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Siebentes Kapitel.
Der Tod holt den Zweiten

1

Lütjens zog sich rasch an und eilte in die Wohnung des Norwegers, um nähere Einzelheiten zu erfahren. Er kam zu spät, der Dichter hatte bereits das Haus verlassen. Aber da Geneviève anwesend war, war er nicht vergeblich gekommen. Sie war ja dank ihrer Verbindungen auf dem Fischmarkt die Quelle der Nachricht und gewiß nicht diejenige, die einem dürstenden Mitmenschen einen Trunk aus diese Quelle verweigerte.

Die alte Mrs. Vanloo hatte sich am Abend vorher zur gewohnten Stunde niedergelegt, nachdem sie im Familienkreise ein stilles Souper zu sich genommen hatte. Wie die meisten älteren Leute schlief sie nicht allzu lange, in der Regel pflegte sie gegen sechs Uhr aufzuwachen, worauf sie sofort nach ihrem Frühstückskaffee klingelte. An diesem Morgen ertönte kein Läuten, aber das Personal, das annahm, daß sie nach den angreifenden Ereignissen der letzten Tage ruhebedürftig sei, beachtete dies nicht sonderlich und ließ sie ruhig weiterschlafen. Als aber eine Stunde vergangen war, begann man diesen langen Schlaf doch seltsam zu finden, und nach einer weiteren halben Stunde erinnerte man sich nicht ohne Grauen an den Morgen, an dem Arthur Vanloo sich verschlafen hatte … die Kammerjungfer klopfte an, zuerst behutsam, dann fester. Als keine Antwort erfolgte, öffnete sie resolut die Tür, die übrigens nicht versperrt war. Die Art der Atemzüge, die vom Bett zu ihr drangen, sagte ihr sofort, daß nicht alles so war, wie es sein sollte; sie erinnerten mehr an ein Todesröcheln als an das Atmen eines schlafenden Menschen. Sie zog die Vorhänge zurück und stieß einen Schrei aus. Mrs. Vanloo lag mit weitoffenem Munde auf dem Rücken. Auf Anrufe reagierte sie nicht. Die Kammerjungfer stürzte zum Telefon, und es gelang ihr auch, Doktor Duroc zu erreichen. Dieser fand sich mit bemerkenswerter Schnelligkeit ein. Das erste, was ihm auffiel, war ein Glas, das auf dem Nachtkästchen stand und irgendeine Flüssigkeit enthielt. Hatte Mrs. Vanloo vorher ein Schlafmittel genommen? Soviel die Kammerjungfer wußte, nein. Bevor Madame zur Ruhe ging, pflegte sie sich selbst ein Glas gezuckerten Orangensaft mit Wasser zu mischen, von dem sie im Laufe der Nacht trank, wenn sie wach wurde. Niemand sonst durfte das für sie machen. Als die Kammerjungfer am Abend vorher gute Nacht wünschte, war die alte Dame schon im Einschlafen. Der Doktor brauchte keine langwierige Untersuchung des Glases vorzunehmen, um zu sehen, daß es andere Dinge als Orangensaft und Wasser enthalten hatte. Er richtete nun seine ganze Energie darauf, die Patientin aus ihrer Bewußtlosigkeit zu wecken, was ihm auch allmählich gelang. Nachdem er für eine Krankenpflegerin gesorgt hatte, sagte er, daß er eine Unterredung mit den Familienmitgliedern wünsche. Worum diese sich gedreht hatte, konnte Geneviève aus guten Gründen nicht sagen, was sie aber keineswegs hinderte, viele phantasievolle Andeutungen über den Inhalt zu machen: ein Begräbnis am Tage vorher und ein Unglücksfall in der darauffolgenden Nacht – so etwas komme in Familien, bei denen alles in Ordnung sei, nicht vor! Ihr Arbeitgeber sei wohl auch derselben Ansicht, denn kaum habe er die Neuigkeiten gehört, als er auch schon ein paar Zeilen an Trepka und den Dozenten hingeworfen habe, worauf er in die Stadt hinausgerannt sei … »Und da kommt er!« schloß Geneviève ihren in donnerndem Dialekt gehaltenen Vortrag, als der Dichter am Gartengitter auftauchte.

Der Tag war warm, und Christian Ebb war erhitzt. Oder hatten die Schweißperlen an seinen Schläfen eine andere Ursache als die Frühlingssonne? Er nahm den Hut ab, strich sich den blonden Bocksschopf aus der Stirn und warf sich in einen Sessel. Wenn Genevieve sich Rechnung auf weitere Neuigkeiten gemacht hatte, wurde sie enttäuscht.

Christian Ebb begnügte sich damit, ihr einige kurze Weisungen für das Lunch zu geben, die sie zu einem widerwilligen Rückzug zwangen.

»Nun?« sagte der Dichter, indem er dem Dozenten zum erstenmal in die Augen sah.

»Ich habe gerade mit Geneviève gesprochen«, erwiderte Lütjens. »Ich weiß, was sie weiß! Aber da ich gesehen habe, wie gefärbt selbst in den zensurfreiesten Ländern die Mitteilungen sind, die man durch die Presse erhält, wäre es vielleicht angezeigt, wenn ich Ihre Version der Sache hören könnte, lieber Ebb!«

»Die Trepka sicherlich noch gefärbter nennen würde!« bemerkte der Dichter. »Ich vermute, daß Geneviève uns beiden das gleiche erzählt hat, und ich kann nur sagen, daß meine Informationen die ihren bestätigen. Die alte Dame wurde heute früh im Zustand tiefster Bewußtlosigkeit aufgefunden, hervorgerufen durch irgendein starkes Schlafmittel, vermutlich Veronal. Sie pflegte niemals Veronal zu nehmen, da sie einen für ihr Alter vortrefflichen Schlaf hatte. Auch gestern hat sie, wie die Kammerjungfer sagt, keines genommen. Und nichtsdestoweniger ist eine überreichliche Dosis dieses Präparats anscheinend in ihre Orangeade gelangt. Also?«

Der Dozent schwieg.

»Sie hat ihre Schlafzimmertür nie versperrt«, bemerkte Ebb.

»Aber wer –«, sagte Lütjens nach einer Pause – »wer sollte …?«

»Ah, da ist das Feld frei!«

Eine neue Pause folgte. Die Gedanken des Dozenten gingen von dem Besuch bei Herrn Théron zu dem Besuch in der Konditorei. Sollte er erzählen, was er erfahren hatte? Er beschloß, bis auf weiteres zu schweigen. Ebbs nächste Worte bestärkten ihn in diesem Entschluß.

»Ich komme gerade von Fräulein Titine«, fuhr der Dichter fort. »Als Nachrichtenbüro schlägt sie sowohl Geneviève wie die Agence Havas. Wissen Sie, was sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit, unter dem sie es vermutlich allen erzählt – anvertraut hat? Daß der Gatte der schönen Madame Delarue und Allan Vanloo gestern nachmittag im Kasinogarten einen heftigen Zusammenstoß hatten! Vorgestern war sie in Nizza gewesen, angeblich um bei einer kleinen Schneiderin, die sie dort aufgegabelt hat, ein Kleid zu probieren. Aber ein Bekannter ihres Mannes hatte Allan Vanloo gerade an diesem Nachmittag in Nizza gesehen. Der arme Musiker, der ja weiß, was man sich alles über die beiden erzählt, war vor Schmerz und Wut ganz außer sich, und als er im Park auf Allan stieß, ließ er sich die Gelegenheit nicht entgehen, obwohl Allan direkt vom Begräbnis kam. Es sei ein reines Wunder, sagte Titine, daß nicht die ganze Stadt ihre Auseinandersetzung gehört habe. Na, ob jetzt die ganze Stadt sie gehört hat oder nur Titine, kommt schließlich auf eins heraus. Ich habe sie gebeten, aus Menschenfreundlichkeit über die Geschichte zu schweigen, und das hat sie auch versprochen, aber …«

Direkt vom Begräbnis, klang es dem Dozenten in den Ohren.

»Ich habe eines vergessen«, fügte Ebb hinzu, »Herr Delarue hat gestern seine Frau dabei ertappt, daß sie einen Brillantring trägt, den sie in seiner Gegenwart mit dem Stein nach innen dreht, während sie ihn sonst nach außen trägt. Er vermutete nicht ohne Grund, daß dieser Ring mit der Fahrt nach Nizza im Zusammenhang steht. Das gab Frau Delarue auch zu, behauptete aber, daß sie ihn nur zur Ansicht von einem Juwelier bekommen hat, der jederzeit bereit ist, ihn zurückzunehmen.«

Die Gedanken des Dozenten schweiften hastig zu einem Schaukelstuhl, in dem ein braungelber Herr saß. Der bräunliche Herr hielt ein bräunliches Mädchen auf dem Schoß und schaukelte sich wie ein Besessener, indem er rief: »Sagen Sie Ihrem Freund Allan Vanloo, wenn Sie ihn treffen, er möge nicht den Zwanzigsten dieses Monats vergessen!« Es war nur mehr eine Woche bis zum Zwanzigsten! Nein, er würde Ebb von dieser Sache noch nichts sagen. Es gab andere Dinge, über die man eher sprechen konnte.

»Nach Ihrem ersten Besuch in der Villa«, sagte er zum Dichter, »haben Sie uns ein paar Fußabdrücke gezeigt, die Sie unter Arthur Vanloos Fenster gefunden hatten. Haben Sie – hm – Ihre Nachforschungen in dieser Richtung fortgesetzt?«

»Ja, das habe ich.«

»Und sind Sie zu irgendeinem Resultat gekommen?«

»In gewisser Weise ja. Es hat sich herausgestellt, daß die Fußtapfen von einem jungen Mädchen herrühren, das ein Mitglied des roten Kreises ist, in dem Arthur verkehrte. Aber nachdem wir das Ergebnis der Obduktion gehört hatten, hielt ich es für zwecklos, die Sache weiterzuverfolgen. Warum fragen Sie? Haben Sie auch Untersuchungen vorgenommen? Sollten Sie vielleicht gar auf Jeannine gestoßen sein?«

»Jeannine heißt sie? Vorgestern nachmittag schaute ich mir den Park ein bißchen an. Alles war öde und leer. Aber plötzlich erblickte ich ein junges Mädchen mit einem Gesicht wie eine Katze, das sich in der Nähe der Wohnung des verstorbenen Arthur Vanloo herumtrieb. Sie hatte keinen Hut, sah aber nicht aus, als gehörte sie in die Villa. Ich fragte mich gleich, ob sie nicht das Original Ihrer Fußabdrücke sein könnte.«

»Ist das nicht eine recht gewagte Hypothese?«

»Das kann ich nicht finden. Die Fußabdrücke, die Sie uns zeigten, stammten anscheinend von einer Frau. Und Sie erzählten ja auch von nächtlichen Besuchen, die Arthur in seinem Zimmer zu empfangen pflegte. Als ich auf dem Schauplatz des Dramas eine junge Dame von anarchistischem Aussehen entdeckte, fand ich, daß die Schlußfolgerungen sich eigentlich von selbst ergeben. Was ist natürlicher, als daß sie wiederkommt, um ihrem verblichenen Freund ein letztes Lebewohl zu sagen? Ich kann hinzufügen, daß ich meine Theorie so gut wie sofort bestätigt fand – wie, möchte ich vor der Hand lieber nicht sagen. Aber was halten Sie davon?«

Und er präsentierte plötzlich den Papierfetzen, den er im Zinerarienbeet gefunden hatte. Ebb nahm seinen eigenen Fund aus der Brieftasche und verglich die beiden Papiere.

