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Das Auto verließ die Hauptstraße von Mentone nach Castellar, wand sich einen Höhenzug hinauf und bog in eine Privatallee ein. Nach ein paar Minuten hielt es vor einem langgestreckten, niedrigen einstöckigen Gebäude, das sich nach den verschiedensten Richtungen verzweigte und den Eindruck machte, ziemlich planlos und ohne erheblichen Beistand eines Architekten entstanden zu sein. Dozent Lütjens gönnte ihm nur einen flüchtigen Blick. Aber Bankdirektor Trepka setzte sich im Wagen auf und schaute, als könnte er sich nicht sattsehen.
»Wir sind angelangt«, sagte der Dichter Ebb.
»Also das ist die Villa Longwood«, murmelte der Dozent.
Das dritte Mitglied des Kriminalklubs konnte nur schwer seine Stimme beherrschen, als es sagte:
»Ja, Herr Doktor Lütjens, das ist die Villa Longwood, nicht mehr und nicht weniger.«
»Was meinen Sie?« fragte Ebb. »Nicht mehr und nicht weniger?«
»Ich meine, was ich sage! Das ist Longwood – Napoleons Villa auf Sankt Helena, wo er von den Engländern gefangengehalten wurde und wo er seine Tage beschloß. Das heißt: dies ist eine so haargenaue Kopie dieser Villa, wie man sie sich überhaupt denken kann. Wer dieses Haus erbaute, hat das Original wahrlich bis ins letzte studiert, bevor er an die Arbeit ging.«
Der Dozent sowohl wie der Dichter starrten ihn mißtrauisch an.
»Ist das Ihr Ernst?« rief Ebb. »Kennen Sie das Haus auf Sankt Helena so gründlich, daß Sie das so kurzerhand behaupten können?«
Der Bankgewaltige warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»In meinem Berufe«, erklärte er, »gibt es nichts, was man poetische Lizenz nennen kann. Da müßte ich baldigst Konkurs ansagen. Und bei meinen Liebhabereien befolge ich dasselbe Prinzip wie in meinem Beruf. Wenn ich sage, daß die Villa eine exakte Kopie des Hauses auf der Felseninsel ist, können Sie sich darauf verlassen, daß das stimmt!«
»Aber gern«, sagte der Dichter leicht ärgerlich, »wenn auch Ihre Art, Napoleon zu studieren, mich einigermaßen an die Art eines gewissen Potentaten, die Bibel zu lesen, erinnert.«
»Meine Herren«, bat eine leise Stimme. »Meine Herren!«
In diesem Augenblick ging die Tür zu einer Vorhalle auf, und Martin Vanloo zeigte sich auf der Schwelle.
»Ich hörte Ihr Auto kommen«, rief er Ebb zu. »Gott sei Dank, daß Sie da sind! Ich habe ein Buch eines Landsmanns von Ihnen gelesen, in dem eine großartige Beschreibung des Familienlebens vorkommt: ›O Familie, aller Laster Brutstätte, aller Weiber Versorgungsanstalt, des Hausvaters Tretmühle, der Kinder Hölle.‹ – Das übrige habe ich vergessen, aber es war glänzend!«
»Der Verfasser dieses Buches war kein Landsmann von mir, hingegen von jenem Herrn! Darf ich Ihnen Herrn Dozenten Lütjens vorstellen, ein berühmter Gelehrter aus Strindbergs Land, aus Schweden.«
»Ah, wirklich! How do you do? Sind Sie das, mein Herr, der alles von Napoleon weiß?«
»Nein, der Herr Dozent beschäftigt sich mit megalithischen Begräbnisgebräuchen«, sagte Ebb. »Aber gestatten Sie mir, Ihnen Herrn Direktor Trepka aus Kopenhagen vorzustellen, Bankmatador und einmaligen Kenner der Napoleonszeit …« Die Stimme des Dichters Ebb bekam einen leichten Anflug von ironischer Schadenfreude. »Wissen Sie, was er uns soeben mitgeteilt hat? Daß Ihre Villa eine haargenaue Kopie des berühmten Hauses auf Sankt Helena ist. War Ihnen das selbst bekannt?«
Martin vergaß beinahe, seinem letzten Gast die Hand zu schütteln.
»Was sagen Sie da? So hat der alte Boney gewohnt? Das habe ich, aufrichtig gestanden, nie geahnt! Sind Sie Ihrer Sache sicher, Sir?«
Das dänische Mitglied des Kriminalklubs warf seinem norwegischen Kollegen einen giftigen Blick zu.
»Wie ich schon das Vergnügen hatte, Herrn Ebb zu sagen, bin ich meiner Sache so sicher, wie man überhaupt sein kann. Mit Herrn Ebbs gütiger Erlaubnis oder ohne sie hat Napoleon auf Sankt Helena genau so gewohnt.«
»Ja, was denn?« fragte der junge Engländer mit einem erstaunten Lächeln. »Ich glaube wahrhaftig, Sie und Ebb regen sich in vollem Ernst wegen des alten Boney auf? Skandinavien muß wirklich ein Idyll sein, wenn man Zeit und Muße hat, sich über solche Dinge zu zanken. Ich kann nur sagen, daß derjenige, der dieses Haus baute, genau wußte, wie es auf Sankt Helena aussah! Es war nämlich mein Urgroßvater, und er kam direkt von dort, wie ich Ebb schon gesagt habe. Und übrigens ist auch die Einrichtung in demselben Stil – mit Ausnahme einer fahrbaren Bar, denn die dürfte Napoleon wohl kaum besessen haben?«
»Nein, die hatte er wohl nicht«, rief Ebb geärgert, seinen Gegner in einem wesentlichen Punkte recht behalten zu sehen. »Aber einen Weinkeller hatte er, den die Engländer immer gut assortiert hielten, in der Hoffnung, daß er sich auf den Suff verlegen und sie so von allen Sorgen befreien würde!«
»Sie haben vollkommen recht, lieber Ebb«, warf der Bankdirektor spitzig ein, »Lord Rosebery erwähnt es in seinem Buch und scheint sich für seine Landsleute ein wenig zu genieren – ohne jeden Grund übrigens.«
»Was sagen Sie? Ohne Grund?«
»Ja. Denn ein versoffener Napoleon hätte sich nie und nimmer für die Rolle des gefesselten Prometheus geeignet. Und damit wäre eine gefährliche Legende im Keim erstickt worden.«
»Meine Herren!« bat eine sanfte Stimme. »Meine Herren!«
Der Engländer bog sich förmlich vor Lachen.
