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Sechstes Kapitel.
Lord Peter geht zum Arzt, French in die Bibliothek und Vater Brown in die Konditorei

1

Dozent Lütjens hatte sich nicht getäuscht: Trepka lachte. Was er aber nicht vorausgesehen hatte, das war der Umfang seiner Heiterkeit. Das dänische Mitglied des Kriminalklubs lachte so, daß ihm die Tränen über die rosigen Wangen rollten und sein Amorettenmund beinahe auseinanderging. Zwischendurch stöhnte er seine Gedanken und Betrachtungen über das Obduktionsergebnis hervor: »Ah, hahaha, so geht es, wenn Amateure Sherlock Holmes spielen wollen! So schaut es aus, wenn sie Umschlagpapiere und Fußabdrücke sammeln! Drei Brüder sind in ihren Geldmitteln etwas knapp, haben aber alle eine Erbschaft zu erwarten. Da stirbt einer von ihnen, und schwups – muß einer der anderen ihn ermordet haben! Ah, welche echt schwedisch-norwegische Naivität, welche blauäugige …«

»Sehr lustig!« zischte der Dozent, der anfing, selbst und auch Ebbs wegen irritiert zu werden. »Ja, überaus lustig in jeder Weise – wenn man davon absieht, daß ein Todesfall mich nie so fröhlich zu stimmen pflegt. Aber gestatten Sie mir, ein Wort von Ihnen aufzugreifen, lieber Trepka! Sie sagten, daß alle Brüder eine Erbschaft zu erwarten haben! Woher wissen Sie das? Haben Sie sich über die Testamentsbestimmungen informiert?«

Das Lachen des Bankdirektors war wie durch einen Zauberschlag verstummt. Blitzschnelle Gedanken durchzuckten sein Hirn. So wie das Testament abgefaßt war, hatten ja nicht alle Brüder eine Erbschaft zu erwarten. Aber wenn er zugab, daß er das wußte, entblößte er im selben Augenblick seine Achillesferse: er verriet, daß er Nachforschungen angestellt hatte. Nachforschungen ließen sich nicht gut mit der sublimen Überlegenheit in Einklang bringen, die er vor seinen zwei Kollegen zur Schau trug. Nein, über seine Nachforschungen durfte nichts verlauten.

»Warum sollte das Testament nicht so sein, wie Testamente zu sein pflegen?« schnauzte er ihn an. »Haben Sie irgendeinen Anlaß, das Gegenteil zu glauben?« fragte er, so den Krieg auf das Feld des Gegners verlegend. »Haben Sie sich nach den Testamentsbestimmungen erkundigt?« schleuderte er in einem Ton heraus, der deutlich zu erkennen gab, daß er über diesen Punkt glaubte, was ihm beliebte. »Sonst wäre es höchste Zeit, daß Sie das tun!« hohnlachte er. »Irgendeine Grundlage in der Wirklichkeit sollte doch selbst die luftigste Theorie haben.«

»Nein«, antwortete der Dozent sanftmütig, »ich habe nicht versucht, in Erfahrung zu bringen, was in dem Testament steht. Das wäre wohl auch eine verzwickte Aufgabe für einen schlichten Religionshistoriker – einem Bankmann würde sie bestimmt besser liegen«, fügte er mit einem Blick über die Augengläser hinzu, dem Trepka auswich. »Aber ich sprach zufälligerweise jemand hier in der Stadt, der eine recht eigentümliche Bemerkung fallen ließ. Er sagte von einem der Brüder Vanloo: ›Er besitzt keinen Centime, und wer weiß, ob er je etwas erben wird!‹ Wenn das Testament wäre, wie Testamente zu sein pflegen, könnte es ja über diesen Punkt keinen Zweifel geben! Wenn alles an einen der Brüder fällt, ist ja sofort eine gewisse Grundlage für – hm – luftige Theorien gegeben. Oder nicht?«

»Wer war der Mann, mit dem Sie gesprochen haben?« fragte Trepka. Lütjens würde doch nicht etwa Herrn Parmentier einen Besuch abgestattet haben, fuhr es ihm durch den Sinn.

»Mein Gewährsmann«, erwiderte der Dozent ausweichend, »ist das, was man einen glaubwürdigen Zeugen zu nennen pflegt. Ich erwähne seine Worte, um zu zeigen, daß man seinen Zweifel auf ebenso losem Grunde aufbauen kann wie seinen Glauben, lieber Trepka. Das ist etwas, was die Menschheit im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte vergessen hat!«

Der Bankdirektor sog wie ein Rasender an seiner Zigarre.

»Meinen Sie, daß Sie das Obduktionsresultat bestreiten wollen?« rief er. »Doktor Duroc gilt für den besten Arzt in Mentone, er hat eine Analyse gemacht und ist zu einem bestimmten Resultat gelangt. Weigern Sie sich, zuzugeben, daß dieses Resultat Ihren und Ebbs Spekulationen den Boden entzieht? Sagen Sie mir, daß dem nicht so ist!« bat der Bankdirektor inständig. »Sie sind doch selbst in gewisser Weise ein Mann der Wissenschaft!«

»In gewisser Weise dürfte ich das wohl sein«, räumte der Dozent ein, »wenn Sie auch meine Wissenschaft kaum auf gleiche Stufe mit der eines Mediziners stellen. Sie sprachen von der Analyse des Doktors! Alle sogenannten exakten Wissenschaften sind ja auf der Analyse aufgebaut, und ich bestreite nicht, daß die Methode großartige Resultate erzielt hat. Aber ich frage mich, ob sie jetzt nicht zu weit getrieben wird – ob sie nicht bereits zu weit getrieben wurde. Analysiert man lange genug, verrinnt einem schließlich das Objekt der Analyse zwischen den Fingern, und das ganze Weltbild löst sich in verworrene Farbenflecke auf wie bei gewissen modernen sogenannten Kunstwerken.«

»Hat Ihnen Doktor Durocs Analyse Anlaß zu diesen tiefsinnigen Sophismen gegeben?« erkundigte sich der Bankdirektor. »Wollen Sie andeuten, daß seine Analyse falsch ist, weil sie ein anderes Resultat ergeben hat als das von Ihnen erwartete?«

»Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß sie nach allen Regeln der Kunst durchgeführt wurde«, versicherte Lütjens. »Was ich sagen wollte, war nur, daß es neben der Analyse noch etwas gibt, das Synthese heißt, und daß die Wissenschaft im Begriff ist, das eine über dem anderen zu vergessen. Die Psychoanalyse löst das Seelenleben in eine Anzahl elementarer Triebe auf und sagt, nun sei die Sache klar: das ist die Seele. Aber ebensogut könnte ein Chemiker Kochsalz in Chlor und Natrium auflösen und sagen: das ist das Ganze.«

»Nun, besteht denn aber Kochsalz nicht aus Chlor und Natrium?« fragte Trepka milde. »Ich glaube mich doch aus der Schule daran zu erinnern.«

»Ja«, antwortete der Dozent, »so ist es. Aber Sie vergessen eines: sowohl Chlor wie Natrium sind lebensgefährliche Elemente, Gifte. Und nichtsdestoweniger verbinden die chemischen Kräfte sie zu etwas Neuem, zu einer neuen Substanz, die direkt lebensnotwendig ist, zu Kochsalz! – Die Analyse ist richtig, aber ohne Synthese grundfalsch!«

Trepka versank einen Augenblick in Gedanken, aus denen er mit einem herzlichen Lachen emporfuhr.

»Hahaha! Chlor und Natrium sind jedes für sich giftig, aber zusammen unschädlich! Vermutlich gibt es Stoffe, die jeder für sich unschädlich sind, zusammen aber giftig werden? Vermutlich ist Arthur Vanloo solchen Stoffen zum Opfer gefallen? Nicht wahr? Darauf wollten Sie hinaus? Sagen Sie es doch nur!«

»Ich kenne keine solchen Stoffe!« antwortete der Dozent, »und wenn es sie gäbe, müßten sie ja von Doktor Duroc agnosziert worden sein. Ich wollte Sie, lieber Freund, nur vor allzuviel Analyse warnen. Analysiert man den Wald lange genug, sieht man ihn vor lauter Bäumen nicht mehr. Ich frage mich, ob Sie bei diesem Falle nicht auch so etwas riskieren!«

»Diesem Falle! Jetzt ist es glücklich wieder ein ›Fall‹! Das Gutachten des Doktors gilt nichts, der gewöhnliche gesunde Menschenverstand gilt nichts, Arthur Vanloo ist ermordet worden, obgleich sowohl die gesunde Vernunft wie die Wissenschaft das Gegenteil sagen! Er ist auf synthetischem Wege ermordet worden! Warum sollte es nicht synthetische Morde geben, wenn es doch synthetischen Gummi und synthetische Butter gibt! Der erste synthetische Mord der Weltgeschichte, aufgedeckt vom Dozenten A. Lütjens! Unerhörte Sensation! Alle Einzelheiten durch unseren Korrespondenten am Platze, Ch. Ebb. Nein, diese norwegisch-schwedische Naivität treibt mich noch zum Wahnsinn!«

Erst bei den letzten Worten erwachte der Dichter Ebb aus seinen tiefen Gedanken, aus denen weder Trepkas Sarkasmen noch die Antworten von dessen Gegner ihn zu reißen vermocht hatten.

»Norwegisch-schwedische Naivität«, murmelte er, »kann sein, aber …«

»Aber was er den Weisen verborgen hat, das hat er den Einfältigen offenbart?« ergänzte der Bankmann.

»Aber wollen Sie in Abrede stellen, daß ein junger Mann, der sich um elf Uhr abends nach allem zu schließen bei bestem Wohlsein befand, am nächsten Morgen ohne ersichtliche Ursache tot aufgefunden wurde? Und nennen Sie das normal?«

»Ich nenne es weder normal noch anormal. Ich halte mich an den Rapport des Arztes, der sagt, daß der Beerdigung nichts im Wege steht. Bestreiten Sie ihn?«

Ebb antwortete nicht.

»Noch immer das Umschlagpapier und die Fußabdrücke?« erkundigte sich Trepka. »Oder ist etwas Neues hinzugekommen? Haben Sie vielleicht auch synthetische Wissensquellen?« fügte er mit vernichtender Ironie hinzu.

Ebb sah auf.

»Sagen Sie: pflegen Sie nicht einen Morgenspaziergang am Hafen zu machen? Oder täusche ich mich?«

Der Gesichtsausdruck des Bankdirektors veränderte sich plötzlich.

»Allerdings, da mein Hotel ganz in der Nähe gelegen ist.«

»Dann sind Sie wohl auch gestern morgen dort spazierengegangen?«

»Ja, natürlich. Warum? Kann mich das irgendwie in die Mordaffäre verwickeln?«

»Sie haben nichts gesehen?«

»Ich habe Boote und Fischernetze gesehen und Marktweiber und …«

»Aber nichts, das Ihnen aufgefallen ist?«

Trepka steckte sich eine frische Zigarre an.

»Aufgefallen, aufgefallen! Können Sie sich nicht etwas deutlicher ausdrücken?«

»Merkwürdig!« sagte Ebb. »Daß gerade Sie mit Ihren offenen Augen nichts gesehen haben! Das zeigt wieder, was man von Zeugenaussagen zu halten hat! Aber sonderbar ist es!«

»Diese Rätsel!« rief Trepka. »Wenn Sie in der Art, wie Sie reden, Verse schrieben, könnte man Ihre Gedichte in jeder Familienzeitschrift für die Rätselecke als ›Etwas zum Kopfzerbrechen‹ verwenden. Wo wollen Sie eigentlich hinaus?«

Er schleuderte die eben angezündete Zigarre in die Aschenschale, so daß sie in einem Funkenregen erlosch.

Nun mischte sich der Dozent ins Gespräch.

»Was hat Freund Trepka gesehen, das er uns vorenthalten hat?« fragte er mit einem schalkhaften Lächeln. »Lassen Sie es uns hören! Quälen Sie ihn nicht länger!«

Der Bankdirektor, der, in Widerspruch zu allen heiligen Regeln des Nikotinismus, im Begriffe war, seine massakrierte Zigarre neuerdings anzuzünden, legte sie mit einer Miene weg, als ob er sich daran verbrannt hätte.