»Hm – unleugbar sehen sie aus, als ob sie zusammengehörten! Die Qualität und der Druck auf dem Etikett ähneln sich wenigstens im höchsten Grad. Wo haben Sie dieses Stück gefunden?«

»An derselben Stelle, wo Sie Ihres gefunden haben – in einem Beet mit prachtvollen Zinerarien! Sagen Ihnen die Buchstaben Lenc etwas?«

»Nichts. Und Ihnen?«

»Genau ebensoviel.«

Ebb versuchte die beiden Stücke zusammenzufügen. Das gelang nicht, die Kanten waren zu ungleich. Er machte seinen schwedischen Kriminalkollegen darauf aufmerksam, dieser zuckte die Achseln.

»Nein, das geht nicht, da haben Sie recht. Aber da Farbe und Qualität der Papiere identisch sind und da beide Funde an derselben Stelle gemacht wurden, möchte ich doch glauben, daß jeder von uns ein Stück desselben Puzzlespiels gefunden hat. Eine andere Sache ist, daß der Fund weder Ihnen noch mir etwas sagt. Ich schlage vor, daß Sie mein Papier zu Ihrem legen und aufheben. Vielleicht kommt die Stunde, wo es uns glückt, ihre Botschaft zu deuten – so wie es allmählich gelang, die Keilschrift in Babel zu deuten.«

In diesem Augenblick wurde die Luft des Zimmers von einer Explosion erschüttert. Der Vertreter Dänemarks im Kriminalklub war, unbemerkt von seinen Kollegen, durch den Garten hereingekommen und stand nun, vor Empörung schnaubend, in Ebbs Arbeitszimmer. In seinem Munde qualmte eine Zigarre, der Stock in der Hand beschrieb einen rasenden Wirbeltanz, und über seine hohnvoll gekräuselten Amorettenlippen strömten bittere Worte.

»Nichts ist imstande, eure Kreise zu stören!« rief der Bankmann. »Wenn Syrakus erobert würde, würdet ihr es gar nicht merken! Gestern hat das Begräbnis nach ordnungsgemäßem ärztlichem Todesattest stattgefunden, und heute –«

»Und heute wäre es auf ein Haar zu einem neuen Begräbnis gekommen«, sagte Ebb. »Haben Sie den Brief, den ich Ihnen heute morgen schickte, nicht erhalten?«

»Nein«, antwortete der Bankdirektor, »das habe ich nicht. Ich habe nämlich in der Telefonzentrale gesessen und auf ein Gespräch mit Berlin gewartet. Was stand in Ihrem Brief? Hat der eine der, restlichen Brüder den anderen umgebracht? Oder haben sie sich gegenseitig ermordet?«

»Ja was soll das heißen, lieber Trepka«, murmelte der Dozent, »hat Ihr Hotel kein Telefon? Es annonciert doch alle modernen Bequemlichkeiten! Und die Preise …«

»Natürlich hat das Hotel Telefon … Seien Sie doch nicht kindisch! Was stand also in Ebbs …«

»Aber warum in aller Welt telefonieren Sie dann nicht vom Hotel aus?« beharrte der Dozent. »Das muß doch viel bequemer sein, als in dieser ungemütlichen Zentrale zu sitzen und …«

»Und wenn man ein Gespräch über intime Dinge zu führen hat und nicht will, daß die Dienerschaft es belauscht?« brüllt der Bankdirektor. »Gedenken Sie, mich einem Kreuzverhör über meine Privatangelegenheiten zu unterziehen? Darf ich wissen, was in Ebbs Brief steht, oder darf ich es nicht wissen? Sie haben vielleicht nichts anderes zu tun, als Märchen aus Tausendundeiner Nacht zusammenzubrauen, aber ich habe Geschäfte in Nizza!«

Alle Scherzhaftigkeit war aus seiner Stimme verschwunden. Der Dichter sah ihn erstaunt an und berichtete in einigen Worten, was sich in der Villa Longwood an diesem Morgen ereignet hatte. Bei jedem neuen Satz stieß Trepka den Rauch aus seiner Zigarre und deponierte eine Dosis Asche in der Kupferschale.

»Aus Ihrem stummen Zwischenspiel entnehme ich«, sagte Ebb, »daß dies ganz so ist, wie es sein soll, und alles auf das perfekteste in der perfektesten aller Republiken geordnet ist.«

»Perfekt? Was meinen Sie? Alte Damen an die Achtzig sollen eben nicht freien Zugang zu narkotischen Mitteln haben.«

»Sie hat nie Schlafmittel genommen.«

»Behauptet sie nachher, um sich interessant zu machen!«

»Behauptet sie nicht, da man sie noch gar nicht befragen konnte. Die Kammerjungfer sagt es – und der Doktor bestätigt, daß er ihr nie ein Veronalrezept verschrieben hat.«

»Hier in Frankreich bekommt man in jeder x-beliebigen Apotheke ohne Rezept Veronal. Ich habe es selbst erst gestern abend bekommen.«

»Brauchen Sie Schlafmittel? Ich dachte, Sie wären der Mann ohne alle Sorgen?«

»Ich schaffe mir wenigstens keine künstlichen Sorgen!« brüllte Trepka. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Wollen Sie in vollem Ernst behaupten, daß ein Serienmörder in der Villa wütet und daß er verrückt genug sein könnte, am selben Tage, an dem das Opfer des früheren begraben wurde, ein neues Attentat zu unternehmen?«

»Man wählt nicht immer seine Handlungen – geschweige denn das Datum ihrer Ausführungen. Es gibt ja Leute, die behaupten, daß alle Handlungen Glieder einer Kette sind, die wächst, bis sie zu einer Sträflingskette wird. Aber lassen Sie mich Ihnen die letzte Neuigkeit aus Titines Bar erzählen!«

Er gab sie wieder, wobei er das Gesicht des Dänen genau beobachtete. Als er die Episode mit dem Brillantring erwähnte, glaubte er einen Augenblick ein leises Zucken um die Nasenflügel Trepkas zu sehen. Wußte der Bankdirektor etwas von dem Ring? Oder hatte Ebb sich getäuscht? Jedenfalls war das Zucken ebenso rasch verschwunden, wie es erschienen war, und als der Dichter mit seiner Erzählung fertig war, ließ sein Kollege ein langes, zornbebendes Fauchen hören.

»All das berührt mich ganz und gar nicht! Wissen Sie nicht, was Talleyrand nach der Hinrichtung des Herzogs von Enghien zu Napoleon sagte?: ›Das ist ärger als ein Verbrechen, das ist eine Dummheit!‹ Wenn es oben in der Villa einen Serienmörder gäbe, so wäre er kein Verbrecher, sondern ein Narr!«

»Alle Verbrecher können Irrtümer begehen.«

»Und Privatdetektive erst recht – namentlich wenn sie zugleich Geschichte schreiben!«

»Ihre Einwände«, rief Ebb, der anfing ärgerlich zu werden, »zielen auf nichts anderes ab, als zu beweisen, daß alles auf der Welt ebenso flach ist wie Ihr Heimatland.«

»Was sagen Sie über Dänemark?« zischte der Bankmann. »Was ist denn Norwegen, wenn nicht ein ungesundes Experiment im größten vertikalen Abstand zwischen zwei Punkten?«

»Aber, meine Herren«, bat eine beschwichtigende Stimme, »meine Herren!«

»Und was ist Schweden?« brüllte der Bankdirektor, indem er sich blitzschnell herumdrehte, »was sonst als eine drei Jahrhunderte zu früh losgerissene dänische Kolonie?«

Mit diesen bitteren Worten verschwand er durch den Garten.

»Ist er jetzt im Ernst böse?« fragte Ebb. »War das das Gründungsjahr des Kriminalklubs?«

»Gewiß nicht«, beruhigte ihn der Dozent. »So zornig ist man nur, wenn man Komödie spielt. Er kommt schon wieder! Aber Sie müssen mich entschuldigen, lieber Ebb. Ich habe Geschäfte in Nizza – ganz wie unser dänischer Freund. Guten Morgen!«

2

Als Trepka seine Kollegen vom Kriminalklub verließ, war er nicht im entferntesten so entrüstet, als er tat. Am selben Morgen hatte er ein Telegramm aus Berlin bekommen, er möge die Firma Schüttelmann, Berlin, Behrenstraße, in der Sache anrufen, über die er mit ihr korrespondiert hatte. In ihrem früheren Telegramm hatte ihm die Firma Auskünfte über die Vermögensverhältnisse der Familie Vanloo erteilt. Als Antwort darauf hatte Trepka der Firma telegrafisch »carte blanche« gegeben, wenn sie ihn über Ursprung und Geschichte besagten Vermögens informieren konnte. Es war ihm bekannt, daß die Firma Schüttelmann, auch wenn es sich um derartige Auskünfte in derartigen Angelegenheiten handelte, unerreicht in Europa war. Es dauerte lange, bis er die Verbindung bekam, und als das Gespräch glücklich in Gang gekommen war, konnte er die Telefondamen nur schwer davon überzeugen, daß er noch nicht fertig sei, sondern noch weiter mit seinem Partner sprechen müsse. Als das Gespräch endlich aus war, hatte es Trepka über dreihundert Francs gekostet und eine solche Erregung in seinem Inneren hinterlassen, daß er einerseits in einen Wortwechsel mit seinen Freunden geriet und sich anderseits genötigt sah, noch einmal nach Nizza in die Bibliothek zu fahren, um seine Gefühle doch irgendwie abzureagieren.

