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Zweites Kapitel.
Drei Herren – Jeder auf seinem Pulverfaß

Christian Ebb wartete mit gekreuzten Armen hinter dem Schreibtisch.

Zwei Besucher waren eben von Geneviève eingelassen worden – zwei Herren, die noch halb gelähmt von der fauchenden grönländischen Begrüßung zu sein schienen, mit der sie sie im Vorzimmer empfangen hatte.

»Mit wem habe ick det Verjniejen?« Diese Stimme aus diesem Munde, dieser Dialekt unter diesem Haarbusch hätte genügt, um den Beherztesten zu erschüttern. Dann wurde ihnen eine Tür aufgetan, und sie traten in ein Zimmer, mit Waffen an den Wänden. Hinter dem Schreibtisch erwartete sie der Herr des Hauses. Sie staunten über sein jugendliches Aussehen. Was Christian Ebb sah, waren zwei ungewöhnlich sympathische Gäste. Der eine war sehr hochgewachsen, sehr breitschulterig und hatte ein helles, offenes Gesicht mit lächelnden braunen Augen unter grau gesprenkeltem Haar, der andere war von kleiner Statur, rundlich und hatte den vollendetsten Amormund in seinem glattrasierten Gesicht. Ein solcher Mund wirkt ja bei einem Manne in der Regel nicht sehr sympathisch, aber zu diesem flachsblonden Haar und diesen porzellanblauen Augen, diesen rosigen Wangen wirkte er ausgesprochen anziehend. Christian Ebb mußte sich sehr anstrengen, um seiner Stimme einen genügend kalten Klang zu geben.

»Herr Bankdirektor Trepka aus Kopenhagen?«

Der Mann mit dem Amorettenmund lächelte und neigte den Kopf.

»Herr Dozent Lütjens aus Lund?«

Der Mann mit den braunen Augen verbeugte sich artig.

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, meine Herren – Ihre persönliche Bekanntschaft! Bisher sind wir uns ja nur in den Zeitungsspalten begegnet, und ich kann nicht behaupten, daß ich von dieser Introduktion besonders erbaut war. Als ich gestern zwei Telegramme bekam und unter dem einen Ihren Namen sah, Herr Doktor Lütjens …«

»Da dachten Sie an das Tranefoßgrab«, sagte der Mann mit den braunen Augen.

»Da dachte ich an das Tranefoßgrab!« pflichtete der Dichter Ebb mit donnernder Stimme bei. »Das Tranefoßgrab ist vielleicht unser ältestes und stolzestes Nationalmonument, ein unvergleichliches Denkmal der Größe unserer Vergangenheit. Es liegt auf einer Anhöhe, von der seine vier gewaltigen Steinblöcke über Land und Meer hinausschauen. Sie, Herr Doktor Lütjens, erklären diese Steinblöcke, indem Sie Ihre eigene Theorie der megalithischen Gräber zitieren. Sie sagten, wenn man solche Dolmen aus Stein baue, so tue man dies, weil man zu allen Zeiten geglaubt hat, daß Stein die Toten gegen böse Mächte schützt, die im Jenseits auf sie lauern …«

»Und ich halte auch weiterhin an dieser Theorie fest.«

»Und was die Lage betrifft, behaupten Sie, daß, wenn das Grab auf eine Bergeshöhe verlegt wurde, dies deshalb geschah, weil man der Ansicht war, daß Anhöhen eine kräftige antidämonische Wirkung haben.«

»Eine Auffassung, die sich immer mehr und mehr durchzusetzen beginnt, wenn ich mir selbst erlauben darf, dies zu sagen.«

