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Viertes Kapitel.
»Wer ist am Apparat?«

Geführt von Stangeland, trat Furustolpe in die Weinstube »Halt!« ein. Hätte er eine tiefere klassische Bildung besessen, so würde er unwillkürlich an Dante gedacht haben, als dieser an Virgilius' Arm in die Hölle eintrat. Zuerst sah er nur Rauch. Dann unterschied er in den Rauchschwaden einzelne Gesichter, die den Verdammten angehörten.

Direkt am Eingang saß eine aus zehn Personen bestehende Gesellschaft. Ursprünglich bestand sie nur aus dem Dichter Storfossen aus Bergen und dessen Gattin. Frau Storfossen war der Genius des Lokals und Storfossen selbst der Oberpriester. Niemand konnte in dieser Gaststätte Stammgast werden, ohne daß er dazu von ihm für würdig befunden wurde. Storfossen war korpulent und arm; er hatte ein dreifaches Kinn, und sein Hals glich einer korinthischen Säule. Die Frau war sein naturgetreues Ebenbild. In ihrer Kunstauffassung waren sie Zeloten, ließen sich aber gerne zu anderen Lehren bekehren und mit Whisky taufen. An diesem Abend war der dänische Dichter Wassersturz, der dänische Bildhauer Christensen, der schwedische Zeichner Hallin, der schwedische Schriftsteller Alf Henriques, der norwegische Dichter Storebraen, der norwegische Maler Dybetraet und noch zwei Personen, deren Namen und Beruf niemand außer Storfossen kannte, einer nach dem anderen in das Lokal gekommen, mit der Absicht, allein zu sitzen, Zeitungen zu lesen und einen Whisky zu trinken. Aber Storfossen saß am Eingang, wie ein Löwe vor seiner Höhle, bereit, jeden zu verschlingen, der ihm paßte. Und darum saßen nun die zehn Menschen wohl zum hundertsten Male zusammen, eifrig in eine Kunstdebatte verwickelt, die, wenn möglich, noch ergebnisloser war als die nie beendigten Streitereien zwischen den Scholastikern und den Mystikern. Stangeland grüßte winkend zu Storfossen hinüber, indem er dessen Einladung, mit an den Tisch zu kommen, geflissentlich überhörte, und führte Furustolpe an ihm vorbei in eine innere Region der Hölle.

Hier saßen nur zwei Herren dicht an der Tür, von denen der eine Selterwasser trank, der andere Schwedenpunsch. Der eine war dick und schwarz, hatte eine gekrümmte Nase und lächelte beständig. Der andere war jung; seine blauen Augen hatten den Blick eines Raubtiers unter blondem Haarschopf.

Die Punschflasche stand in einem Kübel Eiswasser. Der grüngebeizte Tisch war von Selterwasser bespritzt. An den Wänden hingen Reihen von Bildern und Zeichnungen, welche Zeugnis davon ablegten, daß der Inhaber des Lokals den verschiedenen Künstlern aus irgendwelchen Gründen Kredit gewährte.

Stangeland führte Furustolpe zu den zwei Herren. Sie standen auf. Furustolpe hörte zwei Namen – Schmerzlein, Blomberg – und reichte ihnen die Hand. Zu seiner Verwunderung bot der jüngere der beiden ihm die Linke zum Gruße.

Stangeland begrüßte die Zwei wie alte Bekannte.

Herr Blomberg rief nach neuen Gläsern, füllte eins für Furustolpe und sagte erklärend:

»Jawohl – ich bin Blomberg. Prosit!«

Furustolpe leerte das Glas, ohne den Sinn zu verstehen. Was meinte dieser Mann eigentlich mit seinen Worten?

»Ah,« sagte Blomberg und stellte das Glas weg, »na – was machen die Geschäfte?«

Furustolpe räusperte sich und suchte nach einer Antwort. Wer waren denn diese beiden Herren? Er hatte keine blasse Ahnung; Stangeland hatte ihn ja gar nicht vorbereitet. Aber Blomberg und Schmerzlein schienen jedenfalls zu wissen, wer er war!

»Na – so,« sagte er und lächelte in seinen Bart hinein. »Ich habe ja eigentlich keinen Grund, unzufrieden zu sein. Wir haben jetzt den Preis glücklich auf fünfzehn Öre hinaufgetrieben!«

»Fünfzehn Öre?«

»Ja, ganz richtig – fünfzehn Öre pro Kilo!«

»Ja – aber was in aller Welt kann man denn jetzt für fünfzehn Öre pro Kilo kaufen?« rief Herr Blomberg.

Furustolpe fühlte sich beinahe geniert vor diesen harten Augen, als er antwortete:

»Eicheln!«

Herr Blomberg fing an, laut zu lachen. Herr Schmerzleins dunkles, lächelndes Gesicht wurde noch dunkler und lächelnder. Stangeland sagte, indem er sein Glas leerte:

»Was gibt's da eigentlich zu lachen? Furustolpe und ich haben ein ganz schönes Stück Geld mit den Eicheln verdient. Fünfzehn Öre das Kilo ist ja nicht viel, aber wenn man nur die Sache im großen macht, dann wird's doch allerhand.«

Herr Schmerzlein nickte wohlwollend. Herr Blomberg sagte:

»Daran will ich gar nicht zweifeln. Ich meine nur, daß achttausend Kronen per Kilo bedeutend lohnender sind. Oder was meinen Sie, Herr Furustolpe?«

Furustolpe trank den Punsch, den Blomberg ihm einschenkte, und starrte ihn mit großen, runden Augen verständnislos an.

»Jawohl,« wiederholte Herr Blomberg, »achttausend Kronen per Kilo.«

Stangeland hob warnend die Hand, stand auf und schaute in das äußere Zimmer hinein. An Storfossens Tisch diskutierte man lebhafter denn je; Bruchstücke der Unterhaltung wurden von scharfen Stimmen in das innere Zimmer geschleudert, wie Schiffstrümmer, die von den Wellen in den Hafen getragen werden.

»Das ist eine Lüge! Das ist Humbug.«

»Wenn du in Schweden einen solchen Maler ausfindig machen kannst, dann will ich meinen eigenen Kopf essen.«

»Nimm dich ja vor schwerverdaulichen Sachen in acht! Er malt Literatur – das ist Humbug!«

»Das ist Kunst

»Habt ihr schon Becks letzte Novellensammlung gelesen? Sie ist glänzend!«

»Ich habe sie gelesen. Lauter Blech! Aber sein erstes Buch war gut!«

»Das erste Buch, das man schreibt, ist immer das beste!«

Durch den Lärm tönte Storfossens Stimme wie eine Fanfare:

»Wer von euch spendiert mir einen Grog? Ich bekomme erst am Ersten mein Geld!«

*

Stangeland kehrte zu seinem Platz zurück.

»Keine Gefahr,« sagte er. »Wir können ungeniert reden.«

»Na, warum nicht auch? Wir haben doch nichts Verbotenes vor!«

Furustolpes Frage blieb unbeantwortet, – wenigstens in Worten. Herr Schmerzlein lächelte über das ganze Gesicht. Blombergs Blicke schienen Furustolpes Oberhemd durchbohren zu wollen. Stangeland räusperte sich umständlich.

»Nein, natürlich nicht! Hm. Wir haben wirklich nichts auf dem Gewissen.«

Er schwieg. Schmerzlein strömte ein geradezu beängstigendes Wohlwollen aus. Blombergs Pupillen glitzerten wie Nadelspitzen.

»Es verhält sich so, wie Herr Blomberg sagt,« begann plötzlich Stangeland. »Man kann mit vielen Dingen Geschäfte machen. Nicht wahr, Furustolpe? Wir haben billige, sichere Ware verkauft, und haben geringe, aber sichere Einkünfte gehabt. Aber andere haben große sichere Geschäfte gemacht und viel daran verdient.«

»Meinst du an der Börse?« fragte Furustolpe.

