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X.
Adjunkt Möbius und das siebente Gebot

Hatte Adjunkt Möbius das achte Gebot übertreten? Während das Auto ihn mit beschattetem Gesicht heimwärts fuhr, begannen sich seine Gedanken jener Tätigkeit hinzugeben, von der schon der Apostel Paulus gesprochen hatte: Sie legten voreinander Zeugnis ab, indem sie sich gegenseitig anklagten oder selbst entschuldigten. Damit fuhren sie fort, als er in das giftgrüne Dienstbotenzimmer hinaufgekommen war. Sie trieben es weiter, bis Adjunkt Möbius wie ein lärmender Gerichtssaal war, wo er selbst, der Richter, sich vor den Zeugen und der Jury kein Gehör verschaffen konnte. Die anklagenden Gedanken sagten: Du hast gegen das achte Gebot gesündigt, denn du sagtest Stewén nur, was Perrini dir eingelernt hatte! Willst du das leugnen? Die entschuldigenden Gedanken antworteten: Es mag den Anschein haben, aber wir sagten alles so, daß Stewén mißtrauisch werden mußte. – Das ist nicht wahr, sagten die anklagenden Gedanken, Stewén hat keinen Verdacht geschöpft, sonst hätte er nicht die Zusammenkunft im Café Kaiser zugesagt. – Es ist bedauerlich, wenn er keinen Verdacht geschöpft hat, sagten die entschuldigenden Gedanken, aber das ist nicht unsre Schuld. Wir sagten das, was wir sagten, so, daß es ihm verdächtig vorkommen mußte, und übrigens hatte Perrini … Hahaha! riefen die anklagenden Gedanken, also aus Angst vor Perrini! Macht die Feigheit die Sünde entschuldbar? Ist es nicht umgekehrt? – Wäre es denkbar, daß ihr euch einen Augenblick still verhalten könntet, sagten die entschuldigenden Gedanken. Ist es vielleicht möglich, aussprechen zu können? Was uns beeinflußt hat, war nicht Angst vor Perrini, sondern der Gedanke, daß Perrini sonst jemand andern zu Hilfe genommen hatte. – Ein andrer oder Sie, was ist der Unterschied? – Der Unterschied ist, sagten die entschuldigenden Gedanken, daß, wenn wir nun am Abend Herrn Stewén im Kaffeehaus treffen, wir ihn warnen können. Das hätte ein andrer nicht getan. – Hm. Das sagten Sie heute morgen auch. – Ja, aber wir fanden keine Gelegenheit, da Perrini dicht hinter uns stand. Soll irgendein Verbrechen gegen die Gesellschaft verübt werden – obwohl wir uns nicht denken können, was das sein sollte –, so wird Perrini es ausführen. Und wenn wir nur nicht Perrini hinter uns haben, werden wir schon tun, was wir gesagt haben. – Hm! Hm! sagten die anklagenden Gedanken skeptisch. – Absolut! Und darum kann man nicht behaupten, daß wir gegen das achte Gebot gehandelt haben. Das ist kein Versuch, uns zu rechtfertigen, das ist unsre aufrichtige Ansicht.

Mitten in dem Gerichtsverfahren bemerkte der Richter, so vertieft er auch war, eine Sache: der Abend brach an. Ja, der Abend brach an. Es war halb acht Uhr, und in Möbius' Zimmer, das nach Norden lag und keine großen Fensterscheiben hatte, wurde es schon etwas trübe. Und bei dieser Entdeckung trübte sich auch Möbius' Blick ein wenig.

Um sieben Uhr hatte er Herrn Stewén im Café Kaiser treffen sollen. Jetzt war es halb acht Uhr. Was hatte das zu bedeuten?

Was hatte das zu bedeuten?