Das erstemal, daß überhaupt irgend etwas von einem Vanlooschen Vermögen verlautet hatte, sagten Schüttelmanns am Telefon, war im Jahre 1826 gewesen. Da hatte ein Herr dieses Namens in England dadurch ein gewisses Aufsehen erregt, daß er zweitausend Pfund für ein Rennpferd bezahlte, das kurz darauf im Derby siegte. Was vor diesem Zeitpunkt lag, war Schüttelmann unbekannt. Über die folgende Zeit konnte die Firma hingegen verschiedene Einzelheiten mitteilen, die Trepka in seinen Notizblock kritzelte und die ihn allmählich in die vorhin erwähnte Erregung versetzten. Zwei Dinge standen ihm nach dem Gespräch klar vor Augen: die Familie schien wirklich unmittelbar nach der Gefangenschaft Napoleons auf Sankt Helena in Europa aufgetaucht zu sein, und sie hatte, obwohl ihre Mitglieder naturalisierte Engländer waren, hauptsächlich in ihrer Villa in Mentone, Villa Longwood, gewohnt.

Konnte all dies anders ausgelegt werden denn als ein Beweis für die Wahrheit der Worte der alten Mrs. Vanloo und Monsieur Parmentiers Klatschgeschichte – daß nämlich die Familie Vanloo tatsächlich in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers geweilt und sich dort auf irgendeine Weise ihr Vermögen erworben hatte? Kaum! Und doch wußte keine einzige von all den Quellenschriften, die der Bankdirektor in seinem Leben gelesen hatte, etwas von einer Familie dieses Namens auf der Insel im Atlantischen Ozean zu berichten! Da war nur eines zu tun: es nochmals mit der Bibliothek zu versuchen und zu sehen, ob es nicht doch irgendeinen verschollenen Schmöker gab, in dem die gewünschten Aufklärungen zu finden waren.

Es schien in den Sternen geschrieben, daß Trepka auf seinen Fahrten zwischen Mentone und Nizza immer auf irgendein Mitglied der Familie stoßen sollte, die seine Gedanken in so hohem Grade beschäftigte. War es das vorige Mal Allan gewesen, so war es diesmal Martin. Er stieg erst in den Autobus ein, als dieser im Carnolès-Viertel hielt, das so weit wie möglich von seiner Behausung entfernt war. Geschah dies, um Aufsehen zu vermeiden, oder war es, um am Billettpreis zu sparen, fragte sich Trepka ironisch. Der gute Martin sah aus, als ob er in letzter Zeit schlecht geschlafen hätte, die vollen Wangen hingen ein wenig schlaff herab, er wirkte fahl und gedunsen. Weiß Gott, wie es mit seinem Herzen steht, dachte der Bankdirektor, freilich bummelt er ein bißchen viel, aber das müßte man in diesem Alter doch vertragen können. Diese eingesunkenen Augen und dieser schlaffe Zug um den Mund – ja, weiß Gott, wie es um sein Herz steht! Der Bruder ist an Herzkrampf gestorben, soufflierte eine Stimme in seinem Innern, das hat Doktor Duroc gesagt. Der Bankdirektor brachte diese Stimme rasch zum Schweigen. Sie schien ihm zu viel Ähnlichkeit mit den Spintisierereien zu haben, mit denen Lütjens und Ebb sich gegenseitig erbauten. Und wenn es etwas gab, was er schon gründlich satt hatte, so war es diese Art Konversation. Martin schien in tiefe Grübeleien versunken, er schob die Lippen vor und zog die Mundwinkel herab, wie es viele Menschen tun, wenn sie scharf nachdenken wollen. Plötzlich formulierte der Bankdirektor eine überraschende Beobachtung:

Eigentlich sieht Martin Vanloo dem Gott des Wohlbefindens, den Ebb auf seinem Schreibtisch stehen hat, ähnlich – aber einem Gott, der Sorgen hat!

Dieser Gedanke kehrte unterwegs mehrmals wieder. Ja – wirklich! Mit diesen runden Wangen, dem wohlwollenden, aber gierigen Munde und dem dichten, kurzen Haar brauchte Martin nur ein passendes Kostüm aus einem orientalischen Bazar, um bei einer der Karnevalsveranstaltungen der Riviera oder in einem Nachtlokal als Gott Pu-lei aufzutreten.

In Nizza angekommen, verlor Trepka ihn aus den Augen, fand ihn aber nach einiger Zeit vor einem Schaufenster wieder. Martin stand da, die Hände auf dem Rücken, und starrte in tiefen Gedanken auf den Inhalt der Auslage. Die Lippen waren vorgeschoben und die Mundwinkel herabgezogen, genau wie vorhin im Autobus, kein Zweifel, er dachte intensiv über irgend etwas nach. Aber was enthielt das Schaufenster? Der Bankdirektor hätte fast laut aufgelacht, als er es sah. Es enthielt allerhand Zauberapparate, nichts anderes! Man muß schon ein beschäftigungsloser Engländer sein, dachte er, um Zeit zu haben, sich mit derlei abzugeben! Er eilte weiter und ließ Martin in Grübeleien über die Dinge im Fenster zurück.

In der Bibliothek ackerte er noch einmal die Verzeichnisse der Napoleon-Literatur in den Katalogen durch. Mit einigen Bänden bewaffnet, die er noch nicht kannte – Lord Hollands »Erinnerungen«, Hauptmann Dacres »Briefe aus Sankt Helena« und Hookes »Tatsachen über Napoleons Gefangenschaft« – ließ er sich in einer Ecke des Raumes nieder und versank völlig in die Lektüre.

Plötzlich wurde er in die Wirklichkeit und Gegenwart zurückgerufen. Er hatte das Gefühl gehabt, eine bekannte Silhouette vorbeihuschen zu sehen. Und ganz richtig – als er die Augen vom Buche hob, sah er den Dozenten Lütjens dem Ausgabetisch zustreben. Was machte der hier? Verfolgte er dieselbe Spur? Beabsichtigte er auch die eventuellen Berührungspunkte der Familie Vanloo mit jener Insel im Atlantischen Ozean zu untersuchen? Es wäre höchst ärgerlich, wenn er sich Napoleon-Literatur bestellte und den Bescheid erhielt, daß sie bereits von dem Herrn dort in der Ecke mit Beschlag belegt sei. Denn Trepka hatte doch zu verstehen gegeben, daß er alles über diese Materie wußte, und nun saß er sozusagen auf der Schulbank, in Schriften vertieft, die er in- und auswendig können sollte! Solche und ähnliche Gedanken flogen dem Bankdirektor durch den Kopf. Sie erwiesen sich jedoch gottlob als unbegründet. Der Dozent bestellte und erhielt ein paar dicke Bände, mit denen er sich in einen Winkel des Saales zurückzog.

Trepka las weiter. Gegen ein Uhr verspürte er jedoch ein nagendes Gefühl in der Magengrube, das er ohne Zögern in der richtigen Weise diagnostizierte: es war Lunchzeit! Konnte er verschwinden, ohne von seinem schwedischen Kollegen gesehen zu werden? Er warf einen verstohlenen Blick zu dessen Tisch und fand ihn bis über die Ohren in seine Schmöker vertieft. Größte Vorsicht beobachtend, schlich er sich hinaus, begab sich in ein kleines Restaurant gleich um die Ecke und bestellte einen Lunch. Indem er es verzehrte, mußte er über die glückliche Art, wie er es vermieden hatte, von seinem schwedischen Kriminalklubkollegen gesehen zu werden, in sich hineinlächeln.

Wäre er mit telepathischen Fähigkeiten begabt gewesen, hätte er vielleicht weniger vergnügt gelächelt. Denn dann würde er gerade in diesem Augenblick den Dozenten Lütjens über seinen eigenen Tisch im Lesesaal gebeugt gesehen haben! Lütjens hatte, sowie er nur über die Schwelle getreten war, den Bankdirektor gesichtet, es aber vorgezogen, sich nichts merken zu lassen. Hingegen hatten zwei Fragen sofort sein Hirn durchkreuzt: Was macht Trepka hier? Und haben seine Studien etwas mit seiner Irritation zu tun? Kaum hatte Trepka sich entfernt, um essen zu gehen, als auch der Dozent schon eine diskrete Forschungsreise zu seinem Tisch antrat. Und als er die Bücher erblickte, mit denen dieser Tisch beladen war, zog er unwillkürlich die Augenbrauen in die Höhe. Sankt Helena! Napoleon! Er war zu der Auffassung gelangt, die der Bankdirektor ihm keineswegs zu rauben gesucht hatte, daß Trepka einfach alles darüber wußte! Und nichtsdestoweniger saß er hier und las mit Feuereifer über Napoleon und Sankt Helena! Welche Bewandtnis hatte dies? Konnten seine Studien möglicherweise damit zusammenhängen, daß er gerade dieser Tage eine Familie kennengelernt hatte, die von der Insel im Atlantischen Ozean zu kommen behauptete? Suchte er eine Bestätigung dieser Angabe – oder einen Gegenbeweis? Der Blick des Dozenten fiel auf eine aufgeschlagene Seite, und er las:

Es gibt Kleinigkeiten, die eine Situation besser beleuchten als viele dicke Wälzer. Eine solche Bagatelle ist der sogenannte »Flaschenkrieg« auf Sankt Helena. Die Geschichte von ihm klingt so kindisch wie die Schilderung einer Rauferei in einem Schulhof, und doch wirft sie vielleicht ein klareres Licht auf die Gemütsverfassung in der Villa Longwood als lange Rapporte von Sir Hudson Lowe und hochtrabende historische Abhandlungen.

Der Urbeginn des erwähnten Krieges ist in der Tatsache zu suchen, daß Flaschen auf der Felseninsel ein rarer und kostbarer Artikel waren. Sie mußten entweder aus Europa oder aus Kapstadt hergeschafft werden. Zweimal im Monat lieferte Sir Hudson Lowe pflichtgemäß sechshundertdreißig Flaschen Wein für die Villa und verlangte die leeren Flaschen in unversehrtem Zustand zurück. Wir wollen nebenbei bemerken, daß der Kaiser und seine Umgebung sich über vieles zu beklagen haben mochten, doch kaum über die Qualen des Durstes: zwölfhundertsechzig Flaschen Wein pro Monat ergibt durchschnittlich vierzig Flaschen im Tage … und die Villa zählte zu jener Zeit folgende Insassen: acht Mitglieder der Suite des Kaisers, zwölf französische Dienstleute, acht Diener, die auf der Insel geboren waren (und denen ganz gewiß nicht mit Wein aufgewartet wurde), sowie zwei chinesische Diener, die schon auf Grund ihrer Abstammung sicherlich überhaupt keinen Wein tranken!