»Das ist mir ganz gleichgültig!« rief der Dichter. »Sehen Sie denn nicht ein, was Sie da tun? Sie arbeiten daran, der Menschheit in ganz zweckloser Weise das letzte Restchen Poesie zu rauben, das sie noch übrig hat! Denn was bedeutet heutzutage eine wissenschaftliche Theorie? Gibt es überhaupt irgendeine Theorie, die mehr als zwanzig Jahre alt wird? Aber wenn ich das Ihnen sage, Herr Doktor Lütjens, ist es mindestens ebensosehr an den Herrn gerichtet, der sich in Ihrer Gesellschaft befindet, Herrn Trepka.«

Der Mann mit dem Amorettenmund lächelte wiederum. »Das begreife ich«, gab er zu. »Sie haben unseren kleinen Disput im Wochenjournal nicht vergessen?«

»Unseren kleinen Disput!« rief der Dichter, dessen blaue Augen Blitze schossen. »Soviel ich weiß, war das Ende, daß wir uns gegenseitig Ignoranten und Jesuiten titulierten!«

»Allerdings«, räumte der Bankdirektor lächelnd ein. »Oder zumindest titulierten Sie mich so.«

»In Ihren Artikeln«, donnerte Ebb, »suchten Sie zu beweisen, daß Napoleon, das größte Genie, das je gelebt hat, im Grunde nichts anderes gewesen sei als ein Gaukler im großen Stil, auf den Chicago stolz sein könnte, ein Al Capone oder …«

»Verzeihung«, unterbrach der Bankdirektor mit einer lächelnden Höflichkeit, die beinahe morgenländisch wirkte, »das habe ich nie gesagt. Was ich schrieb und was Sie leider mißverstanden zu haben scheinen, verehrter Dichter, war, daß ich den größten Respekt vor Napoleon – oder lassen Sie uns lieber Bonaparte sagen – empfinde – bis zu einer gewissen Zeit. Der Mann, der der Schreckensherrschaft in Frankreich ein Ende machte und einen fortgesetzten roten Terror jener Art, von der wir in unseren Tagen Beispiele gesehen haben, verhinderte, für diesen Mann empfinde ich nur unumschränkte Bewunderung. Der Mann, der aus dem Chaos einen neuen Staat erbaute, hat meine noch größere Bewunderung. Aber wenn wir über einen gewissen Punkt in seinem Leben hinauskommen, dann stehen wir, so scheint es mir, einem völlig neuen Menschen gegenüber, einem Großspekulanten in Kriegen, einem Jobber vom selben Typ wie ein Gould, ein Vanderbilt, ein …«

»Das sagen Sie!« rief Ebb. »Und doch brauche ich nur ein einziges Wort auszusprechen, um alle Ihre Behauptungen zunichte zu machen, so daß Sie beschämt die Augen niederschlagen.«

»Und dieses Wort wäre?« erkundigte sich der Bankfachmann, noch immer mit demselben verbindlichen Lächeln um die zärtlich geschwungenen Lippen.

»Das Wort«, sagte Christian Ebb dumpf, »ist: Sankt Helena!«

Seine Stimme wirkte so suggestiv, daß es war, als glitte ein Schatten durch das Gemach. Weder der Dozent noch der Geldmagnat, die doch aus diametral entgegengesetzten Welten kamen, konnten sich eines leisen Schauers erwehren. Vor beider Augen tauchte wie eine Vision eine zerklüftete Felseninsel auf. Steil erhob sie sich aus den unermeßlichen blauen Tiefen des Ozeans, Hunderte von Meilen von der nächsten Küste entfernt, sturmumbraust, nebelverhüllt und dazu ausersehen, die letzte Heimstatt des größten Unruhestifters zu sein, den die Welt je geschaut …

Der Bankdirektor war es, der das Schweigen brach. »Sie schleudern schöne Worte heraus, lieber Meister, und ich will nicht leugnen, daß Sie es in sehr wirkungsvoller Weise tun. Aber das hindert nicht, daß ich an meiner Ansicht festhalte: die Legende von Sankt Helena ist und bleibt eine Legende! Und eines Tages hoffe ich sie zu zertrümmern.«

»Sie hoffen nicht allzu bescheiden!« höhnte Christian Ebb.

