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I.
In dem die Sonne auf Adjunkt Quillander scheint

Der Jüngling, der einen Aufsatz schreibt, hat eine Disposition; der Feldherr, der eine Schlacht lenkt, hat einen strategischen Plan; und der Darlehenssucher, der den Indossanten aufsucht, hat das Herz voll von Kombinationen und Entwürfen. Der Platz, der nicht von diesen in Anspruch genommen wird, ist von Furcht ausgefüllt. Er geht wie ein Mann, der zum Zahnarzt geht. Seine Bewegungen sind langsam; er macht alles abgemessen und zierlich. Dingen, die ihm sonst entgehen würden, widmet er ein übertriebenes Interesse; er bleibt stehen, um kleine, schmutzige Hunde zu streicheln, er bläst unsichtbare Stäubchen von seinem Ärmel, er lauscht aufmerksam einem Gassenhauer, von einem rotzigen Gassenbuben gepfiffen. Aber hauptsächlich lauscht er dem unruhigen Sang seines Herzens. Wird er nein sagen? Wie soll ich anfangen?

Adjunkt Quillander war den Weg nach Canossa so oft gegangen, daß er von seinen Schritten schon ausgetreten war; er hatte es mit Erfolg getan; er war geübt, dem scheuen Indossanten Fallen zu stellen; und doch klopfte sein Herz beim fünfzigsten Wechsel wie beim ersten. Ja, mehr, denn die ersten Wechsel stellt man im jugendlichen Uebermut aus; es sind ökonomische Ueberrumpelungen. Doch bald wird die angeborene Farbe der Entschließung von des Gedankens Blässe angekränkelt, und dieser Gedanke wird mit jedem Tage notwendiger. Man wird ein Balancierkünstler, der kontraktlich gezwungen ist, stets neue Tassen auf die Pyramiden zu stapeln, die er auf seiner Nase trägt. Aber der Kontrakt des ökonomischen Balancierkünstlers ist mit dem Teufel geschlossen, und er schielt unruhiger und unruhiger auf die Pyramide, um zu sehen, ob sie fallen wird. Soll ich ihm das Du antragen oder nicht? Soll ich gerade auf die Sache losgehen oder Umwege machen? Soll ich sprühend sein, Anekdoten erzählen, ihn unterhalten; oder soll ich ihn von der ernsten Seite nehmen? Soll ich fünfhundert riskieren, oder muß ich mich mit dreihundert begnügen? Diese Fragen widerhallen in dem Herzen des Darlehenssuchers, wenn er an der Ecke der Canossagaste steht und wie verhext einen Treppenaufgang in derselben anstarrt.

Adjunkt Quillander stand an einem Junitage an dieser Straßenecke. Er hatte fünfzehn Jahre der Studien an der Universität hinter sich. Er war Adjunkt in Latein und Geschichte. Sein Aeußeres war pompös, wie das eines Bischofs; seine Schultern breit und imposant, sein Gesicht streng und verfettet. Aber in seinem Innern herrschte Ratlosigkeit und Verzweiflung. Um das zu verbergen, sprach er unaufhörlich mit dem Adjunkten Schorn.

»Der Unterschied zwischen einem Wechsel und einem Infusionstier«, sagte Adjunkt Quillander, »ist, daß das Infusionstier bis ins Unendliche durch Spaltung fortleben kann, wozu ein Wechsel auch beim besten Willen nicht imstande ist.«

»Vermutlich nicht,« sagte Adjunkt Schorn und bohrte sich die Nase.

Wenn Adjunkt Schorn sich die Nase bohrte, geschah es aus hygienischen Gründen. Von Jugend auf führte er einen Ausrottungskrieg gegen die Bazillen im Nasenkanal und im Halse der Bierflaschen. Sein Nasenkanal war stets rein, und er schenkte sich nie eine Flasche Pilsner ein, ohne den Hals mit dem kleinen Finger desinfiziert zu haben. Adjunkt Schorn war klein und hatte runde, melancholische Froschaugen. Er war Sozialdemokrat, bitter gegen alle konservativen Regierungen und ein Freund der Kleinen in der Gesellschaft. »Du hast ein Faible für die unteren Klassen,« sagte Adjunkt Quillander erstaunt. Zu den Kleinen in der Gesellschaft rechnete Adjunkt Schorn auch die weißen und roten Blutkörperchen, die er in ihrer Arbeit durch Tiefatmung unterstützte.

»Morgen«, sagte Adjunkt Quillander, »ist der letzte Tag für vier Wechsel auf vierhundert Kronen.«

»Ursprünglich war es ein einziger Wechsel auf dreihundert mit den Unterschriften von Kjellquist, Sterner, Petrén und Alinder. Als er zum erstenmal verfiel, sagte ich mir, das ist eine Petition. Ich spaltete ihn in zwei Wechsel auf dreihundertfünfzig mit Kjellquist und Sterner auf einem und Petrén und Alinder auf dem andern. Das ist die Methode, die das Infusorium anwendet, um fortzuleben. Als die zwei Wechsel zu dreihundertfünfzig verfielen, spaltete ich jeden von ihnen in zwei neue auf vierhundert. Das Resultat ist, daß morgen der letzte Tag für vier Papiere auf vierhundert ist, und nun will die Bank entweder hundert Kronen Vorschuß auf jeden haben oder Verstärkung. Was soll ich tun? Soll ich Alinder, Kjellquist, Sterner und Petrén nach der philosophischen Dreiteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist aufteilen und zwölf neue Wechsel zu vierhundertfünfzig machen? Ich glaube nicht, daß das geht.«

»Nein,« sagte Adjunkt Schorn zustimmend.

