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VIII.
Adjunkt Möbius und das neunte Gebot

Die Erde war öde und leer, und die Seele des Adjunkten Möbius schwebte im Raume hin und wieder. Bald war sie allein, bald hatte sie gegen einen großen dunklen Schatten anzukämpfen, eine andre Seele von kolossalen Dimensionen. Sie war groß und dick wie eine Gewitterwolke; anstatt Regen und Blitz barg sie Worte. Ja, sie kämpfte mit der Seele des Adjunkten Möbius mit Worten, sie kam herangesegelt wie ein Kriegsschiff, mit schwellenden Segeln, die den Himmel verdeckten, und sie feuerte Wortsalve auf Wortsalve ab, um die Seele des Adjunkten Möbius in den Grund zu bohren. – Der Wille ist nicht frei! sagte sie. Nie im Leben! Was ist der Mensch andres, als ein Produkt gewisser organischer Zusammensetzungen? Was für ein Unterschied ist zwischen den Handlungen eines Menschen und dem, was in einer chemischen Lösung vorgeht? Keiner. Will der Mensch etwas in andrer Weise als das Eisen, das sich mit dem Magnet vereinigen will, oder der Sauerstoff, der den Wasserstoff sucht? Folgt er nicht Gesetzen, die er nicht kennt, ganz ebenso wie das Eisen und der Sauerstoff?

Sind seine Probleme mit Bekannten und Unbekannten nicht von Anfang an für ihn aufgestellt und das Resultat schon gegeben? Sind nicht die Handlungen, die er zu vollbringen glaubt, nur die bei jeder Gelegenheit notwendige mathematische Subtraktion oder Addition? Ganz gewiß, ganz gewiß, sicherlich! dröhnte es von der Seele in der dunklen Wolke. Die Seele des Adjunkten Möbius suchte sich zu wehren. Sie erhob ihr: Nein, nein, das ist nicht wahr!! wie einen schwachen Ochsenhautschild gegen die feindlichen Salven; es ist nicht wahr, ich leugne es! – Und merkwürdig, der Schild hielt. Die schwarze Wolke machte eine ausweichende Bewegung; jetzt erklangen Locksignale von ihr: – Vielleicht ist der Wille nicht ganz unfrei. Vielleicht bewegen sich die Menschen nicht so durch das Leben, wie die Atome durch den Weltraum. Vielleicht sind sie ein Heer auf dem Marsche nach einem unbekannten Ziele; sie stehen unter einem Kommando, sie müssen Dinge gegen ihren Willen tun. Sie werden gezwungen, ihre Freunde zu opfern, Werte zu zerstören, totzuschlagen, denn das erste Gebot ist: Du sollst leben. Für so etwas muß die höchste Heeresleitung, die sie in Marsch gesetzt hat, die Verantwortung tragen. Aber unterdessen können sie Dankbarkeit zeigen, einige Zurückhaltung, sogar eine gewisse Schonung. Soweit ist der Wille frei, aber nicht weiter! – Abermals erhob Möbius seinen schwachen Schild gegen den schwarzen Feind und rief: Nein, nein, nein! Das ist nicht wahr! Wir können frei wählen! Ich selbst war frei, und ich wählte falsch, aber ich bin gewarnt, und ich hoffe, es nie mehr zu tun! – Die dunkle Wolke verdichtete sich und nahm die Züge des Direktors Hoff-Jensen an; die Luft knatterte wie von Lachsalven, und ein brennender Regen sprühte über das Gesicht des Adjunkten Möbius und durch seine Kehle. Er wand sich angstvoll; und mit einem Male schlug er die Augen auf.

Was war dies? Wo war er?

Er lag auf dem Rücken auf einer Chaiselongue. Ein großes Zimmer mit vielen Möbeln, Tischen, Stühlen und Schränken umgab ihn. Eine Frau stand vor ihm, eine volle Blondine mit grauen Augen. War er von der Verbrecherbande befreit? Nein, denn jetzt sah er eine Hand nicht weit von seinem Munde, die Hand hielt ein Glas, und als er den Blick weiterschweifen ließ, sah er den dicken Direktor. Er stand über ihn gebeugt und sah bekümmert aus. Möbius fühlte einen durchdringenden Branntweingeruch. War das der Dicke? Es dämmerte ihm auf, daß er selbst es war. Mit jedem Atemzug, den er machte, roch er ärger nach Branntwein als ein Hafenstrolch.

Seine Gedanken gingen zurück. Wie war er hergekommen? Er erinnerte sich verworren, daß er in seinem Zimmer herumgelaufen war wie ein Irrsinniger, daß er an die Wände geklopft und versucht hatte, die Fensterscheibe einzuschlagen; dann hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, als säße er in einem Ringelspiel; die vier Generationen führten einen unpassenden Tanz rings um ihn auf; es wurde ihm schwarz vor den Augen, und er fragte sich, ob er sterben würde. Es waren drei Tage her, seit er in das grüngestrichene Gefängnis gekommen war, und er hatte sich geweigert, auch nur einen einzigen Bissen zu essen.

Also hatte man ihn gefunden, und der Branntweingestank, der aus seinem Munde kam, erklärte, was man getan hatte, um ihn ins Leben zurückzurufen.

