wenn sie vorerst eine kleinere Wohnung sich einrichteten.

Und nun zog sie das Wehr erst völlig auf und überschwemmte alles mit den vollen Fluten ihrer Beredsamkeit. Sie kam von den Tapeten auf die Möbel, von den Möbeln auf die Morgenröcke – und die haben viel Plissees – und von den Morgenröcken auf die Morgenhauben ... und wie Frau Geheimrat die schätzte, haben wir schon gesehen. Und von den Morgenhauben auf Himmelbetten. Und von den Himmelbetten auf die Nachtkästen – in Säulenform ...

Hannchen war Feuer und Flamme – widersprach sogar. Eigentlich sollte sie doch darin wohnen. Und Frau Antonie nahm Hannchens Partei. Heinrich aber saß dabei und fühlte sich unglaublich überflüssig – ausgeschaltet, das fünfte Rad am Wagen.

Drüben aber hatte der Herr Rat Eduard Schön vorgenommen und sprach leise und ausdrucksvoll in ihn hinein. Er war schwer indigniert. Er hatte darauf gedrungen, daß seine Frau aus dem Magdalenenverein austräte – er selbst –, und bäte Eduard Schön, allen gegenteiligen Gerüchten mit aller Energie entgegenzutreten. »Denn, denken Sie, dieser Gerlach, er will die öffentlichen Häuser mit den Damen besuchen, die öffentlichen Häuser wollte er besuchen – zu gut deutsch: die Bordelle! Würden Sie vielleicht gestatten, lieber Schön, daß Ihre junge Frau ein Bordell besucht?«

»Nein, Herr Rat«, entgegnete Eduard Schön mit Überzeugung.

Aber Frau Antonie hatte gute Ohren – sie konnte hier sprechen und dort hören.

»Oh«, warf sie ganz unvermittelt über den Tisch fort, »das war nun der einzige Grund, weshalb ich dem Magdalenenverein beitreten wollte.«

Hannchen horchte auf und lachte.

Die Frau Geheimrat sah über die Nasenspitze fort auf den letzten Rest von Quittenkompott auf dem Teller. Und ihre Amethystbrosche auf ihrem hohen Busen schwankte unwillig auf und nieder. Sie fand das »équivoque«.

Auch Eduard Schön beschloß, seiner Frau zu Hause über diese Bemerkung Vorstellungen zu machen. So etwas konnte man in Berlin in Gesellschaft einmal sagen, in Potsdam durfte man das nicht.

»Oh«, meinte Frau Antonie plötzlich, und sie sprach nur zu Heinrich, »man soll eigentlich über so etwas nicht scherzen – so wenig, wie man über jemand lacht, der im Krieg zum Krüppel geschossen wurde. Das sind ja auch nur welche, die im Lebenskrieg zu Krüppeln geschossen worden sind.«

Das war nun keineswegs die Anschauung des Herrn Geheimrats, der fest von der göttlichen Weltordnung überzeugt war, in der es eben auch solche Wesen geben mußte. Und noch weniger war es die der Frau Rätin, die in ihnen Verworfene sah, die einzig der wahre Glaube aus den Armen der Sünde reißen könnte. Wie er aber das machen sollte, darüber hatte sie nie nachgedacht. Nur die Gegenwart des unschuldigen Kindes, vor dem man doch unmöglich über so etwas sprechen konnte – und das, auf ausführliche Literatur gestützt, ihren alten Herrschaften reiche Aufklärung über dieses Thema hätte zukommen lassen können –, nur die Tochter hielt die Eltern davon ab, diese ihre Ansichten in Worte umzusetzen und Frau Antonie eines Besseren zu belehren.

Indes, man nahm noch den Kaffee aus geblümten Tassen (der Geheimrat sagte, daß sein Eichelkaffee ebenso munde und viel bekömmlicher sei) und aß Frau Petzels Napfkuchen dazu, gerühmt von Kennern und Laien – indes war es belebter geworden: Reiter, Kaleschen, Familien, Spaziergänger kamen vorüber, zogen an dem Tisch vorbei, kamen heran unter den hohen Bäumen der sonnendurchleuchteten, sonnengesprenkelten Allee und schwanden wieder, als ob sie auf einem mechanisch rollenden Band vorübergezogen würden. Es war wie auf einer Bühne. Alles kam gemächlich, langsam, sich des schönen Wetters und des Schattens freuend. Alte Damen, sehr alte Damen, sonntäglich, in vorsintflutlichen Kleidern und höchst wunderlichen Umschlagetüchern mit großen bunten Palmetten – wandelnde Glocken, mit vielen grauen Löckchen und vielem Goldschmuck, zwei und zwei, einander grüßend, verbindlich lächelnd, aus kleinen, freundlichen Vogelgesichtern, und im Augenblick wieder in die alte Würde zurückfallend. Generalswitwen, etwelche in Begleitung von eingetrockneten alten Herren, die sehr langsam, sehr zittrig, aber sehr gerade gingen, in der Mode von 1815. Junge Offiziere mit sehr viel Taille, prall geschnürt, mit schiefen Mützen, die Reitgerte schlenkernd. Fremde – selbst Französisch hörte man und Englisch. Auch ein Hofwagen fuhr vorüber, in strammem Trab, und alles, alles grüßte.

»Nun«, rief Eduard Schön, »wenn es den Herrschaften recht ist, brechen wir hier unsere Zelte ab und gehen ein wenig, denn ich hatte versprochen, unser Potsdam meiner jungen Frau vorzustellen.«

Auf dieses bescheidene Bonmot war Eduard Schön zum mindesten ebenso stolz wie auf seine junge Frau.

»Gewiß«, entgegnete der Geheimrat und erhob sich mit einem leichten Ruck im Kreuz, wie so ein etwas verrostetes, schlechtgeöltes Scharnier aufschnappt, »gewiß, nach einem so opulenten Mahl ist zur Paralysierung von Indigestionen etwas Bewegung höchst angebracht. Als wir zum Beispiel zum Kongreß in Wien waren, hatte ich es mir zur Bedingung gemacht, jedesmal nach dem Diner im Schloß zehnmal den Belvederegarten ...« Weiter kam er nicht. Denn ein alter Herr, in einen langen, dunkelbraunen Gehrock gewickelt (wie eine Lakritzenstange), ein alter Herr, der sehr langsam, mit kleinen Schritten, am Arm einer breiten, würdigen Matrone vorüberstelzte, machte, daß der Geheimrat tief den grauen Zylinder zog, sich verbeugte und eine ganze Weile so, den Hut in der Hand, in der Neigung lächelnder Devotion verharrte, während der andere, den Cobourg leicht lüftend, vorüberschritt und von oben herab dankte, so wie eine noch funktionierende Exzellenz eben jemandem dankt, der einmal, ganz früher, unter ihm gearbeitet hat, der aber seit Jahren nicht mehr im Amte ist. Als der Geheimrat sich aber aufrichtete, hatte er über dieses Erlebnis seine Rede ganz vergessen.

»Das war Exzellenz von Sellenthin«, wandte er sich mit erklärender Geste zu den anderen.

»Ein guter Freund unseres Hauses«, ergänzte die Rätin der Frau Antonie, »ein früherer Mitarbeiter meines Mannes.«

»Ja«, warf Heinrich dazwischen, und er bemühte sich, nicht maliziös auszusehen – denn das war für Frau Antonie nicht nötig –, »Exzellenz hätte uns ja um ein Haar um das Vergnügen gebracht, heute mit meinen Schwiegereltern zusammen zu sein.«

Das Gesicht der Frau Rätin verschob sich länglich-oval.

»Nun wollen wir aber wirklich gehen!« rief der Rat, um die Situation zu retten.

»Ich denke, wir wandern zum Klausenberg«, meinte Eduard Schön und bot seiner jungen Frau den Arm. »Von da haben wir die schönste Rundsicht, und meine Frau kann sich überzeugen, daß ganz Potsdam ihr zu Füßen liegt.«

Hannchen amüsierte sich darüber und puffte Heinrich in die Seite, wie sie seinen Arm nahm. »Kiek mal – dein Vater!«

Und dann begannen Hannchen und Heinrich ganz in Gedanken für sich taktmäßig dahinzugehen, auszuschreiten, so wie sie es gewohnt waren, weil die Jugend sie trieb ..., unter den Baumreihen dahin. Und langsam dämmerte es in Heinrich auf, daß sich ja mit dem heutigen Tag vieles geändert hatte, und er redete mit Hannchen, wie das denn werden solle. Aber da kam ihnen Frau Antonie nachgelaufen, auf kleinen, schnellen Schuhen: daß das viel zu schnell wäre; man wolle doch etwas davon haben und sich was ansehen. Es wäre überhaupt wundervoll, wie weit dieses Jahr alles schon wäre. Erst wäre noch alles zurückgewesen, aber nun käme es mit Macht. Und außerdem könnten die älteren Herrschaften nicht mehr so springen.

Frau Antonie war leicht gerötet und knabberte mit den Zähnen auf der Unterlippe.

»Sind wir Ihnen zu schnell gegangen?« fragte Heinrich Schön leise.

Hannchen sah von einem zum andern. Herrgott – sie sagten ja »Sie« zueinander. Bisher hatte es ihr kaum auffallen können, weil sie jede Anrede vermieden hatten.

» Mir nicht«, entgegnete Frau Antonie und sah zu ihm herüber mit einem Blick, der wie durch Gitterstäbe kam. Und Heinrich zog sich das Herz zusammen.

Indes waren die andern nachgekommen, und nun blieb man dicht zusammen zu drei und drei. Eduard Schön ging auf der anderen Seite der Frau Geheimrat und sprach eifrig auf sie ein. Und Frau Antonie gesellte sich, wie sie sagte, zu der Jugend, blieb neben Heinrich; sie sprach wenig, fragte nur dies und das.

Die hübschen roten, blauen, grünen Glasvasen, die oben in den Nischen des neuen pompejanischen Bades standen und das Licht fingen, bunt und grell durchleuchtet waren, entzückten sie. Sie ließ sich Maulbeerbäume zeigen, die hier noch dichte Kronen auf alten, knorrigen Stämmen trugen, und ließ sich von Heinrich erklären, warum man keine Erfolge mit dem Züchten von Seidenraupen hätte. Heinrich Schön erzählte auch von den Versuchen, die man jetzt mit andern Sorten mache, die auf Eichen und exotischen Stauden lebten – riesige Spinner, ganz fremdartig, handtellergroß, veilchenfarben und oliv, mit Augen wie Glas in den Flügeln; aber die Seide wäre nicht gut genug, und es gingen viele Tiere ein. Hannchen sagte, daß Heinrich so etwas aber später nicht machen dürfe; sie fände Raupen eklig und schriee, wenn sie eine sähe.

Und langsam – viel zu langsam für die Jugend – gingen sie zwischen den glatten, bleifarbenen Stämmen eines alten Buchenwegs hinan, in dem das junge, eben sich öffnende Laub, wundervoll durchsonnt, von märchenhafter Höhe in breiten und schönen Kaskaden herabströmte. Sie kamen am Drachenhäuschen vorbei, das hier in einem ganz verwahrlosten Parkwinkel für China Wache hielt, inmitten alter Eichen, Gestrüpp und in dem wirren Unterholz dünner, kämpfender Stämmchen ... Wache hielt mit goldenen Ungeheuern, die über die lustigen Spitzen des grünen Daches ragten, die aber, wie um zu zeigen, daß sie zahm und harmlos wären, gleich Schäfchen Glocken von klingendem Metall trugen.

Frau Antonie war noch niemals vorher in diese Gegend gekommen und fand es hier ganz reizend. Hier müsse sie öfter hergehen, des Morgens, ganz früh, allein, wenn keine Seele hier wäre, nur der Tau an den Sträuchern hinge.

»Siehst du«, rief Eduard Schön, der mit den andern ein wenig zurückgeblieben war, »siehst du, mein Liebling, da drüben wollen wir hin.« Und er zeigte auf das dicke, turmähnliche Gebäude, das vor ihnen gelbbraun in der Sonne brannte, mit seinen zwei Reihen hoher, schlichter Säulen, mit seiner flachen Kuppel und mit all seinen Figuren, die oben auf der Balustrade ihre großen, bewegten Glieder gegen den Himmel reckten. Frei, groß und beherrschend stand es da und doch ganz luftig durch die hohen schimmernden Fenster, die da drinnen das Licht wie Degenklingen sich kreuzen machten und durch die breiten, offenen Säulenhallen, die es rings einhüllten und seine Schwere auflösten, seinen Ernst in stolze Heiterkeit verwandelten. »Also siehst du, meine Süße, dort oben wird Potsdam seinen ersten Kniefall vor dir machen.«

»Bildlich – natürlich nicht nur bildlich gemeint, meine Verehrte«, akkompagnierte der Geheimrat, drängte sich hinzu und lächelte ranzig. Denn er wollte doch zeigen, daß er trotz seiner Jahre dem feinen Spiel zierlicher Werbungen keineswegs abhold war.

Susanne und die beiden Alten – dachte Heinrich Schön.

Frau Rätin aber machte vorwurfsvolle, doch verzeihende Augen, daß ihr Gatte immer noch so tief in Weltlichkeit verstrickt sei.

Aber die, der die Komplimente galten, achtete ihrer nicht, sondern war auf die Rampe des Belvedere getreten und blickte um sich – ganz versonnen.

Unten lag in breiten Falten das weite Parkland, ganz bunt im jungen Laub. Wie ein wollgestickter Teppich lag es da unten, der noch hoch und noch rauh und noch nicht geschoren war und statt der Muster eben erst bunte Flecke zeigte, scheinbar wirr und grell und doch die zukünftige Regelmäßigkeit schon ahnen lassend. Um das Lichtgrün der Buchen war heller, von Rot und Weiß durchspielt, ein Rand von Birken gezogen. Bräunlich schimmerten Eichen drüben, und gelbe blütenbedeckte Ahornbäume, wie Tulpen leuchtend, waren in ihre Schattenflecke eingesprengt. Blutbuchen, von gerinnendem Blut beflossen, tief blaurot, drängten sich zum Silber hoher, breiter Pappeln. Kastanien zündeten erste, allererste Kerzen daneben an. Und überall hoben sich Kiefern und Tannen, einzeln, dunkel (jetzt doppelt dunkel) aus dem lichten Gewühl junger Frühlingsfarben.