»Nein, komm mir nur nicht mit der Börse! Ja, wenn ich sehr viel Geld hätte – mehr als ich jemals bekommen werde – und die kennen würde, die dahinter stehen – – dann würde ich an der Börse spielen! Oder wenn ich keinen Öre hätte und in Krakau geboren wäre – –«

Über Herrn Schmerzleins lächelndes Gesicht flog ein Schatten.

»Genug davon,« sagte Stangeland. »Nein, aber es gibt andere Sachen!«

Er strich mit dem Zeigefinger über seine lange Nase. Blomberg lehnte sich dicht zu Furustolpe hinüber und flüsterte:

»Die achttausend Kronen das Kilo geben!«

Furustolpe fuhr auf, wie von einer Kreuzotter gebissen. Fing er schon wieder mit seinen Anspielungen an.

»Acht – –«, stotterte er. »Acht – tau – – ich verstehe nicht – –«

Blomberg verzog seine dünnen Lippen zu einem Lächeln.

»Platin!« sagte er einfach.

»Platin,« wiederholte Furustolpe verständnislos.

Ein kurzes Schweigen entstand. Wieder hörte man Bruchstücke der Diskussion von Storfossens Tisch her.

»Na, ich muß sagen! Der beste nach Cézanne! Er malt ja Literatur. Und Literatur hat nichts mit Kunst zu tun!«

»Und warum denn nicht? Wo geht die Grenze? Man kann mit Worten malen, – warum denn nicht mit Farben erzählen?«

»Hör mal, was ich dir sage: Malerei, Literatur und Skulptur verhalten sich zueinander wie Laut, Licht und Elektrizität. Sie sind Schwingungen von verschiedener Länge desselben Äthers. Der Laut kann nicht zu Licht werden, und Literatur nicht zu Malerei!«

Und wieder gellte Storfossens Stimme durch den Lärm:

»Will mir denn niemand mehr einen Grog spendieren?«

Stangeland beugte sich zu Furustolpe hinüber.

»Du weißt,« sagte er, »daß Platin augenblicklich sehr selten ist. Das meiste Platin kommt aus Rußland. Aber Rußland hat Krieg und kann nicht exportieren. Und andere Länder benötigen Platin. Was ist da die Folge?«

Furustolpe antwortete nicht. An seiner Stelle sagte Blomberg mit einem feinen, zufriedenen Lächeln:

»Daß der Preis steigt!«

Stangeland kniff seinen kleinen Amorettenmund zusammen und sah ihn mißbilligend an, genau wie ein Lehrer einen Schüler betrachtet, der antwortet, ohne gefragt zu sein.

»Ja, der Preis steigt,« gab er zu. »Aber nicht überall in gleichem Maße. Vor dem Kriege kostete Platin doppelt so viel wie Gold. Jetzt kostet es dreimal so viel in den Ländern, wo man es haben kann.«

Er machte eine Pause. Blomberg sah Furustolpe an und flüsterte:

»Aber in den Ländern, wo man keins bekommen kann!«

Furustolpe fühlte sich ungemütlich. Stangelands Bekannten kamen ihm so merkwürdig vor. Natürlich wollte er gern Geld verdienen – aber – – Es gab doch gewisse Grenzen …, und diese Grenzen waren noch von den Gesetzen unterstrichen. Und eine innere Stimme sagte ihm, was achttausend Kronen pro Kilo einbringt, führt schon über die Grenze des Erlaubten.

Stangeland stimmte den Worten des Herrn Blomberg bei.

»Ja, in den Ländern, wo man es nicht haben kann! Da zahlt man jeden Preis. Du kannst mir glauben!«

Furustolpe räusperte sich.

»Ja, aber – –«

Stangeland ließ ihn nicht zu Worte kommen. Er machte eine Bewegung zu Herrn Schmerzlein, dessen Antlitz wenn möglich noch strahlender wurde.

»Hier siehst du Herrn Schmerzlein. Herr Schmerzlein ist ein russischer Geschäftsmann, aber rechnet sich als Kosmopolit. Die Behandlung, der seine Landsleute seitens der Russen ausgesetzt waren – –«

Der wohlwollende Ausdruck in Herrn Schmerzleins Gesicht sank um eine Oktave. Er machte eine abwehrende Handbewegung. Stangeland fuhr fort:

»Na – gut. Herr Schmerzlein ist ein internationaler Geschäftsmann. Und Herr Schmerzlein« – er senkte die Stimme, »Herr Schmerzlein hat Platin! Viele Kilo Platin, und« – seine Stimme wurde noch leiser – »Herr Schmerzlein will verkaufen

Furustolpe richtete sich auf dem Stuhl hoch und fuhr sich durch die Haare. Er wollte mit diesem Geschäft nichts zu tun haben! Es kam ihm zu geheimnisvoll vor und war – wenn man die Sache näher überlegte – auch riskant!

Er wollte etwas sagen, woraus hervorging, daß er sich nicht mit dem Geschäft befassen wolle. Zu seiner großen Verwunderung sagte er:

»Warum will denn Herr Schmerzlein sein Platin verkaufen?«

Herr Schmerzlein beantwortete selbst die Frage in einem etwas schwerverständlichen Kauderwelsch:

»Ich will verkaufen – ja – denn was soll ich mit all dem vielen Platin! Kann man es essen oder trinken? Nein! Ich verkaufe mein Platin an denjenigen, der mir garantiert, nicht zu exportieren.«

Furustolpe sperrte seinen großen Mund auf.

»Aber wenn der Käufer nicht exportieren darf, was soll – –«

Herr Schmerzlein unterbrach ihn mit einem liebenswürdigen Lächeln:

»Garantieren ist eine Sache – was geschieht, wenn ich mein Platin verkauft habe, eine andere. Was weiß ich davon – nichts!«

Er hob seine Hände gen Himmel, um seine Unschuld zu bezeugen, und sah Furustolpe fragend an. Furustolpe bekam einen roten Kopf. Was bildete der Kerl sich denn eigentlich ein, mit wem er es zu tun hatte?!

»Na, ich muß sagen!« rief er. »Glauben Sie denn, daß Sie mit einem Schwindler zu tun haben? Meinen Sie, daß ich ein Halunke bin! Denken Sie – –«

Seine Stimme war weithin vernehmlich. Stangeland machte eine warnende Handbewegung und stand auf, um in das äußere Zimmer zu schauen. An Storfossens Tisch wirbelten die Worte, wie von einem Taifun gejagt, in der Luft umher.

»Der – na, ich danke! Der schlechteste Skribent, den Dänemark seit Saxo Grammaticus aufzuweisen hat!«

»Wie kannst du wagen, etwas Derartiges zu behaupten! Er ist der einzige, der gewagt hat, die Sprache neu zu beleben, der etwas geschaffen hat, der sich Gehör verschafft hat.«

Storfossens Stimme drang wieder wie ein Notruf durch den Lärm:

»Kann mir denn niemand einen Grog – –«

*

Stangeland kam wieder an den Tisch und packte Furustolpe am Rockaufschlag.

