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Sechstes Kapitel.
Das Attentat auf die Aktiengesellschaft »Sapientia«

Furustolpe starrte sein Spiegelbild an, ohne auch nur ein Wort herauszubekommen. Was hatte das zu bedeuten? War es ein Irrtum?

Nein, ein Irrtum war nicht möglich! Er hatte noch den Geschmack im Munde, einen bitteren, unangenehmen Geschmack. Er zog den Mund zusammen, als wär es Essig, den er unversehens zu sich genommen.

Er schaute in den Spiegel, auf die Flasche und dann durch das Fenster. Die leichten Wolken am blauen Maihimmel sahen aus wie Lämmer auf einer Wiese; die Sonne strahlte; die jungen Blätter auf den Bäumen leuchteten appetitlich und frisch wie junger Salat. Alles schien so idyllisch. Und hier stand er, Furustolpe, mit einem bitteren metallischen Geschmack im Munde, der bewies, daß es mitten in diesem Idyll Leute gab, die ihren Mitmenschen nach dem Leben trachteten.

War denn so etwas möglich?

Ja, es verhielt sich bestimmt so! Wer war es denn, der nach seinem Leben trachtete? Das wußte er nicht – aber warum sollte denn jemand hier in dieser fremden Stadt, wo er kaum zwanzig Menschen kannte, von denen keiner sein Feind war, ihm etwas Böses antun?

Auf diese Frage fand er keine Antwort. Er nahm ein reines Glas, füllte es mit Wasser und spülte den Mund aus. Dann nahm er die beiden kleinen Flaschen mit ihrem farblosen Inhalt. Die eine, die die gefährliche Flüssigkeit enthielt, stand noch offen. Bevor er sie wieder zukorkte, roch er nochmals daran, um sich zu überzeugen. Die Flüssigkeit war geruchlos, aber er nahm einen Tropfen auf den Korken und führte diesen vorsichtig an die Zunge. Es war kein Zweifel möglich. Er steckte die beiden Flaschen ein und verließ hastig das Zimmer.

Stangeland war natürlich nicht zu Hause. Wann war der übrigens mal anzutreffen? Furustolpe sah erregt auf die Nr. 314. Er fühlte ein lebhaftes Bedürfnis, bemitleidet zu werden. Und er mußte auch Rat und Hilfe haben! Vielleicht saß Stangeland im Eßsaal? Er lief die Treppen hinunter. Nein, Stangeland war nicht im Restaurant. Furustolpe strich sich erzürnt den Bart. Da kam er auf einen Gedanken, der ihn den unsoliden Lebenswandel Stangelands vergessen ließ: Herr Ernst Fritjof Petersson, der neue Kompagnon! Er war Chemiker, er war der richtige Mann.

Furustolpe eilte durch die Straßen. Herr Petersson war mit all' seinen Apparaten und Retorten in dem früheren Bureau der Aktiengesellschaft »Confidentia« einquartiert. Denn nach dem bewußten Anruf und dem darauf folgenden unglückseligen Kontrakt brauchte die Aktiengesellschaft »Confidentia« keine Bureauräume mehr. »Sapientia« hatte die Lokale im Geheimen übernommen.

Die Welt wußte es nicht und auch nicht der Hauswirt. Aber in den niedrigen Räumen entwickelte der Chemiker, Herr Petersson, einen infernalischen Gestank, der sich im ganzen Hinterhaus verbreitete.

Furustolpe klopfte an und mußte geraume Zeit warten, bevor schlürfende Schritte vernehmbar wurden, die Tür sich vorsichtig öffnete und eine lange rote Nase mißtrauisch durch den Spalt lugte. Sie war von gelben Rauchschwaden umgeben wie von einem höllischen Feuer. Auf Peterssons dünner Gestalt hing ein blauer, völlig von Säuren zerfressener Kittel. Herr Petersson glich einem Oberdämon. Seine Miene erhellte sich nicht, als er Furustolpes ansichtig wurde. Er war ein Gelehrter und es war ihm verhaßt, wenn man ihn in seiner Arbeit störte.

»Hoach,« sagte er. Dieses Wort, sei es, daß es von dem deutschen »Hoch!« abgeleitet war oder nicht, war sein stehender Gruß. Er rieb die Nase mit dem Ärmel, genau wie manche Hausfrauen einem geehrten Gast den Stuhlsitz abwischen, und sah Furustolpe fragend an.

»Ist etwas passiert?«

»Na – und ob!«

Peterssons Nasenspitze wurde blaß.

»Was ist passiert? Hat jemand etwas über mich erfahren?«

»Nein, nicht daß ich wüßte,« schrie Furustolpe. »Aber man hat mir etwas angetan – man hat versucht, mich zu ermorden!«

»Gottseidank!«

»Was sagen Sie, Herr Petersson! Man hat versucht, mich zu vergiften!«

Furustolpe trocknete sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich auf einen Stuhl, der von Dämpfen umgeben war, wie der Dreifuß der Pythia. Übrigens fehlte an diesem Stuhl auch ein Bein.

»Vorgestern besuchte ich einen Arzt,« sagte er, »Sie wissen ja, Herr Petersson, daß Stangeland und ich in letzter Zeit etwas gebummelt haben. Ich muß manchmal bummeln. Ein Abstinenzler kann nie in den Himmel kommen.«

Petersson polierte gedankenvoll an seiner Nase herum.