»Also das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß es heutzutage noch solche Idealisten gibt!« stöhnte er. »Sie sind ja drauf und dran, Boneys wegen mit den Fäusten aufeinander loszugehen! Großmutter wird wildbegeistert sein! Sie lebt nur für Napoleon. Die französische Republik ist ihr ein Greuel. Die moderne Zeit ist ihr ein Greuel. Manchmal muß ich an Napoleons Mama denken, die alte Frau Lätitia. Schade nur, daß sie nicht die Gesellschaft der Schatten jener Zeit genießen kann, anstatt sich mit den Lebenden herumzuärgern!«
»Wie?« sagte Ebb. »Wollen Sie Ihrer Großmutter das Leben absprechen, Vanloo?«
Der Engländer schnitt eine vieldeutige Grimasse.
»Ich kann Ihnen versichern, daß Großmutter die sympathischste Person hier unter diesem Dache ist. Wenn sie nicht wäre – na, Sie werden ja selbst sehen!«
Er wendete sich mit einem Schalk im Auge Trepka zu. »Herr Bankdirektor, Sie, der Sie das Haus kennen – wollen Sie Ihre Freunde nicht in den Salon führen?«
»Aber gern«, sagte das dänische Mitglied des Kriminalklubs, mit einer Sicherheit, die ihre Wirkung nicht verfehlte. »Es wird mir ein Vergnügen sein, vorausgesetzt, daß das Innere des Hauses eine ebenso getreue Kopie ist wie das Äußere. Darf ich Sie bitten, Herr Ebb, hier durch. Wie gehen ein paar Stufen hinauf. Rechts und links von uns haben wir zwei kleine Gartenanlagen. Auf Sankt Helena würde die rechte ›Marchands Garten‹ heißen; nach dem Kammerdiener des Kaisers, dem einzigen Menschen, zu dem er bis zuletzt volles Vertrauen hatte – wenigstens heißt es so! Die Anlage links würde ›Alis Garten‹ heißen, nach Ali, der den Titel ›Leibmameluk des Kaisers‹ führte, obwohl er eigentlich ein waschechter Franzose namens Saint-Denis war. Geradeaus weiter kommen wir in einen Empfangsraum, ein ›Parloir‹, wie es in der Sprache jener Zeit hieß, wo die Gäste sich in Erwartung der Audienz miteinander unterhalten konnten. Nach dem Parloir kommt der große Salon, wo der Kaiser sein Leben aushauchte. Bevor wir die Tür dort hinein öffnen, möchte ich erwähnen, daß man aus dem Salon in den Speisesaal kommt. Dann buchtet sich das Haus aus und hat nun vier Zimmer in der Breite. Links lag zur Zeit des Kaisers eine Bibliothek – er war bekanntlich ein unermüdlicher Leser, und noch auf dem Wege nach Waterloo schleppte er eine Reisebibliothek von siebenhundert Bänden mit. Rechts liegen zwei kleine für ihn persönlich bestimmte Kabinette, anschließend ein kleines Badezimmer … Immer vorausgesetzt, daß das Innere des Hauses dem Original in ebenso hohem Grade gleicht wie die Außenseite, glaube ich eine recht treffende Schilderung seiner Topographie gegeben zu haben. Nicht wahr, Mister Vanloo?«
Der Engländer starrte ihn förmlich entgeistert an. »Sie sind der beste Fremdenführer, den ich je gesehen habe«, murmelte er, »ja, absolut der beste …«
Er klopfte dem Dichter Ebb auf den Rücken. »Hüten Sie sich, mit einem solchen Manne zu disputieren, lieber Meister! Und hüten Sie sich vor allem, mit ihm zu wetten!«
»Werde ich«, knurrte Ebb und runzelte die Brauen. »Aber daß die Tatsachen richtig sind, beweist ja noch nicht, daß die theoretischen Schlußfolgerungen es sind. Eine Uhr, die steht, zeigt zweimal im Tage die richtige Zeit, aber darum kann man sich noch nicht nach ihr richten!«
»Meine Herren!« bat eine flehende Stimme. »Meine Herren! Bedenken Sie doch, daß wir die Gäste der Villa Longwood sind!«
»Und die erwünschtesten, die die Villa seit langer Zeit gesehen hat!« rief Martin, indem er sie durch die Tür schob. »Gestatten Sie mir nun, Sie mit der glücklichen Familie bekanntzumachen!«
Sie waren in einen oblongen Saal gekommen. Rechts und links gingen Fenster auf die zwei Gartenanlagen, im Hintergrunde stand eine Tür in den Raum offen, den Trepka den Speisesaal benannt hatte. Die Möbel waren alle im Empirestil, Kupferstiche und Zeichnungen schilderten die Felseninsel im Atlantischen Ozean und ihren illustren Bewohner. Eine Vitrine barg Reliquien, vermutlich von derselben Art, ein Bücherschrank in Empire beherbergte eine kleine Bibliothek in Goldschnitt- und altertümlichen Einbänden.
Der Dichter Ebb, der gute Augen hatte, konnte einige der Titel lesen. Racines »Tragédies«, Voltaires »Zaïre«, Plutarchs »Lebensbeschreibungen«. In zwei Fauteuils am Fenster dösten zwei junge Leute, die bei ihrem Eintreten kaum aufsahen, und in einem Lehnstuhl im Hintergrund saß eine alte Dame.
Ihr Teint war lichtgelb wie altes Elfenbein, das Haar schneeweiß und von den Schläfen zurückgekämmt. Die Hände, die verschlungen im Schoß ruhten, waren nicht viel größer als die eines Kindes. Die eine hielt einen kleinen gelben Fächer, den sie mit einer so leichten Bewegung hin und her führte, daß man an ein Blatt denken mußte, das sachte im Abendwind zittert. Sie saß da, die Füße zierlich auf einem seidenen Schemel gekreuzt. Sie war sehr, sehr alt und gebrechlich.
Wäre nicht die Bewegung ihres Fächers gewesen, man hätte glauben können, sie schliefe. Aber dann konnte es geschehen, daß sie die Augenlider aufschlug, und sofort wurde es klar, daß sie in allerhöchstem Grade lebendig und wach war. Die Pupillen waren kohlschwarz und ihre Glut ungeschwächt. Im Laufe weniger Sekunden konnte der Ausdruck von Ironie in Nachdenklichkeit, von Heiterkeit in Verachtung übergehen. Und dann konnten sie mit einem Male schwarz und ausdruckslos werden wie geschliffene Achate – und das war vielleicht nicht die wenigst ausdrucksvolle Schattierung in ihrem Register.