»Du hast Herrn Schmerzlein falsch verstanden,« sagte er begütigend. »Herr Schmerzlein hat mehr Platin, als er für sich benötigt. Die Schweden brauchen das Platin, das Herr Schmerzlein zuviel hat. Aber Herr Schmerzlein kann nicht nach Schweden verkaufen, weil sein Platin mit Exportverbot belegt ist. Doch an dich kann er verkaufen! Du bist Finnländer – also ein halber Russe. Aber deine Sympathien gehen zu den Brüdern im Westen. Wenn du Herrn Schmerzlein sein Platin abnimmst und es nach Schweden weiterverkaufst, wirst du ein Bindeglied zwischen den Nationen – ein Symbol dafür, daß wieder andere und bessere Zeiten kommen werden. Und dann verdienst du – das heißt die ›Confidentia A.-G.‹ – achttausend Kronen das Kilo. Hast du mich verstanden?«

Furustolpe schaute starr an Stangeland, Schmerzlein und Blomberg vorbei. Wenn man das Geschäft von Stangelands Gesichtspunkt aus betrachtete, erschien es ja nicht so bedenklich, wie er zuerst gemeint hatte. Ja, man konnte sogar behaupten, daß es seine guten Seiten hatte. Aber ob man es bewerkstelligen konnte – das war eine andere Frage. Er wandte sich an Stangeland:

»Mag sein, daß ich etwas hitzig wurde! Aber ich meinte nur, daß ich nicht verstehe, wie die Schweden ihr Platin bekommen sollen!«

Bevor Stangeland etwas sagen konnte, kam die Antwort von anderer Seite. Herr Blomberg, der mit blanken Augen zugehört hatte, nahm plötzlich die rechte Hand aus der Tasche, hielt sie Furustolpe unter die Nase und rief:

» Damit wird's gemacht!«

Furustolpe fuhr hoch. Alles was er sah, war eine künstliche Hand mit fünf steifen Fingern. Blomberg krempelte den Ärmel bis zum Ellbogen auf und sagte mit einem gewissen Stolz:

»Ein Unglücksfall! Passierte, als ich sechzehn Jahre alt war. Verstehen Sie jetzt? Nicht? Aber das ist ja ganz einfach! Ich fahre beinah jede Woche von Malmö nach Kopenhagen herüber. Ich gehe wie alle anderen durch die Zollrevision – man untersucht mich auch von oben bis unten, aber nicht ein einziges Mal haben sie meinen Arm auch nur ungefaßt. Man hat doch vor dem Unglück Respekt. Verstehen Sie mich jetzt?«

Furustolpe war sprachlos. Das war wirklich die Höhe! Ja, jetzt verstand er allerdings. Der künstliche Arm war von Leder und hohl. Da konnten gut ein bis zwei Kilo Platz bekommen. Sechzehntausend Kronen jedesmal – denn natürlich mußten mehrere Fahrten unternommen werden. – – –

Herr Schmerzlein strahlte und fuchtelte mit zwei gesunden Händen in der Luft herum.

»Ich weiß von nichts! Ich habe nichts gesehen! Ich verkaufe – und ich handle ganz korrekt. Denn ich verlange schriftliche Garantie!«

»Und ich zehn Prozent,« sagte Herr Blomberg. »Billig!«

Stangeland holte einen Füllfederhalter aus der Tasche und Schmerzlein einen schon fertiggestellten Kontrakt. Er sah Furustolpe fragend an – und dieser betrachtete Stangeland mit großen, forschenden Augen.

»Aber weißt du auch bestimmt, daß die Schweden das Platin brauchen?«

»Ganz bestimmt,« sagte sein Kompagnon. »Denn man kann in ganz Schweden kein Platin auftreiben.«

Herr Schmerzlein lächelte ermunternd mit dem Kontrakt in der Hand. Furustolpe strich seinen Bart. Er nahm das Papier und sagte:

»Wenn dein Bruder dürstet, und du reichst ihm nicht einen Trunk frischen Wassers – – –«

Ohne den Satz zu vollenden, nahm er Stangelands Federhalter.

Und aus dem äußeren Zimmer gellte Storfossens Stimme:

»Will niemand mir einen Grog spendieren? Ich bekomme erst am Ersten mein Geld!« …

*

Es war einige Tage später, gegen zehn Uhr abends. Der Schmutz lag fußhoch auf den Straßen. Der dichte Novembernebel quoll zwischen den Häusermauern wie schmutziges Wasser in einem Kanal. Die Menschen eilten verstimmt und durchnäßt durch die Straßen. An der Ecke, direkt beim Hotel Meyer, gab die Elektrische ein Signal nach dem andern. Der melancholische Hauptportier Andersen hielt die Hände auf dem Rücken und starrte gegen den Eingang des Hotels. Die Glasscheibe in der Tür glich der Wand eines Aquariums. Aus einem grauen Fluidum tauchten graugelbe Gesichter auf, die sich einen Moment gegen die Scheibe geisterhaft abzeichneten und dann wieder verschwanden.

Jetzt wurde die Tür aufgerissen. Furustolpe kam hastig hinein – er trug eine große Pelzmütze, sein Bart war triefend naß. Der Portier wurde wenn möglich noch ernster, als er Furustolpe sah. Dieser grüßte:

»Na – ist Redakteur Stangeland schon zu Hause?«

Andersen schüttelte langsam und feierlich den Kopf – man konnte sich einbilden, daß man seine Halsknochen rascheln hörte. Er sah aus wie der Tod auf Holbeins Zeichnung, als er flüsternd Furustolpe ersuchte, ihm zu folgen, und ihn an die Portierloge führte.

Als er davor stand, hob Andersen den Finger und zeigte nach oben. Furustolpe verfolgte mit dem Blick die Richtung des Fingers. Auf der neugebeizten, hellgelben Wand stand mit großen, klumpigen Buchstaben geschrieben:

»Ha – ha – ha –! Wenzel Furustolpe!«

Er sah den Portier fragend an, der vorwurfsvoll seinen Blick beantwortete.

»Na,« sagte Furustolpe schließlich, »was soll denn das heißen?«

»Ja, das ist es ja gerade, was ich Sie fragen möchte, Herr Furustolpe,« antwortete Andersen.

»Mich? Woher soll ich es denn wissen?«

Der Portier nickte vor sich hin.

»Wenn man einen Namen an die Wand geschrieben findet, und im Hotel wohnt ein Herr dieses Namens –«

Furustolpe unterbrach ihn.

»Aber – –« er suchte nach Worten, »Menschenskind, Sie glauben doch nicht, daß ich – – –«

Er konnte gar nicht weiterreden. Er starrte die Buchstaben an. Sie waren grob und ungeschickt hingemalt, wie von einem Kind oder einer ganz ungebildeten Person, die kaum schreiben kann. Wo hatte er denn diese Schrift schon gesehen? Wo? Er konnte sich nicht entsinnen. Wahrscheinlich war es Einbildung. Aber er hatte doch wahrhaftig nicht dieses sinnlose Zeug da an die Wand geschrieben!

»Na, hören Sie mal,« schrie er den Portier an, »Sie meinen doch nicht, daß ich das geschrieben habe! Sie sehen doch, daß es gar nicht meine Schrift ist!«

Der Portier nickte wieder bedächtig. Er sagte nichts, aber sein Blick war desto vielsagender. Furustolpe wollte gehen, wendete sich aber nochmals an den Portier:

»Wann entdeckten Sie das eigentlich?«

Der Portier überlegte.

»Das kann ich nicht genau sagen! – Doch, es war neulich, als Sie eben ausgegangen waren. Ich hatte in der Loge gesessen und nicht bemerkt, als – als es gemacht wurde!«

Furustolpe warf ihm einen irritierten Blick zu. Dieser Mensch war ja unglaublich eigensinnig.

»Sie hören doch, was ich Ihnen sage: ich habe es nicht geschrieben! Wenn Sie mir nicht glauben wollen, so ist es Ihre Sache! Herr Stangeland ist also nicht auf seinem Zimmer?«

»Nein,« antwortete düster der Portier. »Vor zwei Stunden war er einen Augenblick da, ging aber gleich wieder aus.«

»So – na ja, ich gehe jetzt essen.«

Furustolpe ging in den Eßsaal. Er setzte sich an denselben Tisch, wo er damals sein erstes Frühstück eingenommen hatte. Derselbe Kellner reichte ihm die Speisekarte. Die Brünette hinter dem Schanktisch betrachtete ihn mit derselben Mischung von Respekt und Verwunderung. Trotz der Erfolge der »Confidentia A.-G.« hatte sich nichts an Furustolpes Kleidung verändert. Er trug genau denselben Gehrock und dieselben gestreiften Beinkleider, dieselben grauen Socken wärmten seine Füße. Er war groß und geheimnisvoll. Sie warf ihm einen verschleierten Blick zu.

Furustolpe bestellte sein Essen und versank in Grübeleien. Seine Gedanken kreisten um ein und denselben Gegenstand. Am nächsten Morgen sollte Herr Blomberg frühzeitig seine erste Reise nach Malmö antreten.