Schneller als der Falke, der über die Wipfel jagte und den Vogelsang verstummen machte, konnte der Blick darüber hinstreifen. Er konnte sich oben im Blau des Gewölbes verfangen. Er konnte die Sonne suchen, die schon ziemlich weit hinuntergegangen war, fast bis zu jener Wolkenschärpe, mit der sich im Westen der Himmel veilchenfarben umgürtet hatte, und die nun ihr flüssiges Gold schon schräg über den rauhen Teppich hinspritzte. Er konnte auch über alle Kronen sacht hingleiten, als wolle er sie streicheln. Und er konnte drüben an den Kuppeln des Neuen Palais und bei den Communs ausruhen, ehe er ganz hinten zu den Waldlinien ferner Hügel und zu einem leichten Schimmer, einem metallischen Blenden von Wasser herüberglitt. Die Türme Potsdams konnte er suchen, drüben, unten, im fernen Halblicht – wenn man auch in all dem Grün nicht recht an die Stadt glauben wollte. Und er konnte sich endlich damit mühen – der Blick –, die Zeichen des optischen Telegraphen weit hinten auf dem Brauhausberg zu entziffern.

»Nun, Antonie«, meinte Eduard Schön, »habe ich dir zuviel versprochen! Das alles liegt dir zu Füßen.«

Frau Geheimrat Aurelie, die stets in biblischen Reminiszenzen lebte, begann mit Augenaufschlag: »Und der Teufel führte Christus ...« Weiter kam sie nicht, denn der Geheimrat hatte schon von Natur spitze Ellenbogen, die sich durch die Jahre und durch häufigen Gebrauch auf seinem Lebensweg noch bedeutend abgewetzt hatten. Nur ein Lächeln in den Augenwinkeln – das zweite Lächeln – zeigte Heinrich, daß Frau Antonie die Situation durchschaute.

Ja, nun wollte aber jeder erklären, was man da sehe und wie weit ringsherum nach allen Seiten. Und alle drängten sich um Frau Antonie, alle redeten zugleich; denn jeder wollte doch seine lokalpatriotische Seele zeigen, und jeder wies und pikte mit dem Finger in eine andere Richtung.

»Ach, da hinten«, rief Frau Antonie und zeigte auf den hellen Fleck, das metallische Schimmern da weit drüben, »da hinten, da ist wohl dann die Spree!«

Man lachte. Der Geheimrat meckerte vor Vergnügen, Hannchen war besonders erfreut; sie fand das sehr dumm.

»Hier gibt's keine Spree wie bei euch, mein Schäfchen«, meinte Eduard Schön überlegen.

»Die Havel ist der Fluß, an welchem Potsdam liegt.
Hier aber, wo sie nun das edle Potsdam wässert,
Zerteilet sich der Strom, der sich gelind ergießt,
Wird aber dadurch nicht verkleinert, nein vergrößert«,

klang es hinter ihnen in den Worten des Bellaminthes, der einst ein Loblied auf die Stadt Potsdam gesungen.

»Herrgott, Maltitz – mein Roderich!« rief Heinrich Schön und breitete seine Arme aus; er hatte im Augenblick ganz vergessen, daß heute nicht mehr gestern war. »Ist's wahr – ist's wirklich? Bist du's? Oh – du bist's! Ich drück' an meine Seele dich!«

Eduard Schön machte große Augen. Das Zitat kannte er zwar nicht, aber »mein Roderich« war ihm aufgefallen. Seit wann hieß der junge Maltitz Roderich?

Frau Antonie aber blickte von einem zum andern. Sie wußte Bescheid – war im Bilde.

»Dein Gehirn treibt öfters wundersame Blasen«, flüsterte Maltitz hablaut, während er sich gegen die andern verbeugte und zugleich auf den jungen Winterfeldt wies, der, blond und etwas unbeholfen, leicht errötend, die Hand am Mützenrand, neben ihm stand. Trotzdem von Winterfeldt Uniform trug, kam er doch neben Maltitz kaum zur Geltung, der in dem blauen Frack, der mattroten Weste und der blauen Binde, mit einem köstlichen grauen Zylinder mit pfeilgerader Krempe – das letzte: bon ton, ein Zylinder, der oben viel breiter war als unten – der Führende war, die Oberhand hatte, nicht übersehen werden konnte.

Man machte sich bekannt, stellte mit vieler Förmlichkeit vor (soweit es noch nötig war), forderte auf, sich anzuschließen.

Maltitz hatte natürlich schon gehört, daß die junge Frau in Potsdam ihren Einzug gehalten hatte – von irgend jemand, der sie gestern auf der Bahn gesehen und die Neuigkeit hatte ausschellen lassen. Und es war deshalb auch kein Zufall, daß er gerade hier spazierenging.

Man blieb noch eine ganze Weile oben auf der Terrasse, bewunderte den Rundblick, ging auch auf die andere Seite zu der hohen Freitreppe herum, von der man nach dem Ruinenberg und nach Bornim und Bornstedt hinübersehen konnte, die da hinten mit roten und grauen Dächern sich in dem Weiß der blühenden Obstbäume versteckten – ähnlich großen Steinen, die in der Brandung von Schaum umflutet und überspült werden.

Der Herr Geheimrat von Mühlensiefen hatte den jungen von Maltitz mit Beschlag belegt. Das war sein Mann. Mit dem konnte er reden. Und er wurde im Augenblick ein ganz anderer, als er den ganzen Tag gewesen war: ein amüsanter Plauderer von lächelnder Verbindlichkeit, ein zielbewußter Frager, ein Spötter, ein Lauschender, der seine Fühler ausstreckt, bei jedem Wort auf dem Posten. Selbst sein Gesicht, das sonst immer gleichmäßig wie eine etwas vergilbte und verstaubte Wachsmaske geblieben war, verändert und belebt sich. Er ist wieder ganz im Dienst – nicht mehr pensioniert oder abgesägt. Dieser junge Maltitz bringt etwas von der Luft mit, die er zu atmen gewohnt war.

Langsam ist man gegangen, in Gruppen, in kleinen Abständen, plaudernd. Hannchen, Heinrich und Frau Antonie, dann Eduard Schön und Frau Aurelie, die sich den jungen Winterfeldt attachiert hat, der zu gern los möchte und mit den Blicken vorn irgendwo Anschluß sucht. Und hinter allen Maltitz und der Geheimrat von Mühlensiefen.

Vor allem will er etwas über den König wissen, um festzustellen, wie seine Aktien stehen.

»Für die liberale Regierung werden sie im Staatsministerium nur auf Boyen und mich rechnen können«, hätte der König gesagt. Das wußte Maltitz. Dem König wird furchtbar entgegengearbeitet. Maltitz weiß noch viel, viel mehr: peinliche, unangenehme, persönliche Dinge aus der allernächsten Umgebung des Königs. Aber er hütet sich, es zu sagen. Er kennt das, wie leicht einem ein Strick gedreht werden kann.

»Ja, ja«, meint der Geheimrat und dämpft seine Stimme auf streng vertraulich, »wir werden noch so weit kommen, daß aller Adel über Bord geht. Ganz gleich, ob das unser alter Uradel oder solch ganz simpler und einfacher Herr ›von‹ ist.«

Maltitz ist einigermaßen erstaunt über den Uradel, denn seines Wissens war der Großvater des Geheimrats von Mühlensiefen in Helmstedt am Harz noch ein braver Handwerker von jener Art, die die Welt zwar schon mit Dichtern und frommen Gottsuchern beschenkt hat, da sie mit Pechdraht, Knieriemen und Ahle eine nachdenkliche Tätigkeit betreiben, die aber sehr selten die siebenzackige Freiherrnkrone ihrem Namen beifügen können. Und erst der Vater, ein halbverhungerter, hergelaufener Theologe, war als Feldprediger durch kernige Erbauungssprüche dem alten Herrn, der für verkürzte Formen des Gottesdienstes viel übrig hatte, angenehm aufgefallen, hatte sich auch unter seinem Nachfolger königlicher Gunst erfreuen dürfen und hatte als kenntliches Zeichen der Gnade seinem Namen durch ein harmloses »von« Klang geben dürfen. Und mit den Grävenitzens war die Sache auch ziemlich dunkel. Also kurz gesagt: von vorgestern.

Indessen hatten sich vor ihnen die Gruppen etwas verschoben. Frau Antonie war zu ihrem Mann zurückgekehrt, und der junge Winterfeldt lauschte in hilfloser Verzweiflung allein den glaubensstarken Worten der Frau Rätin. Heinrich und Hannchen aber richteten ihre Wohnung ein. Das heißt, Hannchen tat es allein, und Heinrich klopfte nur ab und zu einen Nagel in die Wand.

»Wissen Sie, Herr von Maltitz«, sagte der Geheimrat lächelnd und wies auf das ungleiche Paar da vorn, auf Eduard Schön und Frau Antonie, »wir pflegten, als ich noch im Amt war, Akten hujus generis mit dem Vermerk ›in zwei Jahren wieder vorzulegen‹ weiterzugeben. In der Zeit hatten sie sich dann immer von selbst erledigt.«

»Nein, Herr Rat«, entgegnete von Maltitz, »das ist altes Regime, das hat sich inzwischen sehr geändert. Wir versehen solche Akten heute mit dem Vermerk ›in sechs Monaten wieder vorzulegen‹, und ich kann Ihnen versichern, daß sich das außerordentlich bewährt hat und genau den gleichen Erfolg zeitigt.«

Der Rat schmunzelte, lachte sogar. So etwas war doch seine alte Lebenssphäre.

»Ja«, sagte er, »lieber von Maltitz, ich habe nämlich heute darin eingewilligt – das heißt, Sie verstehen, unvorgreiflich späterer Entschließungen –, daß wir dem Eheprojekt mit dem jungen Schön alsbald nähertreten. Ich weiß, es ist Ihr Freund – das ehrt ihn und noch mehr Ihre Gesinnung –, immerhin können Sie sich denken, daß ich nicht allzu erfreut darüber bin. Denn wenn der junge Schön auch nicht unwohlhabend genannt werden kann und gewiß aus anständigem Hause ist, so werden Sie mir trotzdem ohne lange Explikationen nachfühlen können, daß diese Verbindung keineswegs in meinem Sinne ist. Aber schließlich und endlich begreife ich, begreife ich Herrn Eduard Schön vollkommen. Don Carlos mag – seiner revolutionären Tendenz ungeachtet – ein sehr verdienstvolles und wirksames Stück für die Bühne sein: ›Wo alles liebt, kann Carl allein nicht hassen‹ ganz prachtvoll! Aber ich würde auch lieber vorziehen, die Aufführung im eigenen Hause zu vermeiden.«

Maltitz war belustigt, daß selbst dieser alte Herr noch Analogien spürte. »O nein«, sagte er, »nein, Herr Geheimrat, da können wir ganz unbesorgt sein. Das Leben ist eine viel zu raffinierte Bestie, um das zu tun, was wir von ihm erwarten.«

»Lieber Freund«, der Rat klopft von Maltitz auf die Schulter, »lieber Freund, der Meinung war ich auch, wie ich so jung wie Sie war. Wenn Sie aber erst so alt sein werden, wie ich es jetzt bin, dann werden Sie längst dahintergekommen sein, daß das Leben – um es drastisch zu sagen – die neuen Stiefel auch nur über die alten Leisten arbeitet.«

Maltitz lachte Beifall, so wie er es gewohnt war, wenn einer seiner Vorgesetzten im Amt ein Wort sprach, das nicht gar zu alltäglich war. Aber eigentlich lachte er nur, weil der Geheimrat immer noch seine Bilder und Vergleiche aus der großväterlichen Schusterwerkstatt sich holte.

Die anderen waren vor einer kleinen Gittertür stehengeblieben, die in den Park von Sanssouci führte, aber verschlossen zu sein schien. Heinrich mühte sich an der Klinke herum. Hier hätte man sonst immer herein gekonnt.

»Ja«, rief Maltitz und schlug sich zu ihm, froh, dem Geheimrat zu entwischen. Denn seinethalben war er doch wirklich nicht heute spazierengegangen. »Der Eintritt ist laut Verordnung allen gesitteten Leuten ohne Unterschied durch die Gnade Seiner Königlichen Majestät erlaubt worden. Und wer behauptet, daß wir nicht gesittet wären! Also: mit Gott, für König und Vaterland!« Und schon hatte Maltitz die verrostete Klinke heruntergedrückt und die Tür geöffnet.

Auf der Chaussee, unter den Bäumen, die letzte Zeit, war es doch etwas unruhig und heiß und staubig gewesen von vielen Wagen und sonntäglichen Menschen. Aber nun nahmen sie auf stillen, kaum begangenen Wegen die Kühle jungen Laubs, der grüne Schatten, der neuerwachte Vogelsang auf, und smaragdene Rasenflächen begleiteten sie. Es begann süß zu duften, nach dem steigenden Saft der Birken, nach den ersten Ebereschen und den ersten geöffneten Blütentrauben des Faulbaumes, die irgendwo in der Dämmerung aufleuchteten. Aber während der Ebereschenduft süß war und kühl und rein wie die Küsse eines Kindes, das beim Gutenachtsagen die Arme um den Hals der Mutter schlingt, trug der des Faulbaumes Sehnsucht auf seinen Schwingen, war betäubend, unerlöst, grell, in seiner Süße mit Bitterkeit gemischt, wie die letzten, geheimen Küsse hoffnungsloser Verliebter, die sich trennen müssen und doch zueinander drängen.

Man hatte sich anders formiert. Gab das der Weg – das Geplauder? Frau Antonie ging zwischen Heinrich und Maltitz, der junge Winterfeldt vor ihnen hatte sich zu Hannchen gesellt, und die Frau Rätin hatte sich ihren Gatten zurückerobert und außerdem noch Eduard Schön vor ihren Siegeswagen gespannt, unter dem Vorwand, mit ihm manches besprechen zu müssen.

»Weißt du, du hättest eigentlich heute mit uns essen sollen, Maltitz«, meinte Heinrich. »Es war reizend. Wir haben schon im Freien gegessen.«

»Ach nee«, sagte Maltitz, »ich bin zwar sehr für Sonnenflecke auf dem Tischtuch, aber ebensosehr gegen Mücken in der Suppe.«

Frau Antonie lachte.

»Und hör mal, mein Junge«, sagte Heinrich und wies mit dem Finger, »wir, ich und die da vorn, wir heiraten nächstens. Nu kommst du bald 'ran.«

»Was du sagst«, meinte Maltitz scheinbar erstaunt, »du hast wohl in de Droschkenlotterie gewonnen?«

»Sie sollten sich daran wirklich ein Beispiel nehmen, Herr von Maltitz«, warf Frau Antonie ein.

»Nein«, sagte Maltitz, »ich würde nur Christel von Laßberg heiraten.«

»Christel von Laßberg?« wiederholte Heinrich – er kennt doch in Potsdam so ziemlich alles, was Zöpfe trägt, aber von Laßberg ...