Er war sehr müde und fühlte eine Schwere im Hinterkopf. Was für kalte undurchdringliche Augen diese blonde Frau hatte! Warum konnte der dicke Koloß sich nicht wegrühren?

»Gehen Sie doch fort,« murmelte Möbius und hob die Hand, um ihn wegzuscheuchen. Der dicke Direktor sah bekümmert auf Möbius herab; mit dem leeren Branntweinglas in der Hand glich er einem korpulenten Todesengel mit seiner umgekehrten Fackel. Die stumpfen Tintenfischaugen bewegten sich beinahe ängstlich unter den Augengläsern hin und her.

»Hören Sie mal,« sagte er und räusperte sich, »Sie müssen essen! Ich fand Sie ohnmächtig in Ihrem Zimmer. Das geht nicht, hören Sie!«

»Ich gedenke hier im Hause nichts zu essen,« murmelte Möbius und sah die blonde Frau an. Wer war sie? Hoff-Jensen folgte seinem Blick.

»Das ist Frau Zingel,« sagte er, »unter deren Dach Sie sich befinden. Darf ich Ihnen den Adjunkten Möbius aus Schweden vorstellen, Frau Zingel. Aber jetzt will ich Ihnen eines sagen: Wenn Sie nicht essen, begehen Sie einen Selbstmord. Und das verbietet Ihnen wohl, wenn schon nichts andres, Ihre Religion?«

Möbius sah noch immer die blonde Frau an. Seine Augen waren von der Hungerkrise geschärft. Er sah, daß sie über die erste Jugend hinaus war, aber noch schön, mit etwas zugleich Anziehendem und Abstoßendem an sich. Sie war voll, aber auch nicht mehr als das, hatte zwei graue Augen, die, wie er schon gesehen, ungewöhnlich kalt waren und, wie er jetzt sah, klug, mit jenem unerschrockenen, gleichsam abschätzenden Blick, der ihm an den dänischen Frauen aufgefallen war. Ihre Frisur war blond und widerstritt der Lebensauffassung, die er in Brostad erworben hatte. War sie eine Freundin der Verbrecherbande?

»Hören Sie mal,« wiederholte Hoff-Jensen, »Sie verstehen doch, daß Sie aufhören müssen, Suffragette zu spielen.«

Möbius wandte ihm den Blick zu.

»Gedenken Sie, mich freizulassen?«

Hoff-Jensen machte eine ungeduldige Bewegung. »Ob Sie frei werden oder nicht,« rief er, »essen müssen Sie. Sie sind ja zu schwach, um aufzustehen.«

Möbius beschloß, seine Behauptung zu widerlegen. Er erhob sich von seiner Chaiselongue und sah sofort an Stelle von Hoff-Jensen und der blonden Frau Zingel ein vielfarbiges Sternsystem. Er blieb liegen, bis es im Weltenraum verrollt war und er Hoff-Jensens bekümmerte Tintenfischaugen wiedersah.

»Sie sehen, wie recht ich habe,« rief der dicke Direktor. »Du gütiger Gott! Vier Tage ohne einen Bissen. Wo doch das Haus voll Essen ist!« Er sprach das Wort Essen mit wollüstig gesperrten Lettern. »Was wollen Sie haben? Sagen Sie nur!«

Es war, als ob plötzlich etwas in Möbius verstummte, die Stimme, die ihn vier Tage hindurch aufrechtgehalten. Eine zarte Stimme, klagend wie ein neugeborenes Kind, erhob sich an ihrer Stelle, die Stimme des Organs, das ebenso lange Zeit einen Maulkorb getragen hatte. Er hörte Hoff-Jensen einen dänischen Chorgesang rezitieren.

»Fisch? Beefsteak? Kotelette? Schinken mit Ei?«

Er schauderte. Beefsteak! Schinken mit Ei! Hoff-Jensen schien froissiert.

»Extrafeiner amerikanischer Schinken,« sagte er, »Schinken von Gottes eigenen Ferkeln. Sie als Theo –«

Möbius unterbrach ihn, um nicht in theologische Debatten verwickelt zu werden.

»Wenn ich eine Tasse Bouillon haben kann,« sagte er, »oder eine Omelette, so bin ich dank …, so ist das genug.«

»Tummle dich, Elly, eine Tasse Bouillon und eine Omelette für den Herrn Adjunkten!«

Die blonde Frau Zingel verschwand ebenso stumm und hochmütig wie bisher, und Möbius dachte: Wo ist das blauäugige Mädchen? Wo ist Vera?

Hoff-Jensen begann, sich im Zimmer herumzukugeln, erfüllt von einer so unverkennbaren Befriedigung, daß Möbius alles dafür gegeben hätte, aufstehen und fortgehen zu können, ohne das Essen zu berühren. Es dämmerte. Vor Frau Zingels Fenster rauschten ein paar große Kastanien; es war, als preßten sie sich an die Scheiben, um hineinzusehen, und das Zimmer lag im Halbdunkel da. Es war groß. Möbius sah einen Speisetisch aus Eiche mit Stühlen ringsherum, ein Büfett aus demselben Holz, eine Unendlichkeit von Porzellantellern an den Wänden und ein paar Bilder. In der Ecke, wo seine Chaiselongue stand, befanden sich ein Nähtisch und ein paar gobelinbezogene Fauteuils. Der Koloß stellte sich vor ein Bild in weißem Rahmen und begann zu dozieren:

»Was halten Sie von der modernen Kunst? Das hat Frau Zingel bei einer Lotterie der ›Politiken‹ gewonnen. Es soll die Venus vorstellen! Hahaha! Die alte Venus wurde aus dem Meeresschaum geboren; die der modernen Maler in einer Badewanne. Schauen Sie sich die an! Wenn ich in einer Badewanne liege und an mir herabsehe, schaue ich akkurat so aus. Mein eines Bein ist lang und dünn wie ein Draht, und wenn ich das andre krümme, wird es so dick wie ein Dachbalken. Mein Bauch ist einen Augenblick rund wie eine Kugel und im nächsten länglich wie eine Birne. Wenn ich das eine Bein biege und mich so schief hinlege, sehe ich genau so aus, wie die Venus auf diesem Bild, nur daß ich nicht so gallig in der Farbe bin.«

Möbius dachte an die drei letzten Tage zurück. Das waren düstere Erinnerungen. Lange träge Stunden; Wut, wechselnd mit Müdigkeit; rasendes Ziehen in den Därmen, dann wieder Zeiten, wo der bloße Gedanke an Essen ihm Uebelkeiten verursachte; hie und da Besuch von Hoff-Jensen – oder Vera. Eine Sache hatte er bald konstatiert: gegen den Willen der Bewohner kam er kaum aus diesem Hause. Nie hatte er so etwas wie Nero als Wächter gesehen, und auch nie ein blutdürstigeres Biest. Hoff-Jensen selbst hatte vor ihm die Scheu des Elefanten; er passierte ihn nie, ohne seinen großen Bauch einzuziehen und Freundlichkeiten zu murmeln, die sicherlich nur von den Lippen kamen. Oft hatte Möbius daran gedacht, den Dicken zu Boden zu werfen und zu flüchten – nicht über die Treppe, das war sicherlich aussichtslos – aber zu dem gemalten Fenster hinaus. Freilich saß es ein paar Stockwerke über dem Boden, aber von einer solchen Höhe schlug man sich wohl nicht tot. Und war er erst einmal draußen! Aber so oft er sich selbst zum Fenster hinausfliegen sah, sah er in einer Vision Nero nachfolgen, die Zähne in sein Hinterteil vergraben – – übrigens: wo befand er sich? Er hatte keine Ahnung davon. Lag das Haus in Kopenhagen oder in einer anderen Stadt, dann konnten ihn Leute sehen, und sein Fluchtversuch konnte gelingen; lag das Haus auf dem Lande – und nach allem, was er darüber wußte, war das eine ebenso wahrscheinlich wie das andere – dann war es nicht unmöglicher Weise gleichbedeutend mit einem Selbstmordversuch – –

Zweimal hatte er den Besuch Veras gehabt. Sie war mit einem Servierbrett gekommen; Möbius hatte gehört, daß Hoff-Jensen sie begleitete und auf der Stiege stehenblieb, wo er herumschlurfte, in der Hoffnung, daß Möbius aus ihrer Hand entgegennehmen würde, was er aus seiner verschmähte. Vera sah ihn nur mit großen Augen an, in denen er Staunen und unverkennbares Mißvergnügen las. Sie konnte nicht verstehen, warum er die guten Speisen, die sie brachte, nicht essen wollte. Möbius wich ihrem Blick aus und sah sie erst an, wenn sie ihm den Rücken kehrte, um zu gehen; er wollte und wollte doch wieder nicht mit ihr sprechen. Sie hatte ein Zurückwerfen des Nackens, das ihn erschreckte und fesselte, und ihre Ohrläppchen unter der braunen Madonnenfrisur wollten nicht aus seiner Erinnerung weichen. Als sie das zweitemal zu ihm kam – das Tablett blieb vom einen Mal zum andern stehen – brach sie das Schweigen.

»Warum essen Sie nicht?«

Möbius sah weg und antwortete nicht.

»Hören Sie nicht, daß ich zu Ihnen spreche?«

»Ja.«

»Warum antworten Sie nicht? Das ist unhöflich. Warum essen Sie nicht?«

»Warum halten Sie mich hier eingesperrt?«

»Ich doch nicht!«

»Ihre Freunde. Ich gedenke nichts zu essen, ehe ich nicht frei bin.«

Sie lachte.

»Da werden Sie aber tüchtig hungrig werden.«

»Das erschreckt mich nicht.«

Sie schwieg und sah ihn an.

»Sagen Sie,« begann sie zögernd.

Er sah sie an – begegnete zum erstenmal ihrem Blick. Er fühlte, wie eine wunderliche Wärmewelle ihn durcheilte. Ihre Augen waren klar und ohne Arg, neugierig, aber eigentlich freundlich – und schön.

»Was wollten Sie sagen?« stammelte er.

»Sagen Sie, wenn ich – wenn Sie –«

Sie brach ab, dachte einen Augenblick nach und veränderte dann ihr Aussehen.

»Essen Sie jetzt,« sagte sie, »seien Sie doch vernünftig und nicht wie ein Wickelkind, hören Sie!«

Er kehrte sich heftig der Wand zu, ohne zu antworten. Er fühlte eine seltsame Enttäuschung. Im nächsten Augenblick hörte er sie die Türe verschließen und drehte sich nicht einmal um, um die Ohrläppchen anzusehen. –

Hoff-Jensen hörte auf, die nach seinem Ebenbilde gemalte Venus zu bewundern und begann den Tisch zu decken. Er ordnete Messer und Gabeln und legte den Kopf schräg, um den Effekt zu beurteilen.