Ob die Sache wohl gelingen würde?

Ja, warum denn nicht? Nichts sprach für das Gegenteil. Blomberg war ja schon oft genug zwischen Kopenhagen und Malmö gereist, ohne daß man seinen Arm untersucht hatte. Das würde gerade noch fehlen – einen armen Invaliden zu belästigen! So etwas wäre wirklich zu herzlos. Und er war doch nicht so oft die Strecke gereist, daß er aufgefallen war. Also würde die Sache schon in Ordnung gehen; übermorgen war die »Confidentia A.-G.« um sechzehntausend Kronen reicher, vor Ende der Woche um achtundvierzigtausend Kronen, und Ende der nächsten um hunderttausend. Natürlich ging dann noch Blombergs Provision ab. Und dann war leider das Geschäft beendigt – Herr Schmerzlein hatte kein Platin mehr zu verkaufen. –

Ein schöner Gewinn – sehr schön sogar! Aber die Spesen! Man hatte die Hälfte des Kapitals der A.-G. daran wenden müssen, um die ersten zwei Kilo der kostbaren Ware bezahlen zu können. Als der Kauf getätigt wurde, konnte Furustolpe es nicht unterlassen, Schmerzlein zu fragen:

»Aber sagen Sie mir, Herr Schmerzlein, warum machen Sie denn das Geschäft nicht selbst?«

Herr Schmerzlein antwortete mit seinem ewigen Lächeln:

»Ich bin bescheiden, Herr Furustolpe! Der Preis, den ich von Ihnen verlange, ist vierzig Prozent höher als der, den man mir in Dänemark zahlt. Ich bin eben mit einem kleinen, aber sicheren Gewinn zufrieden.«

Furustolpe erschrak.

»Glauben Sie – meinen Sie –, daß das Geschäft nicht klappen wird?«

Herrn Schmerzleins Miene wurde geradezu unnatürlich strahlend, als er antwortete:

»Gewiß, Herr Furustolpe – aber ich weiß es nicht! Ich weiß überhaupt nicht, was mit der Ware geschieht, wenn ich sie verkauft habe; ich weiß von nichts!«

Nur der Anblick des Platins und der Gedanke an den enormen Gewinn, der sich daraus ergab, hinderten Furustolpe, die Feder wegzuwerfen und vor Herrn Schmerzlein wie vor einem bösen Geist zu fliehen.

Herr Schmerzlein glaubte an das Gelingen des Geschäfts. Er fand es nicht allzu riskant. – War es denn wirklich so unsauber, daß Schmerzlein sich nicht damit befassen wollte und dabei den größeren Gewinn einheimsen? Furustolpe strich seinen Bart.

Hm … Oberflächlich gesehen erschien ja das Geschäft nicht ganz einwandfrei! Es war ja schließlich gegen die Gesetze des Landes, eine Ware zu exportieren, die man mit dem Versprechen gekauft hatte, sie nicht auszuführen. Aber was bedeuteten die Gesetze eigentlich? Es waren ja nur Notverordnungen; sie waren zweckmäßig, wenn es zu verhindern galt, eine Ware ins Ausland zu schaffen, die im Lande selbst dringend benötigt wurde. So etwas war verständlich; wohl hundertmal hatte er das schon seit jenem Abend in der Weinstube erwogen. Aber wozu brauchte Dänemark Platin?

Furustolpes Gedanken machten plötzlich einen unverständlichen Sprung. Er zuckte zusammen. Was hatten diese dummen Schreibereien an der Wand der Portierloge eigentlich zu bedeuten? Wer hatte sich mit solchen Kindereien amüsiert? Der Portier war fest davon überzeugt, daß er, Furustolpe, es gemacht hatte. Lächerlich! Ebenso lächerlich wie die Inschrift selbst. »Ha – ha – ha – Wenzel Furustolpe!« Dumm und unverständlich.

Nein, was sollte Dänemark eigentlich mit dem Platin anfangen? Platin war ein Luxus in Dänemark, aber nach dem, was Stangeland gesagt hatte, benötigte man es dringend in Schweden. Dort gab es überhaupt kein Platin. Und was war wohl richtiger gehandelt: einem Bruder zu helfen oder sich an einen Gesetzesparagraphen zu klammern?

Furustolpe schaute nach der Uhr – es war schon zehn. Wo trieb sich denn eigentlich Stangeland herum? Es war vereinbart worden, daß er am nächsten Morgen Blomberg nach Malmö begleiten sollte, denn Blomberg machte keinen so vertrauenerweckenden Eindruck, daß man ihn mit anvertrauten Werten in Höhe von 16 000 Kronen in der Tasche – oder besser gesagt im Arm – so ohne weiteres reisen lassen konnte. Darum sollte ihn Stangeland diskret begleiten, um sich davon zu überzeugen, daß Blomberg die Ware dem schwedischen Käufer auch richtig abliefere. Letzterer war durch ein Inserat gewonnen worden. Das Platin lag schon gut verpackt in Stangelands Kommode. Es war das beste, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen: man wollte Tresors und Assekuranzen vermeiden. Am nächsten Morgen wollte man es in Blombergs Arm verstauen. Warum blieb Stangeland am Vorabend einer so wichtigen Aktion nicht zu Hause?

Ungeduldig warf Furustolpe die Serviette auf den Tisch – er hatte gegessen, ohne zu wissen, was es eigentlich war …

»Sobald Redakteur Stangeland kommt, bestellen Sie ihm, daß ich auf Nr. 217 bin,« sagt er zu der Brünetten. Sie antwortete durch einen bejahenden Blick. Als er durch die Glastür verschwand, schaute sie ihm bewundernd nach. Heute abend kam er ihr größer und geheimnisvoller vor denn je …

Das Zimmer Nr. 217 machte auf Furustolpe, als er es an diesem Abend betrat, einen düsteren und unheimlichen Eindruck. Die Wände sahen trotz der Tapeten kahl aus, der Stich, italienische Räuber in einer Osteria vorstellend, belebte heute nicht; die Glühbirne brannte mit kaltem Licht; draußen floß der Nebel vorbei wie ein schwerfälliger grauer Strom. Ob er ausgehen sollte? Vielleicht würde er Stangeland in der Weinstube »Halt« antreffen. Oder ob er dort anläutete? Er hatte ja sein eigenes Telephon im Zimmer. Aber er gab den Gedanken sogleich wieder auf. Wenn Stangeland kam, würde er ihn natürlich sofort aufsuchen. Und sonst wollte er ja von ihm nichts Besonderes.

Furustolpe warf sich angekleidet auf das Bett und starrte auf das Bild mit den Räubern. Und zum zweitenmal an diesem Abend machten seine Gedanken einen jähen Sprung. Was sollte eigentlich die dumme Inschrift bedeuten? Wie war sie an die Wand gekommen? Er überlegte hin und her ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Und ohne es zu merken, schlief er ein …

Zwei Stunden und mehr verstrichen. Als Furustolpe aufwachte, war es schon nach ein Uhr. Aber Furustolpe wachte nicht auf, um nach der Uhr zu schauen, sondern weil er den Eindruck hatte, daß sein Telephon klingelte. Er stand auf, um zu antworten. Das Zimmer badete in einem kalten weißen Licht, das ihn fast blendete, als er verschlafen an den Tischapparat torkelte. Er hatte ganz vergessen, die Beleuchtung auszuschalten. Wer war wohl am Apparat? Vielleicht Stangeland?

Er nahm den Hörer und horchte. Das Blut hämmerte ihm in den Ohren. Im Telephon hörte er nur ein anhaltendes Sausen. Hatte es wirklich geklingelt oder hatte er nur geträumt?

Er zuckte zusammen – im Hörer knatterte es »Klick – Klick – Klick« – es hörte sich an wie ein fernes Räuspern. Dann vernahm er schwach eine sehr undeutliche Stimme.