»Doch da sie mich wohl kaum nehmen wird, meine Gnädige, so glaube ich ...«

»Warum meinen Sie, daß sie Sie nicht nehmen wird?«

»Weil ich sie noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen habe, trotzdem ich sie liebe, solange ich denken kann.«

»Nun«, sagte Frau Antonie, denn alle Frauen interessieren sich für Liebesgeschichten – sie haben etwas von der türkischen Torte auf dem Geburtstagstisch, nach der alle zuerst greifen –, »nun, und ihre treue Liebe wird nie belohnt werden?«

»Sicher niemals. Die arme Christel von Laßberg ist nämlich am siebzehnten Januar des Jahres siebzehnhundertachtundsiebzig in der Ilm ertrunken, hat sich wohl ertränkt. Weiter weiß ich nichts, gar nichts von ihr. Das steht irgendwo in Goethes Tagebüchern. Seine Leute haben den ganzen Tag nach ihr mit Netzen und Stangen gefischt, bis sie sie gefunden haben. Ich weiß nicht, ob sie jung oder alt war. Ich weiß gar nichts von ihr. Und doch ist es das einzige weibliche Wesen, das jemals meine Phantasie ganz erfüllt hat.«

»Lieber Maltitz«, warf Heinrich mitleidig ein – beinahe hätte er wieder »Roderich« gesagt, er hatte sich so daran gewöhnt in der letzten Zeit –, »es freut mich jedenfalls festzustellen, daß du über dein Traumleben, so du mir nebenbei bis zu diesem Augenblick unterschlagen hattest, niemals die Wirklichkeit vernachlässigt hast.«

»Sehr wohl, mein Prinz« – o weh, jetzt hatte Maltitz sich versprochen –, »ich suche eben überall Christel von Laßberg. Aber stets wenn ich denke, sie schon in den Armen zu halten, dann sehe ich zu meinem Schrecken, daß es doch eine andere ist.«

Frau Antonie schien die Anrede überhört zu haben. »Ich glaube, das liegt im Wesen der Sache«, sagte sie langsam, indem sie den Kopf hob und mit den Blicken von einem zum andern ging, »die Männer erwarten immer etwas ganz anderes von den Frauen, als diese zu geben vermögen. Gewiß, die Männer lieben die Frauen, aber gern haben sie doch eigentlich wieder nur die Männer.«

»Desto anerkennenswerter ist es aber«, rief Heinrich übermütig – jetzt war er ein ganz anderer, hier trafen wieder Stahl und Stein zusammen, und es gab Funken –, »daß du trotz so ungewöhnlich zahlreicher Enttäuschungen den Mut nicht sinken läßt.«

Frau Antonie blieb stehen und lachte. Es tat ihr so wohl, einmal wieder zu lachen. Und Maltitz stimmte ein. Die alten Mühlensiefens nahmen kaum Notiz: Man fiel in Potsdam nicht auf – man lachte nicht in Sanssouci!

Eduard Schön sah mit großen Augen herüber. Er fühlte wieder seine Fremdheit und daß diese jungen Menschen da sich aufs Wort verstanden. Nur Hannchen und der junge Leutnant von Winterfeldt schienen dieses Lachen gar nicht zu beachten. Sie waren tief im Gespräch, gingen ruhig weiter, kehrten sich nicht um. Sie sahen prächtig aus nebeneinander, wie ein gutgewähltes Gespann – paßten, gehörten eigentlich zusammen, diese beiden großen, blonden Menschen. Selbst Heinrich Schön fühlte in diesem Augenblick etwas davon.

»Ein hübsches Paar«, meinte Frau Antonie wie als Schluß einer Reihe unausgesprochener Gedanken. »So wie Ihren Freund da vorn, Herr Roderich von Maltitz, habe ich mir immer den blonden Egbert vorgestellt. Sie kennen ihn gewiß aus der Novelle von Tieck. Es sind zwar nicht meine Menschen, aber sie würden mir doch in meiner Musterkarte fehlen, wenn sie nicht da wären.«

»Man ist Ihnen entgegengekommen, junge Frau Schön. Der kleine Winterfeldt ist nicht nur der blonde Egbert, wie er leibt und lebt – oder richtiger nicht lebt –, er heißt sogar auch Egbert. Nebenbei hatten wir, Heinrich und ich, gestern abend die Ehre, seinen Schöpfer zu sehen. Er wohnt doch jetzt hier im Schloß. Aber warum sagten Sie denn ›Roderich‹ zu mir. Ich heiße ganz im Gegenteil Karl.«

»Aber Heinrich nannte Sie doch vorhin ›mein Roderich‹, wenn ich mich recht erinnere«, meinte Frau Antonie mit ihrem letzten, feinsten, überlegenen Lächeln, das nur oben um die Augenbrauen zuckte.

Heinrich war sehr rot geworden und sehr verlegen. »Das war ein Irrtum!«

»Ja«, rief Maltitz mit blinkenden Augen – denn so etwas, das war sein Element –, »ja, meine Verehrte, wir haben eben die Rollen getauscht. Jedes Stück muß doch doppelte Besetzung haben, falls einer der Akteure... oder der Aktricen vielleicht unpäßlich wird.«

»Ah so – und er ist Karl

»Ich will es nicht leugnen, meine Königin«, entgegnete Maltitz und kreuzte, sich leicht verbeugend, die Arme über der Brust.

»Und mich haben Sie also auch schon eingereiht ins Spiel, Herr von Maltitz? Deshalb vergönn' ich Ihnen zehn Jahre Zeit, fern von Madrid darüber nachzudenken.«

»Aber Hoheit«, flüsterte Maltitz, »aber so werfen Sie doch bitte nicht die Stichworte durcheinander. Das hat ja Ihr Gatte, der König Philipp, nachher zu sagen!«

Frau Antonie lächelte. Sie war entwaffnet. »Sein Argwohn ist fürchterlich, erblickt er Sie«, deklamierte sie mit Pathos.

So etwas lag ihr doch eigentlich. Für ein gutes Wort gab sie ihrer Seele Seligkeit. Und dann – warum sollte sie denn nicht mitspielen? Sie war ja noch so unerhört jung, hatte noch soviel lange, gleichgültige Jahre vor sich.

Maltitz war ein viel zu guter Menschenkenner, um all das nicht im Augenblick zu fühlen, und viel zu geschickt, um das etwa die andern merken zu lassen. Ihm genügte die Übereinstimmung.

»Ach Gott«, rief er und schlug breit die Arme auseinander und zog die Luft ein, »ach Gott ja – ist das schön heute hier! Und vor vierzehn Tagen war noch alles kahl wie'n Rattenschwanz. Sage mal, mein Junge, hast du eigentlich mal begriffen, wozu du auf der Welt bist?«

»Lieber Freund, wenn ich das wüßte, würde ich doch keine seidenen Tücher verkaufen, sondern in Berlin an der Universität Professor sein.«

»Du irrst dich – das kenne ich besser, das ist mein Ressort: Dann würdest du im besten Fall in Berlin in der Hausvogtei sein. Weißt du, da war ein alter Arabist Lehmann, ein grundgelehrtes Gemüse. Und eines schönen Tages kam er ganz aufgeregt zu seinen Bekannten gestürzt. ›Dreißig Jahre‹, schrie er, ›habe ich nichts getan als Koran studiert, nie habe ich ihn verstanden – jetzt, jetzt endlich weiß ich, was er ist.‹« Maltitz machte eine Pause.

»Nun?« meinte Heinrich – da ganz weit hinten sah er Hannchen und Winterfeldt gehen.

»›Ein einziger Quatsch von vorne bis hinten!‹ Und genauso sage ich mir jetzt manchmal: Bald dreißig Jahre habe ich nun nichts getan als ...«

»Gewiß«, unterbrach Frau Antonie, »aber es gibt doch so manche Dinge, über die man das vergessen kann. Und auf die kommt es doch eigentlich an. Sehen Sie mal, wie die Tulpen sich hier im Wind bewegen – ich finde, Blumen, die sich im Wind bewegen, sind etwas Köstliches, ein Geschenk. Und eigentlich dürfte ein Mensch mit Ihrer Zukunft das auch nicht sagen.«

»Zukunft! Wer was kann, ist heute schon verdächtig. Wissen Sie, was die größte Enttäuschung meines Lebens war? Als die Erwachsenen meinesgleichen wurden. Was hat man denn?«

»Sicherlich«, meinte Frau Antonie nachdenksam, »den Alten gehört ja Stellung, Geld, Wagen, Pferde, Schönheit vielleicht...«

»Schönheit vielleicht«, wiederholte Heinrich für sich.

»Aber uns Jungen gehört das Leben. Jeder Tag kann uns etwas schenken, was wir noch nie besessen haben. Und dann, haben wir nicht Bücher, die uns ganz trunken machen können vor Vergessenheit?«

Maltitz lachte ironisch. »Sie irren, schöne junge Frau. Hier nicht. Potsdam ist literarisch Provinz. Seit der Olle Fritz den Voltaire da oben 'rausgeschmissen hat, ist das Nest verwaist. Hier gibt's nur die Literatur der ausgefahrenen Geleise.«

»Die Jungfrau vom roten Felsen«, unterbrach Antonie, ganz für sich.

»Wir sind nicht so wie die verruchten Berliner, die jeden Tag was Neues wollen. Und wo hundert Schriftsteller am Krankenbett der Zeit sitzen, ihr den Puls fühlen und täglich die Krankenberichte in dicken Büchern veröffentlichen. Das müssen Sie hier in Potsdam nicht erwarten. Wir sind weit vom Schuß.«

»Sie müssen auch nicht glauben, Herr von Maltitz, daß ich das sehr schätze. Jede neue Kunst meint, daß sie besser als ihre Vorgängerin ist, nur weil sie anders ist. Die Literatur ist das Gemüt, das Herz, das Gewissen, die Phantasie einer Zeit. Aber sie ist bisher selten zu ihrem eigenen Glück ihr Verstand und ihre Initiative gewesen. Aber vielleicht kann sie gerade im Augenblick bei uns nicht anders sein. Ich bin nicht sehr für Politik in der Literatur. Alle Politik läuft darauf hinaus, daß die andern auch stehlen wollen.«

Maltitz blieb stehen. »Liebe junge Frau«, sagte er sehr nachdenklich, »Sie bringen Berliner Esprit mit – schade! Sie werden sehr üble Erfahrungen in Potsdam machen!«

Heinrich lachte. »Solange wir da sind, nicht, mein Roderich.«

Sie waren nun wieder zum Rund der Fontäne gekommen, die in dunklen Büschen, inmitten von Marmorbänken und Gruppen, von der tiefen Sonne blutig durchglüht, ihren Wasserstrahl jetzt, Sonntag nachmittag ein seltenes Schauspiel, viel bewundert von breiten, bunten Reihen Einheimischer und Fremder –, ihren Wasserstrahl in die Höhe warf, daß er wieder herabwehte und die Wasserfläche peitschte gleich dem riesigen, silbernen Roßschweif eines kurbettierenden Hengstes. Die Goldfische, die sonst sehr faul und dumm dahintrieben wie Mohrrüben, die gespült werden, waren ganz ratlos über diese neumodische Unruhe und schwammen aufgestört, in breiten Scharen, den Marmorrand entlang, von einem uralten Methusalem geführt, der schon bis auf die Schwanzflossen wieder ganz weiß geworden war.

»Auf einem sechzig Fuß hohen Berge lagert sich«, deklamierte Maltitz, mit der Hand nach oben weisend, den breiten Stufenweg hinan, der ganz belebt war von Menschen (die Frauen mit großen, türkischen Umschlagetüchern sahen wie wandelnde Tulpen aus), »auf einem sechzig Fuß hohen Berge lagert sich das berühmte Schloß Sanssouci, bescheiden und anmutig hingegossen. Und die Terrassen, seufzend unter der Last uralter Orangenbäume, laden uns ein zum Hinaufsteigen von achtundsiebzig Stufen.«

»Nachdem wir nun«, griff Heinrich ein – denn der »Führer durch Potsdam und Sanssouci«, mehrsprachig, war eine vielbelachte Spezialität von ihnen –, »nachdem wir nun das Innere des Schlosses, vorzüglich aber das Schlafkabinett der hochsäligen Majestät durch den wohlwollenden Sinn des zeitigen Kastellans, Herrn Holzbecher, in heiliger Ruhe in Augenschein genommen haben, beträten wir nunmehr das Freie.«

»Prachtvoll ist der Blumenschmuck«, hub wieder Maltitz an, »der uns überall gut geordnet und sinnig entgegenlächelt und den Reiz bis zu der auf der kleinen Blumenterrasse wie hingehauchten Veranda steigert.«

Frau Antonie lachte, daß ihr die Tränen kamen. Eigentlich war sie doch froh, so ihre Menschen hier zu finden.

»Wollen Sie mit uns ins Schloß gehen, Frau Antonie?« fragte Heinrich. »Sie sparen den Führer. Wir können Ihnen alles erklären.«

»Ich bin gegen Malachittische; nicht immer, aber heute. Es ist draußen zu schön. Und nun – wie steht es doch in unserem Lieblingsstück, Heinrich? Und nun noch eine Bitte: Nenn mich ›du‹!«

Heinrich streckte ihr wortlos die Hand herüber, und Frau Antonie schlug ein und ließ ihm die ihrige. Gott, waren das süße, kleine Finger!

»Aber Sie haben schon wieder die Rollen vertauscht, meine Königin. Das mußte er doch sagen!« rief Maltitz. »Nun ja, Sie haben recht; Sie haben ja noch so viel Zeit, sich einzuspielen.«

Heinrich und Frau Antonie schwiegen. Maltitz fühlte, daß er ungeschickt gewesen war. Aber er verstand es, eine Pause nicht allzulang und peinlich werden zu lassen. Drüben harkten ein paar alte Frauen das letzte vorjährige Laub zusammen.

»Wie die Blätter im Wald, so sind die Geschlechter der Menschen«, sprach er langsam und die Worte suchend. »Blätter verweht zur Erde der Wind, und andere treibt dann wieder der knospende Wald ...

σάλπιγε, σαλπίγξ »Wie die Blätter im Wald...« – die von Maltitz zunächst deutsch vorgetragenen, dann von ihm griechisch begonnenen und von Antonie fortgesetzten Verszeilen stehen in der »Ilias« des Homer (VI, 146/47)

»Ich gäbe ihm die Fönf – römisch Fönf unter dem Datum des heutigen Tages«, rief Heinrich, Friedrich Wilhelm Schneider kopierend, und tat, als ob er nach einem Notizbuch suche.