Nun wohl, jedesmal, wenn Sir Hudson Lowe seine leeren Flaschen abholen lassen wollte, wurde ihm der Bescheid, daß es keine solchen gebe, und jedesmal, wenn er der Villa einen Besuch abstattete, fand er vor dem Eingang eine Pyramide aus zerschlagenen Flaschen. Das war die klare, aber unblutig formulierte Kritik der gefangenen Franzosen über ihn selbst und seine Verordnungen. Der Gefängniswärter des Titanen schäumte vor Wut, er beschuldigte »General Buonaparte«, den Vorschriften der englischen Regierung vorsätzlich zu trotzen, er drohte, die Weinlieferungen einzustellen, wenn der Skandal fortdauerte … aber der dauerte fort! So groß war die Erbitterung auf beiden Seiten, daß dieser tragikomische »Leere-Flaschen-Krieg« nicht weniger als zwei Jahre währte, ohne daß die Lieferungen deshalb aufhörten …

Lütjens strich sich mit der Hand über die Stirn. Etwas in dem Gelesenen hatte ihn frappiert, etwas, das nicht direkt den heroischen Krieg berührte. Was war es? Ja, nun wußte er es! Es war das Wort Chinesen. Hatte es wirklich Söhne des Himmels auf Sankt Helena und in der Umgebung des Kaisers gegeben? Er schlug in einem der anderen Bände des Bankdirektors nach und fand nach einigem Suchen eine förmliche Personenstandsaufnahme über die Bewohner der Insel. Sie ließ keinen Zweifel offen. Zu ihren verschiedenrassigen Einwohnern zählte die Insel im Südatlantik auch eine gar nicht so kleine Anzahl Chinesen, Vollblut und Halbblut, die als Arbeiter – offenbar eine feinere Form des Sklavenhandels – dorthin gebracht worden waren. In der Villa Longwood gab es zwei chinesische Diener, und außerdem wurden noch Gelegenheitsarbeiter derselben Rasse im Garten beschäftigt, wo sie sich unter der Oberaufsicht des Kaisers betätigten. Es existierte ein berühmter Holzschnitt, der Napoleon, sehr korpulent und mit einem riesigen Strohhut zum Schutz gegen die Sonne, darstellte, wie er, unterstützt von chinesischen Arbeitern, seinen Garten umgrub.

Das Buch hatte recht: eine solche kleine Notiz wie die vom Flaschenkrieg eröffnete wirklich Perspektiven, die man in dicken historischen Abhandlungen vergeblich gesucht hätte. Napoleon als Flaschenzertrümmerer! Der eben noch allmächtige Weltbeherrscher von gelben Kulis bedient! Seltsam …

Der Dozent zuckte zusammen und sah auf die Uhr. Er durfte sich von seinem dänischen Kollegen nicht auf frischer Tat bei literarischer Spionage ertappen lassen! Außerdem wollte er selbst einen Bissen essen. Er schlich sich hinaus. In seinem Kopfe, der sich den ganzen Morgen mit anderen Dingen beschäftigt hatte, begann ein kleiner Gedanke wie ein eingesperrtes Insekt zu surren. Aber so oft er versuchte, das Insekt zu fangen, um es näher zu besichtigen, entwich es und lehnte es ab, sich fangen zu lassen! Er nahm die Beschäftigung mit den anderen Gedanken wieder auf – und bums, begann es neuerdings zu surren … Was in aller Welt war es nur? Etwas, das er gesehen hatte? Etwas, das er gelesen hatte? Oder etwas, das ein anderer gesagt hatte?

Verdammt – er konnte nicht ins reine darüber kommen!

Als der Bankdirektor nach dem Lunch zurückkehrte, fand er seinen überlisteten schwedischen Kollegen nicht mehr vor. Eine heftige Lust, zu sehen, was dieser eigentlich las, wandelte Trepka an. Ganz unbefangen schlenderte er zu Lütjens' Tisch und warf einen Blick in seine Folianten. Nachdem er dies getan, hätte er beinahe hell aufgelacht. Denn was studierte der Dozent?

Dinge, die er auswendig können sollte – »Die Begräbnisriten des Fernen Ostens!« Oder war das nicht gerade sein Spezialfach an der Universität? – Doch! Hatte er plötzlich eine Lücke in seinem Wissen entdeckt? Oder hatte er – sublimer Gedanke – hier an der Riviera einen Fund gemacht, der irgendwie damit zusammenhing?

Mit einem leisen Lachen über die Lektüre des Dozenten huschte er zu seinem Platz zurück und nahm seine Studien wieder auf.

Die zwei Kollegen vom Kriminalklub kehrten jeder mit einem anderen Autobus aus Nizza zurück, aber wie es schon manchmal auf diesen stark frequentierten Linien zu gehen pflegt, trafen sie ungefähr zur selben Zeit in Mentone ein.

Zu seinem Erstaunen sah Lütjens Martin Vanloo aus demselben Autobus steigen wie Trepka. Martin schien sehr weitabgewandt, er sah Trepka gar nicht und verschwand sofort in der Richtung seiner Villa. Hingegen war es für die beiden Skandinavier unmöglich, einander aus dem Wege zu gehen.

Der Dozent erkundigte sich mit dem Ernst eines römischen Auguren, ob sein dänischer Kollege sich in Nizza gut amüsiert habe. Der Bankdirektor bejahte dies mit dem gleichen Ernst und fragte, ob sein schwedischer Kollege bemerkt habe, daß einer der Verdächtigen aus der Villa Longwood auch in Nizza gewesen war.

»Und wissen Sie, wo ich ihn heute vormittag um halb zwölf gesehen habe? Ich will es Ihnen sagen, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, es nicht weiterzuerzählen!«

Der Dozent versprach es.

»Vor einem Geschäft mit Zaubersachen!« flüsterte der Bankdirektor, und sein Ton besagte, daß er damit einen Verdächtigen der Guillotine auszuliefern glaubte.

»Ah?« sagte der Dozent im selben Ton. »Vor einem Zauberladen? Sind Sie ganz sicher?«

»Ja! Aber sie versprechen mir, ihn nicht zu verhaften?« bat Trepka flehentlich. »Ist es Ihnen übrigens nicht aufgefallen, daß er dem Gott des Wohlbefindens, den Ebb auf seinem Schreibtisch stehen hat, ähnlich sieht? Und den Gott des Wohlbefindens auf Wasser und Brot zu setzen …«

Er kam nicht weiter. Der Dozent schlug sich mit einem Gesichtsausdruck an die Stirn, als wäre ihm eine Erleuchtung gekommen.

»Sie haben recht!« rief er. »Er gleicht dem Gott des Wohlbefindens! Vielleicht liegt da die Lösung verborgen. Ja, vielleicht!«

Mit diesen Worten drückte er Trepka hastig die Hand und stürzte in den Frühlingsregen hinaus – denn es hatte plötzlich zu regnen begonnen. Der Bankdirektor starrte ihm erzürnt nach, denn er konnte nicht klug daraus werden, ob man sich über ihn lustig machte oder nicht, und das ist ein Gefühl, das einen Dänen mehr irritiert als irgend etwas auf der Welt. Übrigens konnte er den Tag überhaupt nicht als einen Siegestag registrieren, wenn es ihm auch in der Bibliothek gelungen war, Lütjens in die Karten zu gucken.

Alle Forschungen nach einem Vanloo auf Sankt Helena waren ebenso resultatlos geblieben wie zuvor. Und wie stimmte das zu den kategorischen Mitteilungen der Firma Schüttelmann? Ebb fabulierte von einem Mysterium Vanloo. Es gab ein solches Mysterium, und Trepka hatte es eben mit Hilfe der Firma in der Behrenstraße zu lösen gesucht, aber es schien unlösbar zu sein und zu bleiben.

3

Das dritte Mitglied des Kriminalklubs sagte sich am selben Morgen nicht ohne Grund, daß er im Begriff sei, ins Hintertreffen zu geraten! Trepka lieferte negative Beiträge, indem er alle Theorien zu entkräften suchte, Lütjens positive durch Untersuchungen, deren Art er nur dunkel ahnte. Selbst hatte er seit seinem ersten Vorstoß gegen die Apotheke und die Kommunistenzentrale im Val du Carréi gar nichts unternommen. Doktor Durocs kategorisches Gutachten hatte seine Initiative total gelähmt.

Nun war jedoch eine neue Schreckensbotschaft aus der Villa Longwood gekommen. Und zu glauben, daß zwischen der ersten und der letzten Episode kein Zusammenhang bestand, widersprach allen Gesetzen der Logik wie der Wahrscheinlichkeit. Gab es also jemanden, der im Dunkeln operierte und schon zwei Ausfälle gemacht hatte, von denen der eine ganz, der andere beinahe geglückt war? Es hatte den Anschein – allen Doktorgutachten zum Trotz! Aber wer konnte das sein? Und was konnte man tun, um den Schuldigen zu entlarven?

Das fragte sich Ebb, und er glaubte auch bald eine Antwort aufdämmern zu sehen. An der Geschichte des Dozenten war ihm ein Detail aufgefallen: die Begegnung mit Jeannine! Sie war also an den Schauplatz des ersten Dramas zurückgekehrt, ganz wie es nach einem uralten Sprichwort der Verbrecher zu tun pflegt! Warum? Um ihrem verstorbenen Freund ein letztes Lebewohl zu sagen, glaubte der Dozent. Ebb teilte diesen Glauben nicht. Der Ton, in dem Jeannine von Arthur Vanloo sprach, hatte sehr wenig nach Schwärmerei geklungen: »Ein Familiensohn ohne Geld, der sich als Kommunist aufspielen möchte …« Andererseits waren sie ohne Zweifel sehr intim liiert gewesen, das ging daraus hervor, was ihre Kameraden angedeutet hatten. Man konnte sich ja sehr wohl denken, daß dieses Verhältnis von ihrer Seite aus Berechnung angeknüpft worden war, weil es ihr schmeichelte, einen Familiensohn zum Verehrer zu haben. Dann hatte sie herausgefunden, daß Arthurs Vergoldung nicht so solid war, wie sie erwartet haben mochte – das ging ja aus ihren eigenen Worten hervor – und sie hatte ihm bei ihrem letzten nächtlichen Besuch ihre Meinung gesagt! Aber was machte sie in der Villa, als der Dozent sie sah?