»Halloh,« rief er. »Sprechen Sie lauter! Wer ist am Apparat?«

Wieder wurde das »Klick – Klick – Klick –« vernehmbar. Klappte der Anschluß nicht? War es ein Ferngespräch? Er rief mehrmals »Halloh«, aber die einzige Antwort war das eigentümliche Geräusch. Er wollte schon den Hörer weglegen, da wurde es auf einmal still. Und dann hörte er eine Stimme. Er hatte noch nie eine so eigentümliche Stimme gehört und sperrte die Augen weit auf – wer sprach? Was sagte man?

»Halloh,« schrie er. »Was sagen Sie? Ich kann nicht verstehen!«

Eine röchelnde, erstickte Stimme antwortete ihm; endlich konnte er auch einige Worte unterscheiden.

»Furustolpe,« tönte es, »Furustolpe!«

Es hörte sich an wie eine schwedische oder eine schwedisch-finnische Stimme. Er kannte keine Landsleute und auch keine Schweden in Kopenhagen. Wer war am Apparat?

»Halloh,« rief er wieder, »wer da?«

»Furustolpe,« wiederholte die Stimme im Telephon, »Furustolpe!«

»Ja,« sagte Furustolpe, und wider seinen Willen klang seine Stimme unsicher. »Hier Furustolpe. Sagen Sie wer Sie sind, sonst lege ich den Hörer ab!«

Wieder hörte man das »Klick – Klick – Klick« – es war wie ein glucksendes Lachen. Dann hörte er wieder ganz deutlich ein »Furustolpe – Furustolpe!«

Es war zu gleicher Zeit bittend, drohend und höhnisch. Furustolpe hatte noch nie eine ähnliche Stimme gehört – sie war dünn wie die eines Kindes und doch kräftig. Sie war geradezu unnatürlich. Furustolpes Augen brannten in dem kalten elektrischen Lichte; er hatte ein schwindeliges Gefühl, wie wenn sich ein Fahrstuhl plötzlich in Bewegung setzt. Zum viertenmal murmelte er unfreiwillig:

»Hier Furustolpe! Wer ist dort?«

Mit einem Mal hörte er eine Reihe zusammenhängender Worte im Apparat.

»Furustolpe – aufpassen! Das Geschäft geht schief! Ha – ha – ha!«

Das Lachen – wenn man es ein Lachen nennen konnte – ging in ein Röcheln über. Dann wurde es still. Furustolpe preßte noch ein »Halloh« hervor, aber er bekam keine Antwort. Sein Arm sank auf den Tisch – er ließ den Hörer fallen. Durch das Fenster sah er den Nebel vorbeiquellen.

Was sollte denn das bedeuten? Wer hatte angerufen?

Es mußte ein Finnländer oder ein Schwede sein, soviel konnte er mit Bestimmtheit sagen. Aber wer? Er kannte keine Schweden in Kopenhagen – oder doch? Er dachte mit fieberhaftem Eifer nach – nicht um jemanden ausfindig zu machen, denn er wußte ja, daß er niemand kannte, sondern nur, um nicht an das zu denken, was die Stimme gesagt hatte. Was hatte sie gemeint? »Furustolpe – aufpassen. Das Geschäft geht schief!« Das konnte ja nur eins bedeuten!

Der Nebel floß grau und schwer am Fenster vorbei. Wer hatte angerufen?

Ihm kam ein Gedanke; er nahm den Hörer ab und wartete. Endlich meldete sich eine verschlafene Stimme: »Hier Amt.«

»Halloh,« rief Furustolpe. »Hier Zentrum 4749 – Furustolpe. Ich bin soeben angerufen worden, aber« – er zögerte – »das Gespräch wurde gestört. Können Sie mich wieder verbinden?«

»Zentrum 4749?«

»Jawohl – Furustolpe.«

»Mit wem sprachen Sie?«

»Das weiß ich ja nicht. Ich wurde angerufen, und das Gespräch gestört. Können Sie nicht – – –«

Furustolpe wartete. Im Telephon brodelte es wieder, aber er meinte, daß es jetzt deutlicher und natürlicher klang. Das Fräulein am Amt machte aber lange! Sie wurde ja überhaupt nicht fertig!

»Halloh,« rief er und zerrte ungeduldig an seinem Bart, »Halloh!«

Endlich meldete sich wieder das Amt.

»Zentrum 4749?«

»Jawohl! Na – wer hat bei mir angerufen?«

Die Antwort machte Furustolpe ganz starr.

»Niemand hat Ihre Nummer angerufen!« Er starrte durch das Fenster. Draußen braute der Nebel. Niemand hatte angerufen! Aber hier stand er ja mit vollkommen wachen Sinnen und hielt den Hörer in der Hand, durch welchen er soeben die Botschaft gehört hatte. »Aufgepaßt, Furustolpe! Das Geschäft geht schief.«

»Halloh!« rief er. »Ist dort das Amt? Sie irren sich, hören Sie? Ich habe selbst das Gespräch entgegengenommen! Wer war es, Fräulein? – Sie müssen es herauskriegen!«

»Regen Sie sich doch nicht auf!« sagte die schläfrige Stimme. »Ich werde mich nochmals erkundigen!«

Furustolpe wartete und zerrte nervös an seinem Bart. Wieder gab die schläfrige Stimme dieselbe Antwort.

»Niemand hat Sie angerufen!«

Diesmal trennte das Amt die Verbindung sofort. Furustolpe hatte nicht einmal Zeit, zu sagen, daß er es bestimmt besser wußte. Ob er noch einmal anrufen sollte? Aber wozu denn? Er würde ja doch wieder dieselbe Antwort bekommen. Er stand und glotzte in den Nebel hinaus.

»Furustolpe – aufgepaßt! Das Geschäft geht schief!« Das konnte nur eins bedeuten: Jemand hatte von dem Geschäft Wind bekommen. Aber wer war das?

Plötzlich bekam er einen Einfall – ob es Stangeland war? Vielleicht war es ein dummer Scherz von ihm?

Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Stangeland war nicht der Mann, um mit solchen Dingen zu scherzen, übrigens war es eine schwedische oder finnische, aber keinesfalls eine norwegische Stimme gewesen. Er dachte an Blomberg – nein, der sprach einen ausgeprägt südschwedischen Dialekt. Aber er wollte Klarheit haben!

Mit fieberhaftem Eifer ging er ans Telephon und rief die Weinstube ›Halt‹ an. Endlich hörte er den Oberkellner gemächlich antworten:

»Halloh!«

»Halloh! Ist dort die Weinstube ›Halt‹? Ja? Könnte ich Herrn Redakteur Stangeland sprechen?«

»Herr Stangeland ist nicht hier!«

»Ist er heute nicht dagewesen?«

»Oh ja, heute nachmittag, aber er ging gegen halb sieben Uhr weg.«

Furustolpe warf den Hörer hin und raste zur Tür. Vielleicht war Stangeland schon längst da und war gar nicht erst zu ihm gekommen. Er mußte Stangeland finden! Er mußte mit einem Menschen reden!

Er rannte die Treppe hinunter und klopfte an die Tür Nr. 314. Keine Antwort. Die Tür war verriegelt. Er pochte und pochte, bis er davon überzeugt war, daß Stangeland nicht im Zimmer sein konnte. Er ließ die Hand sinken und starrte wütend auf die Tür.

Was dachte sich Stangeland eigentlich? Das war ja unverzeihlich! Was sollte er hier anfangen? Woher die Warnung kam, die er durch das Telephon erhalten hatte, ließ sich nicht so einfach durch ein schläfriges Telephonfräulein erklären. Aber der Anruf war Wirklichkeit! Was in aller Welt sollte er nun machen? Er konnte ja zu Hause warten – aber dazu fehlte ihm die Ruhe. Er wollte ausgehen, Stangeland suchen und ihm erzählen, was passiert war.