»Was sagen Sie, Lütjens? Ich hätte etwas gesehen? Ich habe Sie bisher für einen vernünftigen Menschen gehalten, aber …«

»Gestern um halb acht Uhr morgens«, sagte Ebb, an den Dozenten gewendet, »saß Allan Vanloo in einer Kneipe am Hafen und trank Absinth. Er pflegt keine Buschenschenken zu frequentieren. Er pflegt auch nicht Absinth zu trinken, und am allerwenigsten kann man sich ihn in aller Frühe in einem solchen Beisel Absinth trinkend vorstellen. Nichtsdestoweniger tat er dies gestern morgen – noch dazu so gründlich, daß er beim Fortgehen unsicher auf den Beinen war. Ich habe mein Wissen von Geneviève, und sie hatte die Neuigkeit von einer Freundin gehört, die dort unten Fische verkauft. Das ganze Hafenviertel sprach von nichts anderem als von Allan Vanloo und seinem Besuch in der Bar des Amis. Unser Freund Trepka, den sein Weg durch diese Gegend führte, war sicherlich der einzige, der nichts gesehen hat! Ist das nicht merkwürdig?«

Mit einem schrillen Auflachen tötete der Bankdirektor zum zweitenmal seine Zigarre.

»Man könnte glauben, zum Verhör in der Halle des Gerichtes zu sein!« rief er. »Allan Vanloo hat einen Schock erlitten, er hat seinen Bruder verloren, er braucht etwas Nervenstärkendes, und da die alte Mistreß Vanloo sicherlich alle alkoholischen Getränke unter Schloß und Riegel hält, macht er einen Sprung in die Stadt und nimmt in einem billigen Lokal einen Drink zu sich – vermutlich schwimmt er auch nicht gerade in Geld! Sofort stecken alle Klatschbasen des Viertels die Köpfe zusammen und sagen: ›Da haben wir den Mörder!‹ Ihre Weisheitsworte werden sofort an zwei Personen weitergegeben, denen man nicht …«

»Die Fortsetzung kennen wir!« versicherte Ebb. »Sagen Sie mir nur eines, lieber Trepka, warum haben Sie aber doch nicht erzählt, daß Sie ihn gesehen haben?«

»Weil ich ein Christenmensch bin!« brüllte der Bankdirektor so heftig, daß die Scheiben zitterten. »Weil ich nicht falsches Zeugnis ablegen will wider meinen Nächsten! Und unter falschem Zeugnis verstehe ich haltlosen Klatsch, der zu verrückten Theorien von beschäftigungslosen Menschen ausgebaut wird, die sich lieber … Guten Morgen!«

Er verschwand mit den Resten der Zigarre im Munde in den Garten. Die zwei zurückgebliebenen Mitglieder des skandinavischen Kriminalklubs sahen sich gedankenvoll an.

»Ist das der endgültige Bruch?« fragte der Dichter. »Ist das der Bürgerkrieg zwischen den nordischen Völkern?«

»Das glaube ich nicht«, antwortete der Dozent beruhigend. »Wenn Trepka über das, was er gesehen hat, schwieg, so geschah es wohl, weil er im tiefsten Inneren selbst unsicher ist. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er auf eigene Faust Untersuchungen vorgenommen hätte – ganz wie Sie!«

»Apropos Untersuchungen«, sagte Ebb und strich seinen Bocksschopf aus der Stirn, »brauchen Sie Geld, lieber Lütjens?«

»Wie sagten Sie?« fragte der Dozent überrascht. »Ob ich Geld brauche?«

»Herrgott, das kann doch schließlich bei jedem mal vorkommen! Also brauchen Sie welches?«

»Nein – aber warum fragen Sie?«

»Nur um Sie vor den hiesigen Privatbankiers zu warnen! Die nehmen unglaubliche Zinsen, wenn einem das Wasser bis zum Halse geht …«

»So?« fragte Lütjens sehr ernst. »Ja, ich glaube, das schon von anderer Seite gehört zu haben. Namentlich soll es da einen Herrn Théron in der Villa Ma Mie geben … Kennen Sie ihn?«

»Nicht persönlich, aber ich komme öfters an seiner Villa vorbei. Wenn ich ihn, mit seinem Töchterlein auf dem Schoß, sehe, muß ich immer an Werenskjolds Koboldzeichnungen denken. Wie gesagt, wenn Sie Geld brauchen, lieber Lütjens, wenden Sie sich nicht an ihn, sondern an mich! Mein letzter Gedichtband ist Gott sei Dank recht gut gegangen.«

»Das freut mich«, sagte der Dozent herzlich. »Ich danke Ihnen für Ihr Anerbieten, aber gottlob habe ich sowohl ein Reiseakkreditiv wie auch ein Scheckbuch auf eine schwedische Bank mit.«

Die zwei grüßten sich mit einem der Auguren würdigen Ernst. Zehn Minuten später war Ebb auf dem Weg zu Doktor Maxence Duroc.

2

Der Doktor gab sich äußerst professionell, als der Dichter schließlich in sein Ordinationszimmer eingelassen wurde. Die Begegnung in der Villa Longwood schien seinem Gedächtnis offenbar entschwunden zu sein. Er untersuchte die Lunge des Dichters lange und gründlich und erklärte dann, daß keine Gefahr bestehe und der Patient bei vernünftiger Lebensweise in einem Klima wie diesem steinalt werden könne.

»Ich riskiere also keinen so plötzlichen Hingang wie unser gemeinsamer Bekannter Arthur Vanloo?« fragte Ebb mit einem so strahlenden Lächeln, wie es selbst die Kritiker der Zeitung »Tidens Tegn« in Oslo zu entwaffnen pflegte.

Der Doktor zog seine Augenbrauen zu einem schwarzen Knoten zusammen und musterte Ebbs Gesicht.

»Ah, ja, richtig!« murmelte er endlich. »Wir haben uns ja im Park getroffen! Nein, wenn Sie so leben, wie ich Ihnen gesagt habe, können Sie ganz unbesorgt sein. Guten …«

Der Besuch des Dichters Ebb war – überflüssig, es zu sagen – von detektivischen, nicht von medizinischen Motiven diktiert. Er wußte genau, wie es um seine Lunge stand. Und er gedachte den Doktor, nachdem er ihn jetzt eingekreist hatte, nicht entkommen zu lassen. Er machte sein Lächeln noch strahlender und ließ die Zunge mit Blitzesschnelle laufen.

