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IV.
Ein Kapitel, das von Schrecknissen erfüllt ist

Eine Kirche bei Tageslicht gibt dem Gemüte Ruhe, aber eine Kirche bei Nacht?

Es war etwas über halb sieben Uhr, als Adjunkt Möbius sich in der Roskilder Domkirche eingesperrt fand.

Anfangs blieb er in Gedanken stehen, die sich mit der ethischen Seite der Situation befaßten. Was hatte er eigentlich getan? Er begann mit sich selbst zu Rate zu gehen; gar bald stellte sich eine Reaktion nach dem Gefühlsrausch ein, der ihn im Chor überwältigt hatte. Er lächelte über seine Exaltation. Er war seiner ersten wirklichen Versuchung begegnet, und er war ihr erlegen; das war richtig insofern, als er mit Wissen und Willen in einer Sache unrecht gewählt hatte. Aber diese Sache war eine Bagatelle, ein Adiaphoron; sie lag unter der sittlichen Wertgrenze. Wäre er wirklich gefallen, dann müßte diese unrichtige Wahl Konsequenzen haben, ihn in seiner sittlichen Handlungsfreiheit behindern. War das denkbar? – Er antwortete nein auf seine eigene Frage. Er war in der Kirche eingesperrt und in seiner äußeren Handlungsfreiheit behindert, aber in seiner inneren? Nein. Die einzigen Konsequenzen, die sein »Fall« haben konnte, waren praktischer Natur. Eine lästige Situation für den Augenblick und vielleicht eine unangenehme Auseinandersetzung später. Bevor er noch weiter darüber spintisierte, tat er jedenfalls klug daran, sich zu überzeugen, ob er wirklich eingesperrt war.

Er rüttelte noch ein paarmal an der Tür der Wappenhalle und ging dann auf das große Eingangstor zu. Was dieses betraf, hatte er keine große Hoffnungen und war also auch nicht sonderlich niedergeschlagen, als er es mit Riegeln und Querstangen verschlossen fand. Nun erübrigte noch zu sehen, ob sich sonst irgendwo in der Kirche noch eine Tür befand.

Er ging das rechte Seitenschiff hinauf, jeden Winkel und jede Ecke durchforschend, passierte einen schmalen Chorgang, fand zwei Sakristeien und kehrte durchs linke Seitenschiff zum Ausgangspunkt zurück. Er hatte konstatiert, daß sich noch zwei Türen in der Kirche befanden. Diese waren in den zwei Sakristeien. Insofern hatte seine Entdeckungsreise seine Chancen, herauszukommen, verdoppelt. Aber die beiden neuen Türen waren versperrt, und er stand also auf demselben Punkt wie früher.

Er war allein in der Roskilder Domkirche, allein und eingesperrt. Es dämmerte ihm auf, daß die praktischen Unannehmlichkeiten, die die Folge seines »Falles« sein würden, sich recht ernst gestalten konnten. Bis zum Sonntag waren drei Tage, und sollten an diesem Sonntag nicht die Begräbnisglocken für ihn läuten, hatte er nur auf zwei Dinge zu hoffen: daß der Kirchendiener besonders pflichteifrig war oder daß Touristen auf Besuch kamen. Bezahlende Touristen, ehrliche Menschen, die ihre fünfzig Oere an den alten Kirchendiener erlegten. Kamen solche oder war der Kirchendiener eifriger als andre seiner Gilde, dann hatte er Aussicht auf Rettung, sonst …

Es gab ja eine dritte Möglichkeit: er konnte versuchen, auf eigene Hand aus der Kirche herauszukommen. Aber wollte er das, dann hatte er offenbar keinen andern Ausweg, als es mit einem der Fenster zu versuchen. Bei den Türen hatte er bestimmt keine Aussicht auf Erfolg. Aber der bloße Gedanke an ein Fenster war genug, damit ihm das Blut zu Kopfe stieg. Erstens, wie sollte er so hoch hinaufkommen, zweitens, sie sahen so schmal aus, daß es fraglich war, ob er sich durchzwängen konnte, drittens, man denke, wenn er durchkäme und draußen Leute standen und ihn hinausklettern sähen … ihn, einen Beamten, einen Pädagogen.