»χαμάδις χέει άλλα δέ φυλη«, flüsterte Frau Antonie ganz leise, die an einen grünen Kübel eines Orangenbäumchens getreten war und eine kleine, abgefallene mattgelbe Kugel zwischen den Fingern drehte. »Nein« – und jetzt war die Maske ganz von ihrem Gesicht genommen –, »falsch! Ich habe das Bild nie sehr glücklich gefunden. Wie solch ein Orangenbaum hier sind die Geschlechter der Menschen, an dem Blüten und Früchte zugleich sind, Knospen und welke Blätter zugleich sind und unter dem stets abgefallene Blumenkronen, abgefallene Früchte, unreife, halbreife, reife und überreife verkommen und verfaulen.«

Maltitz war peinlich berührt. Es war ihm plötzlich, als ob diese kleine, süße Frau da, die einzige in der Welt, die es nicht durfte, seine ganze Wurzellosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Haltlosigkeit erkannt hätte – durch all die Mäntel von Manieren, Bildung, Stellung, Aussichten hindurch, die er ihnen umgehangen hatte und die er so gut zu drapieren wußte.

Heinrich umspannte mit einem Gedanken im Augenblick ihr ganzes Schicksal, das er so lange vergessen hatte. Gott, das war ja die Frau seines Vaters – dieser kleine, goldschillernde Wundervogel! Er hatte einmal gelesen, daß man nicht mit Vogeldunst auf sie schießt, sondern daß Sandkörner genügen, sie von den Blumen fort in ihr eigenes Blut zu reißen. –

Aber war das da drüben nicht ...? Natürlich, wenn man vom Wolf spricht ...

»Sieh mal, Roderich, da drüben: ›Noll Fähler – keiner! Vergäblich späht mein Auge, ob jämand einen Fähler hat, auch von zwei Fählern habe ich nichts vernommen. Erst drei Fähler hat disser ...‹«

»Karl von Maltitz«, schloß Maltitz.

»Pah – traun fürwahr, natürlich disser, disser Heinrich Schön!«

Frau Antonie wollte lachen, unterdrückte aber diese Regung, als im gleichen Augenblick Maltitz und Heinrich die Hüte zogen und wenige Schritte vor ihnen ein mächtiger Koloß haltmachte, sich auf seinen Stock stützend wie ein Wappenriese auf seine Keule. Er war ganz wie gestern abend gekleidet, mit Nankinghosen, in grünlich schimmerndem, langem Gehrock – nur daß ein zweifellos neuer, steifer Hut von der Form und Farbe eines mißglückten Räucherkerzchens auf seinem Scheitel thronte.

»Gott zum Gruß«, rief Maltitz mit ziemlich deutlicher Parodie und streckte Friedrich Wilhelm Schneider deutsch und bieder die Rechte entgegen. »Darf ich mich erkundigen, wie Sie gestern nach Hause gefunden haben?«

Heinrich klopfte doch das Herz, wenn er auch glaubte, sich auf das Gedächtnis Friedrich Wilhelm Schneiders verlassen zu können.

»Äch?« sagte der erstaunt ob dieser plötzlichen Fürsorge, »benissime, sehr gut, meine jongen Freunde – oder vielmehr nicht sehr gut. Indem in der letzten Zeit meine Gesondheit in bedauerlicher Weise bergab gäht.«

»Oh«, riefen Heinrich und Maltitz halb belustigt, »aber Herr Professor!«

Antonie stand etwas abseits, und sie war die einzige von den dreien, die fühlte, daß das keine leeren Worte waren, vielmehr das schwere Bekenntnis eines Mannes, der mit klaren Augen in einen Abgrund sieht.

Heinrich stellte vor: Frau Schön, die junge Frau seines Vaters.

»Oh«, sagte Professor Schneider, »ich kenne Ihren Herrn Gemahl schon über fünfunddreißig Jahre. Ihr neuer Härr Sohn war mir stäts ein lieber Schüler und ist mir bis zum heutigen Tage ein goter und anhänglicher Freund geblieben.«

Ein Herr ging vorüber und grüßte erfreut und höflich. Man sah, der Gruß galt Professor Friedrich Schneider. Aber während Heinrich und Maltitz sich beeilten, wiederzugrüßen, stand der starr und steif und regte sich nicht.

»Herr Professor, das war doch Hugenel, ein früherer Schüler von Ihnen ...?«

»Dieser Hugenel – natürlich, das weiß ich!« sagte Professor Schneider. »Sähen Sie, wenn diese jongen Leute aus der Schole herauskommen, dann größen sie mich zuerst noch. Aber nach geraumer Zeit fällt ihnen ein, daß wir doch eigentlich in Feindschaft miteinander geläbt haben. Und dann größen sie mich nicht mähr. Das ist menschlich zu verstähen, aber es ist eine Gemeinheit. Später, wenn sie älter werden, dann erännern sie sich, daß sie doch einen Teil ihrer Bildung mir verdanken. Und dann größen sie mich wieder. Aber dann größe äch nicht.«

Maltitz notierte im Gedächtnis Wort für Wort dieser Rede. Das war ja eine wundervolle Bereicherung seines Programms.

»Ich habe auch öfter von Ihnen gehört«, begann Frau Antonie, »durch meinen alten Lehrer, Professor Bellermann vom Grauen Kloster. Er war so freundlich, sich meiner anzunehmen.«

Friedrich Wilhelm Schneider pflanzte sich in seiner ganzen Größe vor Frau Antonie auf und streckte beide Arme breit wie Mühlenflügel von sich. »Sind Sö etwa disses Fräulein Arnthal, -heim, -berg, -feld oder wie Sie sonst heißen mögen?« rief er mit freudigem Staunen; er wurde im Augenblick zehn Jahre jünger.

»Arnstein – das war ich einmal früher«, sagte Frau Antonie mit einem Lächeln, das ernster als ernst, »das ist sehr lange her.«

»Wissen Sie auch, Heinrich Schön«, meinte Professor Schneider mit einem Pathos, das zum ersten Mal Maltitz nicht komisch vorkam, »wissen Sö, daß disses Fräulein Arnstein, wie mir mein Berliner Kolläge, Professor Böllermann, selbst versicherte, der begabteste Schüler war, den er jö gehabt hat? Er hat mir oft gesagt, daß es eine Freude statt einer Qual wäre, die Jongen in das Studium der alten Sprachen einzuföhren, wenn sie nor solche Fortschritte machen wörden, wie er sie bei seiner Schülerin gesähen hätte.«

»Oh«, rief Maltitz, »erst hatte ich nur Respekt vor Ihnen, jetzt habe ich Angst. Man darf ja bei Ihnen nicht mal einen falschen Aorist sagen.«

»Ach Gott«, verteidigte sich Frau Antonie, »es ist ja nicht der Rede wert, was ich gelernt habe; aber interessiert hat es mich schon. Ich hätte es nicht aufgeben sollen – schade!«

Sie waren am Rand der Fontäne stehengeblieben. Die andern hatten sich gesammelt. Herr Rat, Frau Rat und Eduard Schön waren langsam nachgekommen. Auch Hannchen und Winterfeldt, die im Gespräch ein Stück vorangegangen waren, waren umgekehrt und zurückgekommen, um die andern zu suchen.

Geheimrat von Mühlensiefen war Professor Schneider nicht sonderlich grün, hielt ihn für einen Schwachkopf, für eine Schmach des Potsdamer Gymnasiums, denn ihm schob er es zu, daß sein einziger Sohn Friedrich Karl zweimal vergeblich gegen die geschlossenen Tore von Untertertia angerannt war und nun, statt wie er als Aktenmensch und Chef einer Abteilung einmal zu enden, in Striegau auf einem Kasernenhof Bauernjungen mit viel Gebrüll über die Unterschiede zwischen einem Gewehr und einer Heugabel belehren mußte. Immerhin war Professor Schneider hieran ziemlich schuldlos, und sein Name tat wirklich nichts zur Sache, sondern es war vielmehr das Zusammentreffen eines Hirnkastens und der alten Sprachen gewesen, das ganz unabhängig von jedem Dritten diese Komplikation, diese schwierigen Verwicklungen heraufbeschwören mußte. Eduard Schön hingegen sah in Professor Friedrich Wilhelm Schneider – ebenso zu Unrecht – einen vielleicht schrullenhaften, aber bedeutenden Gelehrten und verdienstvollen Jugenderzieher, weil sein Sohn glatt und ohne Mühen alle Hindernisse genommen hatte, die eine fürsorgliche Regierung denen systematisch in den Weg zu legen beliebt, deren Eltern sich etwas von dem Geschäft versprechen, daß ihre Söhne einmal Schriftsätze schreiben, Kranke beklopfen, dem Unglauben steuern, das Gesetz der Schwerkraft anzweifeln oder sonst etwas tun, das eigentlich mit ένεναυμαχοχρατήχεσαν Phantasiewort: Siehattenineinerseeschlachtgesiegt nicht das geringste zu schaffen hat.

Man begrüßte sich, stellte vor, sprach miteinander, und Professor Schneider versäumte nicht, noch einmal das Loblied der Frau Antonie zu singen, die seinem Freunde Bellermann »eine mehr als liebe Schülerin ...« – eine Tatsache, die in ihrem Mißfallen gegen Antonie die Frau Geheimrat nur noch bestärkte, die so etwas wie Griechisch im höchsten Grade unweiblich fand, noch schlimmer als Schlittschuhlaufen.

Maltitz und Heinrich waren einen Schritt zur Seite getreten.

»Ich vergaß, dir zu gratulieren«, sagte Maltitz.

»Ach ja, richtig«, bemerkte Heinrich mit jenem Spott, der halb ernst ist. »Ich erinnere mich deutlich, ich hatte doch bis heute nachmittag eine Braut – wirklich, da steht sie ja. Und wir werden uns heiraten. Ich danke dir.«

»Lieber Junge«, meinte Maltitz leichthin, »es ist jetzt Frühling, und in sechs Monaten wird Herbst sein. Zu Naturereignissen pflege ich nicht zu gratulieren. Aber zu dieser kleinen Frau da, die dein Vater ins Haus geführt hat, muß ich dir Glück wünschen. Dir, nicht etwa deinem Alten Herrn – ohne ihm damit zu nahe treten zu wollen. Darum beneide ich dich, solch einem Wesen immer nahe sein zu können. Daß es so etwas überhaupt gibt, ist eine sehr sympathische Tatsache.« Maltitz sah dem Gesicht Heinrich Schöns an, daß er seinen Worten einen falschen Sinn unterlegte. »Nein«, sagte er, »du verstehst mich nicht. Weißt du, wenn man zu einer großen Perlmuttermuschel – und das ist vielleicht das Preziöseste, was es auf der Welt gibt – eine Seele ersinnen möchte, so müßte es ...«

Er schwieg, brach mitten im Satz ab, denn Frau Antonie war, da drüben das Gespräch um lokale Dinge und Menschen sich zu drehen begann, die sie nicht kannte, wieder zu ihnen getreten.

»Professor Schneider«, flüsterte sie, »war mal eine große Hoffnung. Aber er ist dann – wohl durch die Schule oder durch sonst irgend etwas – sehr wunderlich geworden und hat nie etwas geleistet.«

»Ja«, sagte Maltitz, »ich weiß nicht, ob Sie schon mal dahintergekommen sind, meine Gnädige: Es gibt intelligente Menschen, die sehr dumm sind, und dumme Menschen, die sehr intelligent sind. Zu den ersten gehört Professor Schneider, zu den letzten der Rat von Mühlensiefen. Aber Schneider hat wenigstens einen nicht zu unterschätzenden Vorzug: Es ist ein Vergnügen, mit ihm in eine Weinstube zu gehen; man wird so gut bedient, denn kein Mensch wird bekanntlich von einem Markör so höflich behandelt wie ein Mann mit einer roten Nase.«

Heinrich und Frau Antonie kamen nicht dazu, mit Lachen zu quittieren, denn Professor Schneider verabschiedete sich: Nein, er danke, er käme nicht mit. Er ginge noch bis zum Neuen Palais diesen Weg hinunter – das täte er Sommer wie Winter zweimal täglich, seit zehn Jahren, »om Sonnenontergang«.

Und damit machte er kehrt, zog ein blaues Taschentuch, mächtig wie ein Sonnensegel, schneuzte sich – sogar das Geplätscher der Fontäne übertönend (Lehrer und Pastoren sind Künstler auf dem Gebiet des Naseschnaubens) – und schritt breitschultrig, schwerfällig, pustend, wiegenden Ganges von hinnen.

Von Winterfeldt kam auch heran, schüttelte Heinrich die Hand – er hätte noch Dienst, müsse Kasernenwache revidieren, die stecke immer mit Kerlen, die übern Urlaub streichen, unter einer Decke. Er hätte reizend mit Fräulein Hannchen geplaudert, und es wäre ein schöner Spaziergang gewesen.

»Ach, Herr Leutnant von Winterfeldt«, warf Frau Rätin honigsüß dazwischen, »vielleicht machen Sie uns einmal das Vergnügen, wir werden uns alle sehr freuen.«

Der Rat knarrte gleichfalls etwas Freundliches.

»Vielleicht kommen Sie wirklich mal zu uns«, unterstrich Hannchen mit lieblichem Augenaufschlag. Sie war sehr unglücklich. Innerlich weinte sie fast. Sie fühlte, daß sie Heinrich um jeden Preis eifersüchtig machen mußte. Ihr Empfinden sah viel weiter als alle ihre Gedanken. Von dem Augenblick an, da sie wieder mit Frau Antonie zusammengekommen waren, war sie ja für Heinrich kaum vorhanden gewesen. Und doch, so schwer, wie sich Hannchen von Mühlensiefen das jetzt einreden wollte, war ihr das ja nun wirklich nicht gefallen. Denn dieser Leutnant von Winterfeldt war ja ein netter, bescheidener Mensch – ein armer, aussichtsloser Teufel vielleicht, der sicher nicht in Potsdam stehen würde, sondern irgendwo bei Memel, wenn er nicht den Namen Winterfeldt trüge; aber einer von ihrer Art, mit dem man reden konnte, was man wollte, und der nicht immer mit einem spielte wie die Katze mit der Maus.

Heinrich blieb schweigend zurück, als die andern weiter wollten, und starrte in das durchglühte Rot der Fontäne, die immer noch vor der grünen Wand der Bäume emporschnellte und über sie hinaus gegen den schon abendlich geröteten Himmel stieg. Er hatte die Absichtlichkeit gespürt, mit der man den jungen Winterfeldt eben aufgefordert hatte. Und ein dumpfes Gefühl des Mißbehagens summte und schwang in ihm.