»Ja, wir haben uns im Park getroffen. Ich hörte, daß Sie eine Obduktion vornehmen würden, und später erfuhr ich, daß das Ergebnis so ausfiel, wie es normalerweise vorauszusehen war. Das ist ja sehr erfreulich! Wir lesen doch alle Detektivromane, und gerade an dem Abend vor dem Todesfall war ich eigentümlicherweise aufgefordert worden, gemeinsam mit zwei Freunden einem Detektivromankomitee beizutreten – übrigens sind wir alle drei an diesem Abend mit Arthur Vanloo bekannt geworden. Als am nächsten Morgen die Nachricht von seinem Tod kam …«

Bei Ebbs ersten Worten hatten sich die Brauen des Doktors noch mehr zusammengezogen, aber bei dem Worte Detektivgeschichten erhellten sich seine Züge ein wenig, und als der norwegische Dichter zu dem Worte Detektivromankomitee gekommen war, wurde der schwarze Bart von einem Lächeln gespalten – einem Lächeln von olympischer Ironie. Es war augenscheinlich, daß Doktor Duroc eine klare, ausgesprochene Meinung über den Wert der genannten Literaturgattung vom medizinischen Gesichtspunkt her hatte und daß er den Gedanken an ein Komitee, das sich ausschließlich mit solchen Büchern zu beschäftigen hatte, von einer Komik fand, die sich schon dem Erhabenen näherte.

»Diable!« sagte er, als Ebb innehielt. »Ein Komitee zur Auswahl von Detektivromanen! Und Sie sind Mitglied des Komitees! Und in dieser Eigenschaft haben Sie sich Gedanken über Arthur Vanloos Hingang gemacht! Sicherlich sind sie aller Aufmerksamkeit wert! Sicherlich verdienen sie diskutiert zu werden! Und welche Richtung nahmen diese Gedanken, wenn ich fragen darf, cher Maître?«

»Gleich nachdem wir uns getrennt hatten«, antwortete Ebb im selben Ton, »machte ich im Park einen Fund. Ich fand etwas hinter einem Strauch versteckt. Ich fand dies!«

Und er präsentierte mit dramatischer Geste das graubraune Umschlagpapier. Man konnte nicht sagen, daß es auf den Doktor Eindruck zu machen schien.

»Sie fanden dieses Papier«, bestätigte er mit einem Aufleuchten im Auge, »und welche Schlußfolgerungen haben Sie aus Ihrem Funde gezogen, cher Maître?«

»Ich fragte mich«, sagte Ebb, »ob das nicht möglicherweise die Emballage einer gewissen Sendung sein könnte, von der Sie wohl auch gehört haben. Vor einigen Tagen kam einem Boten zu Rad ein Paket abhanden, nach dem dann von der hiesigen Polizei im Rundfunk gefahndet wurde. Das Paket stammte aus der Pharmacie Polonaise und enthielt ein überaus gefährliches Gift, Nikotin in reiner Form.«

Das Lächeln des Doktors war langsam erloschen. Er nahm das Umschlagpapier und untersuchte es mit einer Gründlichkeit, die Ebb überraschte.

»Vorsichtshalber«, fügte der Dichter hinzu, »erkundigte ich mich, von wo die Villa Longwood ihre Apothekerwaren zu beziehen pflegt. Nicht von der Pharmacie Polonaise.«

»Sie meinen«, sagte der Arzt nach einer Pause, »daß dieses Papier die verschwundene Sendung enthalten haben kann? Sind Sie in Ihren Theorien noch weiter gegangen?«

»Ja. Aber sehen wir einstweilen davon ab! Was sagen Sie zu meiner Theorie, daß das Papier die verschwundene Sendung enthalten haben kann und daß die Sendung etwas mit Arthur Vanloo so plötzlichem Hinscheiden zu tun gehabt haben mag? Ist sie sehr naiv?«

Doktor Maxence durchkämmte seinen schwarzen Bart mit den Fingern. »Cher Maître, darf ich fragen, haben Sie von Ihrer interessanten Theorie jemandem Mitteilung gemacht?«

»Nur meinen zwei Kollegen im Komitee.«

»Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Verbreiten Sie sie nicht weiter! Da Sie mich fragen, was ich davon halte, will ich Ihnen mit drei Worten antworten: Sie ist unmöglich.«

»Aber Sie haben doch selbst den Todesfall eigentümlich gefunden«, begann Ebb.

»Ich wollte nicht stehenden Fußes ein Todesattest ausstellen, das ist richtig. Aber inzwischen habe ich ein solches Attest geschrieben. Das sollte als Antwort genügen. Ich habe die Ehre, mich Ihnen …«

»Einen Augenblick!« bat Ebb. »Wollen Sie einem armen Mitglied eines Detektivromankomitees nicht einen Gefallen erweisen? Wollen Sie ihm nicht sagen, warum der Gedanke an eine Nikotinvergiftung so total unmöglich ist?«

Der Doktor zuckte die Achseln, wie ein Vater, der sich den Wünschen eines eigensinnigen Kindes fügt.

»Ich weiß nicht, wie viel oder wie wenig Sie über die Wirkungen des Giftes wissen, von dem Sie sprechen«, sagte er in einem Tone, der zum Ausdruck brachte, daß die zweite Alternative ihm weitaus wahrscheinlicher vorkam. »Möglicherweise wissen Sie, daß es Schwindel, Magenschmerzen, heftige Schweißausbrüche und verzerrte Gesichtszüge hervorruft. Beim Sezieren zeigen sich andere Symptome. Magen und Hirn sind blutüberfüllt, das Blut dunkelfarbig, das Herz schlaff. Das Bild ist nicht zu verkennen. Und eben deshalb muß ich, nachdem ich Arthur Vanloos irdische Überreste untersucht habe, Ihre im übrigen äußerst interessante Theorie höflich, aber entschieden ablehnen. Ich habe die …«

Aber Ebb wollte sich nicht so leicht ergeben.

»Einige der Symptome, die Sie zuerst aufzählten«, schrie er beinahe, »waren ja bei dem Verstorbenen vorhanden, starker Schweißausbruch, verzerrte Gesichtszüge und …«

»Solche Symptome sind vielen Krankheiten gemeinsam«, schnitt Doktor Duroc seinen Redefluß ab, diesmal mit einer Stimme, die zeigte, daß seine Geduld erschöpft war. »Arthur Vanloo hatte, wie ich bei meiner Untersuchung konstatieren konnte, ein schwaches Herz, und er ist an einem Herzkrampf gestorben. Keine – lassen Sie mich es Ihnen zur größeren Sicherheit genau einprägen – keine wie immer geartete Spur irgendeines Giftes war im Organismus zu finden. Vergessen Sie nicht, dies Ihren zwei ausgezeichneten Kollegen im Detektivromankomitee mitzuteilen, wenn Sie das nächste Mal den Todesfall debattieren, cher Maître! Und gestatten Sie mir jetzt, Ihnen einen guten Tag zu wünschen.«

Mit diesem Marterpfeil im Rücken mußte Ebb abziehen. Nur eines freute ihn: daß Schweden und vor allem Dänemark nicht Zeugen der Konfrontation Norwegens mit der Sachkenntnis gewesen waren!