»Ich glaube nicht an das Himmelreich, denn ich bin Chemiker,« sagte er. »Aber ich bin Abstinenzler!«

»Na ja, meinetwegen. Jedenfalls hatte ich vorgestern Magenschmerzen und ging deshalb zum Arzt. Dann war ich auch noch gestürzt und hatte mir meine Knie gestoßen. Der Arzt verschrieb mir etwas für den Magen und dann etwas Sublimat, um das Knie auszuwaschen. Von der Magenmedizin verschreibe ich nur 100 Gramm, sagte er, das langt. Und hier sind 100 Gramm Sublimat für Ihr Knie, es sind zwei Teile auf hundert, mischen Sie einen Teelöffel auf ein Trinkglas Wasser. Aber trinken Sie es ja nicht aus Versehen, denn es ist giftig. Ich holte mir die Sachen aus der Apotheke und nahm einen Eßlöffel aus der richtigen Flasche ein und es half großartig. Und mein Knie habe ich mit dem Sublimat gewaschen. Das war gestern. Und heute nahm ich wieder einen Löffel aus dieser Flasche ein. – Aus der richtigen Flasche, Herr Petersson. Aber bevor ich das Zeug verschluckte, dachte ich: schmeckt das aber merkwürdig! und spuckte es wieder aus. Und wissen Sie was, Herr Petersson: der Inhalt der Flaschen war vertauscht? Man hatte ihn vertauscht, um mich zu ermorden!«

»Was sagen Sie, Herr Furustolpe!«

»Dann kostete ich vorsichtig den Inhalt der anderen Flasche, die das Sublimat enthalten sollte. Sie enthielt die Arznei für den Magen. Und in der Flasche, die die Arznei zum Einnehmen enthalten sollte, war Sublimat! Hier sind die beiden Flaschen, Sie können sich selbst von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen!«

Petersson, der mit mißtrauischem Gesicht zugehört hatte, nahm die Flaschen. Auf der einen stand ganz richtig ein Rezept über Opium und noch allerhand andere guten Dinge für Furustolpes Magen. Auf der anderen stand ganz einfach: Sublimatlösung 1: 200. Ein Totenkopf und zwei gekreuzte Knochen sprachen beredt von den Eigenschaften des Sublimats. Die Flaschen waren gleich groß. Petersson entkorkte sie und roch daran. Dann schaute er auf Furustolpe. Er nahm einen Tropfen des angeblichen Sublimats und kostete. Dann tat er desgleichen mit der Lösung, die für Furustolpes Magen bestimmt war, zog aber hastig die Zunge wieder ein. Ernst schaute er Furustolpe mit seinen wasserblauen Augen an.

»Und gestern tranken Sie von der Medizin, ohne krank zu werden?«

»Jawohl – und wusch mein Knie mit dem verdünnten Sublimat aus.«

»Ja – und heute können Sie ruhig Ihr Knie mit der sogenannten Sublimatlösung waschen. Das hat nichts zu sagen. Aber wenn Sie aus der Flasche trinken, die angeblich Arznei enthalten soll, dann sind Sie für alle Zeiten kuriert!«

»Enthält die Flasche Sublimat?«

»Jawohl!«

»Und wenn ich es eingenommen hätte, dann wäre ich …«

»Tot! Jawohl! Wenn Sie es nicht zur Zeit gemerkt hätten!«

»Ist das wahr?«

»Jawohl!«

Herr Petersson putzte sich die Nase.

Furustolpe trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn.

»Aber wer …«

»Hm! Wie war es gestern abend?«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Ich meine – bummeln Sie immer noch?«

»Ich war ganz nüchtern. Übrigens nahm ich einen Löffel von der Arznei, bevor ich schlafen ging. Heute früh fand ich die Flaschen so vor, wie Sie sie jetzt sehen. Jemand muß heute nacht in meinem Zimmer gewesen sein!«

»Aber verriegeln Sie nachts die Tür nicht?«

»O ja! Das mache ich immer!«

»Ja – aber …«

»Na?«

Herr Petersson antwortet gleichgültig: »Sie sind eben Schlafwandler.«

»Ich bin nie im Schlafe gewandelt!«

»Ganz bestimmt! Sie selbst haben den Inhalt der Flaschen vertauscht! Sonst wäre doch die Tür nicht verriegelt gewesen.«

»Die Tür war verriegelt. Aber ich habe es nicht gemacht.«

Petersson antwortete nicht. Er stand auf und beschäftigte sich wieder mit seinen brodelnden Tiegeln.

Furustolpe versank in Grübeleien, aus denen er plötzlich mit dem Ausruf hochfuhr:

»Daß die Menschen so schlecht sind! Wer will mich denn ermorden?«

Petersson antwortet trocken:

»In vier bis fünf Tagen können wir mit dem Verkauf beginnen!«

Furustolpe sah ihn verständnislos an.

Petersson fügte verächtlich erklärend hinzu:

»Mit dem Salvarsan!«

Furustolpe strich sich über die Stirn.

»Soo? Das ist ja ausgezeichnet! Aber wer kann es nur sein? Meinen Sie, daß ich die Sache der Polizei melden soll, Herr Petersson?«

Petersson sah auf seine Tiegel und antwortete einsilbig:

»Nein!«

Furustolpe überlegte und schwitzte dabei derartig, daß ihm der Bart feucht wurde. Ein Gedanke plagte ihn und er mußte ihm Luft machen:

»Vor einiger Zeit,« begann er, »ich kannte Sie damals noch nicht.«

Er verstummte – Herr Petersson prüfte eine Phiole.

»Es war, bevor ich Sie kannte. Da wurde ich angerufen. Es war ein sehr merkwürdiger Anruf – ein sehr merkwürdiger.«

Der Chemiker goß die Probe in einen Eimer.

»Jemand – jemand mit einer merkwürdigen Stimme rief mich an – es war spät in der Nacht – und sagte allerhand Sachen. – Drohte mir geradezu. – Sagte, daß es mir schlecht gehen würde …«

Wieder brach Furustolpe ab. Petersson schneuzte sich umständlich die Nase, um dann eine kochende, giftgrüne Lösung zu beriechen.

»Man drohte mir geradezu. Ich habe noch nie solch' eine Stimme gehört. Und nicht genug damit – – es dauerte gar nicht lange, da sah ich, daß derjenige, der mir das alles sagte, recht hatte. Es ging schief. Es hätte noch schlimmer werden können, wenn ich nicht so vorsichtig gewesen wäre. Dann traten wir in geschäftliche Beziehungen zueinander, Herr Petersson!«

Herr Petersson steckte in Gedanken den Finger in eine Retorte und malte sich dann, ohne es zu bemerken, die Nase blau an.