Die Wölbungen erhoben sich in strenger Geradlinigkeit rings um ihn; er sah sie an, die Gedenktafeln, die alte Orgel, das Altarbild, die Kanzel. Er stand mitten unter all diesem, das er zu besichtigen gewünscht hatte, frei, es zu untersuchen, frei, vom Baume der Erkenntnis zu pflücken … Und seltsam, er verspürte keine Lust mehr nach seinen Früchten. Er hatte sie im Augenblick satt. Hatten Adam und Eva ebenso empfunden?

Da waren die dummen Phantasien schon wieder! Er verscheuchte sie ärgerlich. Ein praktischer Gedanke kam ihm: wieviel Uhr war es? Es zeigte sich, daß es ungefähr acht war. Eines stand fest, heute abend kam kein Mensch mehr in die Kirche. Wollte er vor dem Morgen herauskommen, dann mußte er es auf eigene Faust versuchen. Im entgegengesetzten Fall mußte er die Nacht in der Kirche verbringen. Sollte er es mit einem Fenster probieren?

Ohne einen Entschluß gefaßt zu haben, begann er die Kirchenmauern entlang zu gehen und Fenster für Fenster mit den Blicken zu untersuchen. Fenster für Fenster erschien ihm gleich unmöglich. Sie waren hoch oben angebracht; sie waren schmal; sie waren mit einer Unmenge von Haken bis zur Decke versperrt; wollte er durch eines von ihnen heraus, dann mußte er eine gemalte Scheibe einschlagen. Und dieser Gedanke genügte, um ihn zu einem Entschluß zu bringen. Er wollte nichts derartiges tun. Er mußte schon bis morgen in der Kirche bleiben.

Plötzlich merkte er, daß es unter den Wölbungen dämmerig zu werden begann. Als er auf die Uhr sah, war es gegen zehn. Gleichzeitig merkte er noch eine andre Sache: er war furchtbar hungrig. Im selben Augenblick wurde er in seinem Entschluß schwankend und blieb unter einem der gemalten Fenster des Chorgangs stehen. Es saß nicht ganz so hoch oben wie die andern. Sollte er vielleicht doch?

Ein harter Kampf begann in seinem Innern. Einmal ums andere verschränkte er die Hände auf dem Rücken und machte einen halben Schritt, um zu gehen. Einmal ums andre blieb er stehen und starrte das Fenster an. Sein Magen war ebenso unschlüssig wie seine Seele; wenn er das Fenster lange genug angesehen hatte, um ins klare gekommen zu sein, daß er nicht wollte, schien der Hunger verschwunden; kaum hatte er einen Schritt zum Gehen gemacht, als der Magen so zornig aufschrie, daß er ein Echo in der Kirche zu hören glaubte. Plötzlich kam ihm eine Idee: Sollte er dem Beispiel seines Magens folgen und schreien?

Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Es war doch immerhin die Möglichkeit vorhanden, daß er gehört wurde. Er erhob seine Stimme und stieß ein Geheul aus. Es klang unsicher, und das Echo aus dem Innern der Kirche hatte mit seiner Stimme nicht die geringste Ähnlichkeit. Er wartete und entsandte noch ein Geheul. Auch das blieb unbeantwortet. Eine rufende Stimme in der Wüste, dachte er, und begann von neuem. Er schleuderte einen dritten, einen vierten, fünften Notschrei hinaus, er legte die volle Kraft seiner Lungen in jeden; es schien ihm, daß er die Toten in den Grabkapellen der Kirche erwecken müßte, auf jeden Fall erweckte er keinen Lebenden. Es war sehr trostreich, daß er vor den ethischen Folgen seiner ersten freien Wahlhandlung nicht zu bangen brauchte; aber die praktischen bekamen von Stunde zu Stunde ein immer ernsteres Gesicht.