Er lief in sein eigenes Zimmer zurück, fuhr in den Überzieher, stülpte die Pelzmütze auf den Kopf und sauste die Treppe hinunter. Die Bewegung tat ihm gut. Sie verminderte seine Unruhe. Warum hatte er sich auch auf das Geschäft mit Herrn Schmerzlein eingelassen? Warum war er nicht mit seinen gewöhnlichen und ungefährlichen Geschäften zufrieden gewesen? Er hatte doch ganz schön daran verdient! Jetzt sah er das Geschäft mit Herrn Schmerzlein erst im wahren Licht. Es war riskant – und nicht genug damit! Es war bestimmt nicht so reell, wie er gedacht hatte. Wie – wenn die Sache wirklich mißlang – bedeutete das doch Beschlagnahme der Ware und vielleicht noch Gefängnis! Ein Schauer überlief ihn!

In der Halle begrüßte ihn der Nachtportier auf die Melodie eines Marsches. Furustolpe schrie ihn an, so daß er sofort verstummte.

»Hören Sie zu! Wenn Redakteur Stangeland nach Hause kommt, sagen Sie ihm, daß ich ausgegangen bin, ihn zu suchen. Er muß zu Hause bleiben, bis ich komme. Haben Sie verstanden?«

Der Nachtportier Andersen sah Furustolpe mit verschwommenen Augen an und antwortete auf die Melodie eines Trinkliedes:

»Ich verstehe. Aber soll ich Selterwas…«

Mit einer wütenden Gebärde brachte ihn Furustolpe zum Schweigen. Er murmelte in einem Rezitativ, das wie Prosa klang:

»Jawohl – wird besorgt.«

Furustolpe sandte ihm noch einen sprühenden Blick zu und verschwand im Nebel, der so dicht war, daß er sich wie nasse Watte anfühlte.

Wo sollte er nun Stangeland suchen? Jetzt wurden ja doch die Lokale geschlossen. Man konnte wohl sitzen bleiben aber nicht mehr hineinkommen. In welchem Nachtlokal saß wohl Stangeland? Er hatte die Wahl zwischen dem Kessel, Trocadero, Thomas S. und dem Prinzenpalais. Vielleicht gab es noch andere, die er nicht kannte? Er faßte schnell einen Entschluß und schlug den Weg nach dem »Kessel« ein.

Der Portier des »Kessels« war unerbittlich.

Auf keinen Fall ließ er Furustolpe hinein. Die Kontrolle war verschärft. Erst gestern hatte die Kriminalpolizei eine Razzia abgehalten. – Nein, weder mit einer noch mit zwei Kronen war etwas zu erreichen, übrigens kannte der Portier Furustolpe auch nicht.

Furustolpe zitterte vor Wut und Aufregung. Er war plötzlich davon überzeugt, daß Stangeland gerade hier war.

»Hören Sie mal –«, sagte er, »Sie kennen doch den Redakteur Stangeland aus Kristiania?«

Jawohl, der Portier kannte ihn. Er war heute nicht hier.

»Wollen Sie bitte doch mal nachsehen? Sagen Sie ihm, daß ich hier draußen warte – Direktor Furustolpe!«

Der Portier schaute erst auf Furustolpe, dann auf die zwei Kronen, die dieser ihm in die Hand gedrückt hatte. Er brummte etwas vor sich hin und ging dann die Treppe hinauf.

Die Lokalitäten des »Kessels« lagen über einem Varieté im ersten Stock.

Eine Minute später kam der Portier schon wieder und behauptete mit aller Bestimmtheit, Redakteur Stangeland sei nicht da.

Furustolpes Überzeugung vom Gegenteil wurde noch stärker. Der Mann sprach die Unwahrheit – er hatte nur ganz flüchtig durch die Tür geschaut – und sagte nun in seiner Bequemlichkeit, daß Stangeland nicht da wäre. Stangeland zog den »Kessel« allen anderen Lokalen vor. Natürlich war er drin und nicht anderswo.

Furustolpe holte noch zwei Kronen aus der Tasche. Der Portier sah nicht einmal das Geld an, sondern begann, die Tür zuzumachen.

»Hören Sie doch, was ich Ihnen sage. Der Herr ist nicht hier. Da helfen weder zwei noch drei Kronen. Gute Nacht!«

Furustolpe verlor die Besinnung. Er warf sich gegen die Tür und drohte, sich den Eintritt zu erzwingen. Er steckte seinen Arm durch die Türspalte, zog ihn aber hastig wieder heraus, noch rechtzeitig genug, um zu verhindern, daß es ihm dabei wie Herrn Blomberg erging. Der Portier war stark wie ein Bär und hatte wohl aus diesem Grunde seinen Posten erhalten. Die Tür flog zu. Furustolpe stand wutschnaubend auf der Straße. Langsam erholte er sich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in die anderen Lokale zu gehen, um Stangeland zu suchen. Mit einem letzten Blick auf die erleuchteten Fenster des »Kessels« ging er über die Straße in das rivalisierende Café Thomas S.

Hier machte man gar nicht erst auf. Er pochte und schlug an die Tür, ohne eine Antwort zu erhalten. Schließlich hatte er genug und ging weiter in das dritte Lokal – »Trocadero«.

»Trocadero« hatte einen Neger als Portier. Mit dem Instinkt seiner Rasse zog dieser, sobald er ihn erblickte, Furustolpe grinsend durch die Tür.

»Vorsicht!« sagte er, »gut vorsichtig sein!«

Furustolpe gab ihm eine Krone und ging durch das Lokal: einen langen, teleskopähnlichen Raum. Er war gefüllt mit allerhand dunklen Kavalieren und angetrunkenen Barmädchen, deren Unterhaltung derart war, daß man nur einen Negerportier gebrauchen konnte, dessen Hautfarbe ein Erröten unmöglich machte.

Furustolpe stellte zu Stangelands Ehre fest, daß er sich nicht in dieser Gesellschaft befand und verließ das Lokal, ohne den schreienden Barmädchen zum Opfer zu fallen.

Wieder stand er auf der Straße. Sollte er weiter gehen, um auch im »Prinzenpalais« sein Heil zu versuchen?

Furustolpe hielt es für ratsam, trotzdem er glaubte, den Weg vergeblich zu machen. Am Rathausplatz bekam er ein Auto und fuhr zu dem Palais, das am anderen Ende der Stadt lag. Das Auto flog hupend durch den Nebel – und jedes Signal gab Furustolpe einen Stotz.

Wer hatte angerufen? Aufgepaßt, Furustolpe, das Geschäft geht schief!

Wer war es? Und was wollte der Unbekannte mit seinen Worten sagen? Warnen oder nur höhnen? Oh! Warum hatte er sich auch auf das Geschäft mit Schmerzlein eingelassen!

Das Auto hielt mit einem heftigen Ruck vor dem Palais. Auf Furustolpes Klingeln erschien ein betreßter Mann, welcher öffnete, Furustolpe ansah und stumm die Tür wieder zuschlug. Abermaliges Klingeln blieb erfolglos. Furustolpe stampfte vor Wut mit dem Fuß. Dann kam ihm ein tröstender Gedanke; Stangeland war jetzt natürlich zu Hause im Hotel. – –

Das Auto setzte sich wieder in Bewegung und Furustolpe versuchte, sich einzureden, daß es sich so verhielt – Stangeland saß in Nr. 314 und wartete auf ihn! Natürlich – es war ja schon gegen 4 Uhr früh. Er konnte doch nicht die ganze Nacht durchbummeln! Er saß jetzt auf seinem Zimmer, und dort wollte ihm Furustolpe die Meinung über sein unverantwortliches Benehmen sagen – und dies gründlich!

Das Auto hielt. Wie ein Rasender drückte Furustolpe auf die Nachtglocke des Hotel Meyer. Ein melodisches Singen verkündete, daß der Nachtportier sein Klingeln gehört hatte. Jetzt kam der Gesang näher und die Tür ging auf.

Furustolpe packte Andersen an der Schulter.