»Aber bis heute weiß ich noch nicht, wer es war, und niemand weiß es. Dann meinte ich: wenn jemand einen Menschen warnt, daß es mit seinen Geschäften schlecht gehen wird, dann kann er auch die Absicht haben, ihm nach dem Leben zu trachten. Darum dachte ich mir, daß es vielleicht ein und dieselbe Person ist, die mir heut nacht den Streich gespielt hat!«

Herr Petersson widmete sich voll und ganz seiner Teufelsküche. Furustolpes ängstliche Fragen ließen ihn gänzlich unberührt. Auf dem dreibeinigen Stuhl sitzend, versank Furustolpe wieder in Grübeleien. Damals, als der mystische Anruf kam, war er bald zu dem Ergebnis gekommen, daß es Herr Lebenslust war. Wäre dieser noch im Lande gewesen, hätte er ihn bestimmt des Mordplanes verdächtigt. Aber Herr Isidor Lebenslust war nicht mehr im Lande.

Die Vorsehung hatte es anders bestimmt. Vor 14 Tagen hatte die Polizei ein lebhaftes Interesse an Herrn Lebenslusts Geschäften gezeigt, und dieser hatte sich noch beizeiten ein Billett für den Gjedsenexpreß verschafft. Man sprach von Spionage und noch viel mehr. Herr Lebenslust verduftete, doch fand er noch die Zeit, seinen Kontrakt mit der Aktiengesellschaft »Confidentia« auf eine sehr solide dänische Firma zu übertragen, und diese konnte man unmöglich verdächtigen, daß sie den Chef der »Confidentia« ermorden wollte! Das hieße ja dann so handeln, wie der Mann, der das Huhn, das goldene Eier legte, abschlachtete. Nein, und ebensowenig konnte Furustolpe überhaupt einen von seinen Bekannten verdächtigen, doch – jemand hatte einen Mordanschlag gemacht. Aber wer – – – um Himmelswillen – – – wer?

Furustolpe prustete und in dem Tiegel des Herrn Petersson brodelte und zischte es, als ginge es um eine beiderseitige Wette.

Furustolpe fand Herrn Petersson maßlos herzlos! Da ging dieser Mann spuckend von Tiegel zu Tiegel und hatte keinen Gedanken übrig für seine in Not befindlichen Mitmenschen. Er, Furustolpe, sollte entweder die Tür unverriegelt gelassen oder den Inhalt der Flaschen im Schlaf vertauscht haben! Nur ein Gelehrter konnte zu einer derartigen Behauptung kommen! Nein, dunkle Mächte schmiedeten Pläne gegen Furustolpe, ein Feind arbeitete gegen ihn im Dunkel der Nacht, drohte durch das Telephon, ohne daß das Amt etwas merkte, ging durch verschlossene Türen um zu töten! Ihm schauderte. Wer konnte es nur sein? Wo fand er den Feind, der böse und listig genug war, etwas Derartiges fertig zu bringen? Er hatte doch keinen Feind auf der Welt, er war ein Mann des Friedens, er hatte nie, nie einen Feind gehabt. – – –

Doch! – – –

Furustolpes Gedanken standen still.

Er hatte einen Feind gehabt.

Einen Feind, der ihm gedroht, der nichts Höheres gewollt hatte, als ihn zu töten – – – der geschworen hatte, ihn zu töten – – –

Aber dieser Feind war tot – – – also war die Rechnung falsch.

Ja – – aber – – – hörte denn jegliche Verbindung mit einem Menschen auf, sobald er tot war? Ja, ganz bestimmt!

Aber was sagte man in Finnland? Was erzählte man sich in den langen Winternächten, wenn man hoch oben in den Wäldern um das flammende Feuer saß? Aberglaube, – – aber was erzählte man? Von Verstorbenen, die wiederkamen und lebende Menschen weit hinaus auf das Eis lockten – – – die auf dem Friedhof warteten, um sich über diejenigen zu werfen, denen sie etwas antun wollten – – – die die Leute in den schwarzen Sumpf lockten. – Aberglaube … aber natürlich! Dummer, sinnloser Aberglaube, unwürdig eines studierten Mannes, der das Seminar besucht hatte – – – elender Aberglaube.

Was hatte er an dem Tage erzählt:

»Na, da war der Matti aus Puijo. Der kannte das Eis besser, als irgend ein anderer und doch brach er ein. Und genau drei Wochen vorher war sein Freund Hannes an derselben Stelle ertrunken, und die Paavilahexe hatte den Hannes ein paar Tage später aus dem Loche winken sehen; und dann der Küster in Pohjola, den man tot auf dem Kirchendach fand. Wer hatte ihn denn dorthin geschleppt? Und dann, was die Paavilahexe zu mir gesagt hat …«

Jedenfalls hatte die Paavilahexe damit recht behalten, was sie über ihn prophezeite. Er hatte dann über diese Dinge gesprochen. Er war, genau wie sie gesagt hatte, mit 40 Jahren gestorben – gerade als er entgegen ihrer Voraussagung Geld an sich reißen wollte, welches ihm nicht zukam – als er Furustolpe ausplündern und ermorden wollte. Er war gestorben, aber noch in seiner Todesstunde hatte er gerufen: »Du Teufel – du willst mich wohl ermorden? Aber wenn du mir auch zehnmal entkommst, so werde ich dich nie vergessen! Und wenn ich jetzt sterben müßte – – – ich werde dich doch nie vergessen. Aber nicht ich soll sterben, sondern du – – und hier hast du – – –«

Was wurde aus einem Menschen, der so starb? Mußte er nicht ein Teufel werden?