Immerhin hatten seine Schreie eine Wirkung, wenn schon keine andre: sie machten ihn müde. Er hatte seinen Magen übertönt; der schlief wie ein weinerliches Kind mit leisen Protesten, aber er schlief. Er beschloß, seinem Beispiel zu folgen. Eine Kirche ist nicht das Ideal eines Hotels, aber eine anspruchslose Schlafstelle kann sie schon abgeben. Möbius suchte sich eine Bank unterhalb der Kanzel aus, unweit von der Säule, hinter der er sich vor dem alten Diener versteckt hatte. Die Bank war schmal, aber Möbius war ja auch nicht breit. Er streckte sich aus, legte den Kopf auf den Arm, und nach zwanzig Minuten schlief er.

Nicht einmal ein Theolog schläft gut in einer Kirche, wenn er auf einer schmalen Bank schläft, den Kopf auf dem Arm. Er kann anfangs von den Füchsen träumen, die Höhlen haben, während er selbst nur einen Stein zu haben scheint, um sein Haupt darauf zu legen. Aber bald kommen ärgere Träume. Die Unruhe, von der Bank zu fallen, wird zur Unruhe des bösen Gewissens vor einem Fall, der vielleicht schon geschehen ist. Das schwere Atmen wird zu dem schnarrenden Vortrag eines Kirchendieners, der eine Kirche vorzeigt. Die Krampfgefühle in dem Arm, auf dem er liegt, rufen Träume hervor, daß man ihn aufs Rad geflochten, zur Strafe für gewisse Dinge, die er verbrochen hat. Schließlich fährt er in die Höhe und starrt mit blinden, schlaftrunkenen Augen um sich. Die Gründe, mit denen er bei Tageslicht seinen Fall und seine Schuld wegargumentiert hatte, haben in der Dunkelheit keinerlei Beweiskraft. Sein Herz pocht vor Schuldgefühl und Angst. Er sieht Säulen, die sich nach oben zu in der Dunkelheit verlieren wie riesige Baumstämme; er sieht wunderliche Dinge, die ihm aus dem Dunkel zwischen diesen Stämmen entgegenstarren; hier und dort funkelt es matt auf, ohne daß er weiß warum; er hört verstohlenes Rascheln und weiß nicht, woher es kommt; schließlich fährt er in unaussprechlicher Angst zusammen. Was war das? Hat er nicht Schritte gehört? Aber wer geht denn um Mitternacht in einer Kirche herum? Sie ist leer; kein andrer haust darin als die Toten, die in den Kapellen und unter dem Steinboden liegen. Sind sie es, die …, waren es ihre Schritte, die er … Dummheiten, die Toten gehen nicht um, das ist Animismus, das ist der Aberglaube der Naturvölker, daran glaubt kein moderner Mensch … Aber, Gott im Himmel, was war das? Das waren Schritte, leise Schritte, so leise, wie er sie nie … Gütiger Gott … und flüsternde Stimmen … Zu Hilfe!

Der Hilferuf des Adjunkten Möbius wurde jetzt ebensowenig gehört wie vorher am Abend. Aber diesmal kam es daher, daß er in seiner Kehle erstickte, bevor er laut wurde.

Er war von der Angst vor etwas Uebernatürlichem geboren; von der Angst vor etwas, das überaus natürlich schien, wurde er erstickt. Kaum zehn Schritte vor ihm funkelte eine Laterne auf, die jemand in der Hand hielt. Ein schmaler Lichtkegel schnitt ein Stück der Dunkelheit weg, er huschte über eine Reihe mattblinkender Stangen; eine undeutliche Kontur wurde dahinter sichtbar; plötzlich fiel der Laternenschein auf eine andre Gestalt, die für eine Sekunde deutlich wurde. Dann erlosch das Licht. Ein zischender Laut setzte ein, ein Mittelding zwischen dem Knirschen einer Säge und dem Schnarren einer Feile. Adjunkt Möbius, der sich zu sitzender Stellung erhoben hatte, sank an die Banklehne zurück und zog mechanisch ein Taschentuch heraus. Als er es von der Stirn nahm, merkte er, daß es ganz naß war. Es konnte kein Zweifel mehr über das herrschen, was er gesehen; das waren keine Gespenster aus der Kapelle, das waren lebende Menschen. Und konnte irgendein lebender Mensch um diese Zeit in löblicher Absicht in der Kirche sein? Was bedeutete dieses Licht, das aufflammte und erlosch? Was war das für ein Knirschen, das er da hörte? Es gab nur eine Antwort auf diese Fragen: Es waren Diebe in der Kirche, nicht die Toten waren es, die die Kapellen verließen, sondern die Lebenden, die dort einbrachen.