»Nein,« wiederholte Adjunkt Quillander und schlug den Rock zurück, wie um sich einer befruchtenden Eingebung zu öffnen. »Das geht nicht, und Verstärkung für vier Wechsel kann ich nicht schaffen. Ebensowenig kann ich vierhundert Kronen auftreiben, und darum stehe ich hier. Dort drüben wohnt er. Er ist meine einzige Rettung.«

Adjunkt Schorn seufzte, ohne direkt an Unterstützung der roten Blutkörperchen zu denken.

»Stirbt denn dein Onkel nie?« fragte er.

Adjunkt Quillander zuckte die Achseln. Der ganze Lehrkörper träumte schon längst davon, eine Annonce mit dem Namen des Disponenten Fredrik Quillander als Kern in seiner schwarzen Schale zu sehen. Disponent Quillander war Junggeselle und hatte nach der Versicherung seines Neffen keinen sehnlicheren Wunsch als zu sterben und ihm alles zu hinterlassen. Ein unmildes Schicksal hatte ihm nun schon viele Jahre diese bescheidene Befriedigung versagt.

»Dort drüben wohnt er,« wiederholte Adjunkt Quillander, anstatt zu antworten.

»Ich hätte deine Papiere nicht trassieren sollen,« sagte Adjunkt Schorn mit noch einem Seufzer.

Adjunkt Quillander wandte sich ihm strenge zu.

»Bist du ein ›Sozi‹ oder nicht?« fragte er. »Wünschest du die ökonomische Weltkatastrophe zu beschleunigen oder nicht?«

Adjunkt Schorn antwortete mit einem dritten Seufzer, der seine sämtlichen Blutkörperchen mit Sauerstoff berauschte. Adjunkt Quillander zündete seine Zigarre an, die in fünf Minuten dreimal ausgegangen war, und wiederholte noch einmal:

»Dort drüben wohnt er! Er ist meine einzige Hoffnung. Und er hat bisher noch nie einen Wechsel unterschrieben.«

»Ich sah ihn heute,« sagte Adjunkt Schorn plötzlich. »Er sah so freundlich aus. Er wird doch nicht in Geldverlegenheiten sein?«

»Wie wäre das möglich!« rief Adjunkt Quillander ganz empört für seinen Indossanten. »Er lebt wie ein Mönch, er geht nie aus, und wie alle Leute sagen, gibt er seinen ganzen Gehalt seiner Tante, diesem furchtbaren Drachen. Wie könnte er in Geldverlegenheit sein?«

»Er sah so freundlich aus,« beharrte Adjunkt Schorn und bohrte sich nervös die Nase.

»Er!« Adjunkt Quillander hob den Finger, wie an die Schar unsichtbarer Zeugen appellierend, die uns stets umgibt. »Er! Wenn es wahr ist, daß jedes Ding eine Widerspieglung seiner Idee ist, so ist es sicher, daß die Idee des Pädagogen sich in Möbius spiegeln kann wie in einem Trumeau. Zehn Minuten Durchnehmen der neuen Lektion, sechsundzwanzig Minuten Prüfung der vorigen Lektion, acht Minuten Wiederholung, eine Minute Gebet, Summe fünfundvierzig Minuten. Er ist die Idee des Pädagogen.«

Er erhob seine Stimme noch mehr und rief zum Himmel, so wie Abels Blut rief:

»Er ist die Idee des Pädagogen, und ich gehe jetzt, um die Idee des Pädagogen zu bitten, einen Wechsel zu unterschreiben! Haha!«

Er warf seine ausgerauchte Zigarre weg, zündete eine neue an, verließ den Adjunkten Schorn, ohne Lebewohl zu sagen und ging mit hastigen Schritten auf ein Haus in der Straße zu, an deren Ecke er gestanden hatte. In seinem Innern widerhallten unruhige Stimmen. Soll ich ihm das Du anbieten? Ich bin älter als er, aber ich kenne ihn nicht. Soll ich weltlich oder geistlich sein, scherzhaft oder ernst? Ich kenne ihn nicht, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er unterschreiben muß.

Hatte er schon auf den Knopf gedrückt? Die Tür öffnete sich; seine Stunde war gekommen.