Er sah Christian IX. im Kreise der nachfolgenden Generationen an, so, als wäre er ein Schüler, von dem er eine Antwort wünschte, und zwar sofort. Ja, er wünschte eine Erklärung! Aber nicht, murmelte eine Stimme in ihm – einer der hartnäckigen Anklägergedanken – nicht die Erklärung, die am nächsten lag … nein, die Erklärung, weshalb er noch hier saß, durfte nicht die sein, daß die andern sich aufgemacht hatten, um Herrn Stewén auf eigene Faust zu treffen. Nein, das war übrigens ausgeschlossen! Sie mußten die Sache aufgeschoben haben. Hatten sie Angst bekommen? Oder saßen sie ganz einfach unten im Speisesaal und aßen wie gewöhnlich? Er schnupperte und glaubte deutlich den Duft von gebratenen Fischen zu spüren. Oder war es Beefsteak? Auf jeden Fall war es Speisengeruch, und er hatte das Gefühl, als wäre ein Widerhaken in seinem Magen. Der war in den letzten Tagen nicht verwöhnt worden; jetzt merkte er plötzlich, daß er nicht nur hungrig, sondern geradezu ausgehöhlt war. Vielleicht trug auch die Spannung, die er ausgestanden hatte, dazu bei und Perrinis Hausmedizin. Auf jeden Fall brannte es wie Salz in seinen Eingeweiden. Aber vor allem wünschte er eine Erklärung, warum man ihn nicht zu der Zusammenkunft mit Herrn Stewén abgeholt hatte.

In diesem Augenblick hörte er Schritte auf der Treppe. Man kam. War es Perrini oder Hoff-Jensen oder beide? Jetzt öffnete sich die Tür. Es war Frau Zingel. Hinter ihr stand Nero, scheußlich, mit geiferndem Maul.

Möbius stellte den Stuhl nieder, den er instinktiv erhoben hatte.

Frau Zingel stand da, üppig und blond, mit ihrem gewöhnlichen, unbewegten Gesicht. In der Hand hielt sie ein reichbesetztes Tablett. Sie hatte nur einen Spalt der Tür geöffnet, jetzt gab sie Nero mit ihrem hochhackigen Lackschuh einen leichten Tritt. Möbius sah, wie eine lange Wade sich unter dem Rock abzeichnete. Er schloß die Augen, ohne zu wissen warum. Nero verschwand mit einem Blick, den er unparteiisch zwischen Möbius und dem Speisentablett teilte. Frau Zingel trat ein und schloß die Tür. Möbius stand steif da, die Hand auf der Sessellehne. »Sie könnten den Tisch vorschieben,« hörte er Frau Zingel sagen.

Er hatte das Gefühl, als ob er plötzlich erwache. Er stolperte durch das Zimmer und schlug den diminutiven Klapptisch des Dienstbotenzimmers auf. Frau Zingel stellte das Tablett nieder und sah ihn an.

»Sie sind nicht gerade liebenswürdig,« sagte sie in einem Ton, als ob sie eine Debatte eröffnen wollte.

Möbius antwortete nicht.

»Sie bitten mich nicht einmal, Platz zu nehmen?«

Möbius war so verblüfft, daß er seinen einzigen Stuhl vorschob.

Sie setzte sich und sah ihn ruhig an.

»Ich glaubte, Sie wollten wieder gehen,« stammelte er.

»Gott, wie aufrichtig Sie sind! Wünschen Sie es?« Angeborne und anerzogene Höflichkeit bemächtigte sich Möbius'.

»N … nein …«

»Wie mühsam!«

»Ich … ich glaubte, Sie würden es selbst vorziehen …«

»Warum? Wollen Sie nicht essen? Ich habe kein Gift in die Speisen getan.«

Möbius strich sich verwirrt den Bart, zog den Tisch zum Bett heran und begann zu essen. Er hatte Herrn Stewén total vergessen. Sowohl die Lieblingsgerichte des Ichthyophagen Schiött wie die des Karnivoren Perrini waren auf dem Tablett vertreten. Er nahm das Beefsteak in Angriff und unterließ es absichtlich, zu antworten.

»Warum glauben Sie, daß ich gehen wollte?« wiederholte sie. Sie legte ein Bein über das andre. Wieder sah Möbius aus dem Augenwinkel die lange Wade. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß sie wahrscheinlich das war, was man elegant nennt.

»Warum haben Sie das geglaubt?« wiederholte sie zum drittenmal.