»Martin«, sagte sie, »sind das die Freunde, von denen du mir gesprochen hast?«
Ihre Stimme war zart wie der Klang von altem Kristall. Als Martin antwortete, überkollerten sich die Worte, wie das bei Menschen mit schlechtem Gewissen der Fall zu sein pflegt.
»Well, yes, granny, die Sache ist die, ich finde, du isolierst dich zu sehr – es fehlt dir hier oben in der Villa an Gesellschaft – und …«
»Wieso, Martin? Nichts hindert dich ja, mir den ganzen Tag Gesellschaft zu leisten!«
»Nein, natürlich – aber meine Gesellschaft kann dich ja auf die Dauer nicht zerstreuen – und auch nicht die Allans oder Arthurs, wenn sie nun zu Hause blieben, anstatt sich …«
Er kam nicht weiter, denn er wurde von zwei Seiten gleichzeitig unterbrochen.
»Mein lieber Martin«, sagte eine eiskalte Stimme, »darf ich dich bitten, mich aus dem Spiele zu lassen! Was ich tue oder lasse, geht auf jeden Fall dich nichts an!«
»Und möchtest du nicht auch mich ungeschoren lassen?« ersuchte eine andere, dumpfere, aber ebenso eiskalte Stimme.
Das erstere Organ gehörte Allan, das andere Arthur Vanloo.
Man konnte sich nur schwer größere Kontraste zu dem untersetzten und recht beleibten Martin denken. Beide waren hochaufgeschossen und beinahe krankhaft mager, ihre Gesichtsfarbe hatte einen gelblichen Stich, der ererbt sein mochte, denn auch der Teint der Großmutter zeigte diese Nuance, die aber auch von der Leber kommen konnte. Arthur, der Ältere, hatte einen kurzen, schwarzen, gestutzten Schnurrbart, Allan war glattrasiert und unterstrich seine Männlichkeit durch das Tragen eines Monokels. Beide hatten jene befehlshaberische Art, die der wohlerzogene Engländer unter einer Maske von gleichgültiger Nonchalance zu verbergen pflegt, während weniger wohlerzogene Engländer ihr freien Lauf lassen, sowie sie keine besondere Rücksicht auf ihre Umgebung nehmen zu müssen glauben.
Martin vergaß die Vorstellung, die er eben vornehmen wollte, um den beiden die Antwort nicht schuldig zu bleiben.
»Darf ich dich bitten, mein guter Allan, deine Schulmeistermanieren abzulegen, wenn du zu mir sprichst! Ich versichere dir, daß es dir nicht gut ansteht, als Censor morum aufzutreten, es sei denn, daß Pelzmäntel in das Gebiet der Moral fallen, was sich natürlich denken läßt …«
Allan Vanloo stieg bei dieser direkten Anspielung eine Blutwelle ins Gesicht. Das Monokel, das im Augenwinkel festgeschraubt war, erzitterte und drohte herauszufallen. Aber als er antwortete, war seine Stimme ebenso eiskalt überlegen wie zuvor.
»Nur der Rücksicht auf Großmutter hast du es zu danken, daß ich dich nicht als den Schuljungen der dritten Klasse behandle, der du bist und bleibst.«
»Bravo! Jetzt fehlt nur, daß Arthur zum Entsatz herbeieilt und mich über französische Kolonialpolitik belehrt, dann ist die Posse komplett!«
Die Repliken flogen so schnell wie Wurfbälle hin und her. Die noch nicht vorgestellten Mitglieder des skandinavischen Kriminalklubs wußten nicht, wo sie hinsehen sollten. Mechanisch suchten ihre Blicke die Kupferstiche an den Wänden. Sie hatten alle ein und dasselbe Sujet: Napoleon und die letzte Phase seines Lebens. Man sah den Kaiser inmitten des kleinen Häufleins seiner Getreuen an Bord des »Bellerophon«, man sah sie auf die versinkende Küstenlinie Frankreichs starren, man sah einen steilen Vulkan aus dem Ozean aufstreben, man sah eine Steinplatte ohne Namen unter einer rauschenden Tränenweide …
Arthur Vanloo zögerte nicht, den hingeworfenen Handschuh aufzunehmen. Die Augen zu beiden Seiten seiner Hakennase glosten wie feurige Kohlen.
»Ach so«, murmelte er dumpf, »ach so, es wäre so komisch, wenn ich mir einfallen ließe, dich, mein guter Martin, über Politik zu belehren. Was verstehst du von Politik? Wovon verstehst du überhaupt etwas? Von Versen, behauptest du selbst! Dann kennst du vielleicht eine Stelle in ›Wie es euch gefällt‹, wo es heißt: ›Die Narrenkappe ist mein einziger Ehrgeiz!‹ Paßt das nicht gut auf dich?«
»Lieber Arthur«, antwortete Martin mit seiner einschmeichelndsten Stimme, »solltest du dir diese Replik nicht für die politische Versammlung aufsparen, die du und der junge John heute morgen plakatiert habt?«
Die Debatte wurde plötzlich dreiseitig. Das Monokel, das schon im Begriff gewesen war, sich in Allans Augenwinkel zu stabilisieren, kam neuerlich ins Schwanken.
»Was sagst du da?« rief er. »Schleppt er den jungen John auf seine Agitations …?«
»Das hast du nicht gewußt? Mit Plakaten unterm Arm und hochgezücktem Kleistertopf! Wenn du mir nicht glaubst, so frage den Zeugen selbst!«
»Das geht aber doch zu weit!« rief der Mann mit dem Monokel. »Nicht genug damit, daß du dich selbst mit den Roten hier in der Stadt einläßt, mußt du auch noch John hineinzerren, der noch nicht recht trocken hinter den Ohren ist! Ich habe nicht oft Lust, handgreiflich zu werden, aber wenn ich an deine Agitation und das, worauf sie abzielt, denke …«
»So bekommst du Lust«, knurrte die dumpfe Stimme. »Und warum, du getreuer Spießbürger? Weil du Gefahr für deine Brieftasche witterst! Allerdings enthält sie augenblicklich nicht sehr viel, aber …«
Die Stimmen waren lauter geworden, das Mienenspiel mehr und mehr aufrichtig. Die drei Skandinavier wußten nicht mehr, was sie tun oder lassen sollten. Aber gerade in dem Augenblick, in dem das Gespräch eine verhängnisvolle Wendung zu nehmen drohte, kam die Entspannung. Der Fächer in der Hand der alten Dame fiel mit einem leichten Klirren zusammen, und im selben Moment war der Raum so still und stumm wie eine Grabkapelle.