Ein Teufel! Entsetzlich! Wie oft hatte er nicht die Leute auf seinen Predigtfahrten gewarnt und gesagt, daß sie zu Teufel werden würden, wenn sie Böses täten – aber jetzt erst wurde ihm das Unheimliche daran klar. Ein Wesen, das nur Böses tut – das nur dem Bösen nachjagte! Wenn der da – er schauderte und wagte nicht einmal den Namen in Gedanken auszusprechen – jetzt ein Teufel war – – – und doch mußte er es nach den Worten der Heiligen Schrift sein – – dann haßte er jetzt Furustolpe ebenso glühend wie an jenem verhängnisvollen Morgen und verfolgte ihn aus dem Jenseits mit Verwünschungen und mit seiner Rache! Aber wenn auch dieses sicher war – und so verhielt es sich, wenn die Heilige Schrift die Wahrheit sprach, so war es wohl kaum möglich, daß – – – daß er, obwohl tot, doch die Macht besaß, ihn zu ermorden.

Plötzlich stieß Furustolpe einen heiseren Schrei aus. Petersson hatte die Ofenröhre geöffnet, um Kohlen auf das Feuer zu werfen. Dabei stieß er mit seinem spitzen Ellbogen einen brodelnden Tiegel um. Der Inhalt floß in das Feuer. Im nächsten Augenblick war das Zimmer mit einem infernalischen Gestank erfüllt. Lange gelbe Feuerzungen loderten auf und in dem dichten Qualm meinte Furustolpe verzerrte Gesichter zu sehen. Glieder, die sich wanden; Hände, die sich in Haß zu Fäusten ballten; entstellte Gesichter – – – und ein Gesicht unheimlicher als die anderen. Das Zischen der Flammen wurde zu unheimlichen Verwünschungen. Furustolpe hielt sich stöhnend die Hände vor die Augen. Er wollte nicht mehr bleiben – – – er wollte weg! Er stand wankend auf, und auf einmal dachte er daran, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Er wollte fort, er wollte sich mit Essen und Trinken betäuben. Fluchend wandte sich der Chemiker vom Herd ab und ließ ihn mit noch ärgerlicherer Miene heraus, als er ihn empfangen hatte.

Kaffeelokale, die an ihm vorbeiglitten wie ein Traum, wie Theaterkulissen, der Tabaksrauch, der über die Marmortische ging, wie der Dunst über ein Schlachtfeld, Gesichter, die im Rauche glühten und redeten – – diese Dinge füllten drei Tage lang Furustolpes Dasein aus. Als er wieder zu sich kam, bestätigte er seine Theorien, indem er so voller Reue war, daß es für zehn Abstinenzler gelangt hätte, um in den Himmel zu kommen. Stangeland hingegen, den er am ersten Abend zufällig getroffen, und der ihn dann auf seinen Irrfahrten begleitet hatte, war ganz frisch und munter und gar nicht von Gewissensbissen geplagt, als er kam ihm mitzuteilen, daß Herr Petersson gearbeitet habe, während er und Furustolpe herumbummelten. In zwei Tagen konnte man anfangen, die Ware der »Sapientia« zu verkaufen.

Furustolpe legte eine neue Kompresse auf seine schmerzende Stirn und versank in Grübeleien. Der Name Petersson hatte die Erinnerung an die Szene in der Werkstatt der Aktiengesellschaft »Sapientia« und an den Mordversuch sowie an die Jagd nach dem Mörder in ihm wachgerufen … und auch an das, was er auf der Suche gefunden hatte. Er hatte ja nur gebummelt, um diese Dinge zu vergessen. Jetzt sah er ein, daß er damit genau so viel erreicht hatte, als wenn er Kleingeld in ein Unternehmen steckte, das hundert Prozent Dividende gab. Oh, wie er litt! Welche Qualen er an diesem Morgen ausstehen mußte! Sein Kopf war wie ein Ameisenhaufen; er wand sich wie eine Schlange unter den Stichen der peinigenden Gedanken, die ihn erfüllten. Er wünschte beinahe, daß dem Mörder seine Tat gelungen wäre! Schließlich stand er auf, kleidete sich an und nahm ein Katerfrühstück im Speisesaal ein, während die brünette Kassiererin ihn mit scheuer Bewunderung beobachtete. Nach dem zweiten Schnaps fand Furustolpe seine Lage etwas weniger trostlos. Sein Leben erschien ihm nicht mehr ganz so verfehlt. Im Grunde waren seine Geschäfte reell und anständig. Die Sache mit dem Platin hätte ja ungemütlich werden können, aber er hatte sich noch im richtigen Moment zurückgezogen. Wäre es nach Stangeland gegangen – – dann – – – und das letzte Geschäft mit dem Heilmittel des Chemikers Petersson? Allerdings verstieß es gegen die Patentverordnungen, aber es galt ein unentbehrliches Heilmittel herzustellen, und was ist wohl richtiger, einem leidenden Bruder zu helfen oder sich an die Gebote der Pharisäer zu klammern? Wenn ein Ochse am Sabbat in den Brunnen fällt – – soll man ihn dann retten, oder sich an die Gebote halten und den Sabbat heiligen?

Aber wenn Herrn Peterssons Medizin nicht gut war?

Furustolpe wankte bei diesem Gedanken im Sofa wie ein Schiff bei einem unerwarteten Windstoß.