»Hören Sie!« sagte er, »und antworten Sie! Ist Herr Stangeland zu Hause?«

Der Portier schaute ihn beleidigt an und antwortete in reiner Prosa:

»Nein! Redakteur Stangeland ist nicht da!«

»Aber, aber,« stotterte Furustolpe, ließ Andersen los und stürmte die Treppe hinauf. Entweder log der Kerl, oder er war so betrunken, daß er nicht wußte, was er sagte. Natürlich ist Stangeland zu Hause. Frühmorgens halb vier! Das wäre ja noch schöner!

Endlich stand er vor Nr. 314. »Gewiß ist St …«

Die Tür war verriegelt! Kein Laut von innen ließ sich vernehmen. Keine Menschenseele reagierte auf Furustolpes Pochen.

Zum zweiten Male in dieser Nacht stand Furustolpe vor der Tür und starrte das Schild mit der Nummer 314 an. Was dachte sich Stangeland eigentlich? Was sollte er nun machen?

Furustolpe nahm die Mütze ab und trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn.

Wieder gab es zwei Möglichkeiten: entweder mußte er zu Hause warten, oder versuchen, Stangeland in der Stadt zu finden. Beides war kein Vergnügen! Aber was war am unangenehmsten? Bestimmt das Warten!

Furustolpe lief die Treppe hinunter. Der Nachtportier brummte, als er sich in der Tür der Portierloge zeigte. Wenn er nicht sang, war er ebenso düster und schwermütig wie sein Bruder.

»Hören Sie mal! Ich gehe wieder aus. Wenn Herr Stangeland kommt, dann sagen Sie ihm, daß er nicht reisen – – nicht das Hotel verlassen darf. Haben Sie verstanden?«

Der Nachtportier murmelte ein wütendes: »Ja!«

Und wieder verschwand Furustolpe im Nebel.

Die Luft war, wenn möglich, noch rauher und dicker als vorhin. Die Straßenlaternen leuchteten schwefelgelb. Der Morgenverkehr fing an, einzusetzen. Die letzten, heimwandernden Nachtbummler und die ersten Handwerker auf dem Wege zu ihrer Arbeitsstätte trafen zusammen wie Ebbe und Flut. Erstere schienen dem Nebel dankbar zu sein. – – In einer Straßenecke versuchte ein angetrunkener Ententefreund einen sich in demselben Zustand befindlichen Deutschenfreund von seiner verkehrten Auffassung zu überzeugen. An einer anderen Ecke verkaufte ein hustender Mann Kaffee zu 8 Öre pro Tasse.

Furustolpe stampfte durch den gelbgrauen Dunst. In ihm lebten noch immer die Überzeugung und die Hoffnung, daß Stangeland im »Kessel« sitzen müsse. Es war an sich unverzeihlich – aber wenn er nur dort wäre, konnte ihm Furustolpe doch leichter verzeihen. Jetzt war er am »Kessel« angelangt. – Es leuchtete noch schwach aus den Fenstern der sogenannten Separées. Furustolpe starrte zu den Fenstern hinauf – Verwünschungen ausstoßend und mit der Faust drohend. Einem Impuls folgend, trat er an den Eingang. Aber weder durch Klopfen noch durch Rufen war der Portier herauszulocken. Dagegen wurde eines der oberen Fenster geöffnet und Furustolpe entging mit knapper Not einem heruntergesandten Strahl schmutzigen Wassers. Diesmal begnügte er sich nicht damit, nur drohend die Hand zu erheben, sondern mit lauter Stimme verfluchte er den Portier, den Wirt und die Gäste des Lokals, bis schließlich ein Polizist kam und ihn fragte, ob er nicht sofort ruhig sein wolle –, sonst müsse er mit zur Wache.

»Stange – land!« schrie Furustolpe gegen das Fenster, das wieder geschlossen war, »Stangeland!«

Niemand antwortete. Der Polizist packte ihn am Arm.

»Sie dürfen hier nicht auf der Straße stehen und schreien! Wo wohnen Sie?«

»Im Hotel Meyer.«

»Warum gehen Sie nicht nach Hause? Gehen Sie jetzt, sonst muß ich Sie zur Wache bringen!«

Ein Gedanke machte Furustolpe erstarren. Heute packte ihn der Polizist am Arm, um ihn zu warnen. Aber morgen?

Furustolpe murmelte etwas Unverständliches, machte sich frei und ging heimwärts. Die Straße war klebrig und seine Füße so schwer, daß er glaubte, bei jedem Schritt stecken zu bleiben. In einer Ecke rief man bereits die erste Nummer der »Politiken« aus …

Der Nachtportier starrte Herrn Furustolpe wütend an, als dieser wieder die Hotelglocke gezogen hatte. Er glaubte allmählich, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Furustolpe stellte die gewöhnlichen Fragen und erhielt die gewöhnliche Antwort. –

»Nein – er ist noch nicht da!« Auch ohne Gesang drückte der Nachtportier deutlich genug aus, was er von Stangelands Fernbleiben hielt. Mit schweren Schritten stieg Furustolpe die Treppen hinauf – gleichzeitig zum dritten Male seine Befehle gebend:

»Sobald Herr Stangeland kommt, schicken Sie ihn zu mir! Er darf nicht nach Mal –, er darf nicht ausgehen, bevor ich mit ihm gesprochen habe. Es betrifft etwas Dringendes, verstanden?«

Anstatt zu antworten, murmelte Andersen einige Vermutungen über den Zustand, in dem Stangeland wohl nach Hause kommen würde. Furustolpe hörte nicht auf ihn. Mechanisch ging er auf Nr. 314 zu und rüttelte an der Tür. Sie war immer noch verriegelt und drinnen war alles still.

Während er die Tür anschaute, erinnerte er sich plötzlich der Inschrift an der Wand der Portierloge. Was hatte dort doch gleich gestanden? »Ha – ha – ha Wenzel Furustolpe!« Was bedeutete denn das – wer hatte das geschrieben? Furustolpe versank in Grübeleien, und plötzlich packte ihn die Angst, die mysteriöse Inschrift könnte etwas mit dem Anruf und mit Stangelands Abwesenheit zu tun haben! Aber inwiefern? Er setzte sich auf eine Treppenstufe, von wo er freie Aussicht auf die Tür 314 hatte.

Unter einer leichten Berührung fuhr er verstört auf. Jemand klopfte ihm auf die Schulter und sagte:

»Gestatten Sie?«

Es war ein Herr mit einer Reisetasche, der vorbei zu gehen wünschte. Er sah Furustolpe, der im Überzieher und mit der Pelzmütze auf dem Kopf auf der Treppe saß und schlief, höchst verwundert an.

Furustolpe griff nach seiner Uhr. Der Zeiger stand auf sieben. Er murmelte etwas, stand auf und ging. Er wußte weder ein noch aus, als er die Treppe hinaufstieg. Er konnte nicht denken. In den Korridoren fegten die Zimmermädchen. Sollte er schlafen gehen? Nein! Er mußte nach Stangeland ausschauen! Er stieg in die Halle hinab, wo er den Tagportier vorfand, der mit schwermütiger Miene die Inschrift an der Wand der Portierloge studierte. – Ein Schaudern durchlief ihn. Im Eßsaal war man damit beschäftigt, die Tische und Stühle in Ordnung zu stellen und zu decken. – Endlich bekam er eine reitende Idee. Er wußte gar nicht mehr, zum wievielten Male er zum Portier sagte:

»Sobald Redakteur Stangeland kommt, sagen Sie ihm, daß ich ihn dringend sprechen muß. Er darf nicht nach Mal…, darf nicht weggehen, bevor ich nicht mit ihm gesprochen habe. Ich frühstücke hier im Eßsaal. Verstanden?«

Der Portier nickte, schwermütiger, als es sein Bruder in der Nacht getan hatte. So – er war noch nicht zurückgekommen! Das war wirklich reizend!

Furustolpe leerte seine Kaffeetasse mit einem Zuge, ergriff die Morgenzeitung und durchblätterte sie schläfrig. Bevor er noch die erste Seite durchgelesen hatte, sank die Zeitung auf den Tisch und er selbst gegen die Sessellehne. Er schlief – sein großer Mund stand offen – und sein blonder Bart wallte auf die Brust hinab.