»Martin«, sagte eine kristallklare Stimme, »wie erfüllst du deine Hausherrnpflichten? Du hast drei deiner Freunde eingeladen, und noch hast du sie mir nicht einmal vorgestellt!«
Wie zart und zerbrechlich sie war! Ein Windhauch aus einem offenen Fenster hätte sie umblasen können. Aber kaum hatten die drei Enkel das Klirren des Fächers gehört, als ihre erregten Stimmen auch schon verstummten. Zum ersten Male dämmerte es Ebb auf, was Martin gemeint hatte, als er sagte: »Manchmal muß ich faktisch an die alte Frau Lätitia denken.«
Martin zuckte bei ihren Worten zusammen, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.
»Ah, awfully sorry, Granny, aber es war wirklich nicht meine Schuld, wenn …«
»Deine ebensosehr wie die der anderen, Martin!«
»Aber Allan und Arthur sagten mir – all right, all right! Darf ich dir meine drei skandinavischen Freunde vorstellen? Du wirst entzückt von ihnen sein, das weiß ich. Das ist Mister Ebb, Norwegens Shelley …«
»Aber ich glaubte doch, du zögest Swinburne vor, Martin?«
Ihr Lächeln, als sie dies sagte, war so bezaubernd, daß Christian Ebb mitlächeln mußte. Er verbeugte sich und küßte eine kleine, dünne, elfenbeinfarbige Hand.
»Ferner bitte ich dich, dir Mister Lütjens vorstellen zu dürfen. Er ist Spezialist in den Begräbnisgebräuchen der megalomanen, nein, entschuldige, der megalithischen Völker …«
Nun war es an dem Dozenten, die gleiche Begrüßungszeremonie zu vollziehen wie Ebb. Er bewunderte die Art, wie sie der Debatte der drei Enkel ein Ende gemacht hatte. Aber ein Gedanke wollte ihn nicht loslassen: das hätte sie doch schon viel früher tun können, wenn sie gewollt hätte. Warum hatte sie es nicht getan?
»Und dann gestatte, daß ich dir Mister Trepka vorstelle. Er ist Bankfachmann und weiß alles über Napoleon. Kannst du dir denken, was er in dem Augenblick sagte, in dem er aus dem Auto stieg? Daß unsere Villa aufs I-Tüpfelchen dem wirklichen Longwood gleicht! Er konnte alle Zimmer aufzählen, bevor er noch die Schwelle überschritten hatte!«
»Aber das ist ja eine Akademie, die du da eingeladen hast«, sagte sie lächelnd, indem sie dem Bankdirektor die Hand reichte. »Meine Herren, ich bin charmiert über Ihren Besuch.«
»Sie irren, Madame«, warf eine leise Stimme ein, »es ist keine Akademie, die Sie unter Ihrem Dache sehen – es ist der erste skandinavische Kriminalklub!«
Der Fächer begann sich in Bewegung zu setzen. Sie legte den Kopf seitlich und sah den Dozenten an, dem sie bisher nur flüchtige Beachtung geschenkt hatte.
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht«, sagte sie mit ihrer zarten, kristallklaren Stimme, die die Worte wie kleine, kleine Tropfen fallen ließ. »Was ist das, ein Kriminalklub? Haben Sie etwas mit der Polizei zu tun?«
»Weder mit der Polizei noch mit ihren Feinden«, antwortete Ebb im Gaskognerton, und er erklärte ihr so kurz gefaßt wie möglich, welche Aufgaben ein Kriminalklub habe. Sie schien ihren Ohren kaum zu trauen.
»Wie man doch merkt, daß man anfängt, alt zu werden!« seufzte sie. »Wenn man in meine Jahre gekommen ist, lebt man hauptsächlich in der Vergangenheit, und ein klein, klein wenig in der Zukunft – nicht seiner eigenen, aber der seiner Kinder … das Gegenwärtige geht an einem vorbei. Ein – wie sagten Sie doch? – Kriminalklub! Menschen schreiben Bücher über Verbrechen, andere Menschen lesen sie, und Sie haben dafür zu sorgen, daß sie nur das Allerbeste in diesem Genre bekommen! Und der eine von Ihnen ist Dichter, der andere Bankfachmann und der Dritte – wie war es doch? – Spezialist in den Begräbnisformen der megalithischen Völker! Darf ich eines fragen? Ist einem der Herren schon im wirklichen Leben ein kriminelles Problem begegnet?«
Ihr spöttisches Lächeln, als sie dies sagte, war entwaffnend. Ihr Blick wanderte von dem hellen Knabenprofil des Dichters Ebb zu den rosigen Wangen und dem Amormund des Bankdirektors und weiter zu den ernsten braunen Augen des Dozenten. Der Dichter Ebb war der erste, der eine Antwort fand:
»Das einzige kriminelle Problem, das mir bisher begegnet ist, waren strafbar schlechte Verse, fürchte ich.«
»Wir wollen hoffen, daß Sie in Zukunft mehr Glück haben. Und wie ist es mit Ihnen, Mister Lütjens?«
»Die megalithischen Völker haben ihre Kriminalprobleme ins Grab mitgenommen, und die Spuren sind zu alt, um noch gedeutet zu werden«, lächelte er.
»Und Mister Trepka?«
»Als Bankmensch kommt man ja unleugbar mit solchen Problemen in Kontakt. Manchmal vor dem Schalter, manchmal dahinter. Aber die Herren, die mir auf meinem Gebiet mit der Feder ins Handwerk pfuschen, sind fast noch ärgere Stümper als die Federhelden, von denen Freund Ebb sprach.«
»Sie verstehen sich also auf Handschriften?« erkundigte sie sich.
»Doch, ganz passabel.«
»Und Sie wissen alles über Napoleon? Das fügt sich ja ausgezeichnet. In der Vitrine, die rechts von Ihnen steht, liegt ein Papier. Der Schlüssel steckt. Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie von diesem Papier halten?«
Trepka wandte sich in die angedeutete Richtung. Die Vitrine, die natürlich in Empire war, hatte zwei »Etagen«. Die eine enthielt Münzen und Medaillen, alle aus derselben Zeit, die andere ein Stück vergilbtes Papier, einen eingerahmten Brief. Mit einer Kopfneigung bat er um die Erlaubnis, ihn sich näher anzusehen. Es war ein Brief, mit jener beinahe unleserlichen, halb epileptischen Handschrift geschrieben, die er von seinen Studien her kannte. Er rezitierte die Zeilen so, wie es ihm nach und nach gelang, sie zu entziffern.
»Monsieur Balcombe.