»Ich hoffe, beweisen zu können«, fuhr Trepka unbeirrt fort, »was die Wahrheit an dem sogenannten Martyrium von Sankt Helena ist! Hätte Napoleon sich nach England flüchten können, wie er die englische Regierung nach Waterloo flehentlich bat, wäre er im selben Augenblick von allen außer den Kriegshistorikern vergessen worden. Nun waren aber die Engländer so töricht, ihn auf eine Insel im Atlantischen Ozean zu schicken, anstatt ihn sein Leben als Gutsbesitzer in Sussex oder Warwickshire beschließen zu lassen. Was geschah? Mit jenem taktischen Blick, der seine Größe war, verstand Napoleon es sofort, ihren Fehlgriff zu seinem Vorteil zu fruktifizieren. In ein paar Jahren war es ihm gelungen, den Mythus vom gefesselten Prometheus zu schaffen – einen Mythus, der dann von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wurde. Niemand hat noch erkannt, was die Wahrheit ist – nämlich, daß Napoleon, abgesehen davon, daß er der größte Feldherr der Welt war, auch der größte Theaterregisseur aller Zeiten gewesen ist! Hätte er heute gelebt, Hollywood würde ihm Riesenhonorare bezahlt haben!«

»Ausgezeichnet!« rief der Dichter. »Der gefesselte Prometheus hatte zu Lebzeiten einen Geier, der ihm die Leber aushackte, nämlich Hudson Lowe. Hundert Jahre nach seinem Tode ersteht ihm ein neuer, nämlich Herr Otto Trepka aus Kopenhagen!«

»Meine Herren«, bat eine flehende Stimme, »meine Herren!«

Der Dichter Ebb stürzte sich mit blitzenden Augen auf den Dozenten.

»Herr Doktor Lütjens! Es ist nicht schwer, zu verstehen, warum Sie sich in die Diskussion mischen! Ihr König Gustav Adolf der Vierte erklärte Napoleon für das siebenköpfige Tier der Apokalypse, und Ihr König Karl Johann der Vierzehnte fiel ihm bei Leipzig in den Rücken.«

Der Bankdirektor sah auf die Uhr.

»Es ist immerhin ein Fortschritt, mit Hudson Lowe verglichen, anstatt Jesuit und Ignorant betitelt zu werden«, sagte er. »Aber streng genommen, ist auch dies noch kein Anlaß, nach Mentone zu reisen.«

Der Dozent putzte seine Augengläser. »Die alten Wikinger pflegten ihre Mahlzeiten damit zu beschließen, daß sie einander die Knochen an den Kopf warfen«, sagte er gelassen.

»Ein solider Rückenwirbel hat sicherlich größere Schlagkraft als ein wissenschaftliches Argument. Aber ich halte es mit Herrn Trepka – nicht um das zu konstatieren, bin ich nach Mentone gekommen.«

Christian Ebb starrte ein paar Sekunden von dem einen zum andern. Plötzlich wurde die Luft des Zimmers von einem Lachen erschüttert, das dröhnte wie ein Gebirgswasserfall.

»Hahaha – ich habe mich natürlich wie ein Schweinehund benommen – wie gewöhnlich! Hahaha, ich muß Sie wirklich um Entschuldigung bitten, meine Herren. Ihr Telegramm, Herr Doktor Lütjens, war aus Rom. Also haben Sie die Reise von Rom nach Mentone gemacht, um in dieser Weise von mir empfangen zu werden!«

»Das gerade nicht! Ich war auf dem Heimweg von Rom nach Schweden, als ich den Brief des Verlegers erhielt, und das veranlaßte mich, die Route über Mentone zu nehmen.«

»Und Ihr Telegramm, Herr Trepka, war aus Paris. Also sind Sie von Paris hierhergefahren, um …«

»Doch nicht ganz! Ich hatte in Nizza etwas zu tun, und da dachte ich mir, es könnte ganz interessant sein, den Mann zu treffen, der mir so viele schöne Namen gegeben hat.«

Ein neues Gelächter durchschnitt die Luft des Gemachs. Zwei sehnige Hände wurden ausgestreckt.