Mit dem Taschentuch an der Stirn suchte Möbius zu sehen, was vorging. Als er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, war sie nicht tiefer, als daß er zwei Silhouetten ahnen konnte, die sich bewegten, eine größere und eine kleinere. Sie standen, wie es schien, vorgebeugt, Seite an Seite. Er ahnte die Konturen von zwei Sportmützen. Der knirschende Laut hatte an Stärke zugenommen. Von Zeit zu Zeit setzte er aus, die Schattenfiguren erhoben sich und horchten. Dann setzte das Geräusch wieder ein. Plötzlich flammte die Laterne auf; der weiße Lichtkegel glitt über dieselben dünnen mattblinkenden Stangen wie zuvor. Plötzlich stand die Wahrheit klar vor Möbius.

Die dünnen Stangen gehörten zu dem Gitter in der Kapelle Friedrichs des Fünften. Die lag ja gerade hier! Gerade vor dieser Kapelle hatte ja sein Fall stattgefunden. Die Diebe waren im Begriff, das Gitter zu durchsägen, und dahinter lagen all die Goldkränze auf den Königssärgen.

Gleichzeitig damit dämmerte es Möbius auf, daß seine erste Wahl wirklich Konsequenzen ethischer Art nach sich zu ziehen schien. Konnte er es vor sich selbst verantworten, die Diebe, wie sie wollten, hausen zu lassen? Nein. Es war seine offenkundige Pflicht, dies zu hindern. Und da er es selbst nicht konnte, mußte er Hilfe herbeirufen.

So weit gekommen, fuhr er sich verzweifelt über die Stirn. Es war gut und schön, daß er Hilfe herbeirufen mußte, aber wie? Woher sollte sie kommen? Niemand hatte sich gemeldet, als er für seine eigene Rechnung um Hilfe gerufen hatte. War es wahrscheinlich, daß jemand kam, wenn er mitten in der Nacht für Rechnung der Kirche um Hilfe rief? Die Diebe würden wohl die ersten sein, die ihn hörten, und sie …

In diesem Augenblick verstummte der knirschende Laut, Möbius glaubte die Stille zu hören. Nun kam ein leises, sehr leises Klappern. Das war das Gitterpförtchen, das aufging. Das Schloß war durchsägt. Die zwei dunklen Silhouetten verschoben sich, wurden undeutlich und verschwanden. Möbius richtete sich von der Bank halb auf, um etwas zu sehen, aber er sah nichts. Die Dunkelheit in der Kapelle hatte alles verschlungen. Nur ein schwarzes Flimmern zeigte, wo eines der Fenster sich befand. Die Nacht mußte wolkig und ohne Mondschein sein; die Scheibe war kaum schiefergrau. Was sollte er tun?

Er umklammerte den Rand der Bank, bis ihm die Fingerspitzen kribbelten. Endlich stand er mechanisch auf und trat ins Seitenschiff. Aus der Kapelle hörte man huschende Schritte und ein Rutschen wie von jemand, der klettert. Er entsann sich, daß die Särge hoch waren. Die Diebe erklommen sie wohl, um zu den Kränzen zu gelangen. Eine Pause entstand; dann kam ein leises Klirren, das sich einmal ums andre wiederholte. Es klang wie der spröde Laut von dünnem Eis, das zersplittert. Es erweckte ihn zur Besinnung.

Wollte er handeln, mußte es rasch geschehen. Das Klirren konnte nur eines bedeuten: Die Diebe waren dabei, die Beute einzupacken. Sollte er um Hilfe rufen? Die ethische Forderung rief ja, die Lust des Ichs nein. Dieselbe Wahl wie am Nachmittag, dieselbe Wahl wie immer. Aber nun wollte er stark sein; nun würde er beweisen, daß seine erste unrichtige Wahl seine Handlungsfreiheit nicht beeinträchtigt hatte. Er fühlte, daß er es beweisen konnte, denn sein ganzes verflossenes Leben, sein ganzes Wesen mahnte ihn, das Rechte zu wählen und gegen die Diebe einzuschreiten. Wenn dies seinen Entschluß leichter machte, so war er sich dessen nicht bewußt.