Möbius beobachtete ihn gedankenvoll.

»Sagen Sie mir, Herr Hoff-Jensen!«

Der Dicke schnurrte herum, betroffen über den freundlichen Ton.

»Ja?« sagte er eifrig.

»Was ist eigentlich Ihr Lebenszweck, Herr Hoff-Jensen?«

»Mein – wie sagten Sie doch? – mein Lebens zweck? – hm, Sie wissen doch – des Lebens Unverstand mit Wehmut zu genießen – Nun ja, wenn ich es fein formulieren soll, so ist es mein Zweck, zu botanisieren, das heißt auf meine Art und Weise. Das Beste von allem herauspflücken, Weiber, Wein, Tabak, Eßwaren.«

»Wenigstens haben Sie für das letztere eine geräumige Botanisierbüchse, Herr Hoff-Jensen.«

»Haha, da hab' ich's! Sie sind satirisch, Herr Möbius, ja ja, warum nicht? Außerdem suche ich mich zu bilden und gebe den Zehnten von allem, was ich verdiene –«

»Wo sind Sie Direktor, Herr Hoff-Jensen?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Ich verstehe. In einer Gesellschaft, nicht wahr, von der Sorte, die aus der Haut der Leute Riemen schneidet und sie damit tröstet, daß sie in sieben Jahren eine neue kriegen?«

»Sie werden immer satirischer, Herr Adjunkt! Aber Sie irren. Ich bin Direktor der Gesellschaft Vigilia.«

»Was ist das für eine Gesellschaft?«

»Sehr feine Gesellschaft! Wunderschön! Beautiful! Primissima. Aber das glauben Sie wohl nicht?«

In diesem Augenblick kam die blonde Frau Zingel mit einem dampfenden Tablett. Hoff-Jensen hob Möbius trotz seines Widerstands von der Chaiselongue auf und führte ihn zum Tisch. Die Bouillon schmeckte fade, aber dabei zugleich beinahe berauschend. Bevor Möbius sich's versah, war sie verschwunden, und er saß mit dem Munde voll Omelette da. Hoff-Jensen kam mit einem Glas Rotwein herangewatschelt, und er akzeptierte auch dieses. Er war auf einmal frei von Bedenken in dieser Hinsicht. Es hatte doch keinen Sinn, einen Selbstmord zu begehen und die Verbrecher auf diese Art von der Verantwortung für sein Leben zu befreien.

»Ich sehe Ihre Freunde nicht,« sagte er plötzlich zu dem dicken Direktor, der jeden Bissen, den er in den Mund steckte, förmlich mitaß.

Hoff-Jensen zwinkerte.

»Sie hoffen vielleicht, daß sie arretiert sind?«

»Ich hoffe es, wenn die Arretierung sie auf bessere Gedanken bringen könnte.«

»Ja, richtig, Sie, der Sie an den freien Willen glauben, halten sich natürlich für berechtigt, sie zu verurteilen!«

»Daran ist mir weniger gelegen; ich wünschte, daß sie selbst lernen, das zu verurteilen, was sie getan haben.«

Möbius kam nicht weiter. In diesem Augenblick sah er, daß er nicht mehr mit Hoff-Jensen und der blonden Frau Zingel allein im Zimmer war. An der Tür, stumm wie Schatten, standen in der zunehmenden Dämmerung die zwei Einbruchsdiebe, die ihn in das Haus gebracht hatten. Der große mit dem Schauspielergesicht schielte tückisch zu ihm hinüber. Der kleine zündete mit einem liebenswürdigen Lausbubenlächeln eine Zigarette an, sämtliche Anwesende verstohlen betrachtend. Frau Zingel sprang auf. Hoff-Jensen erhob sich mit einem Willkommenglucksen.

»Er dort!« sagte der Mann mit dem Schauspielergesicht und deutete auf Möbius. »Was verurteilt er? Daß ick ihn nickt augenblicklik abgekragelt 'abe. Daß er da sitzt und sik mästet wie ein Groß'ändler?«

Möbius fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Seit jener Nacht lag ihm das Grauen vor den beiden im Blute. Er wollte sich erheben und gehen, aber Hoff-Jensen machte eine Geste.

»Aber Perrini! Warum so hitzig?«

Es kam ein Heulen von dem Mann mit dem Schauspielergesicht. Er machte einen Schritt in das Zimmer hinein.

»Was meinst du? Behauptest du, ick 'eiße Per...«

»So macht er es mit allen! So hat er es mit mir gemacht! Auch mit sich selbst …«

War Frau Zingel bisher stumm gewesen, so erhob sich ihre Stimme jetzt um so nachdrücklicher. Sie stieg aus einem tiefen Alt durch alle Himmel der chromatischen Skala auf, bis sie gleich einer Lerche im obersten und dünnsten Diskant schwebte. Sie stand da, den Zeigefinger gegen Hoff-Jensen erhoben. »Der dort,« – Möbius bekam einen Blick wie einen Gnadenstoß – »der dort weiß von uns allen, wie wir heißen!«

Ein Blick züngelte unter Perrinis schwarzen Augenbrauen vor, wie eine Schlange aus ihrer Höhle, und zielte auf Möbius. Nun kam eine schrille Stimme:

»Allen? Vom Bubi auch?«

Der Jüngling mit dem blonden Schopf erkundigte sich mit einem gehobenen Augenlid.