Da die englische Regierung mir einen ausreichenden Lebensunterhalt verweigert, schicke ich Ihnen Cipriani mit einem Drittel meines Tafelsilbers, um es einschmelzen und in englisches Geld umrechnen zu lassen. Mein Wappen ist aus dem Service entfernt worden, denn ich will nicht, daß meine Adler auf den Markt wandern.
Napoleon.
Longwood, 15. Oktober 1816.«
Er ließ den Brief sinken und sah die Dame des Hauses an.
»Ein ganz einzigartiges Dokument – ja, tatsächlich einzigartig. Die Episode von dem Verkauf des Tafelsilbers ist bekannt. Aber meines Wissens hat man keinen anderen Beweis dafür, daß Napoleon selbst die Order dazu gegeben hat, als diesen Brief. Cipriani war Korsikaner und Haushofmeister des Kaisers. Balcombe war der Agent der Ostindischen Companie auf der Insel und lieferte alles für den kaiserlichen Haushalt. Am 15. Oktober 1816 bekam er ein Drittel des Tafelsilbers zum Einschmelzen, das nächste Drittel am 15. November des gleichen Jahres, und das letzte Drittel am 30. Dezember. Alles in allem brachte das Silber 1065 Pfund und einige Schilling ein, wenn ich mich recht erinnere …«
Ihre kohlschwarzen Augen funkelten.
»Sie imponieren mir wirklich«, murmelte sie. »Sie sagten, der Brief sei einzigartig. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Halten Sie ihn für echt?«
»Unbedingt!« nickte der Bankdirektor. »Gegen das Ende seines Lebens zu schrieb Napoleon nur in den seltensten Fällen Briefe. Er diktierte sie einem Sekretär und kritzelte eine Signatur darunter. Aber diese Schrift ist nicht zu verkennen – und natürlich ist die Theatralik des Briefes ganz in seinem Stil! Meine Adler sollen nicht auf den Markt wandern!« Er starrte begehrlich das vergilbte Papier an.
»Dürfte ich fragen, woher Sie diesen Brief haben, Madame?«
»Er ist ein Erbstück vom Großvater dieser jungen Herren«, gab sie zur Antwort, indem sie langsam den Fächer hin und her bewegte.
Trepka nickte.
»Das hätte ich mir denken können. Ich habe ja schon gehört, daß er zur selben Zeit wie der Kaiser auf Sankt Helena weilte. Darf ich fragen, ob er bei den Bewachungstruppen angestellt war?«
»Nein, er hatte die Ehre, im Hause des Kaisers Dienst zu tun.«
»Aber dann müßte er ja in der Liste des Hausstandes vorkommen?«
»Sind Sie so allwissend, daß Sie aus freier Hand behaupten können, daß er nicht darin vorkommt?« fragte sie spöttisch. Die Bewegungen des Fächers waren langsamer und langsamer geworden. Er verdeckte nun beinahe völlig ihr Gesicht.
Der Bankdirektor zog seine blonden Augenbrauen in einer Weise zusammen, die seinen Kassierern und Buchhaltern in Kopenhagen vermutlich einen tödlichen Schrecken eingejagt hätte.
»Vanloo, Vanloo«, murmelte er. »Im Jahre 1816, aus dem der Brief datiert ist, befanden sich in der Umgebung des Kaisers zwölf Franzosen und zehn Personen verschiedener Nationalität, aber keine – nein, soweit ich mich erinnern kann, keine namens …«
Er unterbrach sich plötzlich.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er mit einer galanten Verbeugung. »Natürlich haben Sie recht. Und natürlich läßt mich mein Gedächtnis im Stich.«
Sie antwortete nur mit einer Kopfneigung und einem Blick, dessen Ausdruck er vergebens zu deuten suchte. Zu seiner Rechten hörte Trepka ein verlegenes Kichern.
»Ich bitte um Entschuldigung, falls ich mich blamiere«, sagte Dozent Lütjens. »Aber da ich das Vergnügen habe, mich in der Gesellschaft eines Mannes zu befinden, der zugleich Bankdirektor und Napoleonkenner ist, möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen und nach etwas fragen, das mich schon immer beschäftigt hat, nämlich der finanziellen Lage des Kaisers. Er war fünfzehn Jahre lang der Herr Europas, er konnte schalten und walten, wie er wollte, und das tat er bekanntlich auch! Heutzutage sorgt ja der schundigste chinesische oder südamerikanische General dafür, Depots im Ausland zu haben, für den Fall – tja, daß etwas passieren sollte. Aber ich habe gelesen, daß, als Napoleon nach Waterloo Frankreich verließ und an Bord des Kriegsschiffs ging, das ihn nach England bringen sollte, seine Reisekasse derart bestellt war, daß man einfach paff ist. Marschall Bertrand verteilte sie unter alle Mitglieder des Gefolges, damit die englische Zollbehörde nicht allzu viel grapschte. Man steckte das Geld in Ledergürtel, die man um den Leib trug, und wie groß war der ganze Betrag? Genau zweihundertfünfzigtausend Francs, wie in den Memoiren zu lesen steht. Ich frage: wie kann ein Mann, der durch fünfzehn Jahre der Herr der Welt war, so tief sinken – finanziell gesehen?«
Der Dichter Ebb blieb ihm die Antwort nicht schuldig.
»Sie vergessen eines!« rief er. »Napoleon kam von Waterloo. Ein besiegter Titan hat andere Dinge im Kopf als ein durchgegangener Bankkassierer!«
Trepka lachte trocken.
»Was das betrifft, würden wohl die meisten durchgegangenen Bankkassierer mit einer Reisekasse von zweihundertfünfzigtausend Francs nach dem damaligen Kurs sehr zufrieden sein! Aber im übrigen ist unser Freund Lütjens im Irrtum, wenn er glaubt, daß dieser Betrag alles war, worüber Napoleon verfügte. Erstens erhielt er eine jährliche Apanage von der englischen Regierung, gegen die er fünfzehn Jahre Krieg geführt hatte. Und diese Apanage war in Anbetracht des damaligen Geldwerts gar nicht so geringfügig: achttausend Pfund im Jahre! Man muß schon Filmregisseur sein wie Napoleon, um sein Tafelsilber einschmelzen zu lassen, wenn man über ein solches Jahreseinkommen verfügt. Aber außerdem …«
Ebb war im Begriff, ihm ins Wort zu fallen, aber unterließ es, fasziniert von dem Gesicht der alten Dame. Der Fächer bewegte sich nicht mehr, der Blick aus den achatschwarzen Augen hing an Trepka, wie um jedes Wort einzusaugen, das er sagte.