Welche dunkle Inspiration ihn zum Chor hinaufführte, wußte er nicht. Vielleicht erinnerte er sich unbewußt, daß er dort draußen Häuser erblickt hatte. Aber plötzlich lief er hin, durch ein dunkles Seitenschiff, Schreie ausstoßend, die mit denen der Teutonen hätten wetteifern können. Er schrie mit der vollen Kraft seiner Lungen, schrie blind in die Nacht hinaus, schrie so, daß er alles andre übertönte, sogar das Pochen seines Herzens. Er sah eine mattschimmernde Fensterfläche und stürzte auf sie zu wie die Motte aufs Licht. Dann bog er mechanisch in eine Seitenkapelle ein; vielleicht war es ein dunkler Gedanke, sich zu verbergen, der ihn hinführte; auf jeden Fall war dies aussichtslos, solange er so brüllte. Jetzt konnte er nicht mehr. Mit trockenem Halse sank er vor dem Fenster in der kleinen Kapelle nieder. Sah er recht?

Ja – das Fenster vor ihm war offen, und eine Strickleiter hing durch dasselbe herab.

Kaum war ihm dies zum Bewußtsein gekommen, als etwas Neues sich ereignete. Ein großer Körper schoß zur Kapelle hinein und warf ihn um. Er hörte furchtbare Flüche. Dann lag etwas Schweres auf ihm, das ihn beinahe zerquetschte. Er hörte Stimmen, und eine Laterne funkelte auf.

Ein paar Augenblicke vergingen; dann kam ein schrilles Gelächter.

»Was zum Teufel, ist der Pfaffe um diese Zeit in der Kirche!«

Der Laternenschein glitt von seinem Gesicht über seine Person. Er sah dabei selbst etwas. Auf ihm saß ein dicker Mann mit einer Sportmütze. Er war glatt rasiert und hatte ein breites Gesicht mit vorspringendem Unterkiefer. Höher oben sah er ein andres Gesicht – der Körper verlor sich in der Dunkelheit – blaß, schmal und verschlagen, mit zusammengekniffenem Munde und listigen Augen. Mehr konnte er nicht sehen, denn nun schien ihm die Laterne in die Augen.

»Wer sind Sie?« Es war der Dicke, der sprach. Seine Stimme war hart, mit einem starken Akzent, der sogar Möbius auffiel. Gleichzeitig klang sie verblüfft. Abermals stand Möbius vor einer Wahl. Was sollte er sagen? Er dachte rasch und beschloß, die Wahrheit zu sprechen. Uebrigens fühlte er, daß er augenblicklich unfähig gewesen wäre, zu lügen.

»Ich – bin aus Schweden.«

»Aus Sveden sind Sie? Was tun Sie 'ier?«

Es war keine Frage, die Stimme unterschlug das H. Der Mann mußte ein Ausländer sein. Möbius vermied die deutliche Gegenfrage, zu der er berechtigt gewesen wäre.

»Ich war da, um mir die Kirche anzusehen –«

»Ah, Gessichten! Geht man in Sveden bei Nakt die Kirken anzusehen?«

Diesmal konnte Möbius sich nicht beherrschen. Bevor er sich dessen recht bewußt wurde, hörte er sich sagen:

»Man scheint es wenigstens in Dänemark zu tun.«

Seine Replik erntete keinen Applaus. Man schüttelte ihn unsanft.

»Zum Teufel! Keine Dumm'eiten swätzen, geswind, was maken Sie 'ier?«

»Ich wollte mir heute nachmittag die Kirche ansehen – und ich wurde eingesperrt –«

»Lüge! Sie lügen! Der Bediente sperrt niemand ein. Ik bin selbst 'ier gewesen. Geswind, sagen Sie, was maken Sie 'ier?«

Abermals stand Möbius vor der Wahl, zu lügen oder die Wahrheit zu sprechen und seine Schande zu enthüllen. Er wählte ein Kompromiß.