»Ich … ich hatte den Eindruck.«

»So? Wie? Wann?«

Möbius ließ sich noch immer von dem Beefsteak am Antworten hindern. Es war ungewöhnlich gut gebraten, mürb, gerade richtig gesalzen und gepfeffert, mit einer Menge brauner Sauce. Sie sah befriedigt zu, wie er aß.

»Ist es gut?« fragte sie.

Möbius verbeugte sich ungeschickt mit vollem Munde. Er kam sich vor wie Hänsel und Gretel, wenn die Hexe freundlich ist. Sie beobachtete ihn, und dabei schien ihr eine Idee zu kommen.

»Sind Sie durstig?«

Er wollte nein sagen, aber überlegte es sich. Er war durstig. Aber war es recht, von den Leuten in diesem Hause etwas andres als das Notwendigste anzunehmen? Vielleicht nicht; aber ein größeres Unrecht konnte es auch nicht sein. Er machte noch eine steife Verbeugung, ohne etwas zu sagen. Sie stand auf.

»Warten Sie,« sagte sie und lief hinaus. Er sah auf die Tür und kaute mechanisch weiter. Was in aller Welt ging da vor? Was war das für ein plötzlicher Witterungsumschlag? Jetzt kam sie die Treppe wieder hinaufgelaufen und zeigte sich mit einer staubigen Flasche in der Hand.

»Mögen Sie Bordeaux? Oder hätten Sie lieber Burgunder gehabt? Ich habe die Vorstellung, daß Sie sich aus Bier nichts machen?«

Möbius stammelte irgend etwas Unverständliches. Sie stellte ein Glas hin und schenkte aus der staubigen Flasche ein. Er las darauf: B:on Pichon de Longueville, eingerahmt von heraldischen Emblemen. Aber da er kaum roten von weißem Wein unterscheiden konnte, sagte ihm das nichts.

»Der ist nicht schlecht,« garantierte sie und sah mit sichtlicher Befriedigung zu, wie er ein ganzes Glas des tiefroten Weines austrank. Sogar sein unerfahrener Gaumen sagte ihm, daß sie in diesem Augenblick die Wahrheit sprach. Der Wein war mehr als gut, schwer, aromatisch, feurig, und dennoch erfrischend. Sie schenkte ihm nach, ohne seine Aufforderung abzuwarten. Der Wein strich wie ein Duft, eine Glut, eine Liebkosung durch seine Kehle und seine Adern. Er fühlte, wie sein Blick wärmer wurde.

»Sagen Sie mir,« begann sie, als er das Glas zum zweitenmal geleert niederstellte. Er sah sie abwartend an, zum erstenmal ihr gerade in die Augen. Sie erwiderte den Blick und brach ihre begonnene Frage ab.

»Ja?« fragte Möbius, ohne daß er daran dachte.

Sie sagte nichts.

»Ja?« wiederholte er.

Sie sank gleichsam zusammen. Plötzlich sah sie ihn von der Seite an und sagte:

»Sagen Sie mir, warum Sie mich hassen.«

Möbius war so erstaunt, daß er das Glas niederstellte, das zum drittenmal auf dem Wege zu seinem Munde gewesen war.

»Sie hassen …«

»Ja, mich hassen!«

»Ich verstehe nicht … ich bin mir nicht bewußt, daß …«

Er war vom Beefsteak und dem Bordeaux warm geworden. Er glaubte die Wahrheit zu sprechen. Er hatte die Gefühle vergessen, die er für sie gehegt, als sie ihm am vorigen Abend das Essen ins Zimmer und in den Speisesaal gebracht hatte.

»Ich verstehe nicht,« wiederholte er. Er fühlte ein leichtes Sausen um die Schläfen. »Ich glaube nicht, daß ich in ethischer Beziehung hoch stehe, aber ich glaube doch wenigstens nicht, daß ich irgendeinen Mitmenschen hasse.«

»Das ist Gerede!« rief sie. »Sie hassen mich. Ich habe das mehrmals in Ihren Augen gelesen und ganz deutlich gestern abend.«

Möbius nippte an seinem Glase, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er hatte eine Menge zu sagen, das fühlte er, aber es fiel ihm so schwer, die Gedanken zu ordnen und den zu finden, den er aussprechen wollte. Während er trank, kam er darauf.