Aber noch etwas anderes gab ihm mitten in seiner Niederlage ein wenig zu denken, und das war die Heftigkeit, mit der der Doktor zuletzt gesprochen hatte. Jede Spur von gutmütigem Spott war verflogen. Warum? War er zornig über die Apotheke in der Stadt, die so fahrlässig mit ihren Sendungen umging, daß sie die Ärzte in unangenehme Situationen brachte? Oder – seltsamer Gedanke – hatte er sich selbst ähnliche Gedanken gemacht wie Ebb, und war er nun unmutig, weil sie sich als irrig erwiesen hatten?

Diese letztere Möglichkeit trug dazu bei, den Dichter bei seiner Retraite von der Villa des Doktors etwas milder zu stimmen. Aber sie reichte nicht hin, die Tatsache zu verschleiern, daß dies der Rückzug aus Moskau war und daß alle seine Theorien in Rauch aufgegangen waren.

Doktor Duroc hatte das Umschlagpapier lange und gründlich untersucht. Aber er hatte kein einziges Wort über das gesagt, was sowohl Ebb wie den Dozenten Lütjens stutzig gemacht hatte – daß auf dem Etikett »Pharmac« und »Po« stand.

Und dabei waren doch Ebb und Lütjens Nordländer und der Doktor Franzose! Fehlte ihm in solchem Maße das Ohr für die Sprache?

Offenbar mußte es so sein.

3

Der Bankdirektor war sich, als er die Villa Ebbs verließ, über sein Tagesprogramm klar. Er beabsichtigte, die Bibliothek aufzusuchen. Der Vater dieses Gedankens war der Advokat Parmentier. Er hatte gesagt: »Man behauptet, daß die Familie Vanloo ihr Vermögen durch Geschäfte mit Napoleon erworben hat.« Im Nachhinein hatte er dies als ein Gerücht bagatellisiert. Aber der Bankdirektor dachte an eine gewisse Reliquie aus Sankt Helena, die er in der Villa Longwood gesehen, und er dachte daran, was die alte Mrs. Vanloo gesagt hatte, daß der erste Besitzer der Villa der Umgebung des Kaisers angehört habe. Und in seinem Wissen über Sankt Helena fehlte eine Familie Vanloo total. Das verletzte ihn an einem sehr empfindlichen Punkt. Wenn man ihn einen schlechten Finanzmann genannt hätte, er würde die Achseln gezuckt haben, aber in seinem Wissen über Napoleon durfte es keine Lücke geben.

Man hatte ihm gesagt, daß die größte öffentliche Bibliothek der Riviera sich in Nizza befinde, und nachdem er sich von Ebb und Lütjens verabschiedet hatte, begab er sich also zur nächsten Haltestelle, um den Autobus nach jener Stadt zu nehmen. Aber vor dem Kasino in Mentone stieg eine junge Dame in den Autobus ein, und das hatte zur Folge, daß er beinahe sein Vorhaben vergessen hätte. Denn gleich seiner ganzen Nation war der Bankdirektor ein warmer Freund des schönen Geschlechts, und als sie einstieg, ging es wie ein Raunen von einem Ende des Autobus zum anderen. Sie war nicht groß, aber sehr gut gewachsen und hatte jene Art, sich zu bewegen, die den Französinnen angeboren ist. Sie war platinblond und hatte große schwarze Augen, die rätselhaft in die Welt hinausblickten. Obgleich es ein strahlend warmer Tag war, hatte sie sich in einen üppigen Chinchillapelz gehüllt. Trepka studierte sie mit unverhohlenem Interesse, und er hatte Gelegenheit, es in Frieden und Ruhe zu tun, denn sie wandte keinen Blick an ihn. Sie war ganz damit beschäftigt, ihr Äußeres zu verschönern, obwohl dieses ohnehin nichts zu wünschen übrigließ. Von Mentone bis Monte Carlo polierte sie ihre Nägel, von Monte Carlo bis Eze tuschte sie ihre Augenbrauen, und von Eze bis Nizza puderte sie sich. War sie schön? Unbedingt, als Kunstwerk betrachtet. Aber warum soll man eine Frau nicht als Kunstwerk betrachten? Das wünscht sie ja selbst. Als der Autobus das Stadttor von Nizza passierte, steckte sie mit einer raschen Bewegung alle Schönheitsutensilien ein, sah ein letztes Mal in den Spiegel und ließ den Blick an dem Bankdirektor vorbeigleiten. Sie hat ein Rendezvous in Nizza, dachte Trepka, und sie fürchtet, daß ich sie kenne. Es zeigte sich, daß er richtig geraten hatte.

Als der Autobus hielt, stand im Schatten eines Kiosks ein Herr und wartete. Sie ließ alle anderen Fahrgäste aus dem Wagen aussteigen, bevor sie ihn verließ. Im Schutz einer Zeitung beobachtete Trepka ihr Zusammentreffen mit dem Mann beim Kiosk. Dieser sah aus, als wollte er sie stehenden Fußes umarmen.

»Na, Gott sei Dank«, murmelte er heiser. »Ich muß mit dir sprechen. Und morgen ist das Begräbnis.«

»Sch!« flüsterte sie … »Sch!«

Damit verschwanden sie in die Richtung des Gewühls von Nebengassen, die den alten Stadtteil Nizzas bilden. Auch wenn er es gewollt, hätte Trepka sie dort nicht verfolgen können, dazu sind die Gäßchen zu schmal und diskret. Würde er es sonst getan haben? Das war eine Gewissensfrage, die er nur schwer verneinen konnte … denn der Mann, der hinter dem Kiosk gewartet hatte, war kein anderer als Allan Vanloo, und Trepka erinnerte sich an gewisse Bemerkungen, die Ebb über das Privatleben Allans gemacht hatte …

Wer war sie? Und was bedeuteten Allans Worte an sie? Nach der Untersuchung des Doktors erschienen Ebbs Theorien ja lächerlicher denn je – aber es unterlag keinem Zweifel, daß Allan sich gratulieren konnte, daß es Trepka und nicht Ebb oder Lütjens war, der dieser Begegnung beigewohnt und die Worte aufgefangen hatte, mit denen sie eingeleitet wurde. Andernfalls … aber Schluß mit diesen dummen Phantastereien! An die Arbeit!