Ein strenges, verschlossenes Gesicht blickte ihm aus der Türöffnung entgegen. Aber es war nicht das Gesicht, vor das er gestellt werden sollte, um sein Urteil zu hören, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es war Tante Lundén, vierzigjährig und vergrämt, Möbius' Tante, die eine Hälfte seines väterlichen Erbteiles, aber nicht die, die Adjunkt Quillander augenblicklich interessierte. Sie fixierte ihn mit dem Blick eines Polizeikommissars. Adjunkt Quillander, der seine neue Zigarre schon weggeworfen hatte, murmelte eine Frage, ob sein Kollege zu Hause sei. Fräulein Lundén öffnete zögernd, und er trat langsam über die Schwelle. Das erste Boot seiner Pontonbrücke über den Rubikon lag an Ort und Stelle. Würde er zur andern Seite hinüberbauen können?

Plötzlich stand Adjunkt Möbius vor ihm. Er stand da, klein, graugekleidet, blauäugig und glattgekämmt. Er sah aus wie ein Schuljunge. Er hatte die Tür seines Arbeitszimmers so leise geöffnet, daß Quillander gar nichts gehört hatte. Er fixierte seinen Amtsbruder mit einem sanften, erstaunten Blick. Adjunkt Quillander räusperte sich:

»Störe ich?«

Er wollte schon sagen: dich, aber er erinnerte sich, daß sie noch nicht Duzbrüder waren. Sollte er jetzt gleich das Du vorschlagen? Bevor er sich's versah, hatte er es getan. Seine Zunge hatte sich mechanisch bewegt, wie die Hand, die er Adjunkt Möbius zur Bekräftigung der Bruderschaft reichte. Adjunkt Möbius sagte mit verschleierten Augen und sanfter Stimme:

»Danke, lieber Freund. Willst du nicht eintreten?« Das zweite Boot der Pontonbrücke lag auf seinem Platz. Nun ging Fräulein Lundén mit einem Blick, um den der ewige Richter sie hätte beneiden können. Adjunkt Möbius schob seinen Amtsbruder vor sich in das Arbeitszimmer und wies ihm freundlich Platz auf einem Fauteuil an.

»Rauchst du?«

»Danke – ich danke dir!«

Adjunkt Quillander nahm eine Zigarre aus einer Kiste, schnitt sie geistesabwesend ab und zündete sie an. Der erste Zug erweckte ihn zum vollen Bewußtsein. Das war ohne Widerrede die gräßlichste Zigarre, die er je zwischen seinen Lippen gehalten. Das Zeugnis, das sie von den ökonomischen Anschauungen des Hauses ablegte, war erschreckend. Ein solches Haus konnte reich sein und sein Inhaber milde, aber in diesem Hause wurden keine Wechsel unterschrieben. Die Rauchschlingen verflochten sich plötzlich zu einem Astralleib des Adjunkten Schorn. Dieser Astralleib krümmte sich, als rauche er eine ebensolche Zigarre wie Adjunkt Quillander, aber er krümmte sich in düsterem Hohngelächter, und eine Astralstimme sagte:

»Was habe ich gesagt? Möbius! Hahaha!«

Adjunkt Quillander wurde es schwarz vor den Augen. Sollte er ausreißen, wie ein Junge vor der Tür des Zahnarztes? Dann sah sein inneres Auge wieder klar vier Infusionswechsel mit der Inschrift:

Am heutigen Tage zufolge ausgebliebener Zahlung protestiert, bezeugt ex officio … Nein, er war nicht in der Lage, feige zu sein.

»Lieber Freund,« begann er, »ich vermute, du bist erstaunt über meinen Besuch.«

Möbius strich seinen Spitzbart, als fände er es unnötig zu antworten. Adjunkt Quillander fuhr fort:

»In gewisser Weise magst du ja auch Grund haben, es zu sein. Wir haben nicht viel Berührung miteinander gehabt. Eine Schule ist ein Treibhaus des Koteriewesens. Ich habe meine Koterie, Schorn und noch ein paar. Aufrichtig gesagt, weiß ich nicht, welcher Koterie du eigentlich angehörst.«

Adjunkt Quillander machte einen Zug an seiner Zigarre und dachte: Wenn ich mich jetzt in dem Grade überwinde, dies zu rauchen, bin ich größer als einer, der einen befestigten Platz einnimmt. Möge dies ein Omen für meinen Angriff auf dieses verschanzte Herz sein.

Denn mit der Frage nach Möbius' Koterie hatte er die eigentliche Attacke eingeleitet. Der Betreffende muß von sich selbst sprechen, muß lebhaft und ausführlich werden, dann geht es, sonst nicht.

Adjunkt Möbius zog seine kleine weiße Hand durch den Bart.

»Ich glaube nicht, daß ich irgendeiner Koterie angehöre,« sagte er still.

»Du hältst dich mehr für dich selbst?« schmeichelte Adjunkt Quillander weiter.

»Ja,« war alles, was Möbius erwiderte.