» Ich hasse Sie nicht,« sagte er langsam, »aber ich kann nicht leugnen, daß ich den Eindruck gehabt habe, daß Sie mich hassen.«

Er stellte befriedigt das Glas nieder. Sie warf den Kopf zurück mit jener Geste, wie bei ihrem Hohngelächter – so, als wollte sie über den bloßen Gedanken, daß sie einen Menschen wie ihn hassen könnte, höhnisch auflachen. Aber sie tat es nicht. Sie sah ihn an, und er hatte den Eindruck, daß ihre Augen sich gleichsam veränderten und dunkler wurden. Es beunruhigte ihn, ohne daß er sich über den Grund Rechenschaft geben konnte. Er streckte nervös die Hand nach der Flasche aus, die halb leer war, aber sie kam ihm zuvor und nahm sie mit einer festen, weißen Hand, die er zum erstenmal zu sehen glaubte, und schenkte sein Glas voll.

»Sie haben geglaubt, daß ich Sie hasse?« fragte sie plötzlich.

»Ja, das heißt, mich verachten und mich fortwünschen …«

»Warum?«

»Ach, weil ich im Wege bin …«

»Ich meine, warum hatten Sie diese Auffassung?«

»Ihr Benehmen, vermute ich.«

Möbius rückte auf seinem Platze auf dem Bett hin und her. Er wünschte, die Debatte wäre schon abgeschlossen. Plötzlich brach sich der Wein durch die Dämme der Höflichkeit Bahn.

»Sie haben über mich gelacht,« sagte er und sah sie anklagend an.

»Das ist nicht wahr!«

»Doch.«

»Dann haben Sie etwas Lustiges gesagt.«

»Nein!« protestierte er.

»Doch.«

»Nein,« versicherte Möbius, »Sie haben über mich gelacht – höhnisch gelacht.«

Die wohlige Wärme um die Schläfen begann zu schwinden. Er war noch immer verwundert über die Situation, aber nicht in derselben angenehmen Weise wie früher. Plötzlich fiel ihm eine Sache ein, die er vergessen hatte und die er nicht hätte vergessen dürfen. Wo waren die andern, wenn sie hier war?

»Wo ist Perrini?« rief er, »und Schiött und Hoff-Jensen?«

Sie zog die Augenbrauen empor, so, als ob sie nicht verstünde, was er meinte. Dann machte sie eine ungeduldige Kopfbewegung.

»Dort unten.«

»Dort unten? Ist das sicher?«

»Gewiß ist das sicher. Was meinen Sie?«

»Was machen sie denn dort unten?«

»Was sie treiben? Das weiß ich wirklich nicht. Glauben Sie, ich kann durch verschlossene Türen sehen?«

Möbius hatte die letzten Tropfen in seinem Glase ausgetrunken, und Baron de Longuevilles Wein legte ihm eine Antwort auf die Zunge.

»Ich glaube nicht, daß Sie durch verschlossene Türen sehen können, aber ich weiß, daß Perrini und Schiött durch sie durchkommen können.«

Er strich sich den Bart und sah sie aus dem Augenwinkel an. Zu seiner Freude und Ueberraschung schien sie seine Malice zu würdigen. Sie warf den Kopf zurück und brach in ein schallendes Gelächter aus. Ihr weißer Hals war gespannt, und ihre Zähne glitzerten. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß er ihr Lachen dort unten vielleicht mißverstanden hatte. Vielleicht hatte er etwas gesagt, das sie zum Lachen gereizt hatte. Sie beugte sich mit glitzernden Augen vor und wollte ihm einschenken.