»Nein – Peter, dich habe ich vergessen. Darf ich vorstellen: Herr Peter Schiött, Herr Adjunkt Möbius aus Schweden.«

Herr Schiött verbeugte sich und machte eine chevalereske Bewegung mit der Zigarette. Peter, dachte Möbius, das ist also Peter, Veras Bräutigam.

»Wie wäre es, wenn wir Platz nehmen würden,« schlug Hoff-Jensen vor, »jetzt, wo wir miteinander bekannt sind. Der Herr Adjunkt und ich, wir saßen gerade da und debattierten über die Willensfreiheit, die den Herrn Adjunkten aufs lebhafteste interessiert. Das ist nun ein Problem, das für euch zwei nur theoretisches Interesse hat. Die Gerichte sind so altmodisch. Ihr werdet ja doch nicht für unverantwortlich erklärt.«

Perrini hatte endlich Luft gesammelt. Nun kam ein Wortstrom aus seinem Munde; es klang so, wie wenn man eine Sodawasserflasche umkehrt und das Wasser, nachdem es einen Augenblick gezögert hat, in einem Katarakt ausströmt.

»Du verfluckte dicke Walroß! Was meinst du? Du gehst ßu weit! Du erzählst meine Namen, Peters Namen, alle Namen, diesem Slingel, der gesehen 'at – ick sollte meinen Revolver nehmen und ihn totsießen!«

»Ruhe, Mensch, warum zischst du denn immer gleich wie eine Feuerspritze? Was in aller Welt schadet es, wenn ich unsere Namen erwähnt habe? Der Herr Adjunkt ist ein sehr liebenswürdiger Mann.«

»Was es ßadet? Du sikst meinen Revolver! Jetzt sieße ick –«

»Schieße nicht, das knallt so widerlich. Ich frage dich noch einmal: Was schadet es, wenn der Herr Adjunkt unsere Namen weiß?«

»Was es ßadet? Es ist unglaublik! Er ist direkt verrückt. Peter, der Mann 'at uns gesehen, und nun kennt er nok unsre Namen!«

»Und was weiter? Der Herr Adjunkt weiß, daß er nicht von hier fortkommt, bis er uns sein Ehrenwort gegeben hat, unsre Namen nirgends zu nennen; und wenn er es gegeben hat, kann man sich darauf verlassen, dafür garantiere ich.«

»Und wenn er es nickt gibt?«

»Er gibt es.«

»Er gibt es nicht!« Möbius hatte sich erhoben und seine Stimme so scharf gemacht, als er konnte. Seine Beine waren noch unsicher, aber er konnte stehen. Hoff-Jensen lächelte ihn freundlich an und nickte Perrini und Schiött beruhigend zu.

»Er gibt es! Kümmert euch nicht darum, was er sagt. Verlaßt euch auf mich. Bevor der Herr Adjunkt abreist, gibt er uns sein Ehrenwort, und nicht genug damit …«

»Was noch, Herr Hoff-Jensen?«

»Wir werden es Ihnen dann gar nicht abfordern müssen, Sie geben es freiwillig.«

»Sie – hahaha! Sie sind verrückt, das ist alles, was ich sagen kann!«

»Aber, aber!«

Hoff-Jensen wedelte mit seinen zehn dicken Fingern wie ein Zauberkünstler, der Möbius' Widerstand, seine ethischen Prinzipien, ja ihn selbst wegzaubern konnte, wenn es darauf ankam. Möbius sah ihn wütend an, während Perrini ihn selbst düster anglotzte. Nun erhob sich die klagende Stimme des jungen Schiött.

»Bubi hungrig!«

Perrini vergaß Möbius.

»Ick auch, ick 'abe 'unger. Ick reise. Ick spreke, ick werde 'ungrig. Elly – 'ast du was zu essen?«

Die blonde Frau Zingel, die die Debatte in unverbrüchlichem Schweigen verfolgt hatte, erwachte zum Leben.

»Was wollt ihr haben?«

Schiött entschied sich für eine gebratene Rotzunge, Perrini für Beefsteak mit Spiegeleiern. Frau Zingel verschwand, und Hoff-Jensen winkte seine zwei Freunde zu dem Sessel heran, auf dem er saß. Möbius wußte nicht, was er tun sollte. Sollte er in sein grüngestrichenes Gefängnis hinaufgehen? Sollte er einen verzweifelten Fluchtversuch machen? Er sah zum Fenster hinaus. Es dunkelte schon; die Wolken jagten sich über den rauschenden Kastanienkronen. Ein Fluchtversuch war hoffnungsloser denn je. Seine Chance lag ja darin, sowie er hinauskam, die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen. Und Nero schlief nicht … Er beschloß zu bleiben, als eine stumme Mahnung für die Verbrecher, daß es eine Welt gab, deren Gesetzen sie trotzen konnten, aber mit der sie noch nicht ihre Rechnung abgeschlossen hatten.