Ja, wenn Herrn Peterssons Salvarsan nicht gut war, dann … dann sah es für Furustolpe mit seinen Geschäften schlimm aus! Wenn er ein unbrauchbares Heilmittel verkaufte, das vielleicht sogar schädlich war, und die Kranken nicht geheilt, sondern kränker wurden oder gar sterben mußten – – – wahrhaftig, da war er ja noch schlechter als der Mann, der ihn hatte töten wollen, da war es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gebunden wurde und er …

Aber das Geschäft war jetzt zu weit fortgeschritten. Stangeland hatte gesagt, daß man in zwei Tagen anfangen konnte zu verkaufen. Man hatte mehrere tausend Kronen in das Geschäft gesteckt, und wer einmal A gesagt hat, der muß auch B sagen. Nein! das Frühstück hatte ihn gut und gerecht gemacht. So etwas durfte nicht geschehen! Wenn Herr Petersson nicht schwarz auf weiß beweisen konnte, daß seine Medizin war, wie sie sein sollte, dürfte sie nicht aus dem Büro heraus und damit basta …

Nichts würde Furustolpe von diesem Entschluß abbringen. Petersson und Stangeland konnten sagen, was sie wollten! Und nicht genug damit, er wollte ihnen gleich seinen Entschluß mitteilen, um sie nicht zu überrumpeln. Er ging in das Bureau. Sein Kopf schmerzte, aber er war fest entschlossen und sehr mit sich selbst zufrieden.

Es war ein klarer, windiger Maimorgen. Der Staub wirbelte auf den Straßen, die Glocken der Radfahrer tönten wie ein Orchester durch die engen Gassen. Die Zeitungen verkündeten, daß die Deutschen heute elf englische, fünf norwegische und einen dänischen Dampfer versenkt hätten.

Herr Petersson öffnete und betrachtete Furustolpe mit spöttischer Miene. Er lächelte oder lachte niemals. Höchstens spitzte er die Lippen unter dem dünnen Schnurrbart, – dann ähnelte er einem Faun in einer Wasserfontäne.

»Hoach!« sagte er, wie immer.

»Ja, ja!«

»Was ist denn los?« fragte Furustolpe.

»Gestern nacht sah ich Sie das letzte Mal. Es war im Café ›Stiefmütterchen‹. Sie standen auf dem Schanktisch mit einer Flasche Benediktiner in der einen Hand und einer Flasche Selter in der anderen und sprachen von Skandinavismus, und dann erzählten Sie von der Hölle, und wie die Schlechtigkeit der Menschen auch im Jenseits weiterlebt. Immer wenn ich auf einem Schanktisch Flaschen sehe, denke ich, was die Menschen doch alles erdacht haben, damit sie um ihren klaren Verstand kommen! Der Verstand muß sie doch recht quälen, weil sie sich solche Mühe geben!«

»Sprach ich wirklich von der Hölle?« fragte Furustolpe und schüttelte sich. Also waren doch seine Gedanken trotz aller Betäubungsversuche immer wieder darauf zurückgekehrt, worüber er in der Werkstatt der Aktiengesellschaft »Sapientia« gegrübelt hatte. »Na, ich wollte etwas anderes mit Ihnen besprechen, Herr Petersson!«

»Wie Sie wünschen, Herr Furustolpe.«

»Stangeland sagte mir, daß Sie bald fertig sind.«

»Jawohl, ganz richtig. Die erste Ladung kann übermorgen verkauft werden. Hundert Tuben, die jede eine Dosis enthalten. Später wird es schneller gehen, wenn ich erst richtig im Gange bin.«

»Sehr gut, Herr Petersson, aber ich möchte Sie nun eins fragen: Sie glauben doch, daß Ihre Medizin gut ist?«

»Ob ich das glaube? Aber natürlich!«

»Sind Sie dessen wirklich gewiß, Herr Petersson?«

»Aber das ist ja klar! Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich ein Jahr bei Ehrlich in seinem Laboratorium gearbeitet habe. Mein Salvarsan ist so gut wie das seinige!«

»Ja, das sagen Sie so – – – aber wie können Sie es wissen? Haben Sie es an sich selbst versucht?«

»Ich? Gott sei Dank, ich benötige es nicht!«

»Na, dann an jemand anderem?«

»Ich bin doch kein Arzt! Ich habe niemand, an dem ich Experimente machen kann! Aber ich weiß, daß mein Salvarsan so ist, wie es sein soll!«

»Aber wie können Sie das wissen?«

»Weil ich weiß, wie es hergestellt wird, und es auch genau so gemacht habe; daher weiß ich es, Herr Furustolpe.«

»Aber Sie haben es noch nie an jemandem versucht?«

»Sie hörten doch, was ich Ihnen eben sagte!«

Furustolpe kreuzte die Arme über der Brust und sagte:

»O doch, ich höre schon, aber jetzt hören Sie bitte auf das, was ich Ihnen zu sagen habe. Die Medizin wird nicht verkauft, bevor ich nicht weiß, daß sie so ist, wie sie sein soll!«

»Aber wie soll ich denn das beweisen, Herr Furustolpe! Ich bin kein Arzt und kenne keinen Arzt, der mir helfen könnte. Kennen Sie vielleicht jemand?«

»Nein.«

»Und ich kenne auch niemand, der Salvarsan benötigt, wenn Sie nicht – – –«

»Ich? Sind Sie ganz verrückt?«

»Nein, aber ich fürchte es zu werden, wenn Sie sich nicht erklären wollen! Erst opfern Sie eine Menge Geld und ich eine Menge Zeit, um eine Sache herzustellen, und wenn sie fertig ist, sagen Sie, daß man sie nicht verkaufen darf.«

»Das habe ich nie gesagt! Ich sagte nur, daß die Arznei nicht eher verkauft wird, als bis ich weiß, daß sie gut ist!«

»Aber wie soll ich Ihnen das nur beweisen? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich es nicht kann! Und wenn Sie es doch von mir verlangen, so ist es genau dasselbe, als ob Sie sagen: ›Die Ware darf nicht verkauft werden!‹ Und mein Salvarsan ist genau so gut wie Ehrlichs.«

»Ja, aber wie wissen S…«

In diesem Augenblick wurden Peterssons Gedanken durch ein Pochen an der Tür abgelenkt. Es war Stangeland, der ankam, strotzend von urwüchsiger Kraft, trotz allen Bummelns. Herr Petersson klagte ihm sein Leid. Etwas Derartiges habe ich noch nie erlebt! Stangeland spitzte seinen kleinen Mund unter der großen Nase und sah Furustolpe an.