»Danke, ich will nicht mehr.«

»Warum nicht? Ist er nicht gut?«

»Ja, ausgezeichnet, aber …«

»Wenn er gut ist, verstehe ich nicht, warum Sie nicht mehr haben wollen.«

Sie hörte nicht auf seine Proteste. Sie schenkte ein. Er versuchte, sie zu hindern, und berührte ihre Hand. Sie war warm; er sah, daß vier oder fünf Armbänder um das Handgelenk lagen und daß ihre Nägel blank und hellrosa waren. An dem einen Finger war ein glatter Ring. Aus irgendeinem Grunde fühlte er sich erleichtert, als er ihn sah; die angenehme Wärme um die Schläfen kam zurück. Als er sein Glas erhob, um zu trinken, verbeugte er sich steif vor ihr. Ein Gedanke kam ihm.

»Und Sie selbst?«

»Jetzt sind Sie aber wirklich liebenswürdig. Nein, ich mag nicht erst hinuntergehen und ein Glas holen.«

»Soll ich?«

»Nein, das fehlte noch. Trinken Sie nur, dann kann ich hier trinken, von der andern Seite.«

Möbius trank wie verhext und fühlte ein starkes Sausen um die Schläfen. War das passend? War das richtig? Unmöglich. Er bereute tief, daß er sie aufgefordert hatte, zu trinken, aber jetzt war es zu spät. Sie streckte die Hand aus und nahm ihm das Glas ab. Nun trank sie mit halbgeschlossenen Augenlidern und einem Lächeln. Er kam plötzlich zur Besinnung. Weiß Gott, warum schien er erwartet zu haben, daß sie wie eine Konfirmandin trinken würde, bescheiden, sittsam. Der Ring verlor seine Bedeutung. Sie war Perrinis und Schiötts Freundin; das hatte er vergessen, das durfte er nicht vergessen. Und nun er daran dachte, wie still es unten war! Saßen sie wirklich da? Er runzelte die Stirn und wollte sie danach fragen. Sie kam ihm zuvor:

»Sagen Sie mir, sind Sie in Vera verliebt?«

Möbius' Hand glitt vom Bart herab; er setzte sich gerade auf und fühlte, daß er ebenso rot wurde wie Baron de Longuevilles Traube. Wie konnte sie wagen? – was meinte sie? Ob er – nein, das ging zu weit! Er sah sie mit einem eiskalten, linealgeraden Klassenvorsteherblick an und sagte mit seiner allertrockensten Stimme:

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen?«

»Aber ja! Sind Sie in Vera verliebt?«

»Ich verstehe, daß Sie mich beleidigen wollen.«

»Gott, wie Sie sich gleich aufregen! Sie sind also in sie verliebt?«

Möbius rollte die Augenbälle beinahe wie ein Neger. Der Gustav-Adolf-Blick war total fort. Er hob die Hand, um auf den Tisch zu schlagen.

»Werfen Sie ihn nicht um, er ist so wacklig! Ach so, Sie sind nicht in sie verliebt? Ich hätte es geglaubt. Sie ist gerade etwas für Sie. Leugnen Sie nur nicht! Ich habe schon bemerkt, wie Sie sie gestern abend angesehen haben, als Peter Schiött …«

Möbius stand auf, zitternd vor Erregung, ohne zu wissen, was er sagen sollte, um diesen dummen, sinnlosen Insinuationen ein Ende zu machen. Er sollte in Vera verliebt sein! Er war ja nach reiflicher Selbstprüfung zu dem Resultat gekommen, daß ihn nicht einmal nach ihr gelüstete, wenigstens nicht in einer Weise, die sich nicht mit dem Schicklichen vereinigen ließ. Wieder fiel sein Blick auf den glatten Ring.

»Sind Sie verheiratet?« rief er.

»Ja, das heißt …«

»Das heißt, Sie sind geschieden! Sie haben Ihren Mann im Stiche gelassen, Ihre Pflicht, um mit Abschaum zusammenzuleben, der keine andre Beschäftigung hat, als die bürgerliche Moral …«

»Mein Mann ist gestorben,« sagte sie.