Die drei hatten ihre Stühle zusammengerückt und sprachen im Flüsterton. Es war klar, daß sie über ernste Dinge sprachen – vermutlich über alte und neue »Geschäfte«. Hoff-Jensens Tintenfischaugen lagen regungslos hinter den Aquariumgläsern. Perrinis Augenbrauen krochen wie schwarze Schlangen seine Stirn hinauf; sogar die pfiffige Cherubphysiognomie des jungen Schiött legte sich in ernste Falten. War es die Placierung des gestohlenen Goldes, über die sie beratschlagten? Nicht undenkbar. Einmal fing Möbius auf: » Nein, noch nicht, besser zu warten,« ein andermal: » Keine Gefahr, die suchen in …« Dann kam ein Name, den er nicht verstand. Hatten sie noch viele solche Streiche auf dem Gewissen? Daß dieser nicht der erste war, stand wohl fest. Schiött erschien ihm als ein typisches Produkt irgendeines Hintergäßchens in Kopenhagen. Perrini – der Name klang ja italienisch; der Mann selbst sah aus, wie die Kreuzung eines Juden mit einer unbekannten Anzahl anderer Rassen. Was meinte Hoff-Jensen damit, daß er freiwillig sein Ehrenwort geben würde, sie nicht zu verraten? Glaubte er selbst dieses Geflunker? Immerhin, Möbius war erschrocken, als er dies sagte. Er zuckte zusammen.

Ein neues Flüstern war zu ihm gedrungen; er hatte zu hören geglaubt: » Schwede könnte sich nützlich machen.« Jetzt sah er, wie ihn alle drei anstarrten. Perrini schwarz und drohend wie früher, der junge Schiött, die Arme auf einer Stuhllehne, in einer Stellung wie einer der Engel zu Füßen der Sixtinischen Madonna, Hoff-Jensen mit seinem gewöhnlichen stumpfen Tintenfischblick, aber mit einem ironischen Lächeln um die Mundwinkel. Möbius erwiderte ihre Blicke mit einer strengen, unerschrockenen Miene. Jetzt lachte der junge Schiött ein schrilles Gaminlachen. Möbius fühlte, wie er errötete. Der Schlingel hatte das infamste Lachen, das er je gehört hatte. Sie sprachen über ihn, das war sicher. Dachten sie über eine Art nach, sich seiner zu entledigen?

In diesem Augenblicke erschien die blonde Frau Zingel mit einem dampfenden Tablett. Schiött und Perrini erhoben sich wie auf Kommando. Hoff-Jensen übernahm wieder die Funktionen des Oberkellners, er ordnete das Service und stellte Gläser hin. Frau Zingel demaskierte ihre Batterien, und der junge Schiött verfiel in Begeisterung.

»Ach, diese Rotzunge! Nein, wie schön die aussieht! Die schaut, hol' mich der und jener, genau so fein aus wie die, die wir damals in Nyborg bekamen.«

»Ach!« wehrte Frau Zingel ab, »sie ist ja gut, aber die in Nyborg, die war einfach herrlich! Die war noch besser als die, die wir in Fredericia bekamen.«

»In Fredericia? Ah, die! Nein, das darfst du nicht sagen. Die in Fredericia im Hotel Jörgensen, die war überhaupt die delikateste Rotzunge, die ich in meinem Leben gegessen habe!«

»Aus gebratenen Fischen mache ich mir nichts,« sagte Hoff-Jensen und runzelte die Stirn. »Nein, Fische müssen gekocht, geräuchert oder mariniert sein. Marinierter Lachs mit Sauce Tatare –, ah! – ah!«

Der junge Schiött versank in Gedanken, bevor er sich an die Rotzunge machte.

»Nein, daß es Leute gibt, die finden, daß Steinbutte besser ist als Rotzunge! Nein, mir geht einmal nichts über eine richtig gebratene Rotzunge mit viel Butter! Du verstehst es, Elly!«

»Ja, du verstehst,« bekräftigte Perrini, in sein Beefsteak versunken. Spiegelei strömte aus seinen Mundwinkeln wie aus einer Dachrinne. Hie und da schleuderte er mit der Sicherheit eines Ballspielers und der Unparteilichkeit eines Philosophen entweder einen Aalborg oder einen Bröndum in den Mund. – »Du bist im Kocken die beste, die ick kenne.«

»Ich heirate dich meiner Seel' noch,« versprach Herr Schiött und holte die erste Garnitur Rotzungengräten aus dem Munde, »meiner Seel'!«

»Und ich?« kam es aus Perrinis Beefsteak.

»Und ich?«

Die letzte Replik kam nicht von Hoff-Jensen. In der Tür stand Vera im weißen Sommerkleide und einem großen Strohhut mit einem grünen Band, das über ihre Wange fiel. Ein elektrischer Strom durchzuckte Möbius. Sic sah Schiött an, der ihr mit der Gabel zuwinkte und seine Rotzunge weiteraß. Perrini sah nicht einmal auf; er versank mit jeder Sekunde tiefer und tiefer in sein Beefsteak, wie man in einen Morast versinkt. Die blonde Frau Zingel drehte sich halb zu Vera um und betrachtete sie mit glitzernden Augen.