»Du studierst natürlich viel?«

»Hm, ja, etwas.«

»Du sollst dich ja mit dem Plan getragen haben, an der Universität zu bleiben und Dozent zu werden?«

»Nein, das könnte ich nicht sagen.«

»So? Ich hatte es gehört.«

»Das ist eigentümlich. Nein, das ist nicht der Fall.«

»Ich glaube, es war Schorn, der es erzählt hat. Ihr kennt euch ja von dieser Zeit her?«

»Sehr oberflächlich.«

»Ihr seid wohl übrigens gleichaltrig?«

»Das ist möglich. Ich glaube wohl.«

»Ich glaube auch. Schorn hat mir viel von dir erzählt. Er behauptet, daß du Sidenius' Lieblingsschüler warst.«

»Das ist eigentümlich. Das glaube ich nicht. Ich war wohl zu radikal für Sidenius.«

Adjunkt Quillander wagte nicht die Augenbrauen hochzuziehen. Dieses Lamm zu radikal! Er wußte sehr wenig von Theologie, und Professor Sidenius' Position war ihm total unbekannt, aber es fiel ihm schwer, zu glauben, daß sie nicht avancierter sein sollte als die Möbius'. Uebrigens hatte er Sidenius' Namen aufs Geratewohl herausgegriffen. Schorn und er hatten nie über ihn oder über Möbius debattiert. Er bereute es. Das bisherige Resultat war nicht ermunternd. Der Mann war ebenso leicht zugänglich wie eine Schildkröte. Wo war doch die Ritze in seinem Schild?

»Du warst zu radikal für Sidenius, sagst du? So! Ich habe wirklich versucht, die moderne Theologie ein wenig zu verfolgen, und ich glaubte, Sidenius stünde auf dem äußersten linken Flügel.«

Adjunkt Möbius schlug seine sanften Blauaugen auf und sah seinen Besucher an. Adjunkt Quillander war mit seiner Zigarre beschäftigt, sonst würde er den Ausdruck in den Augen seines Gastgebers bemerkt haben. Adjunkt Möbius senkte die Augen wieder und sagte:

»Du glaubtest, daß Sidenius auf dem äußersten linken Flügel steht? Aber, lieber Freund, er ist ja direkt Ebionit.«

»Ja, daß Sidenius – hm – Ebionit ist, weiß ich ja, aber ich wüßte nicht, warum ihn das hindern sollte, radikaler Theologe zu sein.«

»Zwischen den Ebioniten und der radikalen Theologie kann keine Rede von einem Kompromiß sein,« sagte Adjunkt Möbius und strich den Bart nach außen, wie um seine Gefühle für die erwähnte theologische Richtung anzudeuten. Seine Geste ließ Quillander erschauern. Hatte er sich am Ende verplempert? Was wollten die Ebioniten denn eigentlich? Sollte er den Rückzug antreten und gestehen, daß er nichts wußte? Nein, er war schon zu weit gegangen, nun mußte er das Interesse des Mannes fesseln, und bisher hatte er für keinen andern Gegenstand Interesse gezeigt. Mechanisch streckte er die Hand nach einem Zündhölzchen aus – die Zigarre war ausgegangen –, aber zog sie wieder zurück.

»Lieber Freund,« sagte er, »ich habe ja ziemlich viel moderne Theologie gelesen, aber du kannst ja nicht verlangen, daß ich in derselben Weise Fachmann sein soll wie du. Für mich lag nichts Unmögliches in dem Gedanken, daß Sidenius radikal sein könnte, trotzdem er E–Ebionit ist. Uebrigens habe ich von andern dasselbe gehört, von Schorn zum Beispiel.«

»So? Von der Universität hatte ich eigentlich von Schorn nicht die Auffassung, daß er sich für Theologie interessierte. Eher im Gegenteil.« Er sah auf. »Vielleicht hast du sein Interesse geweckt?«

Adjunkt Quillander fühlte, daß er wie Herkules am Scheidewege stand. Noch konnte er umkehren. Noch konnte er die Maske abwerfen, die Theologie in geistreicher Weise verspotten, den Gegner zwingen, sich zu ergeben. Aber sollte er das riskieren? War es nicht notwendig, in theologische Interessen versteckt wie in einem trojanischen Pferd, sich ins Herz des Gegners hineinzuschmuggeln? Auf jeden Fall mußte er sich rasch entschließen. Er sah das sanfte Gesicht vor sich und faßte seinen Entschluß. Hinter dieser Stirn war keine Resonanz für Mephistopheles. Er versuchte, sich wie ein Jesuitenpater zu fühlen, der das, was er tut, für einen höheren Zweck tut, als er langsam erwiderte:

»Es ist ja nicht undenkbar, daß ich Schorn ein wenig beeinflußt habe. Ich habe dir schon gesagt, ich bin kein Theologe, aber ich habe versucht, nach besten Kräften in die Probleme einzudringen. Und etwas bleibt ja immer hängen.«

»Du erfreust mich,« sagte Adjunkt Möbius und sah ihn ernst an. Quillander machte eine neue Bewegung, um seine Zigarre anzuzünden, und überlegte es sich wieder. Er hoffte inbrünstig, daß Möbius das Wort ergreifen würde, aber Möbius begnügte sich damit, ihn zu fixieren. Er fuhr hastig fort:

»Das Unglück ist, wie du weißt, daß es leichter ist, niederzureißen als aufzubauen. Ich kam an der Universität in Kreise, wo man es sehr eifrig mit dem Niederreißen hatte und überhaupt mit allem Negativen. Das Resultat war für meine Person fünfzehn Jahre Studium anstatt fünf, das weißt du ja. Das hätte vielleicht weniger zu bedeuten. Aber man verliert nicht nur viel Zeit, man merkt die Folgen auch in anderer Weise, gerade dieser Tage …«

Nun war er da. War es zu geschwind gegangen? War es an der Zeit, anzudeuten, daß für den, der die Zeit an der Universität verloren hat, Zeit Geld ist? Oder mußte man erst noch weiter pflügen und auflockern? Er fand nicht Zeit, einen Entschluß zu fassen. Adjunkt Möbius räusperte sich und beugte sich vor. Er sah Quillander mit seinen milden, blauen Augen an, wahrend er mit einem Papiermesser spielte. Er beabsichtigte offenbar, zu sprechen.

»Ich will nicht leugnen, lieber Freund,« begann er leise, während Quillander mit einem kleinen Seufzer in den Fauteuil zurücksank, »daß du mich überrascht hast. Mehr als das, du hast mich erfreut. Man macht sich ja unwillkürlich gewisse Vorstellungen von den Menschen, die man sieht. Wir haben uns sehr wenig getroffen, und ich hätte natürlich jedes Urteil über dich hinausschieben sollen. Aber wir Menschen wollen nun einmal Formeln für alles haben. Die Formel, die ich mir in bezug auf dich gemacht hatte, paßt gar nicht zu dem, was du heute hier sagtest. Ich hatte dich als einen – aufrichtig gesagt – recht oberflächlichen Charakter beurteilt, einen von jenen, die ernst über leichtfertige Dinge sprechen und leichtfertig über ernste.«

Adjunkt Quillander legte das Gesicht in ernste Falten, so, als lauschte er einem Toast bei einem Mittagessen. Genau wie bei solchen Anlässen hörte er kaum, was der Redner sagte. Die Hauptsache war, daß der Gegenstand den Redner selbst interessierte. Das war der Fall, und das prophezeite Sieg. Noch ein kleines bißchen Arbeit, dann! Er sah die vier Infusionswechsel beseitigt. Das Semester war bald abgelaufen, vielleicht konnte der neue so groß gemacht werden, daß etwas für eine Ferienreise übrigblieb … Der Sund blitzte vor seinen Augen auf, und in einer Vision sah er einen gedeckten Frühstückstisch bei Wivel, an jenes Tuch erinnernd, das vom Himmel zu Petrus herabkam, voll von allen Tieren, die es auf Erden gibt. Kam diese religiöse Ideenassoziation von der Umgebung? Vermutlich. Adjunkt Möbius sprach noch immer.

»Wie gesagt, so hatte ich dich mir unwillkürlich vorgestellt. In der kurzen Zeit, die du hier sitzest, habe ich bemerkt, daß meine Formel grundfalsch war. Du hast versucht, in Dinge einzudringen, die für mich zu den höchsten des Daseins gehören. Ich kann dir nicht sagen, wie erfreulich das ist. Ich vermute, Petrus fühlte so wie ich, als er den ägyptischen Kammerherrn beim Studium der heiligen Schriften fand – du erinnerst dich doch?«

»Ja, gewiß!« Adjunkt Quillander wedelte mit der Hand, die die erloschene Zigarre hielt. Das ging ja besser, als er je zu hoffen gewagt.

»Worauf ich eben kommen wollte, als du mich mit deinen freundlichen Worten unterbrachst, war, daß ich gerade dieser Tage …«

»Entschuldige, deine Zigarre ist ausgegangen. Gestattest du?«

Adjunkt Möbius rieb ein Zündhölzchen an, und Adjunkt Quillander entzündete mit einem unterdrückten Fluch die unaussprechliche Zigarre. Er begann von neuem:

»Ich war eben im Begriffe zu sagen, daß ich gerade dieser Tage …«

»Lieber Freund, verzeihe mir, aber bevor wir weitergehen, möchte ich sagen, daß du noch eine Sache vergessen zu haben scheinst außer deiner Zigarre.«

»Was denn?«

»Ach, nur eine theologische Sache, aber ich dachte, sie könnte dich interessieren.«

Adjunkt Quillander unterdrückte noch einen Fluch. Er hatte geglaubt, mit der Theologie schon fertig zu sein. Ein Indossant ist wie ein Hühnerei, er soll erwärmt, aber nicht hart gekocht werden. Wann würde er zum Kernpunkt kommen?

»Was für eine Sache?« sagte er mit einer Stimme, die, wie er hoffte, interessiert klang.