Eine Antwort ergab sich von selbst: sie suchte etwas, das sie vergessen hatte, etwas, das belastend wirken konnte, wenn es zu einer Untersuchung kam!

Ebb wußte, was er zu tun gedachte: Er gedachte Fräulein Jeannine einen neuerlichen Besuch abzustatten. Oberflächlich gesehen, konnte Allan verdächtiger erscheinen als sie. Er hatte sich am Morgen nach dem Tod des Bruders sehr eigentümlich benommen, und er hatte ein illegitimes Verhältnis, das sehr unbehagliche Konsequenzen herbeizuführen drohte. Aber nicht umsonst hatte Christian Ebb seit vielen Jahren Detektivromane gelesen. Er wußte, daß der Kompromittierteste meistens der Unschuldige ist, und darum beschloß er, Allan aus dem Spiel zu lassen und sich auf Jeannine zu konzentrieren.

Der Dichter fand das kommunistische Hauptquartier im Val du Carréi leer bis auf die eine Person, die er suchte. Die Stunde war noch zu früh, sowohl für das Boulespiel wie für gesellschaftsumstürzlerische Tätigkeit.

Jeannine begrüßte ihn mit einem Lächeln, neben dem der sauerste Landwein übersüß gewirkt hätte. Ebb strich seinen blonden Bocksschopf aus der Stirn, er lächelte mit allen seinen weißen Zähnen, nichts half!

»Sie wünschen, mein Herr?«

»Eine halbe Flasche moussierenden Wein – und zwei Gläser!«

»Erwarten Sie jemanden?«

»Nein, Fräulein Jeannine, ich dachte, daß Sie …«

»Das interessiert mich nicht!«

»Eine halbe Flasche und ein Glas!«

Sie servierte mit abgewandtem Antlitz. Ebb zog seine Zigarettentasche heraus.

»Vielleicht eine Zigarette, Fräulein Jeannine? Ich habe Caporal, Virginia und türkische Zigaretten, Oder wollen Sie lieber eine Havannazigarre, kann ich auch damit dienen.«

Sie starrte ihn sprachlos vor Staunen an.

»Glauben Sie, ich rauche Havannazigarren? Was meinen Sie? Was wollen Sie eigentlich?«

»Nur eine kleine Auskunft! Am vorigen Freitag fand man in einem gewissen Zimmer in der Villa Longwood die Stummel einer Caporal, einer Virginia und einer türkischen Zigarette. Außerdem lag ein toter Mann in dem Zimmer. Was rauchen Sie, Fräulein Jeannine? Virginia, Caporal, türkische Zigaretten oder Havanna?«

Sie hatte einen Schritt zurück gemacht. Die Pupillen in ihrem Katzengesicht sprühten förmlich Funken.

»Ah, ich verstehe! Sie …«

»Unter dem Fenster des erwähnten Zimmers fand ich zwei Fußabdrücke, die ich kopierte. Am selben Nachmittag machte ich meine erste Visite bei Ihnen. Sie waren so empört über mein unmanierliches Auftreten, daß Sie mit Ihrem entzückenden Fuß auf den Boden stampften. Ich erlaubte mir, den Fußabdruck als Andenken an meinen Besuch zu kopieren. Und wissen Sie, was ich fand, als ich ihn mit dem Abdruck unter Arthur Vanloos Fenster verglich? Daß sie beide zusammenpaßten wie Hand und Handschuh!«

»Sie …«

»Nennen Sie mich ganz wie Sie wollen, ich bin abgebrüht! Arthur Vanloo wurde gestern begraben. Vorgestern stattete ein Freund von mir einen Besuch in der Villa ab und sah dort etwas, das ihn frappierte. Er sah Sie in der Nähe der Wohnung des Verstorbenen herumschleichen. Was haben Sie dort gemacht?«

Sie war vor Wut so flammend heiß geworden, daß Ebb ihre Haut brennen zu fühlen glaubte. (Aber er war ja auch ein Dichter.) Er schnitt ihren Wortstrom in einer Weise ab, um die ihn Lord Peter (zumindest nach seiner eigenen Ansicht) hätte beneiden können. Er zog etwas aus der Tasche und sagte:

»Ich will Ihnen sagen, was Sie in der Villa gemacht haben. Sie haben etwas gesucht, das Sie dort vergessen hatten. Wäre das, was Sie suchten, nicht etwa – dies hier?«

Und mit einer dramatischen Geste präsentierte er die Papierfetzen, die er und Lütjens gefunden hatten, indem er gleichzeitig dafür Sorge trug, sie in so großer Entfernung zu halten, daß sie nicht dazu gelangen und sie vernichten konnte. Aber sie bezeigte auch keinerlei Lust zu einem solchen Vorgehen, sie starrte die Papierreste nur mit einem Ausdruck an, der von Mißtrauen langsam in ein anderes Gefühl überging, dessen Art Ebb zu deuten bemüht war. Staunen? Oder Unruhe? Unruhe, glaubte er.

»Ein Umschlagpapier?« murmelte sie endlich. »Pharmacie? Warum sollte ich nach einem Umschlagpapier aus einer Apotheke suchen? Was meinen Sie eigentlich, Sie …«

»Geben Sie mir alle Namen, die Sie nur wollen? Arthur Vanloo war an jenem Abend, an dem er starb, noch um elf Uhr ganz wohl und munter. Am nächsten Morgen fand ich Ihren Fußabdruck unter seinem Fenster. Finden Sie es nicht an der Zeit, daß wir gerade heraus sprechen?«

Sie lachte höhnisch, beinahe hysterisch auf.

»Er ist doch obduziert worden, bevor man ihn begraben hat, das weiß alle Welt!«

»Ja, aber heute nacht, in der Nacht nach seinem Begräbnis, hat sich wieder etwas in der Villa ereignet! Jemand hat sich in das Zimmer seiner Großmutter eingeschlichen und ein Schlafmittel in ihr Glas geschüttet – eine solche Dosis, daß sie beinahe nie wieder erwacht wäre! Was taten Sie im Park, als mein Freund Sie sah? Haben Sie das Terrain rekognosziert?«

Diesmal konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß Ebb eine Wirkung erzielt hatte. Die Worte, mit denen sie ihn bisher charakterisiert hatte, waren im Vergleich zu ihrem jetzigen Wortstrom noch elegant zu nennen.

»Das Terrain rekognosziert? Um das Zimmer der Alten zu finden und sie zu vergiften? Das meinen Sie, Sie …«

»Finden Sie nicht selbst, daß Ihre Schimpfnamen monoton zu werden beginnen? Ich habe den Herren von der Polizei Ihre Fußabdrücke noch nicht gezeigt! Verlassen Sie sich darauf, man wird sich dafür interessieren!«

»Warum hätte ich der Alten etwas eingeben sollen?«

»Weil sie ihrem Enkel verboten hat, mit Ihnen zu verkehren. Genügt das nicht als Motiv? Ich habe der Polizei auch noch nicht das Umschlagpapier aus der Apotheke gezeigt.«

»Zeigen Sie es, wem Sie wollen!« schrie sie, aber dabei blinzelte sie nervös, und diesmal war er nicht im Zweifel, daß es Unruhe war, die aus ihren Augen sprach. »Ich hab' keine Angst vor der Polizei. Ihr Umschlagpapier ist ein Dreck! Arthur ist obduziert worden, bevor man ihn begraben hat!«

»Ja, aber die alte Mistreß Vanloo hat Ihr Attentat überlebt! Ich will wissen, was an dem Abend, bevor Arthur starb, in der Villa vorgegangen ist! Hören Sie?«

»Fragen Sie doch die Herrschaften in der Villa!« hohnlachte sie. »Die werden es besser wissen als ich!«

Ebb sah seine Chance. Blitzschnell – allzu schnell, wie es sich zeigen sollte – schleuderte er seine nächste Frage hinaus:

»Wer von ihnen? Martin? Oder Allan? Oder der junge John?«

Sie hatte wieder geblinzelt, das stand außer aller Frage! Aber auf welchen der Namen hatte sie so reagiert? Das hatte er nicht konstatieren können. Es ist nicht so leicht, ein Verhör dritten Grades abzuhalten, wie die Leute glauben! Und nun war ihr Gesicht wiederum zu einer trotzigen Maske erstarrt.

»Zerbrechen Sie sich nur den Kopf! Wenn Sie wieder herkommen und ich ein paar Freunde in der Nähe habe, dann gnade Ihnen Gott!« Das Katzengesicht hatte sich zu ihm hinuntergebeugt, und die Stimme war zu einem Zischen herabgesunken.

Der Lehm des Bouledrome empfing einen neuen, bewunderungswürdig klaren Abdruck ihres Fußes. Der Dichter Ebb war über die Aufrichtigkeit ihrer Warnung nicht im unklaren. Ebensowenig bezweifelte er, daß er im Augenblick anderswo bessere Verwendung für seine Talente finden konnte. Er legte ein paar Geldstücke auf den Tisch, die sie keines Blickes würdigte, und verschwand so langsam, wie seine Selbstachtung es erforderte, zum Flußtal hinunter. Eines stand fest: sie wußte etwas. Und sie war ängstlich. Aber ängstigte sie sich ihrer selbst wegen, oder um einen anderen? Das ließ sich nicht feststellen. Wer von ihnen – Allan, Martin oder der junge John? Bei einem der Namen hatte sie geblinzelt. Aber bei welchem?

Das Umschlagpapier – das war jetzt seine beste Karte! Wenn es ihm gelang, dieses Rätsel zu lösen, hatte er einen tüchtigen Schritt in der rechten Richtung vorwärts gemacht. Er fischte die beiden Stücke heraus und begann sie zu vergleichen. Sie mußten zueinander gehören, wenn auch die Ränder nicht zusammenpaßten! LENC, PHARMAC, PO. Auf welche Weise ließen sich diese Fragmente zu einer vernünftigen Einheit zusammenfügen? Sollte er die Pharmacie Polonaise noch einmal aufsuchen und probieren, den Provisor auszuholen, der das vorige Mal ein Gesicht gemacht hatte, als ob er etwas sagen wollte? Mit visionärer Klarheit sah er den Verlauf voraus: die Apothekerin und ihre Töchter, die in keinen Skandal hineingezogen zu werden wünschten, würden den armen Mann mit allen erdenklichen Mitteln zum Schweigen zwingen. Sollte er die Sperrstunde abwarten, dem Provisor auflauern und ihn überfallen? Das wäre eine Möglichkeit. Aber wer bürgte ihm dafür, daß er nicht bei seinen Arbeitgeberinnen »en famille« wohnte? Oder daß er zu große Angst vor ihnen hatte, selbst in seiner Freizeit ein aufrichtiges Wort zu wagen?