Er fand die Bibliothek und sah zu seiner Freude, daß sie gerade mit jener Sorte von Büchern, die er benötigte, reichlicher versehen war, als er zu hoffen gewagt hatte. Ein Weilchen später saß er da, bis über die Ohren vertieft in Bücher über das Felseneiland im Atlantischen Ozean.

O'Meara, Gourgaud, Las Cases … Antommarchi, der sogenannte Doktor, und der elegante Montholon … er glaubte sie alle von den ersten bis zur letzten Zeile zu kennen. Ferner Meneval, ferner Santini (gleichzeitig Schneider, Friseur und Forstmeister der gefallenen Majestät) … Alle hatten sie Bücher über ihn geschrieben, alle schienen sie, sowie sie in Jamestown landeten, zur Feder gegriffen zu haben.

Er las und las. Der ganze blendende Film rollte vor seinen Augen ab – blendend trotz seiner Trübseligkeit und seiner Trivialität oder gerade deshalb. Nur in historischen Romanen ist alles Glanz und Heldentaten – so wie auch nur in Detektivromanen alles Verbrechen und Scharfsinn ist … eine flüchtige Erinnerung an den Detektivroman aus der Wirklichkeit, den sie, wie Ebb behauptete, gerade jetzt in Mentone erlebten, tauchte im Hirn des Bankdirektors auf und hatte die Erinnerung an die Begegnung im Autobus und die Worte, die er aufgeschnappt hatte, im Schlepptau … Er schüttelte beides mit einer Grimasse ab und stürzte sich neuerdings in die Bücher. Hatte es in der Nähe des Kaisers eine Person oder eine Familie namens Vanloo gegeben?

Nach einem Studium von mehreren Stunden wagte er es, diese Frage mit einem bestimmten Nein zu beantworten. Alle diese mit beinahe mathematischer Genauigkeit geführten Aufzeichnungen aus dem Hause auf der Felseninsel sprachen klar und deutlich gegen die Möglichkeit, daß es jemanden dieses Namens in der Umgebung des Kaisers gegeben haben sollte. Diese umfaßte vierzig Personen, von denen zwölf aus Frankreich mitgebrachte Diener und acht Inselbewohner waren, die man dort aufgenommen hatte. Außerdem beherbergte die Villa zwei chinesische Köche und eine kleine Anzahl Chinesen, die im Garten arbeiteten. Das war alles. Und es deckte sich genau mit dem, was der Bankdirektor ohnehin gewußt hatte. Und trotz alledem war er nicht recht zufrieden, als er seine Bücher wieder zurückgab. Die Worte der alten Dame waren so seltsam suggestiv gewesen – ihre Reliquie nicht minder. Und selbst wenn Monsieur Parmentiers Worte nur Klatsch gewesen sein sollten – sogar Klatsch pflegt doch immer irgendeinen realen Hintergrund zu haben …

Aber weiter in Widerspruch zu den Tatsachen der Bücher zu bleiben, wäre ebenso verrückt gewesen, wie an Ebbs Phantasien in Widerspruch zu den Gutachten der medizinischen Wissenschaft festzuhalten! Der Bankdirektor nahm Hut und Stock und verließ die Bibliothek. Auf der Schwelle blieb er plötzlich stehen und machte dann einen Schritt zurück. Es war gerade noch in der letzten Sekunde.

Denn hätte er sie auch nur einen Augenblick früher überschritten, wäre er unfehlbar mit zwei Personen zusammengeprallt, die gerade den Bibliothekseingang passierten, aber an alles eher dachten als an Bücher – Allan Vanloo und die junge Frau aus dem Autobus. Sie gingen eng umschlungen, sie hing an seinem Arm, der Reflex einer Straßenlaterne zitterte wie ein Tautropfen auf ihrer Lippe. Er redete, redete, aber was er sagte, konnte Trepka nicht hören. Hingegen fing er ein paar Worte von ihr auf.

»So lange? Ah, wie lange man warten muß!«

Er ging ihnen nach, von einer Macht getrieben, der er nicht widerstehen konnte. Vor der Autobusstation beim städtischen Kasino verabschiedete sich Allan Vanloo und verschwand. Sie stieg in den ersten Wagen nach Mentone. Trepka folgte ihrem Beispiel. Zwischen Nizza und Monte Carlo starrte sie nahezu ununterbrochen auf ihre linke Hand, an der ein großer Brillant Trepka an den Tautropfen denken ließ, der vor der Bibliothek auf ihrer Lippe erglänzt war. Unmittelbar vor Monte Carlo streifte sie ihn vom Finger und ließ ihn in ihr Täschchen verschwinden, und vor dem weltberühmten Kasino stieg sie aus. Trepka sah sie mit raschen Schritten in die Richtung des Bahnhofs verschwinden. Offenbar wünschte sie bei ihrer Heimkehr nach Mentone keinen offiziellen Empfang.

»Sie ist wirklich nicht übel, die kleine Frau Delarue, non pas mal du tout!« murmelte eine träumerische Stimme an Trepkas Seite.

»Sie kennen sie?« murmelte er ebenso diskret zurück.

»Aber natürlich! Ihr Mann spielt doch im Orchester von Mentone.«

Zwischen Monte Carlo und Mentone arbeitete das dänisch-erotische Gewissen des Bankdirektors unablässig an ein und demselben Problem, nämlich der Berechtigung des Ehebruchs in der Wirklichkeit.

Als er in sein Hotel zurückkam, lag ein Telegramm da.

Es war aus Berlin und über fünfzig Worte lang.