»Was soll das nun wieder heißen? Du bist wohl nicht ganz gescheit?«

Furustolpe errötete, aber er blieb fest. Jetzt galt es den Kampf des Guten auszukämpfen.

»Ich verlange doch nichts Unmögliches! Ich will nur wissen, ob die Arznei gut ist oder nicht! Wenn sie nicht gut ist, verkaufe ich sie keinesfalls, wenn ich auch noch so viel Geld daran verdiene! Ich habe eben ein Gewissen!«

»Aber du hörst ja, daß Herr Petersson es nicht beweisen kann, weil er niemand hat, an dem er es beweisen kann!«

»Das ist mir egal! Er muß eben jemand herbeischaffen!«

»Er kann ja nicht!«

»Er muß!«

Stangeland betrachtete Furustolpe stillschweigend. Schließlich kam ihm eine Idee.

»Hör mal! Du willst wissen, ob das Salvarsan so ist, wie es sein soll. Willst du wissen, ob es die Kranken heilt, oder ob es ihnen schadet?«

»Es darf nicht schädlich sein! Stell' dir vor, wenn einer daran sterben würde, dann wären wir ja Mörder. Sonst machts ja nichts. Denn diejenigen, welche sich die Krankheit zugezogen haben, sind ja selbst daran schuld.«

Stangeland lachte dröhnend.

»Na, dann ist es ja aber sehr einfach, wenn du nur wissen willst, daß das Salvarsan nicht schädlich ist, dann laß dir doch von Petersson eine Dosis einspritzen!«

Furustolpe starrte ihn mit offenem Munde an. Sollte er sich eine Dosis einspritzen lassen! Das war wirklich die Höhe. Eine Dosis dieses Heilmittels der Schande, welches ihn vielleicht in Lebensgefahr bringen konnte! Nie und nimmer! Er wollte es ausrufen, da durchkreuzte ein Gedanke seinen schmerzenden Kopf. Wer war er denn, daß er sich der Schande und Gefahr zu entziehen suchte? War sein Leben derart gewesen, daß er das Recht hatte zu sagen: »dieser Kelch ist nicht für mich bestimmt, mag er einem anderen gereicht werden!« Ach nein! Hatte er nicht den ganzen Morgen in Reue daran gedacht, daß sein Leben nicht das beste gewesen war. War es zu verantworten, wenn Peterssons Medizin in die Welt geschickt wurde, ohne erst genügend geprüft und untersucht worden zu sein? Nein, das ging unter keinen Umständen! Seine Gedanken reiften zum Entschluß. Er wollte sich demütigen und eine Dosis einnehmen. Erst aber wollte er Stangeland klarlegen, daß er keinesfalls dazu verpflichtet wäre.

»Und du? Warum läßt du dir nicht eine Dosis einspritzen?«

»Ich? Ich habe keine sentimentalen Bedenken! Ich bin Nietzscheanhänger. Ich verlasse mich auf Petersson!«

Furustolpe beugte sein bärtiges Haupt.

»Gut, dann werde ich es tun. Wenn Sie fertig sind, können Sie mir eine Dosis einspritzen, Herr Petersson?«

Stangeland schnaubte wie ein Nilpferd. Petersson staunte seinen Arbeitgeber mit gespitztem Mund an. Das war ja heller Wahnsinn! Aber wenn sein Chef sich wie ein Verrückter benehmen wollte, dann mußte man ihm eben seinen Willen lassen. Er zuckte mit seinen mageren Schultern und sagte:

»Also morgen bei Ihnen im Hotel, Herr Furustolpe!«

»So etwas habe ich noch nie erlebt!« brüllte Stangeland und wälzte sich vor Lachen.

»Warum im Hotel? Warum nicht gleich hier?« fragte Furustolpe mit leichtem Erröten.

»Sie müssen sich niederlegen. Nach der Injektion kommt immer eine kleine Temperaturerhöhung – – – Aber das wird auch die einzige Folge von diesem – – – – Experiment sein.«

Furustolpe verspürte einen heftigen Widerwillen – – Fieber! Ob er sich noch zurückziehen sollte? Aber der durch das Frühstück geweckte Wille zum Guten gewann wieder die Oberhand. Wenn er nun Fieber bekäme? Gut, das war eben ein Teil seiner Prüfung. Hatte er seine Hand an den Pflug gelegt, so mußte er eben durchhalten!

»Und nun noch etwas!« sagte er plötzlich.

»Ja!«

»Ich will mir selbst eine der fertigen Tuben heraussuchen.«

Petersson wand sich zur Hälfte aus dem Stuhl wie eine Schlange, der man auf den Schwanz getreten hat. Dann sank er wieder zurück, machte eine schlingernde Bewegung gegen seinen Schrank und zischte:

»Bitte schön!«

Furustolpe nahm eine Tube auf gut Glück. Herr Petersson wickelte sie sorgfältig in Papier ein und schrieb mit vernichtender Ironie und sauberer Schulmeisterschrift darauf:

»Privatdosis des Herrn Furustolpe.«

Zu Hause legte Herr Furustolpe die Tube in seinen Waschtisch.