»So ernst, mein Freund? Ich kenne dich nicht mehr«, flüsterte Frau Antonie, während sie zu ihrem Mann wieder hinüberging und seinen Arm nahm.

Eduard Schön sah sie lächelnd an. »Es freut mich, daß du doch wieder zu mir zurückgefunden hast.« Was sollte er denn sagen? Eigentlich waren es doch junge Menschen, die zusammengehörten.

Hannchen kehrte nach wenigen Schritten um, als ob sie sich sehr wundere, warum Heinrich stehengeblieben, hing sich an seinen Arm und zog ihn fort.

»Ermannen Sie sich, edler Prinz«, tuschelte Maltitz, der mit einem Blick die Lage übersehen hatte, während er sich zu Mühlensiefen schlug und mit dem Geheimrat ein eingehendes Gespräch über die Personalverschiebungen der letzten Jahre begann. Was für ein kurzlebiges Geschöpf so ein Minister, Rat oder Abteilungschef doch jetzt war! Früher war das eine lebenslängliche Sinekure gewesen, der man sich nicht entziehen konnte; beinahe wie eine Zuchthausstrafe ...

»Nun«, begann Heinrich, bitterer als er es beabsichtigt hatte, »hast du dich gut unterhalten, mein Kind?«

Hannchen schluckte. »Was soll ich denn tun? Du hast dich doch den ganzen Nachmittag nicht um mich gekümmert, Heinrich. Nicht ein einziges Mal hast du nach mir gesehen, nicht ein Wort hast du mit mir geredet. Du bist nur um diese ...«, Hannchen wollte »Person« sagen, aber sie dachte an den Vormittag, »nur um die da bist du herumgewesen.«

»Ja«, meinte Heinrich unwirsch, »ich bin doch kein Schnelläufer, ihr seid doch nicht bei uns geblieben. Ich kann dir doch nicht wie einem Jagdhund pfeifen.«

Das war wenig freundlich. Heinrich spürte das selbst. Aber er war tief verstimmt, und nicht mal die Nähe dieses großen blonden Kindes, die sonst all sein Denken und all seine Urteilskraft entschlummern ließ, beruhigte ihn. Er ging neben ihr im Augenblick wie neben einem ganz fremden Menschen, dessen Berührung nur lästig ist. Es war doch zu dumm und kleinlich, daß der Tag so schließen sollte!

Hannchen von Mühlensiefen hätte am liebsten geweint, aber sie schämte sich in Gegenwart der andern. Und dann gingen auch so viel Leute vorbei, und sicher auch welche, die sie kannten. »Aber Heinrich«, begann sie rührselig, »wenn ich nun das sagen würde, wenn ich nun eifersüchtig sein wollte? Ich hätte doch auch gewiß Grund dazu.«

»Halten Sie das, wie Sie wollen, Herzogin«, rief Heinrich Schön pathetisch. Eigentlich wollte er ganz etwas anderes sagen, aber das entfuhr ihm so, und es stimmte ihn im Augenblick wieder froher. Es war doch auch zu lächerlich! Um nichts und wieder nichts! Wenn sie nun wirklich mit jemand anderm sprach ... Und konnte er es denn verbieten, daß da ein Fremder ins Haus kam? Nun ja, er kannte seine werte Frau Schwiegermutter in spe doch eigentlich – und erst recht ihn. Die taten nichts ohne Absicht.

Hannchen fühlte – sie wußte selbst nicht, woran, vielleicht an einer Bewegung von Heinrich, an einem Druck an ihrem Arm –, daß sie Oberwasser bekam. In unbewußt napoleonischer Taktik warf sie sofort ihre ganzen Truppen gegen den Punkt des schwächsten Widerstandes.

Sie fing an, nach Frauenart, wortreich von Dingen zu reden, die nie zur Diskussion gestanden hatten, und Heinrich eine Unsumme von Sünden und Unterlassungssünden vorzuwerfen, deren er sich nie bewußt war und von denen manche »sechs Wochen und länger« zurücklagen, während er andere »erst neulich« begangen haben sollte. Damals hätte sie nichts gesagt, aber sie hätte keineswegs darüber vergessen, daß er »immer so wäre«. Auch wäre er zu ihrer liebsten Freundin, Melanie von Myaskowski, früher einmal (das wäre schon länger her!) derart freundlich gewesen, daß sie schon eine ganze Nacht geweint und mit sich gekämpft hätte, ob sie nicht zu Melanies Gunsten zurücktreten solle.

Man hätte Heinrich Schön totschlagen können, er hätte nicht zu sagen gewußt, ob Melanie von Myaskowski jung oder alt, blond oder braun war. Er erinnerte sich nicht einmal ihres Namens. Jetzt hatte er seine Laune ganz wieder. Er blieb stehen, packte Hannchen von Mühlensiefen an beiden Händen und zog sie vergnügt hin und her.

»Mädchen, kannst du ewig hassen?
Verzeiht gekränkte Liebe nie?«

rief er lachend.

Hannchen war freudig erstaunt, daß sie ihr Bräutigam in einer so überraschend blumenreichen Sprache apostrophierte, die sie von ihm bis dato nur selten vernommen hatte und die selbst die Metaphern der »Jungfrau auf dem roten Felsen« weit hinter sich ließ.

»Hannchen, vergiß dich nicht!« rief die Frau Rätin, die sich gerade, ihrer Mutterpflicht bewußt, umgewandt hatte. »Du bist hier weder allein noch fremd.« Das war eine Spitze gegen Frau Antonie.

»Heinrich«, sagte Maltitz mit nasalem Beiklang und senkte ganz langsam die Augenlider, »bitte, benimm dich.«

Selbst der Geheimrat mußte lachen. »Aber Aurelie, so laß doch die Kinder!«

Man schloß sich wieder zusammen, kam näher zueinander, wechselte Begleitung und Unterhaltung.

Die Sonne war schon niedergegangen, irgendwo, ganz hinten in einer leichten Dunstschicht verschwunden. Der Himmel hatte ein schnelles rotes und gelbes Feuerwerk verbrannt, um dann nur eine einzige grüne, sich selbst verzehrende Flamme zu bleiben.

Auf der anderen Seite, zwischen Bäumen, rückte ganz langsam der Mond empor, groß, unnatürlich, rot und verweint, wie eine zweite Sonne, eine Sonne, die plötzlich Trauer bekommen.

Sie traten aus dem Park heraus, ließen Duft und Dunkel und feuchte Wärme und blühende Büsche, die im Dämmer doppelt leuchteten, hinter sich. Drüben lagen die Straßen – lang, gerade, sehr still. Hie und da kräuselte Rauch empor. Und die ersten großen Schwalben, die Mauersegler schossen schreiend durch das lichte Grün des Abendhimmels über die roten Dächer hin, wahnsinnig hastend, immer zu dreien und vieren, wie Fische, die sich jagen, dahinschießend, wendend, emporgleitend, zu Punkten schwindend, niederstürzend, Ecken und Bogen schlagend – ein toller Tanz um die Vasen und Figuren auf den Dachfirsten und den Gesimsen, als ob jede Sekunde vor der Dunkelheit noch tausendfach durchkostet, durchjagt, durchjubelt werden müßte.

Eine geschlossene Hofequipage kam in scharfem Trab ihnen entgegen. Schöne Gäule, grau, glatt, braun; gut der Hufschlag eingespielt. Oben Kutscher und Diener, gerade wie Kerzen.

Maltitz und der Geheimrat nahmen Aufstellung, zogen tief die Zylinder. Frau Rätin und Hannchen machten am Rande des Rinnsteins Hofknickse, was für die Frau Rätin, die ein wenig viel Lebendgewicht in die Kniebeuge und wieder in die Höhe bringen mußte, nicht gar leicht war. Ob was dankte, ob niemand dankte, konnte man nicht genau erkennen.

»Wer war denn das?« meinte Frau Antonie sehr interessiert.

Frau Aurelie strahlte. »Genau habe ich es zwar nicht sehen können, aber wenn ich nicht irre, war das unsere Elisabeth.«

»Aber Mama«, rief Hannchen, »keine Ahnung! Ich habe es deutlich gesehen. Das kann nur Prinz Karl gewesen sein!«

»Du bist auf falscher Fährte, mein Kind«, verwies der Rat, »ich habe es am Kutscher sofort erkannt, es war Ihre Hoheit Prinzeß Auguste.«

Nur Maltitz sagte gar nichts.

»Ob ich mich da je durchfinden werde?« meinte Frau Antonie seufzend, und man merkte dem Ton an, daß da noch etwas dahintersteckte. Denn ihre Luchsaugen hatten ja mit innigem Vergnügen gleich festgestellt, daß der Wagen leer, leer, ganz leer war, und sie genoß nun schwelgerisch die Situation.

»Ja, verehrte Frau Schön, wir sind hier eben in Potsdam und nicht in dem Sündenbabel Berlin. Und wir können darauf stolz tun«, Maltitz verfiel in den Ton des Fremdenführers, »daß in unserer Vaterstadt Prinzen geboren wurden, von denen das ganze Wohl und die Glückseligkeit preußischer Lande abhängen wird. Auch Prinzessinnen, die das Vergnügen anderer Völker werden sollen.«

»Maltitz, Sie sind équivoque«, meinte Frau Antonie.

»Gnädige Frau, die ganze Welt ist ein Fandango, und wer nicht mittanzt, ist ein Narr, heißt es in Andalusien. Und dann – ich zitiere ja nur einen leibhaftigen Pastor, dessen anima Candida sicher alles andere als équivoque genannt werden muß.«

»Siehst du«, sagte Heinrich zu Frau Antonie – er wollte das Thema wechseln, um eine kleine Mißstimmung, die leicht vorübergezogen war, nicht durch eine Pause bedeutungsvoll zu machen –, »siehst du, hier bei Sommergut lassen wir auch arbeiten. Er hat nicht viel Webstühle, aber gute alte, eingefuchste Leute, und es ist Verlaß auf ihn.«

Eduard Schön sah erstaunt herüber. Heute vormittag hatten sie doch noch »Sie« zueinander gesagt. Jedenfalls – es war sehr recht, daß sie zwanglos das aufgegeben hatten.

»Ach«, rief Frau Antonie, als ob sie sich auf eine fern zurückliegende Sache besänne, »hat hier bei dem Sommergut nicht mal die Frau von dem Eisenbahn-Jacobi gewohnt, die erste Frau, die geschieden werden sollte und dann so seltsam plötzlich endete? Man hat nie was Näheres darüber erfahren können.«

»Ob die hier gewohnt hat?« rief Maltitz. »O ja, das nehme ich auf meinen Eid. Wer die mal gesehen hat, der vergißt es nicht mehr. Die ganzen Kollegen von der Regierung haben plötzlich ihren Weg durch die Schockstraße nehmen müssen.«

»Der Onkel – weißt du, Vater, der, der die Wagen hat –, der soll nicht besonders stehen, die Zeiten ändern sich eben. Er soll im letzten Jahr sogar von seinem Bruder gestützt worden sein«, meinte Heinrich.

»So ...«, versetzte Eduard Schön recht langgezogen. »Das wundert mich aber. Denn Salomon Gebert & Co. ist doch Konkurrenz von uns. Und ich weiß es aus bester Quelle: Das ist da heute auch nicht mehr das, was es früher war. Sehr zurückgegangen, mein Sohn!«

»Na«, meinte Frau Antonie, »von jetzt an wird Ferdinand Gebert ja seinen Bruder Salomon nicht mehr brauchen. Denn letzten Donnerstag hat doch seine Tochter sich mit dem Eisenbahn-Jacobi verheiratet – ganz Berlin hat von der Hochzeit gesprochen. Meine Mutter hat es mir geschrieben. Ich glaube, Jenny heißt sie, sehr jung noch, aber soll sehr schön sein. Natürlich nicht so wie die erste Frau!«

»So, mit dem Eisenbahn-Jacobi?« meinte Eduard Schön und schnalzte mit der Zunge. »Das ist 'n Wort. Der soll ein mächtiges Vermögen geschafft haben. Das heißt: Hat er's denn? Wenn wir Geld haben, dann haben wir's. Wenn aber solche modernen Industrieritter Geld haben, weiß man nie, ob sie's auch haben oder ob's nur auf dem Papier steht. Jedenfalls hat er ein paar ganz große Schläge an der Berliner Börse gemacht und in Paris auch in belgischen Bahnen. Das weiß ich aus erster Hand! Das steht fest!«

»Ja, ja«, meckerte der Geheimrat, »der Eisenbahnaktienschwindel hat einen höchst bedrohlichen Charakter angenommen, und wir können das neue Börsengesetz nur als eine Segnung ...«

»Nehmen Sie's mir nicht übel, Herr Rat«, unterbrach Maltitz, »Savigny und Thiele und Eichhorn mögen vorzügliche Juristen sein, aber vom Wesen und den Entwicklungsmöglichkeiten der Börse verstehen sie gar nichts. Was sie machen wollen, bringt uns meines Erachtens wieder um Jahrzehnte zurück und trägt nur weiter neuen Zündstoff hinzu.«

Der Geheimrat zog sich ganz in seinen Rockkragen zurück wie eine Schildkröte, die mit der Nase an einen Rohrstengel stößt. Zu seiner Zeit hätte ein junger Beamter eine solche Sprache nie geführt.

»Ich kannte ja eigentlich«, meinte Frau Antonie, »näher nur den, der hinkt, den Junggesellen, Herrn Jason Gebert aus der Klosterstraße. Ich war damals noch ein halbes Kind. Aber er war immer sehr freundlich zu mir. Er hat eigentlich, wenn ich so sagen darf, meine allerersten Gehversuche als Mensch überwacht. Er kam öfters zu uns. Ich habe viel von ihm gehabt. Er hatte die schönste Bibliothek, die ich je gesehen – nicht die größte, Heinrich, die klügste. Aber in den letzten vier, fünf Jahren ist er vollkommen, aber auch vollkommen Sonderling geworden, läßt keinen Menschen zu sich, auch kaum seine Brüder, und soll Sommer und Winter nicht vor die Tür gehen. Es muß doch da irgend etwas ganz Ungewöhnliches ...«

»Gott erhalte dir deine Unschuld noch recht lange Zeit«, rief Eduard Schön lächelnd und nachsichtig. »Wenn Harry Heine sagte: ›betend, daß Gott dich erhalte, so schön, so rein, so hold‹, hat er sicher an dich gedacht.« (Bei der Nennung Harry Heines beschleunigte Frau Rat, die Hannchen nach dem Hofknicks untergefaßt hatte, das Tempo, um ihre Tochter vor Schaden zu bewahren.) »Aber eins muß ich doch sagen, wenn ich dein Vater wäre, ich hätte einen solchen Umgang nicht geduldet. Nicht wahr? Jason Gebert war wirklich und wahrhaftig nicht das Geeignete für junge Mädchen.«

»Das zu entscheiden, lieber Freund, mußt du schon mir überlassen«, meinte Frau Antonie sehr kühl. »Ich hätte ihn nicht erwähnt, wenn er das nicht gewesen wäre. Aber du hast ganz recht, Eduard, ich hätte vielleicht nicht darüber sprechen sollen. Es gibt Sachen, die man in seinen Schrank schließen soll, damit sie nicht von fremden Händen beschädigt werden.«

Herr und Frau Rat wechselten wieder einen ihrer verständnisvollen Blicke, an denen ja eine ältere Ehe so reich zu sein pflegt, als Zeichen jener äußeren Übereinstimmung, die an Stelle der inneren gesetzt wird. Eine solche Antwort hätte noch heute Frau Rätin ihrem Gatten gegenüber nicht gewagt.