Als er es gelesen hatte, strich er sich mehrmals über seinen Amorettenmund. Er hatte erwartet, daß die Auskünfte der Firma Schüttelmann den Phantasien Ebbs und des Dozenten ein für allemal den Boden unter den Füßen wegziehen würden – er hatte dies mit um so mehr Grund gehofft, als seine eigenen Studien an diesem Nachmittag die Möglichkeit, daß es je einen Vanloo in Sankt Helena gegeben habe, ausgeschaltet zu haben schienen. Aber man konnte nicht gerade sagen, daß das Telegramm seinen Wünschen entsprach. Wenn man ganz unparteiisch sein wollte – und der Bankdirektor schmeichelte sich wirklich, daß er in dieser ganzen Affäre unparteiisch zu nennen war – wenn man ehrlich gegen sich selbst sein wollte, mußte man wohl zugeben, daß die Auskünfte im Telegramm in die entgegengesetzte Richtung wiesen. Ein Vermögen Vanloo war vorhanden, sagte die Firma Schüttelmann in der Behrenstraße, weltberühmt ob ihrer zuverlässigen Auskünfte, und nicht genug damit, dieses Vermögen war bedeutend. Nachdem er die Ziffern studiert hatte, mußte Trepka zugeben, daß das Wort »bedeutend« nicht zu stark war, eher im Gegenteil … also es gab ein Vermögen Vanloo zu erben, die Bestimmungen über die Erbschaft hatte er selbst von dem Advokaten Parmentier erfahren. Und wenn man diese Tatsachen zusammenstellte, konnte man kaum behaupten, daß für eine Tat wie die, von der Ebb und der Dozent fabulierten, das Motiv fehlte.

Der Bankdirektor verzehrte sein Mittagessen in tiefen Gedanken, trank einen Kognak zum Kaffee und nahm nachher noch einen Whisky. Trotzdem gelang es ihm nicht, einzuschlafen.

Es war zwei Uhr nachts, als ein schlaftrunkener, leicht verdrießlicher Nachtportier ihm auf sein Geheiß ein Telegrammblankett brachte. Er warf eine längere Mitteilung hin und reichte sie dem Portier.

»Sorgen Sie dafür, daß das sofort wegkommt!« rief er. »Geben Sie es persönlich im Haupttelegrafenamt auf! Was Sie auf diese Note herausbekommen, können Sie für sich behalten.«

Die Schläfrigkeit des Portiers war wie weggeblasen. Er musterte das Telegramm mit verliebten Blicken.

»Entschuldigen, steht da ›carte blanche?‹« fragte er.

»Ja, freilich.«

»Ich habe nur gefragt, weil das übrige Telegramm deutsch ist«, bemerkte der Portier, stolz auf seine Sprachkenntnisse. »Seien Sie ganz unbesorgt, Monsieur, in fünf Minuten ist es abgesandt.«

Der Bankdirektor sank erleichtert in die Kissen zurück. Aber noch immer dauerte es eine Zeitlang, bis er einschlafen konnte.

4

Nach der Debatte bei Ebb bekam Lütjens Lust zu einer ganz bestimmten Sache, nämlich die Bekanntschaft mit der Villa Longwood zu erneuern, dem Schauplatz des Dramas, in das er sich so plötzlich hineingezogen sah, ein Trauerspiel dem Dichter Ebb zufolge, in den Augen des Bankdirektors überhaupt kein Drama. Was glaubte Lütjens selbst? Vorderhand gar nichts. Aber von seiner Wissenschaft her wußte er, wie wichtig es ist, den Hintergrund aller Theorien klar im Bewußtsein zu haben. Will man Mohammed verstehen, muß man die Wüsten Arabiens aufgesucht haben.

Er lächelte über das hochtrabende Gleichnis, während er zur Villa hinaufschlenderte.

Eine Einzelheit in der Erzählung des Dichters Ebb hatte ihn frappiert, nämlich die Sache mit dem Umschlagpapier. Der Garten der Villa, wie er ihn in Erinnerung hatte, war so reingefegt wie ein Salon. Daß man da weggeworfenes Papier finden konnte, erschien beinahe undenkbar. Nichtsdestoweniger hatte Ebb einen solchen Fund gemacht. Aber er hatte eines betont: das Papier war nur von einem ganz bestimmten Punkt des Gehwegs aus sichtbar gewesen. Was Lütjens zu tun gedachte, war, einen Blick auf die Fundstelle zu werfen – und sich im übrigen umzusehen. Wenn dies geschehen war, beabsichtigte er, sich auf besondere Weise zu belohnen: er gedachte in die Konditorei zu gehen.

Er fand den Garten genau so, wie er ihn von seinem ersten Besuch her in Erinnerung hatte. Der Rasen leuchtete grün und frisch besprengt, Rosen und Geranien blühten, die Glyzinien stürzten sich in Katarakten über die Gartenmauern. Kein Mensch war zu sehen, alles war so verlassen wie im Park um Dornröschens Schloß. Ein Beet mit Zinerarien an dem Gartenweg, der zum rechten Flügel hinausführte, hatte Ebb gesagt. Hier war der Weg, und dies mußte das Beet sein, denn ein anderes mit Zinerarien war nicht zu sehen.

Blaue, weiße, violette, rote Zinerarien reckten leuchtende Blumenkörbe empor. Die breiten grünen Blätter waren so üppig, daß sie einen rauhhaarigen, undurchdringlichen Baldachin etwa fünf Zentimeter über dem Boden bildeten. Wie hatte Ebb in diesem Dschungel etwas finden können? Wie hatte er überhaupt etwas anderes sehen können als Blätter und Blumen? Der Dozent trat hin und her wie ein Maler, der die richtige Perspektive sucht, und plötzlich sah er, wie es zugegangen sein mochte. Von diesem Punkt aus öffnete sich gleichsam ein kleiner Tunnel ins Herz des Beetes. Anstatt Blätter und Blumen sah das Auge schwarzes Erdreich. Hallo – was war das? Sollte es auch ihm beschieden sein, eine Entdeckung zu machen?

Es sah ganz danach aus. Wenn er sich nicht täuschte, schimmerte innen im Beet etwas Weißes – etwas Weißes, das kein abgefallenes Blumenblatt zu sein schien. Der Dozent sah sich hastig um. Noch immer war alles einsam und leer. Bäume und Blumen dufteten wie im Garten Eden, aber niemand lustwandelte in diesem Eden, denn die Tageshitze war noch nicht abgekühlt. Er machte ein paar rasche Schritte über den Rasen und streckte seinen Stock aus, dessen eiserne Spitze ihm bei archäologischen Expeditionen oft gute Dienste geleistet hatte. Die Zwinge durchbohrte etwas, das kein abgefallenes Blumenblatt war. Als er den Stock wieder an sich zog, erwies es sich als ein abgerissenes Stück Papier.