»Daß die Ebioniten,« sagte Adjunkt Möbius langsam, »eine Sekte waren, die einen einzigen Punkt auf ihrem Programm hatte. Der interessierte sie, aber sonst gab es nicht viele, die sich darum bekümmerten.«

Adjunkt Quillanders Zigarre entfiel seiner Hand, ohne daß es mit ihrer Qualität zusammenhing. Adjunkt Möbius legte sie still auf eine Aschenschale und sagte:

»Die Ebioniten lebten zur Zeit der ersten christlichen Kirche, und ihr einziges Programm war, daß sie Paulus' apostolische Würde bestritten. Du sagst, Sidenius täte dasselbe, und du kannst es dir nicht anders denken, als daß sich dies mit einer radikalen theologischen Anschauung vereinigen läßt. Ich glaube dies nicht. Weder Sidenius noch die radikale Theologie bestreiten Paulus' apostolische Würde. Diese Frage wurde auf dem ersten Apostelkonzil in Jerusalem im Jahre 55 geregelt. Du bist gegenwärtig wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der sich für die Frage interessiert. Das ist sehr erfreulich, aber ich kann dir nicht verhehlen, daß es mich überrascht.«

Die Physiker beschreiben den leeren Weltraum als ganz lautlos und von eisiger Kälte erfüllt. Adjunkt Quillander war in diesem Augenblick zumute, als befände er sich dort. Er hörte nichts; er fühlte eine lähmende Kälte in seinem Körper. Wie aus unendlicher Ferne beobachtete ihn ein mildes Antlitz und sagte so deutlich wie mit Worten, daß das Spiel verloren war. Er hatte sich vor Möbius erniedrigt, und er war entlarvt, durchschaut, gedemütigt! Er wußte nicht, sollte er sich selbst fluchen oder Möbius, sollte er still davonschleichen oder aufstehen und die Tür krachend zuwerfen. Das war also das Ende … Morgen würden die vier Infusionswechsel protestiert … und spätestens übermorgen kursierte die Geschichte seiner Erniedrigung im Professorenkollegium. Die Ferienreise ging in Rauch auf; der Sund wurde schwarz und der gedeckte Frühstückstisch in die Höhe gezogen wie Petrus' Tuch … er starrte Möbius an, erbittert, beinahe haßerfüllt bei dem Anblick dieses milden, unerschütterlichen Gesichtes und dieser blauen Augen, in denen kaum ein Leuchten des Triumphes war. Nun erhob sich Möbius still, ging zur Tür und öffnete sie. Das war deutlich! Quillander stand schwerfällig auf. Sein Blick fiel auf die Zigarre auf der Aschenschale, und er fluchte laut. Die hatte er noch obendrein geraucht! Dann geschah etwas, das ihn mit Staunen erfüllte. Adjunkt Möbius sah zur Tür hinaus, schloß sie vorsichtig und kam zurück.

»Du willst schon gehen, lieber Freund?«

»H-r-r …« Quillander hatte das Gefühl, als hätte er Leim im Halse. Glaubte der Mensch, er würde ihm Gelegenheit geben, ihn noch weiter zu verulken?

»Willst du dich nicht setzen?« fragte Möbius. »Ich möchte gern mit dir über etwas sprechen, das heißt, wenn du Zeit hast.«

Quillander fand die Sprache wieder.

»Ich fürchte, daß meine Kenntnisse in der übrigen Theologie ebenso mangelhaft sind wie in …«

»Laß uns nicht weiter darüber sprechen! Ein höchst verzeihlicher Irrtum, lieber Freund. Aufrichtig gesagt, war es nicht meine Schuld. Du selbst hast …«

»Wolltest du mir sonst noch etwas …«

»Aber, aber! Willst du dich nicht setzen? Ich werde nicht viel Worte machen. Aber ich glaube, ich habe mit dir etwas zu sprechen, das dich interessieren wird.«

Quillander zögerte. Womit wollte der Mensch jetzt kommen? Er schien rein erpicht darauf, zu sprechen. Nach der Niederlage, die Quillander soeben erlitten, wäre die rechte Antwort, ein Hohngelächter anzuschlagen und zu gehen. Er überlegte. Freilich war die Schlacht verloren, aber er konnte doch noch Gelegenheit finden, ein paar Partherpfeile zu versenden, bevor der Feind seinen Rücken sah. Er sank in den Fauteuil und machte eine grimmige Handbewegung, wie um zu sagen: »Ich bin bereit! Aber mache es kurz!«

Er hatte Möbius' erste Frage nicht erwartet!

»Sage mir, was hast du eigentlich für eine Auffassung von mir?«

Nun fehlte nicht viel, und er wäre in sein geplantes schallendes Gelächter ausgebrochen. Was er von Möbius dachte! Wollte Möbius eine schmeichelhafte Antwort haben, wie die Leute es wollen, wenn sie solche Fragen stellen, so hatte er den denkbar ungünstigsten Augenblick gewählt. Quillander saß da und grübelte über eine Antwort nach, die giftig und vernichtend genug war, ohne ordinär zu sein. Dann warf er einen Blick auf das Gesicht des andern. Es lag eine unendliche Demut in den himmelblauen Augen. Sie betrachteten ihn wie die eines Kindes; es war keine Spur von Selbstbehauptung in ihnen, nur scheue Erwartung. Er fühlte einen innerlichen Triumph. Er fühlte sich stark und überlegen. Plötzlich rutschte es ihm heraus:

»Du bist die realisierte Idee des Pädagogen.«

Möbius nickte leise mit dem Kopfe.