Plötzlich schlug eine Idee wie ein Blitz in sein Hirn ein: Didot-Bottin! Warum war ihm dieser Name nicht früher eingefallen? Natürlich, Didot-Bottin würde ihm helfen können! So rasch seine Beine ihn tragen wollten, eilte er in die Stadt zurück. Beim ersten Kaffeehausfenster, das die Inschrift »Ici on consulte le Bottin« zeigte, trat er ein, bestellte sich etwas und ergriff einen der dicken Wälzer, die auf einem Tische lagen – Didot-Bottins in ganz Frankreich berühmten Adreßkalender.

Er hat zwei Abteilungen, ein Personenregister und ein Fachregister. Ebb stürzte sich auf das letztere. Er schlug die Abteilung »Pharmacies« auf und begann sie methodisch von A bis Z durchzugehen. Das war eine Sklavenarbeit, die ihn mehr als zwei Stunden kostete, und als er damit fertig war, stand er genau auf demselben Punkte wie vorher; er hatte nicht gefunden, was er suchte.

Eine Sache hatte ja ihn wie den Dozenten von Anfang an verblüfft, nämlich daß auf dem abgerissenen Etikett PO vor PHARMAC stand. Wenn PO der Anfang von POLONAISE gewesen wäre, was sie selbstverständlich angenommen hatten, hätte dies ja einen Verstoß gegen die Gesetze der französischen Sprache bedeutet: denn ein Adjektiv wie polonaise muß seinem Substantiv nachfolgen. Es ließe sich allerdings auch denken, daß Po ein Eigenname sein könnte … aber auch auf diesem Wege kam Ebb nicht weiter. Namen, die mit Po anfingen oder auch nur diese Silbe enthielten, schienen bei französischen Apothekern im höchsten Grade unbeliebt zu sein. Welche weiteren Möglichkeiten gab es da – hallo, hallo, daß ihm das nicht früher eingefallen war!

Sein Blick war in dem dicken Werk Didot-Bottins weitergeglitten, und was hatte er auf der nächsten Seite gefunden, wenn nicht eine Fortsetzung der Rubrik Pharmacies, genannt Produits Pharmaceutiques. Wieder leuchtete ihm die Hoffnung. Sollte sie abermals enttäuscht werden, dann wollte er Lord Peter nicht fernerhin ins Handwerk pfuschen. In diesem Fall würden die beiden Papierfetzen denselben Weg wandern wie so viele seiner Gedichte – hinunter in den Papierkorb – aha, was stand da schwarz auf weiß?

»Poulenc & Cie, Produits Pharmaceutiques. 19 Rue Calaincourt, Paris.«

Alles stimmte, alles nahm plötzlich seinen Platz ein, sowohl PO wie PHARMAC und LENC! Er hatte das Rätsel des Umschlagpapiers gelöst. Zum erstenmal hatten seine Forschungen ein greifbares Resultat ergeben! Jemand, den sein Weg in die Villa Longwood führte, war im Besitz von Apothekerwaren einer gewissen Firma in Paris gewesen. Jemand hatte den Umschlag dieser Waren weggeworfen. Was bewies das?

Erstens, daß dieser Jemand sich die Mühe genommen hatte, sich diese Waren aus Paris zu bestellen, anstatt sie direkt in Mentone zu kaufen. Zweitens, daß dieser Jemand sich die Mühe genommen hatte, die Spuren seines Einkaufs zu beseitigen, denn die Stelle, wo Ebb die Reste des Umschlagpapiers gefunden hatte, war so versteckt, daß sie nur durch einen reinen Zufall entdeckt werden konnte. Drittens …

Ebbs Hirn, das bei dem Gedanken an die Möglichkeiten, die sich auftaten, schon zu erglühen begonnen hatte, erkaltete plötzlich. Eine innere Summe hatte ihm etwas zugeflüstert: Firmen, die Apothekerwaren herstellen, pflegen sie nicht an jedweden zu verschicken, am allerwenigsten, wenn die Waren giftig sind – und schon gar nicht, wenn der Empfänger eine Person von Jeannines Lebensstellung ist … und ob jemand, »den sein Weg in die Villa Longwood führte«, sich etwa Waren verschafft hatte, die nicht giftig waren, interessierte Ebb in seiner Eigenschaft als Privatdetektiv nicht nennenswert.

Verflucht! Gerade wenn man auf dem besten Wege zu sein glaubte! Der Detektivberuf war doch ein trauriges Handwerk! Neunundneunzig Prozent Enttäuschungen und ein Prozent flüchtige Triumphe – so schien das Verhältnis zu sein, wenn seine bisherigen Erfahrungen etwas bewiesen!

Er klappte den Didot-Bottin zu, zahlte und ging. Er wußte, was er zu tun gedachte. Er gedachte zur Villa hinaufzugehen, unter anderem auch, um sich nach dem Befinden der alten Dame zu erkundigen. Das tat er und stieß dabei auf denselben Bedienten wie das vorige Mal. Er erfuhr, daß Mrs. Vanloo sich seit dem Morgen ganz erstaunlich aufgerappelt hatte. Der Doktor hatte eine Krankenschwester kommen lassen, aber die hatte sie mit dem Bescheid zurückgeschickt, daß eine alte Frau, die ihren eigenen Mann, ihre eigenen Kinder und ihre drei Enkel gepflegt hatte, genug von Krankenpflege verstehe, um sich allein zu behelfen, selbst wenn sie eine Dosis Schlafpulver geschluckt hatte. Die Kammerjungfer sollte im Nebenzimmer schlafen, das war alles, worauf sie sich einlassen wollte, und damit hatte sich der Doktor zufrieden geben müssen.

»Ich hoffe, die Kammerjungfer hält auch Ausschau nach ungebetenen Gästen«, sagte Ebb. »Da sie eine Visite gemacht haben, ist es ja nicht gesagt, daß sie nicht wiederkommen!«

Der alte Bediente zuckte zusammen. »Man weiß so wenig – man weiß ja nichts«, murmelte er. »Das Ganze ist so unbegreiflich. Niemand hat heute nacht das geringste gehört!«

»Gäste, die mit Veronal aufwarten, pflegen keinen unnötigen Lärm zu machen«, bemerkte Ebb. »Die Eingangstür zu Mistreß Vanloos Wohnung war doch wenigstens versperrt?«

»Das war sie – das war sie«, versicherte der Alte. »Die ist immer zugesperrt. Ich sperre sie selbst jeden Abend zu. Die jungen Herren haben ja ihre Zimmer im anderen Trakt.«

Und da, dachte Ebb, sind die Türen nachts nicht versperrt – wenigstens die Tür des seligen Arthur bekanntlich nicht. In den Flügeln kann jeder, der das Terrain kennt, hinein. Und wenn man einmal da ist …

»Wie ist es mit den Türen zwischen Mistreß Vanloos Wohnung und dem Flügel?« fragte er abrupt. »Sperren Sie sie zu?«

»Ja, freilich, das mache ich … das mache ich«, versicherte der Bediente. Aber seine rot geränderten Augenlider waren erzittert, und Ebb war keineswegs überzeugt, daß er die Wahrheit sprach. Er ließ für Mrs. Vanloo Visitenkarten zurück, die die Teilnahme des skandinavischen Kriminalklubs zum Ausdruck brachten, und ging.

Das Feld war noch immer für Hypothesen frei. Aber es ließ sich nicht leugnen, daß die Möglichkeiten immer mehr und mehr zusammenschrumpften. Wer den Besuch im Zimmer der alten Dame abgestattet hatte, mußte sicherlich durch den Trakt der Enkel hereingekommen sein. Jeannine fand den Weg hin, das wußte man …

Er fuhr mitten in seinem Gedankengang auf. Blaue Schatten hatten sich auf die Stämme der Parkbäume herabzusenken begonnen. Aber dazwischen glaubte er eine menschliche Gestalt aufschimmern zu sehen. War das Jeannine? Er schlich, so lautlos er konnte, näher heran.

Es war nicht Jeannine, es war Martin Vanloo. Und der Anblick dessen, was er da trieb, erfüllte Ebb mit solchem Staunen, daß er das Mädchen mit dem Katzengesicht völlig vergaß. Martin hatte die Jacke abgeworfen und sie auf einen Steintisch gelegt, der im Schatten einer Palme stand. Er befestigte irgendein Ding in der Achselhöhle, zog die Jacke wieder an und begann nun eine Serie wunderlicher Manöver zu vollführen. Einmal ums andere legte er den einen oder anderen Gegenstand auf den Steintisch, strich mit der Hand darüber und ließ ihn in den Rockärmel hinauf verschwinden. Stand er da und übte sich in Zauberkunststücken? Es sah ganz danach aus. Aber warum geschah dies in einer dunklen Ecke des Parks? Auf diese Frage schien es nur eine Antwort zu geben: weil es im Hause nicht angezeigt war! Und warum war es nicht angezeigt? Darauf ließen sich mehrere Antworten denken, doch kaum eine, die vorteilhaft für Martin gewesen wäre. Ebb hatte eine plötzliche Vision seines ersten Besuchs in der Villa: Martin stand vor dem rollenden Bartisch, er kredenzte Drinks nach rechts und links, und die Drinks schienen aus dem Nichts geboren zu werden, so geschickt jonglierte er mit den buntfarbigen Flaschen auf den Glasplatten … Und am nächsten Morgen war sein Bruder Arthur, der ihn durch sein politisches Wirken irritiert hatte, dahin …

Gewäsch! Verrückte Phantastereien! rief er sich zu. Die alte Mrs. Vanloo trinkt jedenfalls keine Cocktails. Er unterbrach sich. Wenn Mrs. Vanloo keine Cocktails trank, so trank sie doch Orangeade … und war es ganz sicher, daß die Tür zwischen ihrer Wohnung und dem Flügel am vorigen Abend versperrt gewesen war?