Es gab einen Mißklang – zweifellos. Man ging einen Augenblick ein wenig stiller als vorher. Die Dämmerung war stärker geworden, und der Mond gab noch kein Licht. Die Straßen verschwammen – es war die Zeit, wo man auf zwanzig Schritt keinen Hund von einem Wolf unterscheiden kann, wie es in der Bibel heißt.

»Man könnte etwas schneller gehen, es wird kühl«, meinte Eduard Schön.

»Ja, höre mal, liebe Aurelie«, sagte der Geheimrat, »wenn ihr langsamer gehen wollt – in Gottes Namen, aber mich müßt ihr entschuldigen, mich drängt es, wieder an mein Schreibpult zu kommen. Ich bin nicht mehr jung genug, um Zeit zu verlieren. Ich bin nämlich in meinen ›Erinnerungen‹«, wandte er sich an Maltitz, als ob er der einzige wäre, der das zu würdigen verstände, »gerade bei dem Notenwechsel, der der Konstituierung des badischen Landtags vorausgegangen ist, den ich wohl nicht mit Unrecht als einen Schandfleck Deutschlands bezeichnet habe.«

»Nun«, unterbrach Frau Aurelie, »Heinrich, willst du ...«, Heinrich hatte das Gefühl von etwas Naßkaltem, als er dieses plötzliche, unangekündigte »du« hörte – er zuckte zusammen, als ob er auf eine Wegschnecke getreten wäre –, »willst du mit dem schlichten Mahl vorliebnehmen, das wir dir bieten?«

»Nein, ich fürchte, es wird schlecht angehen«, warf Eduard Schön ein, »der Junge ist mir schon heute früh durchgebrannt, und jetzt muß ich mit ihm noch ein paar sehr eilige Aufträge besprechen, die ich nicht gern, ohne seine Meinung zu hören, perfektionieren möchte. Es ist allerhöchste Zeit, wenn wir nicht nachhinken wollen. Wir müßten das eigentlich schon seit vierzehn Tagen vergeben haben.«

Hannchen war unzufrieden und schmollte. Denn erstens wäre sie wirklich noch gern mit Heinrich zusammengeblieben, um ihn mal wieder für sich allein zu haben, und zweitens war ihr, wie sie jetzt mit ihrer Mutter ging, manches eingefallen, das sie vorhin bei der Generalabrechung vergessen hatte und das sie heute abend, ehe es ihr wieder verlorenging, noch nachholen wollte.

Aber Eduard Schön sagte mit mehr Launigkeit, als man ihm zugemutet hätte, daß Hannchen ja jetzt bald ganz Halsrechte über seinen Sohn bekäme; heute jedoch möchte sie Gnade vor Recht ergehen lassen und ihn nur ihm anvertrauen – er würde gut auf ihn achtgeben, daß er keine Dummheiten mache. Aber wenn sie erst seine Frau wäre und dadurch vielleicht etwas Einsicht in die Geschäfte gewänne, so würde sie selbst bald sehen, was bei der heutigen Lage der Fabrikation ein Tag oft bedeuten könne. Das wäre nicht mehr so wie vor zehn Jahren – die Moden jagten sich jetzt, und man müßte die Steeplechase mitmachen, wenn man nicht aus dem Feld geschlagen werden wollte.

Hannchen hörte kaum hin. Geschäft war Männersache.

Dem Geheimrat von Mühlensiefen aber gab das einen Stich: er fühlte sich plötzlich schwer deklassiert. Ja, wenn der Herr von Maltitz nicht dabeigewesen wäre – aber in Gegenwart Dritter! Er war doch sehr unfein und bürgerlich. Ein Mensch von Erziehung spricht nicht vom Geschäft. Das ist die Folge, wenn man sich mit so etwas einlassen muß.

»Nun, werter Herr Schön senior«, sagte er mit frostiger Freundlichkeit – jedes Wort eine verzuckerte Pille –, »nun, werter Herr Schön, ich sehe, wir dürfen Sie nicht länger aufhalten. Die Pflicht ruft.«

Auch die Frau Rätin grüßte herüber – sehr von fern. Jetzt hatte sie sich selbst wiedergefunden. »Ja«, meinte sie, »es ist wohl für dich näher, Wilhelm, wenn wir durch die Lindenstraße gehen. Du bist dann früher wieder an deinem Pult.« Man verabschiedete sich, eigentlich mit mehr Förmlichkeit und weit geringerer Freundlichkeit, als man sich heute vormittag begrüßt hatte – keineswegs wie zwei Familien, die bald eng verbunden sein sollten –, und nur der Umstand, daß man die Gesichter seines Gegenübers nicht mehr genau im Halblicht, im Schummer erkennen konnte, rettete wenigstens äußerlich die Situation.

»Also, mein Liebling, sei nicht böse«, meinte Heinrich weich und freundlich, »dann auf morgen.« Was sollte er groß sagen. Sein Vater hatte recht. Es war auch sehr eilig und wichtig, das wußte keiner so gut wie er.

Er hätte ja zu gern Hannchen noch einmal geküßt, aber es war ihm peinlich so vor versammelter Mannschaft. Er glaubte schon vorher die vielsagenden Falten in Maltitz' Gesicht zu sehen. Und Hannchen hätte ebenso zu gern noch einmal an Heinrichs Halse gehangen – denn wozu ist man eigentlich verlobt? Aber da er nichts dergleichen tat, das ihr ihre Absicht erleichtern konnte, so schieden sie weit kühler voneinander, als sie es wollten und als sie es je bisher getan hatten. Und ehe sie sich versahen, ging schon der einer hier entlang und der andere da. Aber als Heinrich sich noch einmal umblickte, in der Hoffnung, noch einen Gruß zu erhaschen – er wäre zurückgelaufen! –, da konnte er in der Dämmerung schon nicht mehr unterscheiden, wer nun seine Braut und wer Frau Aurelie von Mühlensiefen geborene von Grävenitz war.

Eduard Schön aber war verknurrt: Man verlangt gewiß keinen großen Dank, aber ein Wort wäre immerhin nicht zuviel gewesen. Die andern waren doch den ganzen Tag seine Gäste ...

Sie bogen in die Nauener Straße ein. Eduard Schön und Frau Antonie, Maltitz und Heinrich. In zwei Paaren, eng aufeinander folgend, so daß jeder am Gespräch der anderen teilhaben konnte. Der Mond war langsam höher gerückt; man hatte die Laternen angezündet, und sie leuchteten hie und da unruhig in der Dämmerung wie einsame Leuchtkäfer über einer betauten Wiese. Hinten stand schon die Baumwand des Kanals. Riesige schwimmende Flächen gegen einen hellen Himmel mit wenigen grünen Sternen darüber. Und selbst noch in der halben Dunkelheit glaubte man die weißen Kerzen von Kastanien dahinten zu sehen.

»Nun«, meinte Eduard Schön brummig, »nun wären wir glücklich soweit – nicht wahr?« Man wußte nicht recht, worauf er das bezog. »Na, in sechs Wochen spätestens, meine ich, können wir dann heiraten«, fügte er nach einer Pause hinzu. »Der Junge hat Glück: sein Hannchen ist doch ein wunderschönes und sehr liebenswürdiges Menschenkind. Die alten Herrschaften – an die muß man sich eben gewöhnen. Na, und die heiratest du ja auch nicht.«

Heinrich schwieg. In sechs Wochen, sagte er sich ...

»Ja«, meinte Frau Antonie, »es ist schon eine Freude, Hannchen anzusehen. Sie braucht gar nicht zu sprechen.« (0 weh, das war ungeschickt!) »Da reisen die Leute tagelang eines schönen Bildes wegen, aber niemals, um einen schönen Menschen oder einen schönen Baum zu sehen. Und ist das nicht mehr? – Die alten Herrschaften sind auch weniger mein Goût. Ich glaube, alle Dinge, die das Leben für uns wert machen, sind ihnen gleichgültig. Aber sie zerreißen sich den Mund um Dinge, die nicht wert sind, daß man drei Worte darüber verliert.«

Eduard Schön machte eine Bewegung, die seine Frau unterrichten sollte, sie möchte mit ihren Urteilen ein wenig vorsichtiger sein.

»Es war heute doch wundervoll«, sagte Heinrich, wie jemand, der meint: Nun ist auch das vorbei.

»Ja, gewiß«, versetzte Frau Antonie, »und trotzdem: der Sonnenschein hat in seiner Heiterkeit etwas tief Melancholisches. Für mich ist nichts schwermütiger als solch strahlend blauer Tag, der ganz ungetrübt der Nacht zueilt.«

»Aber Liebling,« warf Eduard Schön ein, »du bist abstrus.«

»Nein, an einem blauen Tag, wenn alles blüht, leuchtet und ganz glücklich in dem gleichmäßigen Licht ist, dann ist einem das Leben da draußen so fremd und fern und unverwandt. Aber an einem grauen Tag, wo Wind und Regen in die Bäume peitschen, die Blätter triefen, die Zweige ächzen und sich ducken, das Wasser wie Tränen an den Blattspitzen hängt, dann steht man mit der Natur ganz anders auf du und du, dann fühlt man: Das sind Wesen, die leiden können wie wir.«

»Närrchen!« sagte Eduard Schön, »wenn ich so reden wollte, der etwas länger es sich mit angesehen hat. Und ich rede nicht so, vor allem, wenn ich dich ansehe, du – kleine Frau, du!«

Das war eigentlich zarter, als Heinrich es je von seinem Alten Herrn erwartet hätte.

»Nein«, sagte Maltitz, »es gibt ein Wort, das mir das Gegenteil beweist. Wissen Sie, die Pompadour war gestorben, die Ludwig den Fünfzehnten beherrscht hatte und Frankreich mit ihm. Und Ludwig der Fünfzehnte liebte – wie die meisten Monarchen – tote Menschen nicht. Und so wurde sie ganz allein hinausgebracht, fast ohne Geleit. Es war grauliches Wetter, Sturm und Regen, und Ludwig der Fünfzehnte hörte oben – er hatte gerade eine Konferenz – den Karren vorbeirattern, trat zum Fenster, sah hinab und sagte: ›Madame haben schlechtes Wetter für ihre Ausfahrt‹ und nahm den unterbrochenen Satz wieder auf. Und seitdem weiß ich, was schlechtes Wetter für die Welt zu bedeuten hat. Sie ist eine Sonnenuhr. Horas non numero nisi serenas.«

Maltitz war stehengeblieben und wies mit dem Arm nach links mit jener großen Geste, die sonst nur Feldherren auf Standbildern und Steindrucken haben.

»Ja«, sagte er mit deutlicher Parodie Mühlensiefens, »nun aber treibt es mich wieder, an mein Pult zu kommen. Ich bin gerade bei einem sehr interessanten ...«

»... indiskreten«, unterbrach Heinrich Schön.

»... interessanten Kapitel meiner Erinnerungen. Sie wissen, Gnädige, Literaten sind Nachttiere.«

»Ja, ja«, warf Heinrich Schön dazwischen. »Dienst geht eben vor.«

Maltitz überhörte es.

»Ich wollte Ihnen nur nochmals danken für den amüsanten und angeregt verplauderten Nachmittag. Sie wissen vielleicht, daß nach der letzten Zählung Potsdam bewohnt wird von soundso viel tausend Soldaten, von zehntausendsechshunderteinunddreißig Einwohnern und von zwei Menschen, eigentlich nur von ein und einem halben, Heinrich Schön

»Ein und einem viertel, Maltitz«, rief Heinrich Schön, indem er zuerst mit dem Finger auf sich und dann auf Maltitz wies.

»Und ich freue mich nunmehr, festzustellen, daß es seit gestern von drei Menschen bewohnt wird. Darf ich Ihnen die Hand küssen? Empfehle mich, Herr Schön senior+... Leb wohl, mein Prinz.« Und damit kehrte Maltitz um, bog Maltitz am Wilhelmsplatz kurz ein und war schnell unter der Dunkelheit der Rüstern und Kastanien verschwunden.

Alles von ihm war ausgelöscht bis auf den Laut eines Stockes, der taktmäßig mit der Zwinge auf die Holzbohlen stieß. Aber schon kam das Rattern eines Wagens durch die Dunkelheit, und auch das war fort, weggefegt, wie ausgeblasen.

Die drei waren nun wieder allein. Ohne viel Worte gingen sie nebeneinanderher, quer über den Platz fort, unter den Bäumen hin. Frau Antonie ging zwischen Vater und Sohn, und mehr als einmal zuckte ihre Hand hinüber, als ob sie ihren linken Partner auch unterfassen müsse, aber jedesmal zog sie den Arm wieder, wie ertappt, zurück.

»So ist es doch eigentlich am nettsten! Keine fremde Nase mehr!« meinte Eduard Schön, halb gähnend. »Und man braucht nicht immer auf dem Quivive zu sein.«

»Ach ja«, sagte Heinrich, der begann, sich wieder wohl zu fühlen und zu vergessen, daß er eine Braut hatte und bald heiraten sollte, daß er, daß er ..., der im Augenblick nur empfand, wie angenehm es war, so neben diesem zierlichen, klugen Wunderding, das nun seine Mutter geworden, neben dem herzugehen. »Ach ja«, sagte er, »höre mal, wie bist du eigentlich mit Potsdam zufrieden gewesen? Du hast es heute in Sonntagslaune gesehen. So ist es nicht immer, in der Woche nennen wir es Potsdorf. Aber es läßt sich auch dann hier leben. Es ist alles nicht so laut wie bei euch, es hat alles Zeit abzuwarten. Aber es ist dadurch vielleicht unbestechlicher. Man hat weniger voneinander und mehr von sich hier. Man muß sich natürlich hin und wieder auffrischen, sehen, was drüben und draußen los ist, darf nicht versauern+..., aber ich habe Potsdam gern, und du wirst es auch schon liebgewinnen.«

»Ich habe es schon liebgewonnen, sonst wäre ich ja nicht hier«, meinte Frau Antonie.