Am nächsten Tage um drei Uhr spritzte Herr Petersson im Hotel Meyer, Zimmer 217, eine Normaldosis Salvarsan in Herrn Furustolpes Arm ein. Vor der Injektion untersuchte er die Tube mit befriedigendem Resultat. Er löste den Inhalt in Wasser auf, welches er zu diesem Zwecke eigenhändig destilliert hatte. Obwohl er kein Mediziner war, so wußte er doch genügend von der Anatomie des Armes, um die richtige Ader zu finden. Die Injektion verlief leicht und normal. Gleich darauf machte sich eine leichte Steigerung der Temperatur bemerkbar, wie ja auch Petersson vorausgesagt hatte. Aber es blieb leider nicht dabei – – das Fieber stieg immer mehr; die Stirne des Patienten war mit Schweiß bedeckt; seine Augen wurden gläsern, und er atmete schwer durch seinen großen offenen Mund. Erst legte Herr Petersson der Sache keine Bedeutung bei; aber als Furustolpes Temperatur nach einer Stunde auf 39,2 Grad stieg, wurde Petersson doch etwas, unruhig. Seine Unruhe wurde immer größer, als er nach einer Stunde eine Temperatur von 40,5 Grad feststellte. Jetzt wurden die Atemzüge des Patienten unregelmäßig, seine Augen wurden matt, und er fing an vor sich hinzumurmeln. Mit Herrn Petersson hatte er seit dessen Ankunft kaum ein Wort gesprochen. Ungefähr gleichzeitig kam auch Stangeland an mit korrekt frisierter Haartolle, nach Eau de Lubin duftend und zu Scherzen aufgelegt. Petersson machte eine warnende Gebärde.

Furustolpe redete leise vor sich hin. Sein langer Bart sträubte sich und seine Hände bewegten sich unruhig auf der Bettdecke.

»Was ist denn los?« fragte Stangeland.

Petersson schaute zur Seite.

»Ich weiß nicht. Soeben hatte er 40,5 Grad. Gewöhnlich überstieg die Temperatur doch nie 39 Grad in diesen Fällen. Ich weiß, daß das Salvarsan ist, wie es sein soll, ich verstehe nicht – – –«

»Wir wollen nochmals messen,« sagte Stangeland.

Sie taten es. Das Thermometer zeigte jetzt 41,3 Grad. Stangeland sah Petersson an. Dieser stand wie gelähmt mit dem Thermometer in der Hand.

»Ich weiß bestimmt, daß das Salvarsan gut ist,« wiederholte er. »Genau wie es in Ehrlichs Fabriken hergestellt wurde. Ich verstehe nicht – – –«

»Furustolpe!« sagte Stangeland, »Furustolpe – – wie geht es?«

Furustolpes Mund brannte purpurn aus seinem blonden Bart. Die Lippen bewegten sich immerfort, aber er beantwortete Stangelands Frage nicht. Seine Augen waren zur Hälfte geschlossen und der Blick umflort. Seine Seele schien sich in ganz anderen Regionen zu befinden.

»Furustolpe – – hörst du mich nicht?«

Keine Antwort. Stangeland kreuzte die Arme über der Brust und schaute auf den hageren Chemiker.

»42 Grad bedeuten den Tod, wenn ich nicht irre?« sagte er. »Nur sieben Zehntel Grad trennen Furustolpe davon. Was meinen Sie, Herr Petersson, wollen wir nicht lieber einen Arzt holen?«

Petersson steckte ohne zu antworten wieder das Thermometer in Furustolpes Achselhöhle.

»Ich weiß, daß mein Salvarsan gut ist!« murmelte er vor sich hin.

Aber diesmal erbleichte sogar Peterssons rote Nase. Das Thermometer zeigte 41,6 Grad. Die sieben Zehntel Grad, welche Furustolpe noch vom Jenseits trennten, hatten sich über die Hälfte vermindert. Stangeland fuhr sich durch die Haare und fand, daß sie nicht nur von Lubin feucht waren. Petersson starrte vor sich hin. Sein Mund unter dem dünnen Schnurrbart bewegte sich wie bei einem Wiederkäuer, und er flüsterte fast unhörbar:

»Aber ich weiß doch, daß es gut ist! Ich verstehe nicht …«

In diesem Moment, bevor Stangeland seine Frage wiederholen konnte, setzte Furustolpe sich auf wie Hiob auf dem Schutthaufen, hob die Arme und begann einen wilden Kampf zu kämpfen gegen einen Feind, den weder Stangeland noch Petersson sehen konnte. Seine Augen waren vor Schrecken und Abscheu weit aufgerissen, sein Bart sträubte sich, sein Mund stieß Drohungen und Bitten aus. Was sah er? Gegen wen kämpfte er? War es der Sensenmann, der mit knöchernen Fingern seinen Hals umklammern wollte? Furustolpe mußte jedenfalls den Kampf allein auskämpfen, und niemand konnte ihm die erflehte Hilfe bringen. Stangeland und Petersson wußten es, und zitternd trockneten sie sich den Schweiß aus der Stirn, die ebenso feucht war, wie die Furustolpes. Dieser warf sich wie ein Boxer hin und her und erteilte gewaltige Hiebe.

Plötzlich stieß er einen gellenden Schrei aus.

»Teelemainen! Teelemainen!«

Er holte zu einem letzten Schlag aus. Er schien zu treffen, denn mit einem grausamen Lächeln fiel er in die Kissen zurück. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren hervor. Einige Minuten später schlief Furustolpe ruhig. Als Herr Petersson etwas später mit zitternden Händen seine Temperatur maß, zeigte das Thermometer auf 40 Grad. Eine halbe Stunde später war es auf 39,5 Grad gefallen. Am nächsten Morgen erwachte Furustolpe todmüde, aber anscheinend ganz gesund.

Währenddessen war Petersson nicht untätig gewesen. Als die Gründer der Aktiengesellschaft »Sapientia« wieder im Zimmer Nummer 217 zusammentrafen, war er ganz kampfbereit. Stangeland war verstimmt und schüttelte seinen großen Bärenkopf, während er vor sich hinbrummte. Es erschien ihm sogar als Nietzscheanhänger zu riskant, eine Ware zu verkaufen, die den Käufer so dicht an die Pforte des Hades brachte. Aber wenn die »Sapientia« starb, wovon sollte dann Stangeland leben?

»Na,« fragte Furustolpe langsam – – »was sagen Sie denn zu dem Experiment, Herr Petersson?«

Petersson rieb sich seine rote Nase. Er war aufgeregt und vergaß ganz, sich wie sonst grammatikalisch auszudrücken.