»Und ich?« wiederholte Vera und legte den Hut ab. »Guten Abend, Herr Schiött, guten Abend, Herr Perrini! Du gedenkst Elly zu heiraten, Peter! Sind wir nicht mehr verlobt?«

Möbius erzitterte unwillkürlich. Sie hatte wirklich versprochen, diesen Schiött zu heiraten? Sie war im Begriffe, sich ernstlich an die Verbrecher zu ketten? Wie schrecklich es war, sich das zu denken! Wie traurig, daß das Aussehen eines jungen Mädchens so trügerisch sein konnte! Wenn man sie ansah, mußte man sie für rein und unverdorben halten, und in Wirklichkeit …

Schiött holte eine neue Garnitur Fischgräten aus dem Munde, ganz weiß und gereinigt.

»Verlobt?« sagte er. »Was meinst du damit?«

»Daß wir verlobt sind. Sind wir das?«

» Du bist mit mir verlobt. Ich schaue mich um, dazu habe ich das Recht.«

»So?«

»Ich kann nicht in ein Haus kommen, ohne daß ich etwas anstelle. Es ist genau so, wie wenn ich in ein Geschäft komme, ich geniere mich, so ohne weiteres fortzugehen. Pech für die Geschäfte! Jetzt kürzlich, als Perrini und ich mit den ›Polypen‹ Verstecken spielten – ih, ein Mädel in diesem Hause – prachtvoll! Reizender Balg! Reizend! Ich – wips da – schwups – komme bis auf weiteres nicht wieder hin! Hahaha!«

»Du bist ein netter Patron!« sagte Frau Zingel, zugleich mütterlich und zärtlich bewundernd.

»Du bist frech,« sagte Vera, »was war das für ein Mädchen? Ich will es wissen!«

Schiött entdeckte ein Stück Rogen in der Rotzunge, das er mit Zitrone beträufelte und langsam verspeiste. Dann lachte er vergnügt und wandte sich Perrini zu, der in seinem Beefsteak so gut wie verschwunden war.

»Eifersüchtig, was? Kannst du dich erinnern, wie sie geheißen hat, Perrini? Meiner Seel', ich habe es vergessen. Kamma? Petrine? Nein, laß mich nachdenken …«

»Du brauchst dich nicht so anzustrengen. Wenn du glaubst, ich habe nichts andres zu tun, als immer nur an dich zu denken, dann irrst du dich, man trifft andre Leute genug.«

»So, tut man das?«

»Das tut man, wenn man will.«

»Das will man also?«

»Man wird doch nicht verschimmeln, während du dich umsiehst.«

»Machst du diese Bekanntschaften, wenn du Rad fährst oder baden gehst? Ich werde schon dafür sorgen, daß du nicht so viel herumkommst. Elly muß aufpassen, wenn ich weg bin.«

»Hahaha! Gestern bin ich einem bei der Badeanstalt begegnet, weißt du, das war ein feiner Herr! Gelber Anzug, gelbes Hemd, gelber Schlips, gelbe Schuhe, alles gelb. Er hat gesagt, daß er jeden Tag hinkommt –«

»Aha! Es könnte sein, daß dein Rad gebrauchsunfähig wird, mein liebes Kind. Glaubst du, ich will mich lächerlich machen?«

»Ich gehe.«

»Du gehst nicht!«

»So lasse ich es bleiben.«

»Das ist recht, daß du gehorsam bist.«

»Hahaha! Man braucht doch nicht über den Fluß zu gehen, um Wasser zu holen.«

»Was meinst du damit?«

Vera ließ ein Lachen hören, das alle ihre weißen Zähne zeigte. Möbius erzitterte. Er gestand sich selbst zu, daß er noch nie etwas so Schönes gesehen hatte, wie Vera, wie sie da im Halblichte der Lampe stand, den Kopf zurückgeworfen, die Augen glitzernd zwischen den halb geschlossenen Lidern. Nein, daß sie so war! Aber was sie auch war, mutig war sie. Wie sie Schiött nach Verdienst behandelte, ihn, der dasaß und sich mit seinen Anschlägen gegen ungefestigte Frauen brüstete, er bekam von ihr die richtige Antwort. Er war wütend und konnte nicht umhin, es zu zeigen. Er hatte den Sessel vom Tisch zurückgeschoben und bemühte sich, sich gleichgültig die Zähne zu stochern, aber es gelang ihm nicht recht. Perrini, der jetzt dem Beefsteak und der Flasche Aalborg den Gnadenstoß gab, sah mit stummer Verwunderung zu. Daß jemand sich die Mühe nahm, mit einer Frau Worte zu wechseln! Hoff-Jensens Augen leuchteten wie zwei große Steinkohlenperlen. Schiött zerbrach den Zahnstocher und wiederholte zornig:

»Was meinst du damit?«

»Womit?«

»Du sagtest etwas, wie daß du nicht über den Fluß um Wasser zu gehen brauchst?«

»Habe ich das gesagt?«

»Das hast du gesagt. Was bedeutet das?«

»Du bist doch so gescheit!«

»Meinst du, daß du nicht aus dem Hause zu gehen brauchst, um … um …«

»Da du es sagst, wird es wohl wahr sein.«

»Hahaha! Ist es Perrini?«

»Warum denkst du nur an Perrini?«

»Wer sonst? Wen habe ich vergessen?«

Man hörte einen Krach. Schiött schlug mit der Hand auf den Tisch, so daß es dröhnte. Dabei schlug er eine Lache auf, die wie ein Notschrei klang, und drehte sich auf dem Sessel herum, bis er freie Aussicht auf Möbius hatte.