»Ja, du hast recht. Ich weiß, daß du recht hast. Entschuldige, deine Zigarre ist ausgegangen. Willst du nicht eine neue haben?«

Er schob die Zigarrenkiste vor. Quillander warf einen Blick darauf, der nicht siebzig Ausleger brauchte, um verstanden zu werden.

»Das kann ich mir denken,« sagte Möbius mit einem Seufzer. »Ich vermute, sie sind unrauchbar. Ich verstehe nichts von Zigarren. Ich verstehe nichts von Wein. Alles, was zu den materiellen Genüssen gehört, ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Das kommt von meinem Vater und meiner Erziehung.«

»Von der Pädagogik,« unterstrich Quillander.

»Ja. Ich bin im Zeichen des Pädagogen geboren. Wie andre Menschen im Zeichen Merkurs oder Saturns. Mein Vater hatte sich ein eigenes Erziehungssystem ausgebildet, und an mir brachte er es zur Anwendung. Er wollte mir einen Charakter geben, und er nahm mir meinen Willen. Von meiner frühesten Kindheit an habe ich nach einem Schema gelebt. Ich bin zum bestimmten Glockenschlag aufgestanden; ich habe zum bestimmten Glockenschlag gegessen, bin zum bestimmten Glockenschlag spazierengegangen, und wenn ich mich unterhalten habe, war es auch zum bestimmten Glockenschlag.«

»Aber du hast dich nicht viel unterhalten?« fragte Quillander erwartungsvoll.

»Nein, ich denke, ein Vergnügen muß improvisiert sein, wenn es ein Vergnügen sein soll. Solange ich unter Aufsicht meines Vaters stand und mich unterhalten sollte, wurde alles genau im vorhinein geplant. Zuerst die Pflicht, dann das Vergnügen. Wenn alle Pflichten bis zum letzten Punkt erfüllt waren, konnten wir ans Vergnügen denken. Wir machten Spaziergänge im Botanischen Garten oder rund durch die Stadt, um uns alte Häuser anzusehen. Mein Vater unterwies mich, wann sie erbaut waren und in welchem Stil. Hie und da gingen wir in die Konditorei. Ich bekam zwei Stück Backwerk, denn mehr wäre unhygienisch gewesen, und las die ›Fliegenden Blätter‹. Auf diese Weise übte ich mich gleichzeitig im Deutschen.«

Quillander fühlte seine Befriedigung wachsen.

»Aber als du dann in die Schule kamst?« fragte er.

»Ich kam nie in die Schule. Mein Vater unterrichtete mich bis zur Matura. Er war ein sehr kenntnisreicher Mann.«

»Und die Maturakneipe?«

»Bist du verrückt?! Wir nachtmahlten zusammen im Hotel. Das war das Ganze.«

»Nun aber die Universität?«

»Unmittelbar bevor ich sie beziehen sollte, starb mein Vater. Meine Mutter habe ich nie gekannt. Mein Vater hinterließ mir etliches Geld – und dann Tante Lundén.«

Quillander fühlte den Kummer über seine Niederlage fast ganz hinschmelzen. Siegen kannst du, Hannibal, aber nicht den Sieg genießen. Möbius hatte ihn vorhin besiegt, hart und schonungslos, aber konnte er sich dessen freuen? Er ging in Gedanken Tante Lundéns Gesicht durch und hörte beinahe wohlwollend zu, wie Möbius fortfuhr:

»Tante Lundén ist in vieler Beziehung eine prächtige Person, aber sie hat für mich zuviel Willen. Ich selbst habe keinen Willen. Ich habe nur Gewohnheiten. Ich bin ein Automat, nichts andres als ein Automat. Ich bin abgestumpft von der Pädagogik wie andre Menschen von berauschenden Getränken und geheimen Lastern.«

Er verstummte, dann fuhr er fort:

»Ich sage mir, es ist ja gut, wie es ist, ich lebe ein gesundes Leben, ein unantastbares Leben – aber eine Sache fehlt: es ist kein Leben! Leben ist Handeln. Handeln ist, zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten wählen. Aber ich wähle nicht, ich handle nicht, ich lebe nicht. Was ist ein unantastbares Leben, wenn man nie eine Versuchung bestanden hat?«

Er verstummte abermals, dann brach er los:

»Es gibt ein Wort, das das Ganze deckt. Man muß gefährlich leben. Das hat Nietzsche gesagt. Man muß gefährlich leben. Sonst stirbt man. Das ist der andre Tod, sagt die Bibel.«

Seine blauen Augen warfen einen verzweifelten Blick auf Quillander, der stumm dasaß, zwischen zwei Gefühlen geteilt. Das eine war Befriedigung, daß Möbius sein Kreuz hatte, wie er das seine – das andre war Verwunderung, warum er all dies erzählte. Ja, warum tat er das? Mitteilsamkeit war sein geringstes Laster.