»Nein, da steht das alte Norwegen beschämt da! Ich kann Sie nur nochmals um Entschuldigung bitten. Da Sie also hergekommen sind, darf ich wohl annehmen, daß Sie nichts gegen den Vorschlag der Verleger einzuwenden haben. Was mich betrifft, kann ich nicht leugnen, daß ich ein Tendre für Detektivromane habe. Wenn wir also ein Komitee bilden sollen.«

Es zeigte sich, daß das Eis endlich gebrochen war. Eine Debatte über die allgemeinen Prinzipien entspann sich, und alles war Friede und Eintracht, bis man auf die Einzelheiten zu sprechen kam. Jedes der Mitglieder des projektierten Komitees hatte seinen bestimmten Schutzpatron in der Detektivliteratur, neben dem er keinen anderen gelten ließ. Christian Ebb schwor auf die Sayers und ihren Lord Peter Wimsey, der Bankdirektor auf Inspektor French in Wills Crofts Büchern, Dozent Lütjens aber hatte nur ein Lächeln für den Lord wie für den Inspektor und erklärte, für ihn gebe es nur einen Ergründer kriminalistischer Geheimnisse, nämlich den Vater Brown von Chesterton.

»Die erste Bedingung dafür, daß ich eine Detektivgeschichte lesen kann, ist, daß sie Humor hat!« rief Christian Ebb.

»Mir scheint«, warf der Bankmann trocken ein, »die erste Bedingung muß sein, daß sie wahrscheinlich ist. Wenn der Detektiv nicht so arbeitet wie ein Detektiv im wirklichen Leben, kann ich mich nicht für ihn interessieren.«

Christian Ebb sprang von seinem Sitz auf.

»›Wahrscheinlich!‹ Das ist mir gerade das rechte Wort im Munde von jemandem, der Mister French verteidigt! Erinnern Sie sich an ein Buch, das ›Sir Patrick Macgills letzte Reise‹ heißt? Da handelt es sich darum, ein Alibi zu entkräften. Mister French verhört alle Hausbesitzer längs einer bestimmten Straße und fragt sie, ob sie vor vier Wochen nachts einen Hund bellen gehört haben! Keiner von ihnen hat das gehört, und damit ist das Problem gelöst. Wenn man die Psychologie der Zeugenaussagen kennt, braucht man kein weiteres Wort zu verlieren, wie unwahrscheinlich eine solche …«

»Und Ihr Lord Peter!« rief der Bankdirektor. »Erinnern Sie sich an die Geschichte ›Unnatürlicher Tod‹? Ich will ohne weiteres zugeben, daß sie glänzend geschrieben ist, aber was bringt Lord Peter auf die entscheidende Idee? Ein reiner Zufall! Nämlich, daß er einen Motorradfahrer trifft, dessen Motor steckengeblieben ist, weil eine Luftblase hineingekommen ist. Da das Herz wie ein Motor funktioniert, schließt er daraus, daß der Ermordete eine Luftinjektion in die Adern bekommen hat …«

»Meine Herren«, bat eine sanfte Stimme, »meine Herren!«

Wie auf den Wink eines Regisseurs wendeten sich die beiden anderen Mitglieder des Kriminalklubs dem Dozenten Lütjens zu.

»Darf ich fragen: was haben Sie zu sagen? Was ist Vater Brown, wenn nicht …«

»Jawohl«! rief der Bankdirektor. »Was ist er, wenn nicht das ausgeprägte Exemplar eines Detektivs, der alles errät? Erinnern Sie sich an die spanischen Dublonen?«

»Haben Sie die Sache mit der Seeräuberkarte vergessen?« rief Christian Ebb.