»Nein – nein – hahaha! Du meinst doch nicht, daß …«

Sein Lachen ging auf und nieder. Es prallte von den Wänden und dem Plafond zurück. Er wand sich auf dem Sessel, als ob die Rotzunge in Blausäure und nicht in Butter gebraten gewesen wäre. Der Adamsapfel an seinem bartlosen Hals hob und senkte sich wie eine Manometerkugel. Endlich setzte er sich auf und sah Möbius mit Tränen in den Augen an.

»Nein,« keuchte er, »nein, du willst mir doch nicht einreden, daß – ach Gott – hahaha …«

Möbius hatte das Gefühl, als ob ein Nadelregen in ganzen Schauern auf ihn herabginge. Er wurde rot und blaß; er wünschte sich, er wäre nicht unten geblieben. Er wollte gehen, aber er konnte sich nicht erheben; und er wollte bleiben, um sich zu verteidigen. Würde denn der Kerl mit seinem widerlichen, infamen Lachen nie aufhören? Das war ja kein Lachen mehr, das war ein epileptischer Anfall. Das machte es einem ja unmöglich, zu hören und zu denken; darum konnte er auch nicht den Gedanken zu Ende denken, den Veras letzte Worte in ihm hervorgerufen hatten. Sie hatte gesagt, ja, sie hatte wirklich zu Schiött gesagt: Warum rechnest du nur mit Perrini? Sie dachte an ihn als Nebenbuhler Schiötts. Sie dachte an ihn als Mann … War sie wirklich so verderbt, als er geglaubt hatte? Vielleicht hatte er in seinem Urteil übertrieben. Vielleicht hatte sie selbst das Gefühl, daß sie in schlechter Gesellschaft war, und machte einen Versuch, sich daraus zu erheben. Vielleicht suchte sie eine Hand, die sie stützen konnte. Auf jeden Fall verdiente sie ein besseres Los, als Schiötts Frau zu werden. Er sah sie an, und sie sah ihn an mit einem kurzen, rätselvollen Blick. Ihr Mund war fest geschlossen; das Haar lag wie eine Madonnenbinde um die Stirn. Wie schön sie war!

Er wurde aus seinen Reflexionen gerissen. Schiött, der zuerst dagestanden und Vera beobachtet hatte, kam jetzt mit trippelnden Schritten durch das Zimmer und stellte sich dicht vor Möbius auf; mit seinen eisblauen Pupillen sah er Möbius frech in die Augen. Seine Mundwinkel waren herabgezogen. Er zeigte die Zähne.

Möbius war nie in seinem Leben in einer Schlägerei gewesen, es war kein Zweifel, daß er jetzt in eine geriet. Hatte er Angst? Er glaubte nicht. Er starrte, die Hände an der Hosennaht geballt, in Schiötts blasse Gassenbubenphysiognomie. Er spürte Schiötts Atem. Plötzlich zog eine Wolke über die grünblauen Pupillen. Jetzt kommt es, dachte Möbius und hob die Hand. Aber Schiött drehte sich auf dem Absatz herum und ging auf die andre Seite des Zimmers. Im nächsten Augenblicke sah Möbius etwas, das er nie für möglich gehalten hätte. Schiött packte Vera mit der linken Hand beim Nacken und umklammerte ihre beiden Hände mit seiner rechten Hand. Er bog sie brutal zurück, bis sie beinahe parallel mit dem Boden lag, und starrte ihr in die Augen. Er sagte nichts; Möbius hörte Vera keuchen, war aber vor Verblüffung so gelähmt, daß er keinen Finger rühren konnte. Schiött machte einen Ruck, der Vera fast zu Boden warf, und riß sie dann so in die Höhe, daß sie hin und her schaukelte. Ihre Augen waren nicht mehr blau, sondern schwarz. Schiött flüsterte heiser:

»Bist du mein – oder …«

Ein atemloser Augenblick verging; dann hörte man ein halbersticktes Flüstern.

»Ja …«

Es kam noch ein Ja, kaum hörbar. Dann lag sie da, die Arme um Schiötts Hals geschlungen. Perrini gähnte. Frau Zingel kicherte ein mattes Echo ihres Lachens. Hoff-Jensen strahlte von Wohlwollen wie ein Père noble …

Wie Möbius an ihnen allen vorbeikam, wußte er nicht. Er kam erst zu sich, als er sich in seiner Kammer befand und wie Karl XI. die Tür hinter sich versperrte. Erst als er dies getan, war es ihm klar, daß er nicht denselben Anlaß hatte, dies zu tun, wie der fromme Sieger in der Schlacht bei Lund.

Denn wohl war es möglich, daß er auf die Knie fallen sollte, aber nicht, um für einen Sieg zu danken. Er hatte eine Niederlage erlitten.

Denn was sagt das Sittengesetz?

Lasse dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses, lasse dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes, noch …

Wenn Möbius sich selbst prüfte, konnte kaum ein Zweifel herrschen, daß er an diesem Abend ein Gelüste jener Art gehabt hatte, wie es in diesem Gebote geahndet wird.

Ja, es herrschte nicht einmal ein Zweifel – er stand gleichsam nackt unter den sechs Generationen und sah seine Seele ebenso nackt –, daß er es noch immer hatte.


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