Möbius fuhr langsam fort:

»So verstehe ich das Wort der Bibel. Ohne Versuchung ist unser sittliches Leben ohne Wert.«

Quillander nickte wie ein Mann, der, was das betrifft, sein Schäfchen im Trocknen hat. Möbius sah ihn mit seinem sanften Blick an.

»Ich möchte, daß du mich verstehst. Ich sagte, ich war zu radikal für Sidenius, das ist Unwahrheit. Ich glaube an unsern freien Willen und an das biblische Sittengesetz. Ich glaube daran in der alten Weise. An einigen Teilen der Bibel hat mir die moderne Kritik den Glauben geraubt, den Kinderglauben, aber ihr Sittengesetz steht für mich unerschüttert fest. Es gibt nur ein großes Aber. Ich bin wie ein Rekrut, der das Reglement kann, aber nie in einer Schlacht gewesen ist. Ich weiß, daß es heißt: Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lügen, du sollst nicht Gelüste tragen nach dem Eigentum deines Nächsten. Ich lehre meine Schüler dasselbe, und ich glaube daran – aber es hat keinerlei Bedeutung für mich. Ich war nie versucht zu stehlen, da ich Geld geerbt habe.« Quillander nickte düster. »Ich war nie versucht, zu ehebrechen, denn ich kenne keine andre Frau als Tante Lundén. Ich warne meine Schüler vor solchen Dingen. Ebensogut könnte ich sie warnen, Tor und Odin anzubeten. Ich habe mich bemüht, theoretisch in die Dinge einzudringen; ich habe Sidenius' Ethik gelesen,« – Quillander blinzelte – »und Krafft-Ebing …«

»Krafft-Ebing! Ich muß sagen!« Quillander setzte sich im Fauteuil auf.

»Ja, Krafft-Ebing. Ich habe alles Derartige gelesen und mich in die Versuchungen hineingedacht, von denen sie sprechen, aber das sind für mich algebraische Probleme, nichts anderes. Ich weiß, wie der Ausgang sein soll, aber er ist mir gleichgültig.«

Er verstummte. Quillander hatte das Gefühl, als wäre er im Zoologischen Garten und sähe plötzlich, wie eines der Kamele zu fliegen anfinge. Möbius! Es war Möbius, der das erzählte! Der eingestand, daß er sich nach Versuchungen sehnte, der Krafft-Ebing gelesen hatte! Schorn hatte Quillander gelehrt, allen Theologen zu mißtrauen, aber wenn jemand ihm die Dinge, die er eben gehört, von Möbius erzählt hätte, er hätte gerufen: Lüge! Aufs neue fragte er sich: Warum stellt er sich so vor mir bloß? Vor mir? Er konnte sich diese Frage kein zweites Mal stellen. Das nächste, was er tat, war, aus dem Fauteuil aufzuschnellen wie ein geschleuderter Stein. Möbius warf einen scheuen Blick auf die Eingangstür, beugte sich vor und sagte:

»Wie groß ist der Wechsel, den du mich bitten wolltest, zu unterschreiben?«

Dann – hörte er recht? Sah er recht? War er nüchtern? Dann – eine abwehrende Handbewegung und …

»Pst! Still! Man kann vor Tante Lundén nie sicher sein. Ich wußte ja die ganze Zeit, daß du deshalb gekommen bist. Es hat nichts zu sagen, wie groß er ist, ich unterschreibe. Man muß gefährlich leben. Ich habe so wenig Mut, daß ich auf eigene Faust nie eine Versuchung kennenlerne. Du hast gelebt. Du sollst mir helfen. Du sollst mich ins Leben einführen. Unter der Bedingung unterschreibe ich.«

Quillander hörte kaum, er stand in einer Vision, so wie sie die mystischen Heiligen hatten: Die Infusionswechsel bereinigt, Geld übrig, Ferienreise! Der Sund blinkte blau, der gedeckte Frühstückstisch bei Wivel sank wieder von der Höhe hernieder. Denn wo konnte man Möbius der Versuchung passender vorstellen als in Kopenhagen? Auch Möbius hatte sich erhoben und sah ihn erwartungsvoll an. Endlich faßte sich Quillander, schlug seinen Kollegen herzlich auf den Rücken und murmelte:

»Das kommt schon alles in die Reihe! Das werde ich schon deichseln. Verlasse dich auf mich!«

»Aber nur eines,« begann Möbius.

Quillander zuckte zusammen. Reute es ihn am Ende?

»Nur eines. Du darfst kein Wort gegen irgend jemand verlauten lassen. Du verstehst, Tante Lundén, sie würde mir das Leben zur Hölle machen.«

Beruhigter, aber noch immer wirr im Kopfe, stammelte Quillander eine jener Bemerkungen, die man in solchen Augenblicken macht, die letzte, die einem sonst einfallen würde:

»Aber die Post? Oeffnet sie deine Briefe nicht? Du weißt, die Bank schickt ein Aviso über den Wechsel!«

Möbius nahm eine Füllfeder heraus und sah wieder nach der Tür. »Ich werde den Briefträger abfangen,« sagte er, »und ihm das Aviso abnehmen. Wie groß also?«


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