Martin hatte seine Seance beendet und begann zur Villa hinaufzugehen. Ebb trat aus seiner Seitenallee heraus.

»Hallo, Martin«, rief er. »Ich war gerade oben, um mich nach dem Befinden Ihrer Großmutter zu erkundigen. Es scheint ihr gottlob gut zu gehen – sie wehrt sich sogar gegen eine Krankenpflegerin! Sie müssen gut aufpassen, daß nicht noch weitere ungebetene Gäste bei Nacht erscheinen!«

Martin fuhr zusammen, als hätte er ein Gespenst gesehen.

»Hallo, Ebb«, sagte er endlich. »Komme gerade aus Nizza – hatte dort geschäftlich zu tun. Wehrt sich gegen eine Krankenpflegerin? Sehr – hm – unvernünftig! Aber seien Sie ganz ruhig, wir werden schon gut aufpassen! ›Was birgt die Nacht für uns in ihrem dunklen Schoße!‹ Ich rede Blödsinn. Sie haben mich faktisch erschreckt, ich hatte Sie gar nicht kommen gehört! Adieu – auf Wiedersehen bei Titine!«

Damit war er verschwunden.

4

Die folgenden Tage vergingen in völliger Stille. Ebb sah seine Kollegen vom Kriminalklub wenig oder gar nicht; selbst verbrachte er die Zeit damit, sich verschiedene Hypothesen über das, was sich in der Villa Longwood zugetragen hatte, auszuklügeln. Er stellte eine nach der anderen auf, nur um sie wieder zu verwerfen. Die Hauptperson – oder vielleicht richtiger das Hauptmotiv – war beständig Jeannine. Arthur und sie hatten eine zärtliche Beziehung gehabt. Arthur ist erkaltet, und Jeannine, eine rote Carmen, findet sich nicht darein, ohne weiteres verabschiedet zu werden, wie eine »Bourgeoise«, deren man überdrüssig geworden ist. Sie rächt sich. Oder: die alte Mistreß Vanloo hat ihr Verhältnis mit Arthur verboten, Arthur fügt sich diesem Verbot als der gute Bürger, der er im tiefsten Innern ist (»ein Familiensohn ohne Geld, der sich als Kommunist aufspielen möchte«), sie rächt sich an ihm, und da ihr das nicht genug ist, versucht sie auch noch Rache an Mistreß Vanloo zu nehmen … aber während Ebb diese Theorien aufbaute, beharrte ein Kurzfilm hartnäckig darauf, sich auf seiner Netzhaut abzurollen: Martin, vor dem Steintisch im Park Zauberkunststücke machend … was hatte das zu bedeuten? Was in aller Welt hatte das zu bedeuten?

Während sich der Dichter Ebb auf solche Weise die Zeit vertrieb, konnte man Bankdirektor Trepka in rasendem Tempo vor seinem Hotel auf und ab rennen sehen, wenn er nicht gerade, tief in einen Fauteuil versunken, in der Hotelhalle vor einem eisgekühlten Whisky saß. In beiden Fällen war er von ein und derselben Sache in Anspruch genommen: er wartete auf ein Telefongespräch mit Berlin, das ewig nicht kam! Es widersprach seinen Prinzipien, wichtige Gespräche an einem Apparat zu führen, von dem man alles, was gesagt wurde, abhorchen konnte. Aber die Bequemlichkeiten der Telefonzentrale von Mentone waren wirklich allzu primitiv. Und dabei hatte man keine Ahnung, wann dieses Gespräch kommen würde! Auf alle Fragen danach hatte die Firma Schüttelmann in der Behrenstraße eine einzige Antwort: »Baldmöglichst«. Baldmöglichst! Haha! War das besser als das berühmte »mañana« der Spanier? So weit Bankdirektor Otto Trepka sehen konnte, nein! Und darum wanderte er wutschnaubend vor der Hotelfassade auf und ab, wenn er sich nicht voll Raserei in einen der Klubsessel der Halle warf, um auf dieses immer und ewig ausbleibende Telefongespräch zu warten, das – so hoffte er – endlich ein bestimmtes Problem lösen sollte: das Problem, wie eine Familie, die nachweisbar nie existiert hatte, plötzlich aus der Nacht der Weltgeschichte auftauchen kann, noch dazu mit einem Vermögen, das gleichfalls aus dem Nichts zu kommen scheint!

Von seinen Kollegen im Kriminalklub sah der Bankdirektor nichts. Vermutlich, dachte er mit einem neuerlichen Fauchen, sitzen sie daheim und konstruieren neue Detektivromantheorien, wenn sie nicht weggeworfenen Umschlagpapieren und Fußstapfen nachlaufen! Doktor Durocs Obduktion und Gutachten zum Trotz! Allerdings hatte sich später noch etwas ereignet, die alte Dame hatte ein unangenehmes Erlebnis gehabt. Aber zu glauben, daß da andere als rein natürliche Erklärungsgründe mitspielen sollten, war ja einfach lächerlich! Sie hatte natürlich selbst ein Schlafpulver genommen und, wie so viele vor und nach ihr, zuviel genommen. Das war das Ganze. Selbstredend!

Mitten auf seinen rastlosen Wanderungen vor dem Hotel und in der Halle erlebte der Direktor eines schönen Tages einen Schock. Jemand in seiner Nähe – ein Speisesaalkellner – ließ eine Bemerkung zu einem anderen – einem der Unterportiers – fallen, und Trepkas Ohr fing diese Bemerkung auf, sein Hirn registrierte sie, aber es dauerte noch mehrere Minuten, bis ihre volle Bedeutung ihm aufging. Er eilte dem Kellner nach, wiederholte die Bemerkung und fragte, ob er recht gehört habe. Wie es sich zeigte, hatte er recht gehört. Daraufhin wurde er so nachdenklich, daß der Kellner ihn durch ein diskretes Husten an seine Existenz erinnerte. Trepka steckte die Hand in die Tasche, fischte eine Silbermünze heraus, überreichte sie dem Manne und ließ sich dann in einen Sessel sinken, um weiterzugrübeln. Er trank den eisgekühlten Whisky, der noch immer neben seinem Platz wartete, und fuhr fort zu grübeln.

Das Resultat dieser Grübeleien ließ sich so zusammenfassen: wenn der Kellner recht hatte, und wenn man sich für einen Augenblick auf solch luftige Theorien einlassen sollte wie Ebb und Lütjens, bestand wohl kaum ein Zweifel, wer in der Villa Longwood das nächste Opfer sein würde – oder wer hinter den vorangegangenen Attacken steckte.

Während der Bankdirektor sich auf diese Weise die Zeit vertrieb, hatte der Dozent dessen vorherige Beschäftigung übernommen; er saß, über ganze Berge von Büchern gebeugt, in der Bibliothek in Nizza, und die Bibliotheksbeamten, die nicht umhin konnten, die Art seiner Lektüre zu beobachten, fragten sich unwillkürlich nach der Ursache dieses plötzlich erwachten Interesses der Nordländer für Napoleon und Sankt Helena. Zuerst hatten sie einen gewissen Bankdirektor aus Kopenhagen da gehabt, der alles bestellte, was sie an derartiger Literatur vorrätig hatten. Nun kommt ein Herr aus Schweden, der sich vom Morgen bis zum Abend hinein vertieft! Und wohlgemerkt: er ist Dozent der Religionsgeschichte und hat auch zuerst Bücher aus diesem Stoffgebiet studiert, nur um sich dann ganz plötzlich einem beinahe diametral entgegengesetzten Interesse hinzugeben! Seltsam!

Ja, obwohl der Dozent bisher eine recht gründliche Kenntnis der Geschichte Napoleons zu besitzen glaubte, hatte er sich wiederum auf die Schulbank gesetzt, und der Anlaß hierzu waren ein paar Zeilen in Trepkas Bänden, auf die zufällig sein Blick gefallen war. Aber je weiter er las, desto lebhafter wurde sein Interesse für den Gegenstand, dem er sich zugewendet hatte. Schließlich verschlang er die Bücher.

Was konnte es auch Seltsameres geben als diesen gefallenen Weltherrscher, so wie er sich im Lichte der Schilderungen seiner Begleiter darstellte? Er ist abergläubisch: als alles in Frankreich verloren ist, schwankt er lange, ob er mit einem dänischen oder einem amerikanischen Fahrzeug, die ihm beide zur Verfügung stehen, nach Amerika flüchten soll; mitten in der Debatte fliegt ein Vogel zu seinem Fenster herein, wird in Freiheit gesetzt und fliegt davon – nach rechts, in die Richtung, in der der englische Kreuzer »Bellerophon« liegt. »Die Auguren haben gesprochen«, sagt der Kaiser und überliefert sich freiwillig den Engländern. Er ist farbenblind – als es darauf ankommt, zeigt es sich, daß er Grün und Blau nicht unterscheiden kann.

Er ist unerhört geschwätzig; manchmal kann er bis drei Uhr morgens seinem halbtoten, aber ehrfurchtsvoll lauschenden Gefolge von sich selbst und seiner Karriere erzählen. Er spielt gerne Whist oder auch Schach, aber er kann es nicht lassen, zu mogeln; gewinnt er, streicht er befriedigt den Gewinn ein; wird der Kniff entdeckt, gerät er vor Wut außer sich und verläßt den Spieltisch. Tage und Nächte lang diktiert er, bald Memoiren, bald Eingaben, oft liegen nach diesen Diktaten solche Stöße Papier da, daß das Gefolge, das sich nicht gerade darum reißt, sie ins reine zu schreiben, sie von den chinesischen Dienern im Garten vergraben läßt …

Und er langweilt sich, er langweilt sich tödlich. Die Tage, die Jahre gehen damit hin, Zukunftspläne zu schmieden – Pläne, nach Frankreich zurückzukehren, nach Amerika zu fliehen, von der englischen Regierung die Freilassung zu erwirken. Glaubt er selbst an diese Pläne? Kaum ernstlich, sie sind nur ein Mittel, die Zeit totzuschlagen. Was er von der Zukunft erhofft, ist eine Rehabilitierung und ein Reich für seinen Sohn. Aber er weiß (wenn er es auch nicht wissen will), daß diese beiden Ziele gleich schwer zu erreichen sind.