»Er … ach so …«

Möbius brach jäh in seinem Wortstrome ab, er machte halt wie ein Fluß vor einer herabgelassenen Schleuse. Mechanisch nahm er wieder seinen Platz auf dem Bette ein und durchbohrte sie weiter mit blitzenden Augen. Aber er konnte keinen neuen Faden an Stelle des abgerissenen finden. Dann geschah das Unfaßbare. Ein Paar schlanke Arme lagen plötzlich um seinen Hals. Es war ein eigentümliches Gefühl, so, als ob eine Schlingpflanze rings um ihn emporgewachsen wäre und die Aussicht verdeckt hätte. Ein feuchter Mund suchte durch den Gustav-Adolf-Bart seine Lippen. Er fühlte eine weiche Last über sich. Vor seinen Augen wurde es dunkel. Er hörte ein Flüstern.

»Ach, Sie sind süß – zanken Sie nur mit mir – das tut gut.«

Er kämpfte, als wäre er noch in der Roskilder Domkirche in Perrinis Krallen. Er schlug mit den Armen um sich, er versuchte, die Hände hinter seinem Nacken zu lösen und sich von dem Bett zu erheben. Die Schwere lag nur noch schwerer über ihm. Endlich flog der Tisch mit einem Getöse von zerschmettertem Glas um, er war frei, zuerst mit einem Teil des Körpers, dann ganz und gar. Er erhob sich fieberheiß, nach Worten und Luft ringend. Sie erhob sich auch mit einem Ausdruck, der ihn stumm machte. Ihre Augenbrauen waren leicht emporgezogen und ihre Lippen ein wenig geöffnet. Das war alles, und doch schwieg Möbius, als wäre er auf frischer Tat bei etwas unsäglich Unwürdigem überrascht worden – Gewalttätigkeit gegen eine Frau oder etwas Derartiges. Sie klaubte ruhig das Tablett vom Boden auf, er bückte sich ungeschickt, um ihr zu helfen, aber sie schob ihn zurück. Plötzlich war sie verschwunden. Möbius stand allein mitten im Zimmer und sah nach der Tür.

Seine Gedanken waren total verwirrt. Schließlich klammerte er sich an einen tröstenden Gedanken wie an eine Boje: Dieses eine Mal konnte kein Zweifel herrschen, daß er die Versuchung bestanden hatte. Seine Position gegenüber dem neunten und achten Gebot konnte zum Gegenstand einer Debatte gemacht werden; in bezug auf dieses war sie klar. Eigentümlicherweise empfand er keinen besonderen Triumph darüber; war das ein Zeichen der Demut? Wahrscheinlich. Stunde nm Stunde verging, er dachte unaufhörlich dieselben Gedanken durch. Als er endlich auf die Uhr sah, bereit, zu Bett zu gehen, war es schon fast eins. Gerade da hörte er vorsichtige Schritte auf der Treppe und fuhr zusammen. Wer war das? Wer kam jetzt? Perrini? Hoff-Jensen? Um diese Zeit? Jetzt öffnete sich die Tür. Wie schon einmal am Abend, sah er zu seinem Erstaunen die blonde Frau Zingel.

Sie öffnete nur einen Spalt und lächelte ihm leise zu.

»Ich wollte Ihnen nur sagen,« flüsterte sie, »daß alles in der Vanadis gut gegangen ist.«

»Vanadis?« stammelte Möbius.

»Ja, alles ist gut gegangen. Eben sind sie nach Hause gekommen. Das heißt, nur so elftausend Kronen … Perrini und Peter Schiött haben mich gebeten, Ihnen zu danken, daß Sie ihnen geholfen haben, den Schweden fortzuschaffen. Gute Nacht.«

Sie schloß die Tür. Vorher sah Möbius noch ein rosiges Negligé und ein Paar hochhackige Pantöffelchen.

Das beruhigende Gedankengebäude, das er eben gezimmert, fiel zusammen wie ein Kartenhaus. Wenn er gegen Frau Potiphar bestanden hatte, schien hingegen kein Zweifel zu herrschen, daß er indirekt das siebente Gebot übertreten hatte, also direkt das achte. Und die Uebertretung des siebenten war kein Spaß.

Soweit er sehen konnte, fesselte ihn das für Zeit und Ewigkeit an die Verbrecher.


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