»Aber außerdem«, fuhr der Bankdirektor fort, »hatte der Kaiser ein Kapital bei einer Bankfirma namens Laffitte – das weiß man aus seinem Testament! Er litt absolut keine Not –, was ihn aber nicht hinderte, auch weiter den gefesselten Prometheus zu spielen und sein Tafelsilber unter so aufsehenerregenden Formen zu verkaufen.«
Der Fächer sank auf ihren Schoß.
»Bewunderungswürdig«, murmelte sie Trepka zu, »ein bewunderungswürdig klares und übersichtliches Exposé! Dieses Wissen! Und dieses Gedächtnis! Aber ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir zu anderen Dingen übergehen!«
Sie drückte auf einen Knopf neben ihrem Fauteuil. Beinahe in derselben Sekunde öffneten sich die Türen links, ein Haushofmeister zeigte sich auf der Schwelle, und ein Tisch wurde auf lautlosen Gummirädern hereingerollt. Es war kein Tisch im Empirestil, er war im Gegenteil so anachronistisch wie nur möglich, denn das Material war Chromstahl und Glas, und er bestand aus mehreren Fächern, die Flaschen, Flaschen und wiederum Flaschen trugen. Möglicherweise hätte ein Cocktailtisch von den Gästen der Villa Longwood mit Mißfallen begrüßt werden sollen. Doch dies war durchaus nicht der Fall. Die drei Brüder, die im Lauf der letzten halben Stunde kein einziges Wort gesprochen hatten, erhoben sich gleichzeitig von ihren Plätzen. Arthur und Allan streckten gähnend ihre langen Gliedmaßen. Martin, der offenbar wußte, was man von ihm erwartete, eilte mit beflügelten Schritten auf den Glastisch zu. In dem Augenblick, in dem er den Cocktailshaker ergriff, betrat ein neuer Gast das Zimmer – der junge Mann, den Ebb tags vorher in Arthurs Gesellschaft gesehen hatte. Er wirkte tatsächlich frappant mit seinen braunen Locken und seiner hohen Stirn. Lütjens und Trepka, die ihn noch nicht gesehen hatten, starrten ihn an wie eine Offenbarung.
Der Dozent suchte in seiner Erinnerung nach einem Vergleich. Der junge Shelley? Ja – vielleicht. Aber außerdem lag noch in der Haltung und seinem Antlitz etwas unbestimmt Exotisches, das selbst auf den romantisiertesten Bildern des englischen Poeten nicht zu finden war.
Nun hatte er es, aber er mußte lächeln, als es ihm einfiel: der Jüngling dort glich Krischna, dem Liebesgott der Inder!
»Wo bist du gewesen, John?« fragte die alte Dame, »und warum kommst du aus der Küche?«
Er murmelte etwas Unhörbares zur Antwort und ließ sich in den Stuhl sinken, von dem Arthur aufgestanden war. Martin war in seinem Element. Seine Hände flatterten wie Lerchenflügel, sein Gesicht strahlte vor Befriedigung. Mit taschenspielerartiger Fertigkeit jonglierte er mit Flaschen und Gläsern, die vielfarbigen Getränke wurden unter seinen Händen geboren, ohne daß man so recht merkte, wie es zuging, er kredenzte sie nach rechts, nach links und vergaß auch sich selbst nicht. Dabei skandierte er Verse:
»Wie erbärmlich sind unsere Seelen!
Wie weit ist die Tat von dem Wort!
Wir sind tugendhaft, selbst wenn wir fehlen
In der Liebe, im Sang wie im Mord …«
Allan und Arthur waren plötzlich gesprächig geworden. Der erstere entpuppte sich als Börseninteressent und befragte Trepka nach den Aussichten für eine neue Hausse in New York, der andere begann, sich bei Ebb nach den wirklichen Aussichten des Kommunismus in Skandinavien zu erkundigen.
»Einen Manhattan, Allan? Bitte sehr! Einen Corpse-Reviver, Arthur? Da hast du!
Wie kraftlos ist unsere Jugend
Gegen einstige Größe und Macht.
O erlöse uns doch von der Tugend,
Du dunkle Göttin der Nacht!«
Der Dozent hörte nur mit halbem Ohr zu. Die ungewohnte Umgebung, die ungewohnten Getränke, die Stimmen, die rings um ihn in einer fremden Sprache summten, all dies trug dazu bei, seine Gedanken abzulenken. Doch einer davon kehrte hartnäckig wieder: warum hatte die alte Dame es gestattet, daß die Enkel ihren Gefühlen so freien Lauf ließen? (Ganz abgesehen davon, daß sie dabei auch ihren schlechten Manieren freien Lauf gelassen hatten.) Kein Zweifel, daß Ebb recht hatte: sie verabscheuten einander. Für den Augenblick hatten sie sich unter dem Einfluß von Martins Drinks beruhigt, aber …
»Noch einen Manhattan, Allan? Bitte sehr. Ein Corpse-Reviver gefällig, Arthur? Hier ist er – wohl bekomm's!«
»Wo bist du gewesen, John? Und warum kommst du durch die Küche?« fragte die alte Dame noch einmal. Der Jüngling mit den braunen Locken hatte seinen Platz in der Fensternische verlassen und war auf sie zugekommen. Diesmal hörte der Dozent, was er antwortete: »Weil es mir mehr Spaß macht, den Koch das Essen bereiten als andere es vertilgen zu sehen.«
Während er dies murmelte, warf er einen Blick auf Arthur. Dieser war zu sehr in seine Diskussion mit Ebb vertieft, als daß er den Ausdruck seiner Augen bemerkt hätte.
Aber der Dozent sah ihn und fühlte einen leisen Schauer über den Rücken laufen. Ebb hatte gesagt, der junge John sei Arthurs geschworener Trabant. Aber was aus diesem Blick auch sprechen mochte, Zuneigung war es keinesfalls. Was war geschehen? Waren auch diese beiden verfeindet?
Martins Hände tanzten weiter. Sonderbar, dachte Lütjens, daß die alte Dame, die doch so streng sein soll, ein solches Pokulieren zuläßt! Geschieht es im Hinblick auf den berühmten Durst der Nordländer? Auf alle Fälle waren es nicht die Vertreter Skandinaviens, die am meisten tranken.
Gerade als er diese Betrachtung anstellte, öffneten sich die Flügeltüren zum Speisesaal, und der Haushofmeister erschien mit einer Verbeugung auf der Schwelle:
»Madame est servie!«
»Finden Sie sich zurecht?« fragte Mistreß Vanloo den Bankdirektor, der ihr den Arm geboten hatte, um sie in den Speisesaal zu führen.