»Ich gebe zu – ja, ich gebe zu, daß Ihre Temperatur gewaltig stieg.«

»Wie hoch? Ich fühle mich, als ob ich zehnmal im Dampfbad gewesen wäre!«

Petersson räusperte sich.

»Das Fieber war nicht hoch! Aber – –«

»Wie hoch?«

»Auf 41,6 Grad.« Peterssons Stimme knarrte wie eine Tür, die nicht aufgehen will. »Aber – – –«

»Auf 41,6. Irre ich mich, oder – – oder ist nicht 42 Grad die Grenze?«

»O ja doch, im allgemeinen. Aber – –« Peterssons Stimme war jetzt wieder voller Empörung, »das Salvarsan ist nicht daran schuld.«

»Was?« Stangeland setzte sich im Stuhl hoch. Diese Behauptung erschien ihm doch etwas stark.

»Nein!« rief Petersson, »ich bekam es gestern doch mit der Angst – –«

»Um meinetwillen oder wegen des Geschäftes?«

»Ich sehe keinen Unterschied, Herr Furustolpe. Ich bekam Angst und ging in ein analytisches Laboratorium. Ich sagte, daß ich das Salvarsan privat gekauft hätte, und daß ich wissen wollte, ob es gut wäre. Man hat mein Salvarsan untersucht und,« Peterssons Stimme zitterte vor Triumph, »es ist genau so, wie es in allen Teilen sein soll. Was sagen Sie dazu, Herr Furustolpe?«

»Ja, was soll ich dazu sagen? Ich habe jedenfalls das größte Mitleid mit den armen Menschen, die etwas Derartiges einnehmen müssen, wenn ich daran denke, wie es mir gestern erging!«

»Nein«, rief Petersson, noch immer vor Triumph bebend. »Nachdem ich das Salvarsan hatte untersuchen lassen, ging ich zu einem Arzt und lieh mir eine Dosis einspritzen. Ich sagte, daß es sich um ein Experiment handelte. Und hier bin ich, gesund und frisch, und ich habe nicht das mindeste Fieber verspürt – – – Und was sagen Sie jetzt?«

Furustolpe sah ihn an.

»Was soll ich sagen? Was würden Sie an meiner Stelle sagen?«

»Ich weiß, was ich sagen würde! Jemand trachtet Ihnen nach dem Leben!«

Furustolpe war nach dem Fieber zu blaß, um noch mehr erbleichen zu können. Aber bei Peterssons Worten zuckte er zusammen und schloß halb die Augen, als ob er sich fürchtete, ein Geheimnis zu verraten, oder als ob er in sich selbst hineinschauen wollte. In ihm war ein dunkles Chaos, ein Schlachtfeld, von welchem lichtscheue Gestalten, unheimliche nächtliche Gespenster den Rückzug antraten. Er hatte gekämpft, aber nicht nur mit dem Fieber. Eine Fieberphantasie, viel stärker als ein Traum, lebte in ihm, ein grinsendes Gesicht lastete über ihm; er schlug und schlug danach, um es fernzuhalten; eine Angst peinigte ihn; ein Name erfüllte ihn … Endlich war es ihm gelungen, den Feind in die Flucht zu jagen, aber zuerst hatte dieser ihn gezwungen, einen Namen zu rufen – – – Er wagte nicht aufzublicken. Im hellen Tageslicht stand vor ihm Herr Petersson, rotnäsig, der verkörperte Materialismus. Am Fenster saß Stangeland, groß und philosophisch; es war unmöglich, auch nur eine Silbe zu verraten von dem, was er im Fieber erlebt hatte. Ganz abwesend hörte er Peterssons Stimme:

»Ja, das würde ich an Ihrer Stelle sagen! Haben Sie schon vergessen, was Ihnen neulich passierte? Jemand versuchte, Sie zu ermorden, indem er den Inhalt der zwei Flaschen vertauschte. Haben Sie das beim Bummeln vergessen? Waren Sie nicht bei mir, um die Sache festzustellen? Sie konnten nicht verstehen, wie es passiert war, und ebensowenig kann ich dieses letzte Geschehnis erklären! Aber jemand hatte mit der Salvarsantube manipuliert, die ich Ihnen gab, das ist die einzige Erklärung. Ich weiß bestimmt, daß die Tube denselben Inhalt hatte wie die anderen, denn ich habe sie ja selbst gefüllt! Wer seine Hand im Spiel hat, weiß ich nicht, und wenn Sie es nicht erraten können, dann werden wir es wohl niemals erfahren! Aber das Salvarsan ist gut, darauf habe ich ein Attest sowohl vom Arzt, als auch vom analytischen Bureau. Nichts steht einem Verkauf im Wege, und verkauft soll es werden!«

Furustolpe nickte müde; natürlich hatte Petersson recht. Er wußte ja gar nicht, wie sehr er recht hatte. Das Ganze war verrückt, irrsinnig; er wagte nicht einmal, den anderen auch nur eine Andeutung zu machen, aber er bezweifelte nicht mehr, daß es sich so verhielt. Stangeland hatte Herrn Petersson mit wachsender Genugtuung zugehört. Seine Besorgnis um die Zukunft war verschwunden. Sie fiel ihm – wie Schuppen von den Augen der Blinden. Alles war, wie es sein sollte. Die Aktiengesellschaft »Sapientia« war nicht mehr ein zum Tode verurteiltes Unternehmen, sondern ein kräftiges Herkulesbaby mit einer Äskulapschlange in jeder Hand. Und – – – komisch! Furustolpe, der verkörperte Eigensinn, hatte nichts einzuwenden. Zu Herrn Peterssons letzten Worten murmelte er nur:

»Ja, ja, Herr Petersson, Sie haben schon recht! Überlassen Sie es Stangeland, er bringt alles in Ordnung! Ich bleibe einige Tage im Bett. Das Salvarsan ist schon gut, aber ich bin recht müde!«


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