Erregte Worte durchschnitten die Luft. Aber plötzlich verstummte Christian Ebb, sah mit leuchtenden Augen vor sich hin und sagte:

»Hören Sie, meine Freunde – ich nehme mir die Freiheit, Sie so zu nennen, obwohl ich mich so schlecht benommen habe – da sitzen wir und reden von fingierten Verbrechen. Und wir wissen haargenau, wie ein Detektiv in den Büchern sich verhält, um ein Verbrechen aufzudecken. Aber sagen Sie mir eines: Wie würde er es anstellen, wenn es sich um ein Verbrechen handelte, das noch gar nicht begangen ist? … Was« – er wendete sich an Trepka – »täte Mister French?«

Der Bankdirektor nahm eine dicke Zigarre aus seiner Zigarrentasche. »Darf ich fragen: ist es ein theoretisches Problem, das Sie da aufstellen, oder ein Fall aus der Wirklichkeit?«

Christian Ebb starrte das Bildnis des Gottes des Wohlbefindens auf dem Schreibtisch an.

»Der Fall ist theoretisch – bis auf weiteres, er ist real, insofern eine unangezündete Mine real ist. Denken wir uns drei Brüder, einander so unähnlich wie nur möglich. Der eine geht mit Haut und Haar in der Politik auf, der zweite lebt ausschließlich seinen Vergnügungen, die die Form von Erotik annehmen, der dritte hat meines Wissens keine anderen Interessen als Poesie und gute Weine, aber er verabscheut die anderen Brüder mit einer so intensiven Form des Abscheus, daß man sie schon beinahe als Haß rubrizieren kann. Sie sind nämlich im Begriff, einen Skandal hervorzurufen, und als guter Ausländer kann er sich nichts Ärgeres denken. Der Politiker benimmt sich in einer Weise, die auch den Genußmenschen aufbringen muß, und dieser hat sich in ein Verhältnis verstrickt, das sicherlich seine beiden Brüder in gleich hohem Grade chokiert. Sie bilden ein Dreieck, das zumindest ebenso reich an dramatischen Möglichkeiten ist wie das berühmte Dreieck in den französischen Theaterstücken. Sie werden nur von einer Tatsache zusammengehalten: sie haben kein Geld. Wer das Geld hat, das ist ihre Großmutter, eine Dame, hoch in den Siebzig. Sie wohnen in ihrem Hause, und sie regiert es mit eiserner Hand. Sie müssen zu allen Mahlzeiten rechtzeitig zu Hause sein, und diese sind vermutlich nicht allzu vergnüglich. Aber bis die Großmutter die Augen schließt, müssen sie gute Miene zum bösen Spiel machen, das heißt, es gibt ja noch gewisse andere Möglichkeiten … Was sagen Sie, Trepka, ist in der Kombination Sprengstoff vorhanden oder nicht? Und was würde Ihr Mister French tun, wenn ihm die Sachlage zu Ohren käme?«

Der Bankdirektor streifte die Asche von seiner Zigarre ab.

»Was Mister French täte? Vermutlich würde er die drei Herren unter diskrete Beobachtung stellen – wenn er es der Mühe wert fände, was ich bezweifle. Ich weiß, in den englischen Detektivromanen wird die Hälfte aller Morde von Neffen begangen, die ihre Onkel vorzeitig zu beerben wünschen. Aber wenn diese Art Morde so häufig sind, so hat das eine überaus einfache Erklärung, die ich der geistigen Mutter Ihres Freundes, Lord Peter, verdanke. Sie sagt, es ist keine Kunst, sich raffinierte Methoden, einen Mord zu begehen, auszudenken. Aber ein originelles Motiv zu finden, das ist ein Kunststück! Ich glaube nicht, daß Ihre alte Dame in Lebensgefahr schwebt!«

»Und auch keiner ihrer Enkel?« fragte Ebb und wandte den Blick vom Gott des Wohlbefindens ab und Buddha zu.