Er warf einen Blick um sich und neigte bejahend den Kopf. »Madame, Ihre Villa ist mit einer Stiltreue eingerichtet, die mehr als verblüffend ist – einfach überwältigend! Das ist alles, was ich sagen kann!«
Sie lächelte geschmeichelt, während sie mit einer Handbewegung die Gäste um den Tisch verteilte.
»Aber eines wird nicht im Stil sein«, bemerkte sie, »und das ist das Menü. Nachdem Sie alles über den Kaiser wissen, wissen Sie natürlich auch, daß er kein guter Katholik war. Er aß auch am Freitag Fleisch. Aber wissen Sie, was Sie heute zu essen bekommen, Mister Trepka? Bouillabaisse!«
»Madame«, antwortete er galant, »Sie müssen meine geheimsten Wünsche erraten haben! Wenn es eine Speise gibt, die ich liebe, so ist es Bouillabaisse! Und wenn ich keinen anderen Anlaß gehabt hätte, an die Riviera zu fahren, würde allein der Gedanke daran mich hergelockt haben.«
Das spezielle Mittelmeergericht, das sich Bouillabaisse nennt, enthält die meisten der guten fetten Fische, die in diesem Meer vorkommen, und überdies Langusten und Krabben. Sie wird mit Knoblauch, Lorbeerblättern, Nelken und Safran gewürzt, und richtig zubereitet, ist sie eine Speise, der Tafel der Götter würdig. Von einem Seitentischchen, wo ein gewaltiger Kessel über einer Flamme brodelte, trug der Haushofmeister eine breitbauchige gelbe Terrine herbei, gefüllt mit der duftenden Suppe. Er stellte sie vor die alte Dame hin. Sie schöpfte ein paar Löffel auf ihren Teller und kostete mit kritischer Miene.
»Sehr gut, Jean«, sagte sie, »nur …«
Er zog fragend die Augenbrauen hoch, aber man hatte den Eindruck, daß er schon wußte, was jetzt kommen würde.
»Ist etwas an der Suppe nicht recht, Madame?«
»Nichts anderes, als daß sie zu wenig gewürzt ist, Jean. Wie heißt das Gewürz, das der Bouillabaisse vor allem die Seele verleiht?«
»Wenn ich nicht irre, Safran, Madame.«
»Das könnten Sie im Hinblick darauf, wie oft wir Bouillabaisse haben, wirklich schon wissen! Aber außerdem ist sie auch noch zu wenig gesalzen und gepfeffert! Wollen Sie so gut sein und mir das Gestell für Salz und Pfeffer reichen? Danke. Und wollen Sie dem Koch bestellen, was ich gesagt habe?«
»Bitte sehr, gewiß, Madame«, antwortete der Haushofmeister zerknirscht, »wird sofort geschehen.«
Er hatte das Gestell aus altem Silber vor sie placiert. Sie streute Gewürze in die dampfende Suppe, kostete und rührte um.
»Du warst ja vor dem Mittagessen in der Küche, John! Hättest du dem Koch nicht ein bißchen an die Hand gehen können? Du sagtest doch vorhin, du interessierst dich mehr dafür, die Speisen zu bereiten, als sie zu essen!«
Der Jüngling mit den braunen Locken antwortete nicht. Er starrte mit jenem Ausdruck stummer Verbitterung in seinen Teller, den alle Jünglinge auf der ganzen Welt annehmen, wenn man im Beisein von Fremden indiskrete Fragen an sie richtet. Mit seinem linken Ohr fing der Dozent ein Theaterflüstern von Martin Vanloo auf:
»Jedesmal dieselbe Geschichte – die Suppe ist zu wenig gewürzt! Wo man doch weiß, daß er Ordre hat, nicht zu stark zu würzen …«
Das Gesicht des Haushofmeisters, als sie endlich andeutete, er könne servieren, war eines römischen Auguren würdig. Er schöpfte den ersten Teller voll und reichte ihn Trepka. Die alte Dame fragte besorgt, ob der Herr Bankdirektor die Suppe nach seinem Geschmack finde. Nach so vielen Vorbereitungen fühlte dieser eine leise Unruhe bezüglich des Resultats, aber das wäre nicht nötig gewesen: die Bouillabaisse war delikat.
Nach der Fischsuppe wurde im Widerstreit zu allen kirchlichen Prinzipien ein Lammrücken mit Salat aufgetragen, und nachher Käse. Zu den zwei letzteren Gängen bekamen die Gäste Chambertin – »der Wein des Kaisers«, wie die Dame des Hauses ihren Tischherrn aufmerksam machte.
Dieser erwiderte ihr Lächeln ein wenig zerstreut. Es war ihm unmöglich gewesen, ihr im Laufe des ganzen Mittagessens mehr als ein paar Phrasen zu entlocken. Mit dem Augenblick, in dem man sich zu Tisch gesetzt hatte, war es, als sei ihre ganze Elastizität verschwunden. War es das Alter, das sich geltend machte? Aber sie war bei glänzendem Appetit, und ab und zu erhaschte Trepka einen Blick, der alles eher als Mattigkeit verriet, eher Unruhe, um nicht zu sagen Mißtrauen. Die Blicke gingen immer in dieselbe Richtung – zu dem jungen John mit den braunen Locken. Dieser aß, ohne von seinem Teller aufzusehen, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er der alten Dame ihre Indiskretion von vorhin noch nicht verziehen.
Nach dem Käse kam Obst, das die meisten ablehnten oder nur der Form halber nahmen. Als sie sich davon vergewissert hatte, sagte sie mit einer leichten Kopfneigung:
»Meine geehrten Gäste aus Skandinavien, ich hoffe, Sie verzeihen einer alten Frau, wenn sie Sie bittet, sie zu entschuldigen. Ich bin ein wenig müde. Wenn Sie ein andermal Lust haben sollten, mich mit Ihrem Besuch zu beehren, wird mir das große Freude bereiten! Sie sind so reich an Kenntnissen und Ideen, daß ich es eigentlich kaum wage, Ihnen einen solchen Vorschlag zu machen. Aber so ist das Alter, es ist gierig! Manchmal sammelt es Geld – ich für meine Person sammle interessante Menschen! Haben Sie also Nachsicht mit mir – und auf recht baldiges Wiedersehen, meine Herren!«
Die Gäste antworteten mit Komplimenten. Der Dozent, Ebb und Trepka begannen sich zu verabschieden. Bei den letzten Worten der Hausfrau waren die drei Enkel wie auf Kommando aufgestanden. Wenn dies in der Hoffnung geschehen war, die Besucher in die Stadt begleiten zu können, so waren alle derartigen Hoffnungen dazu verurteilt, auf das grausamste enttäuscht zu werden. Mit einem Funkeln aufflammender Energie in den Augen wandte sie sich ihnen zu und sagte:
»Arthur, ich habe nichts dagegen, daß du in die Stadt gehst, John – mit dir habe ich etwas zu besprechen. Und euch, Allan und Martin, möchte ich bitten, zu warten, bis ich mit John gesprochen habe! Wir haben auch noch über ein paar Sachen zu plaudern.«
Eine recht energische alte Dame, wenn sie auch einer Elfenbeinmadonna glich und aussah, als könnte ein Lüftchen aus einem geöffneten Fenster sie umblasen. So dachten die Gäste, und zwei der Angeredeten zögerten nicht, ihre Proteste vorzubringen:
»Aber Granny …«
»Du hörst, was ich sage, Martin!«
»All right, Granny, wie du willst, natürlich!« (Aber Martins Augen sagten etwas anderes.)