»Ich hatte kein Geld, um den Diener zu bezahlen, und –«

Die Laterne kam näher und starrte ihm forschend und hynotisierend in die Augen.

»Ah! Sie 'aben ihn beswindelt! Ah! Ik glaube Ihnen, so sehen Sie aus! Was sind Sie daeim in Sveden?«

Möbius blinzelte gegen die Laterne.

»Adjunkt.«

»Was ist das, Adjunkt?«

»Adjunkt der Theologie – Lehrer.«

»A–a–a–h, ein Pfaffe! Geht in die Kirke und beswindelt den Küster, a–a–a–h.«

Der Mann auf Möbius wälzte sich vor Lachen, und Möbius' Rippen knisterten wie trockene Späne. Im selben Augenblick hörte er ein leises Geräusch und sah auf. Jemand kam durchs Fenster hereingeglitten. Seine Rufe waren gehört worden! Möchte doch der, der hereinkam, stark genug sein, um mit dem Manne, der auf ihm lag, zu ringen. Nach der Schwere zu urteilen, mit der er Möbius belastete, mußte er eine Riese an Kräften sein.

Au! Jetzt sah der Mann über ihm auf und erblickte die Person, die zum Fenster hereingeglitten kam. Aber er rüstete sich nicht zum Kampfe. Er sagte ganz gleichgültig:

»Na?«

»Keine Seele,« antwortete der Mann, der hereingekommen war. »Dieses Individuum ist das einzige, das in Roskilde wach ist.«

Möbius sank zusammen, soweit dies noch möglich war. Dies war also der Spießgeselle, der fortgewesen war, um das Terrain zu sondieren. Seine Rufe waren vergebens gewesen. Der Dicke erhob sich, nachdem er erst noch untersuchend mit den Fingern über Möbius gefahren war. Möbius empfand eine physische Erleichterung, die seine innere Niedergeschlagenheit in gewissem Maße aufwog.

Der Schwere und sein Helfershelfer begannen murmelnd miteinander zu sprechen; der Helfershelfer lachte schrill auf und beleuchtete Möbius mit der Laterne. Dann verschwand der Schwere mit der Laterne und ließ ihn mit seinem Freunde allein. Möbius erhob sich vorsichtig und dachte nach, ob ihm dies vielleicht irgendwelche Chancen eröffnete. Bevor er noch darüber ins klare gekommen war, fühlte er, wie ein Arm sich freundlich unter seinem rechten Arm durchschlängelte, hinter seinen Rücken und unter seinen linken Arm. Er war in der liebenswürdigsten Weise gefangen. Die schrille Stimme, die er schon gehört, sagte scherzhaft vorwurfsvoll:

»Schöne Geschichte, was? Hat man so was gehört! Der Pfarrer bemogelt den Küster! Hahaha … Fünfzig Oere. Alle Pfaffen sind über einen Leisten, und was hat man von ihnen? Nichts! Einen Schmarren.«

Möbius war froh über die Dunkelheit, die sein Gesicht verbarg. Wenn die Steine in der Kirche geschwiegen hatten, so sprachen diese, um seinen Fall zu künden.

Plötzlich tauchte ein schmaler Lichtstreifen in der Kirche auf. Der Schwere kam zurück. Es klang, als schleppte er etwas. Jetzt nimmt er die Goldkränze und verduftet, dachte Möbius, und morgen, wenn man mich hier findet, werde ich des Einbruches beschuldigt und verurteilt. Wenn ich je geneigt war, meine Mitmenschen ungehört zu verurteilen, so gelobe ich, es nie mehr zu tun.

Der Arm, der ihn so liebenswürdig arretiert hielt, gab ihn jetzt frei, und sein Besitzer verschwand durchs Fenster. Der Schwere umklammerte mit eisernem Griffe Möbius' Handgelenk und beugte sich zu ihm herab.