Eduard Schön war mit seinen Gedanken woanders.

»Der junge Maltitz ist wahrhaftig ein ganz liebenswürdiger Mensch«, meinte er, »er weiß zu causieren; trotzdem, Heinrich – ich würde ihn an deiner Stelle mit Vorsicht genießen. Er ist nicht der rechte Verkehr für uns.«

»Ich glaube, du irrst dich, Vater«, meinte Heinrich. »Maltitz hat gewiß seine Schwächen, aber er ist sicher besser als sein Ruf. Und von den Karten hatte er im letzten Winter ganz die Finger gelassen; er hatte sie sich auch gehörig schon verbrannt.«

Eduard Schön biß auf die hageren Lippen – er sprach doch nicht von Karten! Wollte ihn nun sein Sohn nicht verstehen, oder verstand er ihn wirklich nicht?

Frau Antonie sprang Heinrich bei.

»Ich kann mich deinem Urteil nicht anschließen, Eduard. Der junge Maltitz hat viel Manieren, vielleicht nicht immer genug Takt, aber er ist doch wer! Wie heißt es: ›Kein Genie, doch ein Charakter!‹ Ich weiß nicht, ob mir nicht ›kein Charakter, doch ein Genie‹ mehr wert ist.«

»Hoho«, rief Eduard Schön lustig.

»Ich begreife: Er gehört vielleicht zu einer neuen Menschengruppe, die nicht ganz auf deiner Linie liegt, die nicht ja und nicht nein sagt, sondern mit maliziöser Miene über beides hinweglächelt. Aber man darf über sie doch nicht so einfach den Stab brechen. Wer sagt uns denn, daß sie deswegen weniger recht haben oder weniger leisten? Und selbst wenn dem nicht so sein sollte, Eduard, sind nicht geistige Gewandtheit und Laune zwei Freibriefe, die überall die Türen öffnen sollten?«

Sie kamen gerade an einer Laterne vorüber, und beide – Vater und Sohn, Eduard Schön und Heinrich Schön sahen Frau Antonie in diesem Augenblick voll ins Gesicht, so als ob jeder etwas davon haben wollte, wie sich diese Worte in ihren Zügen widerspiegelten und sie zucken und leuchten machten.

»Ich hör' dich zu gern so reden, Antonie«, meinte Eduard Schön freundlich. »Du mußt aber deswegen nicht glauben, daß ich deiner Meinung bin. Man kann auch eine schlechte Sache gut verteidigen, mein kleiner Advokat+... Na, nun sind wir ja bald zu Hause, da um die Ecke. Würdest du denn hier schon allein finden, Dummchen?«

Ach ja, da war nun wieder ihr Haus – dämmrig, im Halblicht vom Mond und den herüberzuckenden Laternen. Heinrich schien es, als ob er es ein Jahr nicht gesehen hätte, seit heute früh. Und er wunderte sich fast, daß es sich gar nicht verändert hatte, mit den beiden Linden vor dem Aufgang, dem Gitter, den Steinwangen und den breiten Fenstern mit den gewölbten Scheiben. Er hatte es sehr gern, das Haus. Es gab ihm das Gefühl von Geborgenheit. Alles andere – Häuser, Menschen, Beziehungen – kam ihm dagegen so provisorisch und ungesichert vor. Und Heinrich empfand es im Augenblick angenehm, daß nun dieses Haus auch Frau Antonie gleichsam in seinen Schutz genommen, an sich geschlossen hatte, daß jene nun anfing, an alldem teilzuhaben, in seinen Gedanken mit diesem Haus verknüpft zu werden.

Frau Antonie schien etwas davon zu spüren, als sie sagte – sie hatte, wie sie es liebte, beim Emporschreiten der Rampe ihre Hände rechts und links Eduard und Heinrich Schön ganz leicht auf die Schultern gelegt –, sagte: »So wunderhübsch es draußen auch war – ich freue mich doch auf nichts so wie auf die halbe Stunde, wo wir wieder zusammensitzen können.«

Und die Petzel hatte wieder, vielleicht weil Sonntag war – oder sie hatte von Eduard Schön die geheime Weisung bekommen, es nunmehr immer zu tun –, im Hausgang die großen Laternen angezündet, selbst die in den mächtigen Glasballons, die oben auf dem Podest von jenen pausbäckigen Putten gehalten wurden. Und sie hatte unten im kleinen Saal die Kerzen an Ampeln und Kristallkronen entzünden lassen – eine Verschwendung, über die sie gewiß geweint hatte – und mit dem guten Geschirr den runden Tisch gedeckt. Das letzte aber war ihr wohl am schwersten gefallen, denn sie hatte schon einiges vom Alltagsgeschirr da mit eingeschmuggelt.

Man nahm Platz, gerade wie gestern abend: Heinrich kam Frau Antonie gegenüber – aber hier gab es ja nur »gegenüber«; sie saß hell und zart im blauen Raum. Genau wie ein Bild von Pesne drüben im Schloß, meinte Heinrich. Und er wartete nur immer auf den Augenblick, da sie ihren Kopf wieder so drehte, daß sie ihm die beschattete Seite zukehrte und er sehen konnte, wie um Nase, Stirn und Kinn von rückwärts her das Kerzengold blitzte. Dann wurde er ganz traurig vor Entzücken.

Man plauderte über den Tag, die Menschen und Dinge, verglich Potsdam und Berlin; Frau Antonie kopierte Frau Rätin, daß selbst Eduard Schön das Glas hinsetzen mußte, um es nicht durch sein Lachen zu gefährden; man knabberte ein wenig von den Köstlichkeiten, die Frau Petzel aufgefahren hatte, nicht gerade weil man hungrig war, mehr pour passer le temps; man nippte an den Gläsern, stieß auch einmal an und war guter Dinge.

Frau Antonie lehnte sich in den Sessel zurück, preßte den Kopf ins Genick, schloß halb die Augen und blinzelte aus den Winkeln mal zu ihrem Mann und mal zu Heinrich herüber, nahm ihr Bild auf mit dem dämmrigen, vollfarbigen Raum dahinter, mit all seinem Gold und all seinem Kerzenschimmer, der wie ein Gespinst von unendlich feinen Fäden in der Luft zitterte. Und sie dachte indes daran, wie seltsam und heimatlos doch das Leben einer Frau ist, die ihr Zuhause plötzlich mit einem anderen wechsle – wie ein Vogel, der von dem Käfig in jenen gesetzt wird –, und wie man mit ihr wäre: nicht auch wie mit einem Vogel im Bauer, an den jeder herantritt, um ihm schönzutun? Und doch war Frau Antonie im Augenblick ganz von leiser schwingender Dankbarkeit gegen die beiden erfüllt, die ihr Herrschaft über sich selbst und all das hier gegeben hatten.

»Ach ja – und meines Frankreichs Lüfte wehen hier«, summte sie sehr leise, wie als Schlußwort einer stummen Rede, nur zu Heinrich gewandt, um dann plötzlich ganz laut und unbefangen fortzufahren: »Aber warum seid ihr eigentlich beide so gut zu mir? Ich begreife das nicht, ich habe doch hier gar nichts zu suchen!«

»Nun höre mal«, rief Eduard Schön belustigt und solche kleinen Narrheiten schon gewohnt, »das ist eine schwere Verkennung deiner Pflichten als Gattin und Hausfrau. Du wirst repräsentieren, du wirst Leute bei dir sehen – spätestens in der übernächsten Woche: deine Eltern, Heinrichs Schwiegereltern, ein paar Freunde von Heinrich und von Hannchen ...«

»Ach Gott, ja Hannchen«, sagte Heinrich, »was mag sie jetzt tun?« Zu komisch, daß er heute immer vergaß, daß er verlobt war. Er erfreute sich doch sonst eines leidlichen Gedächtnisses.

»Um Himmels willen«, rief Frau Antonie scheinbar geängstigt, »da werde ich wohl eine ziemlich lächerliche Figur machen. Ich bin ganz hilf- und hoffnungslos bei so etwas. Zu Hause hat mich meine Mutter nie in die Küche oder auch nur an einen Schrank gelassen. Es hätte mir auch nichts genützt, sie hätte es doch besser gemacht.«

»Du brauchst gar keine Angst zu haben, Schätzchen«, meinte Eduard Schön begütigend. »Jagor schickt, seit wir die Bahn haben, alles, was du willst, aus Berlin 'rüber – das ist sein Metier. Und das andere besorgt dann die Petzel. Du hast nur dein Bestes anzuziehen, dein Dienerchen zu machen und recht schön auszusehen, nicht wahr! Aber nun will ich mal die Kladden holen, Heinrich ... Laß nur, du weißt doch nicht, welche ich meine. Ach nee, wir wollen nur hierbleiben, bei 'ner Zigarre bespricht sich so was besser. Und ich möchte nicht, daß Müllner etwa dazukommt, weil ich deine Ansichten ganz allein ...«

Die letzten Worte sprach Eduard Schön schon in der Tür, und sie fiel ins Schloß, ehe er noch den Satz vollendet hatte.

Frau Antonie und Heinrich saßen sich stumm gegenüber und ein wenig verwirrt über dieses plötzliche Tête-à-tête, und sahen, den Kopf gesenkt, einer zum andern. Es war schwül im Zimmer, durch die frühe Wärme des Tages und die vielen Kerzen; und beängstigend still, so still, daß jeder von ihnen empfand, es wäre gut, wenn gesprochen würde, und daß doch jeder sich fürchtete zu sprechen. Und von Sekunde zu Sekunde wurde dieses Schweigen beredter – nun konnte man es fast schon nicht mehr zerreißen, nun mußte man gleich seinen Sinn fühlen. Nein, nein, das ging ja nicht!

»Hör mal«, sagte Frau Antonie mit einer anderen Stimme, als sie den ganzen Tag gehabt hatte: gepreßt, hell und doch sich mühend, leichthin zu sprechen, »hör mal, du mußt doch eigentlich heute recht froh und glücklich sein, Heinrich, daß du die Ungewißheit los bist.«

Ach so – das war wegen Hannchen und wegen seiner Hochzeit.

»0 ja, gewiß. Wie heißt es doch in unserem Stück: ›0 Königin, das Leben ist doch ...‹ Ja, das müßte ich wohl jetzt antworten? Aber du kluge kleine, neue Mutter du« – er deckte die Hand über die Augen –, »jeder Mensch trägt eine geladene Pistole bei sich. Früher, weißt du, hat man sie dem andern einfach auf die Brust gesetzt, heute läßt man das sein, denn man hat mit der Zeit in Erfahrung gebracht, daß der andere nämlich auch seine Pistole aus dem Sack ziehen kann und sie einem kaltlächelnd und vergnüglich mitten auf die Brust setzen kann, den Finger am Hahn: So – nun mal 'raus mit der Sprache! Also, Frau Antonie, lassen wir beide lieber die Mordwaffen stecken. Was heißt denn: sehr glücklich?«

»Du solltest es aber sein, Heinrich!«

Eduard Schön kam wieder. Er trug eine Lampe in der einen Hand, eine brennende Moderateurlampe mit grünem Glasschirm und blankem Messingbecken. Und in der anderen Packen von Stoffproben und ein paar marmorierte Heftchen. Wilhelm aber, der Hausdiener – auch sonntags in blauer Arbeitsschürze –, schleppte ein paar mächtige graue Geschäftsbücher mit Metallecken hinterher, die er vorsichtig auf einem der zierlichen Polsterstühle ablud, so daß es aussah, als ob der unter der Last mit seinen geschweiften Beinen noch ein Stück tiefer in die Knie sank.

Jetzt war Eduard Schön nicht mehr der etwas ältliche, aber neugebackene Ehemann, der in Feiertagslaune, ganz auf angenehme Umwelt eingestellt, seine junge Frau spazieren führt. Jetzt hatte er einen Abstrich unter dieses Konto gemacht und ein anderes, wichtigeres vorgenommen. Jetzt war er ein Mann mit Sorgen, mit Berechnung, der sich quälte, hin und her erwog, ganz bei der Sache, mit hartem Mund und verkniffenen Lippen. Der Grabstichel hatte gleichsam in den wenigen Minuten alle Züge und Linien des Gesichtes hart wieder nachgezogen, die etwa im Laufe des Tages sich verwischt, verblasen und verweichlicht haben sollten.

Eduard Schön setzte die Lampe auf den Tisch, verstellte sie, schob sie weit herunter, so daß sie einen kleinen, runden, ganz hellen Kreis auf der Tischplatte gab, und streute den ganzen Packen bunter und geblümter und karierter Seidenflicken dahinein, über die Tischplatte fort.

»Es gibt Arbeit, Junge, Arbeit«, rief er und putzte nachdenklich den kleinen Fadenzähler, die Klapplupe, die er aus seiner Westentasche geholt hatte. »Und dann vor allem müssen wir noch wegen Rio sprechen – es steht flau da unten, glaube ich.«

»So«, meinte Heinrich sehr langgedehnt – und im Augenblicke wurde er seinem Vater ähnlich.