Was denkt er von seiner Umgebung, diesen Männern, die ihm freiwillig über den Ozean gefolgt sind und durch so viele Jahre seine Gefangenschaft teilen? Imponiert ihm diese Treue? Ist er überzeugt von der Echtheit ihrer Gefühle? Weit gefehlt! Dazu hat er zu viele Beweise dafür, daß sie das Ideale mit dem ökonomischen zu kombinieren verstehen. Alle haben sie Kontrakte über nicht zu verachtende Monatsgagen. Montholon beispielsweise bezieht 2000 Francs monatlich – im Hinblick auf den damaligen Geldwert ein respektabler Betrag. Alle sind sie auf der Ausschau nach einer Möglichkeit, noch mehr verdienen zu können. Einige wünschen Geschenke, andere, in seinem Testament bedacht zu werden. Gewährt er einem von ihnen eine Gunst, kommt es von seiten der anderen zu wilden Eifersuchtsszenen … und alle, das weiß er, registrieren jedes Wort, das er sagt, um später, nach seiner Befreiung oder seinem Tode, Kapital daraus zu schlagen. »Man kann nicht mehr reden, ohne daß die Federn in Gang kommen«, sagt er von ihnen. Und ein andermal ruft er, außer sich vor Wut über irgendeinen Beweis entlarvter Eigennützigkeit: »Es gibt nur einen Bonapartisten auf Sankt Helena, und das bin ich! Ihr seid eine Gesellschaft von verdammten Royalisten und denkt nur daran, euch Louis dem Achtzehnten zu verkaufen!«

Aber macht er denn keinen Versuch, mit seinen Getreuen daheim in Europa in Verbindung zu treten? Doch, verschiedentlich sind solche Versuche aufgezeichnet, und noch andere werden vermutet. Kein Wunder, daß der Gouverneur Hudson Lowe in der ewigen Unruhe herumgeht, seinen illustren Gefangenen entkommen zu sehen, wie es in Elba geschah. Eines schönen Tages geht in Longwood das Gerücht um, daß General Gourgaud, der Heißblütigste des Gefolges, sich mit dem Kaiser überworfen hat und heimreisen will. Er erhält ohne besondere Schwierigkeit die Erlaubnis dazu, da Lowe die Geschichte seines Zerwürfnisses mit Napoleon glaubt. Aber kaum ist er in Europa angelangt, als er mitgebrachte Aktenstücke publiziert, die derartiges Aufsehen erregen, daß er schleunigst in ein neutrales Land flüchten muß. Ein andermal läßt Lowe den irländischen Leibarzt des Kaisers, O'Meara, abreisen: dieselbe Geschichte wiederholt sich. Meara ist noch nicht recht in England gelandet, als er schon durch seine »Enthüllungen« aus Sankt Helena Sensation erregt … Und dann haben wir Santini, Korse wie der Kaiser, und diesem so blind ergeben, daß er tagelang in den Wäldern von Sankt Helena mit dem Gewehr in der Hand lauert, um den Gouverneur mit einem Schuß niederzustrecken – ein Freundschaftsdienst, den sich Napoleon, sowie er davon hört, sofort verbittet! Auch er reist ab, aber in besonderer Art. Er hat eine auf Seide geschriebene Geheimbotschaft in die Weste eingenäht. »Mit deinem Schafsgesicht wird es dir glücken«, sagt der Kaiser beim Abschied. Englische Patrouillenboote bringen Santini bis nach Kapstadt, um ihn kontrollieren zu lassen, aber er kommt unversehrt durch die Kontrolle, gelangt nach England und liefert die Botschaft ab, die einen förmlichen Meinungssturm in Europa entfesselt. Dann ist es aber vorbei. Von diesem Tage an kann niemand Sankt Helena verlassen, ohne daß er selbst und sein Gepäck durch und durch untersucht worden ist. Von diesem Tage an geht kein Brief von der Insel ab, ohne geöffnet und kontrolliert zu werden. Die Kosten der Hofhaltung in Longwood sind schon lange ein Zankapfel zwischen Hudson Lowe und Marschall Bertrand gewesen. Aber als dieser das Anerbieten macht, alles aus den eigenen Mitteln des Gefangenen zu bestreiten, wenn dieser versiegelte Briefe an seine Verbindungen in Europa schreiben darf, lehnt Hudson Lowe eiskalt diesen Vorschlag ab.

5

Bankdirektor Otto Trepka saß wie gewöhnlich in der Hotelhalle, als er das schwedische Mitglied des Kriminalklubs zur Tür hereinkommen sah. Die Augen des Dozenten hatten einen Ausdruck, halb Grübelei, halb Ironie, der alle schlummernden bösen Instinkte seines dänischen Kollegen zum Leben erweckte.

»Wo stecken Sie denn jetzt immer?« fragte Trepka unverblümt. »Studieren Sie noch weiter in Nizza?«

»Noch weiter? Welchen Anlaß haben Sie, zu glauben, daß ich überhaupt in Nizza studiere?«

Trepka lachte höhnisch.

»Ich habe Sie mit eigenen Augen in der Bibliothek gesehen. Und man sage, was man will, das Zeugnis der eigenen Augen ist auf die Dauer doch das beste – und wenn man noch so spitzfindige Theorien hat! Aber das wollen vermutlich weder Sie noch Ebb zugeben!«

»Im Gegenteil«, sagte Lütjens wohlwollend, »in diesem Punkte sind wir ganz einig. Aber es handelt sich nicht nur darum, zu sehen, es handelt sich auch darum, zu wissen, was man sieht. Und über diesen Punkt können wir uns schwer verständigen, lieber Trepka!«

Der Bankmann schnob vernehmlich.

»Kann sein. Auf alle Fälle weiß ich, daß Sie irgendeine Lücke in Ihrem Wissen über die Begräbnisgebräuche der Völker entdeckt haben müssen, da Sie gerade diese Materie in der Bibliothek studieren! Ich dachte, Sie beherrschten sie vollständig!«

»Die höchste Weisheit besteht darin, zu wissen, daß man nichts weiß. Haben Sie das nie gehört?«

Wieder schnob der Bankmann.

»Sie haben vielleicht an der Riviera einen interessanten Fund gemacht, der katalogisiert werden soll?« erkundigte er sich ironisch.

Lütjens antwortete nicht.

»Ich kann Ihnen eine Neuigkeit mitteilen, die ich gerade heute von einem Speisesaalkellner hier im Hotel gehört habe«, fuhr Trepka fort, indem er die Angriffsmethode wechselte. »Der Mann der schönen Madame Delarue soll heute früh ein Scheidungsansuchen eingebracht haben. Es wird ihm kaum bewilligt werden, ohne daß Allan Vanloo in Mitleidenschaft gezogen wird! Sie begreifen, was das bedeutet!«

»Nein. Was bedeutet es?«

»Daß der nächste Todesfall in der Villa Longwood so sicher kommt wie das Amen im Gebet. Oder wie? Ist das nicht die notwendige Folgerung aus Ihren und Ebbs Prämissen?«

»Notwendig nicht«, berichtigte Lütjens gelassen. »Nur sehr wahrscheinlich.«

»Hahaha, ah, hahaha!« lachte der Bankdirektor hellauf und krümmte sich in seinem Sessel, so daß er fast das Whiskyglas umgestoßen hätte. »Sie sind doch unverbesserlich! Ja! In diesem Fall braucht man sich ja nicht den Kopf zu zerbrechen, wer das Opfer sein wird! Entweder Martin oder die Großmutter! Oder beide auf einmal! Nicht wahr? Denn, daß es Allan ist, den Sie und Ebb …«

»Monsieur Trepka zum Telefon! Berlin ruft!« kreischte eine hohe Pikkolostimme dem Bankdirektor ins Ohr, und wie von der Tarantel gestochen, sprang dieser aus dem Sessel auf und stürzte in die Telefonzelle. Ein Blatt Papier, mit Notizen bekritzelt, war neben seinem Whiskyglas auf dem Tisch liegengeblieben. Im Hinblick auf die Enthüllungen, die der Bankdirektor eben über seine Spionage gemacht hatte, hielt Lütjens sich für berechtigt, einen Blick darauf zu werfen. Zumeist waren es unleserliche Abkürzungen, aber zuoberst stand: »Vanloo, 1. M. l. Derbyrennen 1826, sp. ausschl. Frankreich (Mentone). Name d. ersten Inh. Juan V.«

Der Dozent glaubte die Rückkehr des dänischen Kriminalisten – die sich übrigens hinauszuziehen schien – nicht abwarten zu müssen. Diskret verließ er die Hotelhalle. Am nächsten Tag dauerten seine Studien in Nizza sehr lange, denn sie erstreckten sich von der Bibliothek auf das historische Archiv der Stadt Nizza, ja sie dauerten so lange, daß er es vorzog, in einem Hotel zu übernachten. Als er am nächsten Morgen nach Mentone kam, fand er zu seinem Erstaunen den Dichter Ebb vor dem Hotel, in dem er wohnte, auf und ab patrouillierend. Der norwegische Poet sah so seltsam aus, daß es Lütjens kalt über den Rücken lief.

»Was ist denn los?« fragte er. »Haben Sie irgendwelche Neuigkeiten?«

»Sie waren gestern fort«, sagte Ebb. »Wenn ich Trepka richtig verstanden habe, sitzen Sie jetzt tagaus, tagein in der Bibliothek in Nizza und studieren Ihr eigenes Fach. Das ist schade. Sechs Augen sehen mehr als vier – namentlich wenn zwei von den vier nicht sehen wollen!«

»Sie sprechen in Rätseln, lieber Freund. Was meinen Sie?«

»Dies«, antwortete der Dichter. »Gestern nachmittag kam eine Einladung von der alten Mistreß Vanloo. Sie dankte uns für unsere Teilnahme an ihrer ›Krankheit‹ – ich entnahm daraus, daß wir alle drei Blumen geschickt haben, und bat uns, um sechs Uhr zu erscheinen. Trepka und ich ließen Ihnen die Botschaft zurück, uns nachzukommen, und fuhren hin.«

»Ihr Brief liegt natürlich beim Portier und wartet auf mich«, sagte Lütjens. »Ich war gezwungen, über Nacht in Nizza zu bleiben. Nun, wie befindet sich die alte Dame?«

»Sie war noch immer etwas matt, aber im übrigen ganz wohl«, erwiderte Ebb. »Wir verbrachten einen sehr angenehmen Abend. Allan Vanloo begleitete Trepka und mich noch ein Stück, als wir um halb elf Uhr fortgingen. Und heute morgen fand man ihn tot in seinem Zimmer auf.«


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