»Keine Dumm'eiten anstellen. Sie kapieren? Nit rufen, nit sreien! Ihr eigene Vorteil – keine Dummeiten anstellen!«

Sein Atemhauch und seine Warnung trafen Möbius mitten ins Gesicht. Möbius bemerkte, daß er unmöglich ein Feind von alkoholischen Getränken sein konnte. Seine eigene Bekanntschaft mit dem dänischen Branntwein war noch nicht besonders groß, aber er glaubte mit Sicherheit feststellen zu können, daß sowohl Aalborg wie Bröndum zu den Gewohnheiten des Schweren gehörten. Was die Warnung betraf, fiel es ihm nicht schwer, ihr nachzukommen. Wenn er auch noch so gern Dummheiten gemacht hätte, es wäre ihm im Augenblick nicht möglich gewesen. Dieser Teil seiner Phantasie war gelähmt. Der Schwere nahm seinen Rucksack und schleuderte ihn mit einem Riesenschwung seinem hellstimmigen Freund hinauf, der ihn ergriff und durch den Anprall fast zum Fenster hinausgefallen wäre. Er erlangte das Gleichgewicht wieder, und der Rucksack verschwand. Jetzt geht der Schwere, dachte Möbius, und nimmt die Strickleiter mit. Morgen kommt der Kirchendiener und findet mich, und ich werde angeklagt, und …

Dieselbe harte Hand wie früher umspannte sein Handgelenk, und die zwei berühmten Branntweinmarken umhüllten ihn aufs neue.

»Auf! Geswind, und merken Sie sik; keine Dummeiten anstellen, nit sreien, nit rufen! Sie sehen: 'ier ist Revolver. Sie sreien, ik sieße!«

»Auf … auf …«

Möbius stammelte und starrte das Schattengesicht neben sich an. Er wußte nicht mehr aus und ein. Der Schwere kam ihm zu Hilfe.

»Glauben Sie vielleicht, Sie bleiben 'ier, der Polizei alles erzählen? Glauben Sie, wir Idioten wie Sie? Geswind! Auf!«

Möbius' Inneres war ein Chaos; das verletzte Selbstgefühl suchte sich hinaufzukämpfen, wurde aber von einer seltsamen Befriedigung niedergehalten, nicht hier bleiben und mit dem Domkirchendiener konferieren zu müssen. Er packte die schwanke Strickleiter und kletterte ungeschickt hinauf, hie und da von dem Knie des Schweren unterstützt. Es hätte weicher sein können.

Jetzt atmete er frische Luft: Er kam ohne Schwierigkeit über den Rand des schmalen Fensters und merkte, daß, wenn die Strickleiter innen nötig war, sie draußen überflüssig wurde. Das Fenster befand sich in einem dunklen Winkel an einem kaum drei Fuß über dem Erdboden befindlichen Vorsprung. Er hörte ein Keuchen hinter sich. Der Schwere war oben. Er machte die Strickleiter los und wand sie einfach und praktisch Möbius um Brust und Arme. Dann nahm er Möbius bei der linken Hand, den Rucksack in die Rechte, und begann auszuschreiten. Sein hellstimmiger Freund trug den Rucksack von der andern Seite. Es begann so licht zu werden, daß Möbius ihre Gesichter sehen konnte. Der Anblick bestätigte, daß es unangebracht gewesen wäre, Einwendungen zu erheben. Der Schwere beugte sich zu ihm vor; zum letztenmal brannte der Warnungsschuß Möbius unter der Nase ab:

»Merken Sie sik! Keine Dumm'eiten anstellen! Sie sreien, ik sieße!«

Möbius glaubte zu merken, daß die Proportion zwischen den zwei berühmten Marken 2 : 1 war, zu Bröndums Gunsten. Er war so betäubt, daß er kaum bemerkte, durch welche Gassen er geschleppt wurde.

Plötzlich waren sie in einer Allee von Pappeln. Unter einer derselben stand ein Auto. Der Hellstimmige setzte sich an das Lenkrad; der Schwere warf sich auf den Rücksitz und placierte Möbius neben und den Rucksack vor sich. Eine Sekunde später rollten sie lautlos unter den Pappeln davon, und noch etwas später schlief Adjunkt Möbius sanft in dem schaukelnden Auto ohne einen Gedanken an sittliche Probleme.


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