»Erst recht nicht! Ein Mord muß doch irgendeinen Sinn haben! Damit er aber in diesem Falle einen Sinn hätte, müßte der Mörder sowohl seine Großmutter wie seine Brüder in die Ewigkeit hinüberbefördern! Und wäre es dann nicht etwas optimistisch von ihm, zu hoffen, drei solche Dinge hintereinander durchführen zu können?«

»Ich glaubte angedeutet zu haben«, sagte Ebb, »daß andere Motive als Geld hier mitspielen. Ich glaubte die Gefühle der drei Brüder für einander dargelegt zu haben.«

Der Bankdirektor verzog den Amormund zu einem Lächeln.

»Meine Brüder und ich«, sagte er, »lagen uns von dem Moment an, wo wir auf die Welt kamen, bis wir erwachsen waren, in den Haaren, und ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, daß wir uns heutigen Tags lieben. Aber wir haben es überlebt. Es ist noch keinem von uns eingefallen, die anderen umzubringen, um das Aktienkapital, das wir von unseren Vorfahren ererbt haben, an uns zu reißen. Ich habe eine Theorie, die Sie, ganz wie Sie wollen, akzeptieren oder verwerfen können. Ich glaube nicht, daß die Menschen so böse sind, wie man sie hinstellen möchte! Ich glaube, daß Gut und Böse sich hier auf Erden zueinander verhalten wie Wärme und Kälte. Der Wissenschaft ist es noch nicht gelungen, eine Grenze für die Wärmegrade zu finden. Aber der absolute Nullpunkt liegt nur 273 Grad unter Null! Ich glaube tatsächlich an diese Parallele – und wenn ich gern Detektivromane lese, dann eben weil ich sie als Gedankenexperimente ansehe, als nichts anderes. Aber nehmen wir an, daß die Situation Motive zu einem Verbrechen birgt! Ein Motiv genügt ja nicht, es müssen auch noch die Mittel und die Möglichkeit der Ausführung gegeben sein! Wie haben Sie sich diese gedacht?«

»Die Möglichkeit zu einer bösen Tat ist immer da, wenn man danach sucht«, antwortete Ebb.

»Die Möglichkeit zu einer bösen Tat ist immer da, auch ohne daß man danach sucht!« warf der Dozent ein.

»Zugegeben, zugegeben!« Der Bankdirektor machte eine Geste mit der Zigarre, als ob er dem letzten Sprecher ein Darlehen gegen ungewöhnlich schwache Sicherheit konzedierte. »Lassen wir die Möglichkeit offen – wie haben Sie sich das Mittel gedacht? Ich gehe davon aus, daß Ihr präsumtiver Mörder nicht ohne weiteres ein solches Messer ergreift, wie Sie es da an der Wand hängen haben, und sein Opfer niedersticht!«

»Verschiedene derartige Einzelheiten werden tagtäglich hierzulande mit einem gewissen Erfolg geordnet«, erwiderte Christian Ebb. »Ein gewöhnlicher Mord pflegt hier in den Zeitungen sechs Petitzeilen zu erhalten, andernfalls müßten sie ja Doppelnummern herausgeben. Man berechnet, daß jeder dritte Mord nie aufgeklärt wird. Und manchmal kommt es vor, daß der Tod selbst die Initiative ergreift! Seit zwei Tagen sucht die hiesige Polizei nach einem Giftpaket, das einem unachtsamen Radler weggekommen ist und das reines Nikotin enthalten hat. Eine minimale Dosis ist tödlich, sagte man im Radio.«

Diesmal lachte Trepka lange und gründlich.