»Schau doch, Großmutter …«
»Allan, du hast gehört, was ich gesagt habe. Du bist in letzter Zeit fast jeden Abend spät ins Bett gekommen, sagt die Kammerjungfer. Und es tut dir nicht gut, spät ins Bett zu kommen. Du nimmst ohnehin schon gerade genug Schlafmittel!«
»Ist schon recht, Großmutter.«
Lütjens fing ein Theaterkichern Arthurs auf.
»Haha, und dabei kennt sie noch sein am feinsten gepacktes Schlafpulver nicht, das in Chinchilla gewickelt ist!«
Während der Dozent draußen in der Vorhalle seinen Hut suchte, fuhr er plötzlich zusammen. Von der Gartentreppe her schlugen flüsternde Stimmen an sein Ohr. In der einen, die dumpf und drohend war, erkannte er unschwer Arthur Vanloos Stimme, die andere klang heiser wie im Stimmwechsel. Sie gehörte dem jungen John.
»Genug!« knurrte die erste Stimme. »Wir sprechen noch weiter über die Sache!«
»Genau das verlange ich auch!« antwortete die andere, schrillere.
Als der Dozent auf die Treppe hinaustrat, war jedoch nur mehr Arthur da. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und starrte zum Nachthimmel mit seiner Heerschar von Sternen empor. Als er Lütjens erblickte, lachte er – ein trockenes, wieherndes Lachen. »Sie sehen, ich starre zu den Sternen empor, und glauben vermutlich, daß ich dieselben Betrachtungen anstelle wie Napoleon, über den heute abend so viel Blech geschwatzt worden ist: ›Ich sehe gesetzmäßige Bewegungen, also ahne ich einen Gesetzgeber!‹ Aber ich sehe nur, was ein anderer berühmter Mann Tropfen aus Feuer und Tropfen aus Schmutz genannt hat, die umeinander kreisen und auf denen man damit beschäftigt ist, sich gegenseitig aufzufressen. Gesetze! Ein Gesetzgeber! Es wird keine vernünftigen Gesetze geben, ehe die Menschen sich nicht von allen Vorurteilen befreit und sich selbst neue Gesetze gegeben haben.«
»Und was ist der Unterschied zwischen den Gesetzen der Menschen und ihren Vorurteilen?« erkundigte sich der Dozent gelassen.
Vanloo antwortete nicht. Ebb und Trepka waren herausgekommen, und alle vier begannen die Allee hinunterzuwandern, die zur Stadt führte. Rings um sie ertönte ein Orchester von gebrochenen Tönen. Es waren die zahllosen Frösche der Zisternen, die sich über weite Gewässer und trennenden Zement hinweg ihre Liebe zuriefen.
»Ein Gesetz ist vernünftig, ein Vorurteil unvernünftig. Zwischen ihnen ist derselbe Unterschied wie zwischen Wissenschaft und Religion«, antwortete Vanloo.
»Und woher weiß man, ob ein Gesetz wirklich vernünftig ist?« beharrte der Dozent. »Hängt dies davon ab, wie radikal der Gesetzgeber ist? In diesem Fall müßten ja die Gesetze, die die radikale französische Republik erläßt, überaus vernünftig sein. Aber wenn ich richtig verstanden habe, tun Sie, was Sie können, um sie umzustoßen – mit Hilfe Ihres jungen Verwandten John?«
Sie waren nun am Stadtrand angelangt. Die ersten Cafés und Geschäfte begannen schon aufzutauchen. Arthur Vanloos Habichtprofil war schärfer denn je. Seine Augen glommen im Halbdunkel der Nacht beinahe dämonisch.
»Man muß die Jugend für sich haben, wenn man die Zukunft für sich haben soll«, antwortete er. »Lasset die Kindlein zu mir kommen, wie es heißt.«
»Es gibt zwei, die diese Äußerung getan haben«, sagte der Dozent, »der andere war Moloch.«
Der junge Mann mit der Habichtnase starrte ihn einen Augenblick mit einem vieldeutigen Ausdruck an, dann drehte er sich ohne ein Wort des Abschieds auf dem Absatz herum, öffnete die Tür zu einem kleinen Café und trat ein. Durch das beleuchtete Fenster sahen die drei Skandinavier, wie er sich an einem Büfett selbst bediente. Und was nahm er? Backwerk, das er auf einen Teller legte – nein, zwei, drei Stückchen, alle von der gleichen Gattung. Mit diesen als Zerstreuung verschwand er aus ihrem Gesichtskreis in eine Ecke. Die Mitglieder des ersten skandinavischen Kriminalklubs starrten einander mit einer Verblüffung an, die sie weder bemänteln konnten noch wollten.
»Backwerk!« sagte Trepka. »Hat er denn zu Hause noch nicht genug zu essen bekommen?«
»Backwerk!« sagte Christian Ebb. »Hat die Großmutter die drei anderen zurückgehalten, um sie am Naschen zu hindern?«
»Wäre es nicht an der Zeit, daß wir selbst nach Hause gehen?« fragte der Dozent.
Dieser Vorschlag wurde trotz der Proteste des Dichters Ebb schließlich angenommen. Als der Begriff Arthur Vanloo das nächste Mal an ihrem Gedankenhorizont auftauchte, war es unter ganz neuen Aspekten.
Die Uhr zeigte kaum neun Uhr morgens, als Geneviève die Schlafzimmertür des Dichters Ebb aufriß und mitteilte, daß sich in der Villa, in der er am Abend zu Gast gewesen war, etwas sehr Trauriges ereignet hatte. Mr. Arthur Vanloo war im Laufe der Nacht plötzlich gestorben.