»Gramkow & Löwenberg in Hamburg scheinen uns da in eine böse Sache hineingetrieben zu haben. Natürlich, sie verdienen, ob die drüben zahlen oder nicht. Solche Exporteure verdienen immer – aber wir! Wir haben einfach drüben zuviel kreditiert, mein Sohn. Und wenn die Häuser auch wirklich prima sind – und das sind sie ja –, was nützt es uns, wenn sie nicht regulieren! Und wenn wir wieder zwölf Monate trassieren, bleibt uns auch nichts. Und wenn wir wirklich die Papiere zu Protest gehen lassen, dann ist zum Schluß die Elle länger als der Kram. Und es braucht da nur irgendwas zu geben: solch kleinen Krieg, solch bißchen Putsch – und das gibt's bei diesen Raubstaaten doch alle naselang –, dann sitzen wir da und können uns noch freuen, wenn wir gerade in Hamburg und in Liverpool die letzten Kisten anhalten, ehe sie 'rausgehen.«

»Ach nein, Vater«, sagte Heinrich Schön, »Rio ist, soweit ich es weiß, ziemlich sicher – so sicher wie bei uns jetzt wird's auch sein. Wenn's noch drüben um die Ecke, auf der anderen Seite wäre, in Peru oder Bolivia, wo sie alle Tage einen andern Präsidenten an den Laternenpfahl knüpfen, aber seitdem der junge Don Pedro da unten auf dem Thron sitzt, ist es wirklich besser geworden. Und wenn es auch noch im Norden oder im Süden ein bißchen rumort und der Taxias den Feliciano oder der Andrada den Canabarro ein wenig füsiliert – oder umgekehrt von ihm zur Abwechslung einmal freundschaftlich an den nächsten Zaun gestellt und durchlöchert wird, davon merken die in Rio bei den Entfernungen soviel, wie wir davon merken, ob der Vesuv spuckt. Gott ja, die Finanzen sind noch nicht gut, aber das Land ist so reich, daß sie, sobald es zur Ruhe kommt, gut werden müssen

»Ja, und bis dahin können wir unsere zwanzigtausend Taler verloren haben, mein Sohn.«

»Aber bisher haben wir doch keine Ausfälle. Da ist« – Heinrich Schön hatte ein Buch hervorgezogen, blätterte darin, überflog die Seiten mit schnellen Augen –, »da ist Manuel Perez de Alarçon, da sind Antonio di Soles y Torres, da sind Chueca y Valerosa, da ist Joaquim Pereira da Costa – das sind die Hauptkunden – und dann noch José de Alvarenga; das macht zusammen zwölfhundert, dreiunddreißighundert, einundfünfzighundert – keine sechstausend Taler. Und dann verdienen wir noch am Agio, wenn wir die Tratten über Rußland ziehen.«

»Ja und für dreitausendsiebenhundertvierundachtzig Taler bringe ich neue Orders von Gramkow & Löwenberg aus Hamburg mit. Nun fragt es sich: Soll man die effektuieren? Ich möchte da deine Meinung hören. Passiert irgend etwas drüben, und wir können selbst die Ware noch zurückhalten, dann müssen wir sie glatt verramschen, denn die Muster, die drüben gehen, trägt hier kein Mensch. Ebensowenig wie man hier einen Ring sich durch die Nase zieht. Und im nächsten Jahr sind sie auch drüben veraltet. Ich muß sagen, ich mache mir Sorgen um die Orders.«

»Ja«, meinte Heinrich sehr langsam und zündete sich eine Zigarillo an, denn dabei dachte es sich besser nach, »das muß man sich überlegen. Ich wäre dafür. Vielleicht kann man irgendwelche Garantien von Gramkow & Löwenberg bekommen, denn von hier aus ist es doch wirklich schlecht zu beurteilen.«

»Die sagen natürlich, es wäre alles prima, prima und gar kein Risiko. Sie sind ja sonst sehr solide Kommissionäre, und wir haben viel mit ihnen umgesetzt. Immerhin, daß sie allein diesmal Orders bringen und die andern fast nichts ...«

Heinrich sah nachdenklich auf und wollte fragend sich bei Frau Antonie gleichsam Rat holen. Aber ihr Platz war leer. Sie war ganz still aus dem Zimmer gegangen, ohne daß die beiden es bemerkt hatten. Eduard Schön merkte es jetzt noch nicht einmal.

Heinrich fühlte sich plötzlich müde und uninteressiert, ihm fehlte etwas – die Luft atmete sich anders. Wozu das alles? Der Alte Herr war eben zu ängstlich. Man brauchte doch nicht gleich va banque zu spielen, wenn man mal ein paar tausend Taler wagte! Weswegen kamen denn drüben in England die Leute weiter? Weil sie auch mal eine Sache in die Hand nahmen, die nicht Zug um Zug ging. Und zum Schluß kamen sie immer noch gut 'raus aus dem Geschäft. Verlieren kann man überall – hier mehr als drüben. Denn da arbeitet man doch nur mit den Ersten. Und wenn wirklich einer kaputtgeht, dann tun es doch nicht alle. Man sollte es unbesorgt riskieren.

Ja, nun kamen die Muster, Stück für Stück: geprüft, verworfen, genommen, Fäden gezählt mit der Lupe, gegen das Licht gehalten, befühlt, Glanz, Appretur... »Und wenn man den Genre mit Baumwollschuß machte ›in billig‹?« Heinrich schwirrte es vor den Augen von Karos, Streifen, Rosetten, Palmetten, Punkten, Kreisen, Sternchen und Blumen, gedeckt, halb gedeckt, licht und dunkel...

»Oh«, sagte Eduard Schön, »das ist wirklich apart, diese Streifen, Antonie, sieh mal... Ach – na, die ist gewiß nach oben gegangen, wird müde sein; ich kann's ihr nicht übelnehmen. Nun wollen wir auch bald mal Schluß machen, nicht wahr? Heute ist sowieso Sonntag. Und wir müssen es uns noch mal genau bei Tageslicht ansehen. Gute Nacht, mein Junge, schlaf wohl. Bring die Sachen ins Kontor. Oder wenn Wilhelm noch auf ist, schick ihn mit 'rüber.«

In der Türe, den breiten Türknopf in der Hand, drehte sich Eduard Schön noch einmal um – und jetzt war sein Gesicht wieder weich.

»Soll ich Antonie von dir grüßen, Heinrich?« sagte er mit einer Stimme, die Heinrich an seinem Vater nicht kannte und die zugleich ganz andere Worte sprach, nicht umsetzbar in Laute und Sätze und Gedanken und doch deutlich zu verstehen: Ich bin sehr alt geworden, mein Junge. Ich hatte mich längst selbst verloren. Ich wußte nicht mehr, daß das Leben einen so anbetungswürdigen, wunderschönen Sinn haben kann, klug und köstlich, wie ich ihn in meine Arme schließen darf. Vielleicht habe ich – platt, nichtig und geizig – an einem Dasein gehangen, das wertloser als eine taube Nuß war; ich tue es nicht mehr. Und wenn ich morgen gehe, Heinrich, so werde ich nur dankbar sein, daß es nicht früher sein mußte.

Sie, die Stimme, sagte das zwar nicht, aber sie schwang in zitternden Kreisen um diesen Sinn.

»Ich bitte, empfiehl mich.« Heinrich war am Tisch unter der Lampe sitzen geblieben, schien ganz mit anderen Dingen beschäftigt, und doch horchte er mit jedem Nerv auf. »Es war sehr nett heute. Gute Nacht.«

Aber schon war die Tür ins Schloß gefallen, und die letzten Worte hatte Heinrich ins Leere gesprochen.

Gott ja, jetzt mußte er nun auch schlafen gehen! Was sollte er denn da oben? Draußen mußte jetzt eine wunderbare Nacht sein. Wie eigentümlich das nur war heute...

Heinrich Schön starrte auf ein paar bunte Seidenproben, bis die Streifen und Karos vor seinen Blicken sich zu drehen begannen wie die Muster und Sterne in einem Kaleidoskop. Er hatte keine klaren Gedanken, verspann sich in Tagträume, die aus der starren Ruhe des großen, blaudämmrigen Raumes um ihn und aus der weiten Einsamkeit der Flure und Gänge dieses ganzen stillen Hauses zu ihm kamen.

Er ging mit Frau Antonie im Garten, sprach mit ihr, hörte sie reden. Nie hätte er geglaubt, daß Geist und Körper sich so durchdringen konnten. Er wußte nicht, was ihn mehr entzückte: ihr Lächeln, die Bewegung ihrer Brauen, der Klang ihrer Sprache, ihre Hand auf einer Stuhllehne, die schillernde Klugheit ihrer Worte oder der zuckende Sinn ihres Schweigens. Nun sah er sie wieder gegen die jungen Büsche stehen, im hellen Kleide, und dann an dem Orangenbäumchen und, wie verlegen, mit der abgefallenen Frucht spielen. Am Rand der Fontäne stand sie gegen den Abendhimmel – und oben bei Mühlensiefens am Tische. Unter den Kastanien ging sie, und nun war sie auf den Stufen des Belvedere und trank mit versonnenen Blicken die Fernen ein. Vor sich her sah er sie schreiten, neben sich gehen, ihm folgen. Ihre Worte wiederholte er. Schritt mit ihr weiter und weiter, langsam einen schönen Weg unter hohen Bäumen entlang. Alle anderen blieben zurück; sie hatten sich bei den Händen gefaßt – nach Art, wie die Bauernburschen mit ihren Schätzen gehen –, und Heinrich Schön spürte Antoniens süße kleine Finger, klein wie die Hand einer Schülerin und doch nicht unbewußt, nein, ganz die Hand einer Frau. Hin und wieder einmal wandte Heinrich den Kopf nach ihr, und dann wandte sie ihn auch, und er sah ihr voll ins Gesicht, ertrank beinahe in ihren Augen. Aber glücklicher war er eigentlich doch, wenn er nur empfand, wie sie ruhig neben ihm schritt, wenn er sie nicht sah, nur sie sich vorstellte bis zu den weißen Schuhspitzen unter dem grünen Bandbesatz des Rockes. Und dann mußte sie reden – er vernahm kein einzelnes Wort, er hörte nur die Melodie, nur den tragenden Klang ihrer Sprache. Er war noch nie in seinem Leben so erfüllt gewesen von Zuneigung und noch nie so ganz gelähmt von Traurigkeit. Irgend etwas nicht zu erdenken Hoffnungsloses war über ihm. Heinrich fühlte seinen Flügelschlag, ohne daß er sagen konnte, was das eigentlich war, oder daß er etwa sich darauf besinnen konnte. Und doch hätte er nicht um sein Leben diesen Augenblick eintauschen mögen, hätte nicht ...

Oben auf dem Hausgang hub die Standuhr an, lang singend, mit silbernen, ausschwingenden Schlägen: ei-eins, zwei-ei ... elfmal. Und dann schwebte noch durch die Räume ein ganz feines, letztes Summen, das gar nicht ersterben wollte.

Heinrich Schön riß sich hoch, riß den Blick fast mit Mühe weg von den Seidenproben, die immer noch im hellen Lichtkreis der Moderateurlampe ihr buntes Farbenspiel drehten.

Er wußte im Augenblick nicht mehr, wohin ihn sein Träumen geführt hatte, wollte sich auch nicht daran erinnern; aber es hatte ihn ganz müde und krank gemacht. Und unmutig begann er die Sachen zusammenzuschieben. Irgendwo in einem Winkel seines Hirns tauchte Hannchens Blondheit auf, und Heinrich Schön nickte ihr zu. Sie war doch ein liebes Ding. Heute waren sie sich etwas ferner gerückt, als sie sich sonst standen. Kleine Trübungen am blauen Himmel. – Sonst würde man doch vergessen, daß er blau wäre. Na, bald hätte er sie ja ganz aus dieser Sphäre und könne beginnen, einen Menschen aus ihr zu machen. (Verlobte und Liebesleute glauben nämlich immer fest und bestimmt, daß der andere sich unter seinem Einfluß wandeln ließe; und dabei ist es doch leichter und aussichtsreicher, ein Stück Eisen mit der bloßen Hand in eine andere Form zu pressen als einen Menschen.)

Aber wie Heinrich auf der Treppe war, langsam mit seiner Lampe hinanstieg – und der Lampenschein verdämmerte im breiten hohen Treppenhaus, denn die Laternen waren längst gelöscht –, da hatten sich doch schon wieder andere Bilder darübergeschoben, und er begann von neuem über dieses Wesen nachzugrübeln, das da heute doch eigentlich zum ersten Male seinen Weg gekreuzt hatte. Er hatte nie etwas Ähnliches kennengelernt, weder in Antlitz noch in Bewegung. Jetzt Kind, nun Dame. Jetzt Vertraute, Kameradin, ja fast Geliebte – und nun von einem anderen Stern kommend; immer durchzuckt von dem Leben der Gedanken und Empfindungen; nie sich ähnlich und doch stets gleich. Stets neu schillernd, mit jeder Wendung anders aufblitzend; jedem Wort folgend, voraneilend dem kaum gesprochenen Gedanken; ganz hingegeben dem andern, mitfühlend und dabei nie sich selbst verlierend; unenträtselbar lieblich und eigentlich doch maßlos unglücklich; hingeopfert; geschaffen für Jugend, der leuchtendste Stein in der Krone eines Dichters, und eingezwängt in eine unnatürliche ...

Nein, Heinrich Schön wollte daran nicht denken. Er wäre jetzt am liebsten bei Nacht und Nebel aus dem Hause gelaufen. Ach eigentlich – warum denn? Das Haus war ja groß genug, so groß wie sonst zwei. Und da ganz drüben lebten eben die – und er wäre eben hier. Nein, er wollte noch lesen, sich das aus dem Kopf spülen. Was war denn mit ihm? Er kannte sich ja kaum wieder. Ihm war das Weinen näher als das Lachen.

Heinrich Schön zog mechanisch irgendeinen Band aus dem Bücherbord und legte sich in die Kissen zurück. Es war Thiers' »Geschichte der französischen Revolution«. Irgendwo schlug er auf und las, wie im Jahre 1791 der alte Gott in Acht und Bann getan wurde, feierlich abgesetzt wurde und statt seiner die Vernunft als Gott eingesetzt wurde und wie eine neue Zählung der Jahre anhub.

Und damit schlief er ein, und im Halbschlaf verwirrten sich die Dinge. Die Erlebnisse des Tages mischten sich mit der johlenden, stampfenden Menge, die über den Place des Vosges zog. Man sprach von der Tribüne. Er sah Maltitz oben stehen und Mühlensiefen. Und jeder wollte ihn zu einer Ansicht bekehren. Und die Göttin der Vernunft auf einer goldenen Tragbahre hoch über den Häupten, sie hatte deutlich die Züge von ..., und irgendwo weinte jemand ganz laut, weinte mit tausend Tränen ...

Heinrich Schön fuhr auf – ach Gott! Er hatte ja die Lampe brennen lassen! Er schraubte sie vorsichtig nieder, blies aus und warf sich zur Wand, zog die Decke über das eine Ohr. Und nun schlief er wie ein Stein, schwer und traumlos bis zum Morgen, bis Wilhelm mit der Faust dreimal an die Tür schlug, und ein neuer Tag begann – recht unähnlich seinem Vorgänger. Ein Wochentag, ein Werktag, gehetzt mit kurzen halben Stunden für die Mahlzeiten, mit Leuten, die gingen, und Leuten, die kamen, mit Webern, die lieferten, mit Kollis, die heraus mußten, mit Briefen, die diktiert wurden und in Empfang genommen wurden. Ein Tag wie alle Tage, und das heute mehr denn je – schon weil Eduard Schön glaubte, daß inzwischen das Geschäft in allen Ecken und Enden drunter und drüber gegangen wäre.


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