Die Brünette, die heute Vormittagsdienst hatte, schaute ihn mit stummer Ehrfurcht an. Augenscheinlich imponierte ihr dieser Mann deswegen, weil er selbst im Schlafe seine Würde zu wahren wußte. –

Als der Kellner Miene machte, Furustolpe zu wecken – denn dann und wann schnarchte er – hielt sie ihn mit einer befehlenden Handbewegung davon ab.

Eine blaßrote Novembersonne teilte den Nebel und schickte bleiche Strahlen durch die Vorhänge des Hotel Meyer.

In Furustolpes Bart blitzte ein Sprühfeuer auf. Die Brünette erwärmte ihr Herz an diesem Feuer. Furustolpe träumte; ab und zu seufzte er tief – plötzlich wachte er mit einem leisen Schrei auf. Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter.

Er hatte gerade von der Polizei geträumt. Er fuhr jäh auf und schaute in Stangelands großes Gesicht.

» Du!« rief er, »na – endlich! Warum kommst du erst jetzt? Was soll das denn heißen?«

Stangeland machte ein verschmitztes Gesicht.

»Du bist beim Frühstücken,« sagte er, »das werde ich auch gleich tun. Was sagst du zu einem Glase Kognak?«

»Kognak?« rief Furustolpe, und seine Augen blitzten. »Kognak am frühen Morgen? Hast du nicht genug davon? Wo kommst du eigentlich um diese Zeit her?«

Stangeland bestellte beim Kellner.

»Ich habe Wichtiges vorgehabt!« sagte er.

»Das kann ich mir denken,« sagte Furustolpe entrüstet. »Ich habe dich die ganze Nacht durch gesucht! Jetzt wollen wir ein ernstes Wort miteinander reden! Bitte, höre mir zu!«

»Warum bist du denn so erregt?« fragte Stangeland. »Was ist denn eigentlich in dich gefahren?«

Furustolpe würdigte ihn keiner Antwort. Er sah sich im Lokal um und stellte fest, daß kein Gast in Hörweite war. Für die Brünette hatte er nicht einen Blick übrig.

»Hör nur, was passiert ist,« sagte er, und in seinem Tonfall lag etwas, das Stangeland dazu bewog, das schon erhobene Kognakglas wieder hinzustellen.

»Was Teufel ist denn los?« fragte er. »Ist etwas so Ernstes passiert?«

»Und ob!« Furustolpe mußte mit aller Gewalt an sich halten, um nicht zu schreien. »Heute Nacht um ein Uhr werde ich angerufen – durch meinen eigenen Apparat – in meinem Zimmer. Ich war noch wach und wollte auf dich warten. Vielleicht bin ich doch etwas eingenickt – jedenfalls klingelte es plötzlich, ich nahm den Hörer und was glaubst du, was man mir sagte?«

»Na?«

»Jemand sagte auf Schwedisch: ›Aufgepaßt, Furustolpe! Das Geschäft geht schief!‹ Das war alles! Du verstehst wohl, was das heißen sollte?«

Stangeland trank mit zusammengekniffenen Augen einen Schluck Kaffee.

»Ist das alles?«

»Jawohl! Ich rief das Amt an, um zu erfahren, wer mich angerufen hatte. Dort sagte man mir natürlich, daß überhaupt niemand meine Nummer verlangt habe!«

»Und hatte dich wirklich jemand angerufen?«

»Was meinst du damit? So wahr ich hier sitze! Ich war ganz wach, und ich hörte ganz deutlich jedes Wort: ›Aufgepaßt, Furustolpe! Das Geschäft geht schief!‹ Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich fühlte! Du warst nicht zu Hause. Ich konnte nicht auf dich warten! Ich stürzte hinaus, um dich zu suchen. Überall war schon geschlossen. Nirgends wollte man mir öffnen. Ich habe kein Auge zugemacht! – Und du! Allerdings – geschlafen hast du auch nicht!«

»Nein, das habe ich nicht!«

»Nein, das hast du nicht! Du hast im »Kessel« gesessen. Ich war heute früh um fünf Uhr dort. Im Separée brannte noch Licht. Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Na, was hast du darauf zu antworten?«

Furustolpe schwieg. Seine blauen Augen bohrten sich in die seines Kompagnons, der langsam seinen Kaffee schlürfte. Als nun Stangeland das kleine Kognakglas ergriff, flog Furustolpes Hand wütend gegen das Glas, so daß der Kognak über das Tischtuch spritzte.

»Antworte! Was hast du mir zu sagen?«

Stangeland kniff seinen kleinen Mund zusammen und winkte dem Kellner, um ein neues Glas zu bestellen.

»Ich habe nur eins zu sagen,« antwortete er, »Hm!«

»Was meinst du?«

»Hm. Wer dich angerufen hat, weiß ich nicht! Jedenfalls war das ein ganz dummer Scherz – so viel kann ich dir sagen. Ich komme gerade von Malmö zurück. Blomberg und ich fuhren gestern abend um sieben hinüber, und hier sind vierzehntausend Kronen für die »Confidentia«!«

Stangeland holte einen Stoß roter Scheine aus der Tasche, blinzelte Furustolpe an und legte den Kopf schief. Er glich mit seinem undurchdringlichen Gesicht der Mona Lisa. Furustolpe hielt den Atem an, bis es schmerzte.

»Du – du bist in Malmö gewesen?«

»Jawohl!«

»Und niemand hat – hat dir oder dem anderen etwas angehabt?«

»Nein!«

»Du hast den Betreffenden in Malmö angetroffen?«

»Ja!«

»Und es ist nichts auf der Rückfahrt passiert?«

»Nein!«

Furustolpe zog ein nicht ganz einwandfreies Schnupftuch aus der Tasche und trocknete sich die Stirn.

»Aber – aber – – –«

»Du meinst, warum ich dir vorher nichts sagte? Wozu denn? Ich traf zufällig Blomberg – Mensch, du brauchst doch nicht wegen eines Namens hochzufahren –, also ich traf zufällig Blomberg in der Weinstube. Er war gerade nach Kopenhagen gekommen. Ich sagte – warum nicht ebensogut heute – wie morgen? Heute sind Sie nüchtern, morgen, wenn Sie die ganze Nacht hier durchbummeln, haben Sie Katzenjammer. Heute abend ist es dunkel – morgen früh ist es hell! Und den Herrn in Malmö treffen wir heute abend ebensogut an wie morgen früh. All right! antwortete er. Ich ging ins Hotel und holte die Sachen. Wir benutzten die Fähre um halb acht – – und hier bin ich nun. Der Betreffende in Malmö lud uns zum Souper ein, aber als er auch noch ein Frühstück geben wollte, sagte ich ›Nein!‹ Ich dachte an dich!«

Furustolpe zählte immer wieder die Scheine. Er hatte ein wunderbares Gefühl der Wirklichkeit – als ob er aus einem bösen Traum erwacht wäre. Und was er geträumt hatte! Er hatte sich die unmöglichsten Dummheiten eingeredet – daß das Geschäft mit Herrn Schmerzlein nicht gelingen würde – daß es kein reelles Geschäft sei und dergleichen mehr. Die roten Sonnenstrahlen, die durch den Vorhang leuchteten, und die roten Scheine in seiner Hand ließen die bösen Träume wie Nebel schwinden.

Er nahm einen großen Schluck von seinem längst erkalteten Kaffee. Neben der Kaffeetasse lag die »Politiken« zusammengeknüllt. Der Anblick des Blattes führte ihm das Ereignis der verflossenen Nacht wieder vor Augen. – Ihm schauderte.

»Na?«

»Was ich dir vorhin erzählte, ist Tatsache. Jemand hat mich heute nacht angerufen – jemand hat meinen Namen genannt und wußte etwas von dem Geschäft – ob du mir nun glauben willst, oder nicht! Es ist jedenfalls wahr! Wer war am Apparat?«


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