»Heißt es nicht die Wahrscheinlichkeit ein bißchen sehr überanstrengen, wenn Sie dieses Paket ausgerechnet in die Hände Ihres Mörders kommen lassen?« erkundigte er sich. »Ich weiß jedenfalls, daß Mister French sich mit einer solchen Unwahrscheinlichkeit nicht abfinden würde. Möglicherweise nimmt es Lord Peter nicht so genau.«

Die Debatte drohte neuerdings zu entgleisen. Wer sie davor rettete, war Geneviève, denn in diesem Augenblick erschien sie mit einem Tablett auf der Türschwelle.

»Da wär 'n Brief von diesem Herrn Vanloo«, sagte sie. »Der Bote wartet auf Antwort! Da werden Sie morgen wieder 'nen schönen Kater heimbringen! Bitte, hier, Monsieur!«

Das Wort Monsieur in ihrem Munde war ein Zeichen tiefgekränkter Gefühle. Christian Ebb öffnete den Brief und blieb mit sehr nachdenklicher Miene stehen.

»Geneviève hat recht«, sagte er endlich. »Der Brief ist von einem jungen Engländer, den ich kürzlich kennengelernt habe. Er lädt uns alle drei zu einem Drink und einem Abendessen zu sich ein …«

»Uns alle drei?« unterbrachen der Dozent und Trepka. »Woher ahnt er überhaupt etwas von unserer Existenz?«

»Ich habe – hm – zufällig erwähnt, daß ich Sie erwarte«, antwortete der Dichter etwas befangen.

»Und wie kommt er auf die Idee, uns zu sich zu bitten?«

Statt der Antwort reichte Ebb den Brief hin. Was das schwedische und das dänische Mitglied des Kriminalklubs lasen, war folgendes:

 

»Lieber Ebb!

Wollen Sie mir nicht in Gesellschaft der zwei anderen Repräsentanten des europäischen Idylls die Freude machen, in die Villa Longwood zu kommen und meine Form des Idylls studieren? Der Napoleonspezialist wird nur einen Blick brauchen, um zu sehen, daß die Leiden des französischen Kaisers ein Nichts gegen meine waren. Der Gräberspezialist kann sofort konstatieren, daß keines der Gräber, die er je geschändet, so muntere Insassen hatte. Wie sagte ich doch – die Langweile ist die Mutter aller Laster!

Aber es sind Massen Drinks da. Und wir bekommen Großmutters berühmte Bouillabaisse.

Kommen Sie nicht, werde ich wahnsinnig.

Ihr ergebener
Martin Vanloo«.

 

Trepka ließ den Brief sinken.

»Heißt seine Villa wirklich Longwood?«

»Ja – und sie soll fast ebenso alt sein wie das richtige Longwood.«

»Ich bekomme beinahe Lust, hinzugehen!«

Der Dozent sah Ebb unverwandt an.

»Ein Epikuräer, der sagt, daß Langweile die Mutter aller Laster ist! Ihr Dreieck fängt an, mich zu interessieren, lieber Ebb!«

Trepka ließ die Zigarre fallen.

»Was?« rief er. »Sie meinen, daß es die Familie ist?«

Ebb nickte. Er sah den Dozenten forschend an, bevor er einige Zeilen kritzelte und sie Geneviève reichte.

»Geben Sie dem Boten das«, sagte er, »und bestellen Sie uns ein Auto!«

Der Gesichtsausdruck, mit dem Geneviève diesen Bescheid entgegennahm, war Kassandras würdig. Wie um sich zu rächen, präsentierte sie eine norwegische Zeitung, die eben mit der Post gekommen war. »Das Bild des Tages« auf der ersten Seite war dem internationalen Kriminalklub gewidmet. Man sah Ebb und seine zwei Kollegen, mit Revolvern in den Rocktaschen und Dolchen rings um den Leib, jeden auf einem Pulverfaß Platz nehmen. Und der Text lautete: »Welches Verbrechen sollen wir nächsten Monat begehen?«

Etwas später saßen die drei Herren in einem Auto, auf dem Wege zur Villa Longwood.


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