Das Papier war schmutzig und feuchtfleckig. Aber soviel er sehen konnte, war es zweifellos vom selben Typ wie dasjenige, das Ebb gefunden hatte. Ein Stück Etikettpapier, wie es Apotheken und Chemikaliengeschäfte auf den Umschlag ihrer Sendungen zu kleben pflegen. Es war längs der Diagonale abgerissen und zeigte eine Aufschrift von vier Buchstaben: LENC.

Gehörte sein Fund zu dem Ebbs? Man hatte Anlaß, es anzunehmen.

Vereinfachte dies die vorliegenden Probleme?

Vermutlich hätte es für Vater Brown das letzte fehlende Glied bedeutet, das Blitzlicht, das die Situation erhellte, kurz die Lösung des Rätsels. Aber für jemanden, der nur in Vater Browns Fußstapfen dahintaumelte – was war das?

Hastig steckte er seinen Fund in die Tasche. Er war nicht mehr allein im Garten Eden! Das Paradies war von einer Eva bewohnt – einer Eva, die so scheu zwischen den Bäumen einherschlich, als fürchtete sie, eine Stimme rufen zu hören: Wo bist du, Eva? Und was hast du getan?

Sie bewegte sich in der Nähe des rechten Flügels der Villa. Sie trug ein schwarzes Kleid und ein rotes Halstüchlein. Außerdem hatte sie, wenn er recht sah, ein dreieckiges Katzengesicht, zwei funkelnde Augen und einen geschmeidigen Rücken. Was sie hingegen nicht hatte, war eine Kopfbedeckung. Nun trafen sich ihre Blicke, und in derselben Sekunde huschte sie zwischen die Baumstämme. Gehörte sie zum Hause? Warum verbarg sie sich dann? Anderseits ging sie ohne Hut, und das pflegen wohlerzogene Mädchen in Frankreich, wenn sie über einem gewissen sehr demokratischen Niveau stehen, nicht zu tun. Also?

Er ging näher heran. Das war der Flügel, in dem Arthur gewohnt hatte. Jeder Zweifel daran wurde durch den Anblick gewisser geschlossener Fensterladen behoben, hinter denen das elektrische Licht brannte. Arthur Vanloo ruhte dort drinnen in Erwartung der morgigen Wanderung zur Familienkapelle. Auf einem Tisch vor dem Eingang zu seiner Wohnung lag ein Buch, in das die Kondolierenden sich eintragen konnten. Noch nicht viele hatten davon Gebrauch gemacht. Die kleinen Leute, für die er einen so aufsehenerregenden Kampf geführt hatte, hielten sich fern. Gehörte das Mädchen mit dem Katzengesicht ihrer Klasse an? Vermutlich, dachte der Dozent und wandte sich um, gerade zur rechten Zeit, um zwei schräge Katzenaugen hinter einem Baum aufglimmen zu sehen. Hielt er sie davon ab, dem Toten ihre Dankbarkeit zu bezeigen? Nichts konnte seinen Absichten ferner liegen! Wenn sie auf sein Verschwinden wartete, um heranzukommen und sich in das Buch einzutragen, sollte sie nicht länger zu warten brauchen!

Der Form halber kritzelte er selbst seinen Namenszug hin und verschwand dann in eine der Seitenalleen. Nach einer kleinen Weile gedachte er zurückzukommen, um zu sehen, ob sie sich eingeschrieben hatte – oder ob sie eventuell etwas anderes in der Nähe der Behausung des verblichenen Arthur Vanloo vorhaben mochte. Er ging um ein Boskett herum. Als er sich umdrehte, war sie noch immer unsichtbar. Vielleicht spionierte sie ihm nach? Er spazierte um noch ein Boskett herum und vergaß dann mit einem Schlage sie selbst und ihre Kontraspionagepläne.

Er hatte eine Südterrasse erreicht, die frei von Bäumen und Anpflanzungen war. Eine niedrige Mauer umschloß sie, und innerhalb der Mauer lag eine Kapelle. Er hatte schon bemerkt, daß verschiedene Privatvillen an dieser Küste ihre eigenen Gebetkapellen besaßen, obwohl er sich zu bezweifeln erlaubte, daß sie allzu oft besucht wurden … aber dies war keine Gebetkapelle. Dies war eine Grabkapelle.

Die Kapelle war klein und niedrig, sie war halb in den Boden eingesunken, und sie hatte zwei Fenster, eines nach Osten, eines nach Westen. In ihrem Inneren schimmerten Marmorsarkophage. Ein lateinisches Kreuz breitete seinen Frieden über sie. So weit war alles in Ordnung. So weit gab es nichts, was ihn das Mädchen mit den Katzenaugen vergessen lassen konnte.

Aber in einer Ecke der Einfriedung erhob sich ein freistehender Hügel, und dieser versetzte den Sinn des Dozenten in Vibrationen, denen gleich, die den Botaniker durchzittern, wenn er eine seltene Pflanze erblickt. Der Hügel sah recht verwahrlost aus, er war von einer niedrigen, hufeisenförmigen Mauer mit nur einer einzigen Öffnung eingefaßt, und diese Mauer war ihrerseits von einem seichten Wassergraben umgeben. Die ganze Terrasse bestand aus leichter, sandiger Erde, der Hügel aber aus einer Kalkmischung, die sich mit der Zeit so verhärtet hatte, daß sie jetzt eine förmliche Schale bildete. Die Öffnung in der niedrigen Mauer ging nach Süden.

Der Dozent putzte seine Augengläser, setzte sie auf und putzte sie abermals. Seine Beobachtungen gestatteten vielleicht nicht allzu weit gehende Schlußfolgerungen. Aber – und dieser Gedanke wollte nicht weichen – wenn sie überhaupt irgendeine Schlußfolgerung gestatteten, so war es eine einzige. Und diese war so seltsam, daß sein Gehirn sich weigerte, sie zu akzeptieren! Jawohl – weigerte!

In Grübeleien versunken blieb er stehen. Einerseits hatte er ein berufliches Wissen – er wäre der letzte gewesen, es zu unterschätzen –, und das nötigte ihn zu bestimmten Schlüssen. Anderseits hatte er seinen gesunden Menschenverstand, der ihm das Recht absprach, diese Schlüsse zu ziehen. Die gesunde Vernunft erhielt kräftige Unterstützung durch einen dritten Faktor, die Angst, sich lächerlich zu machen, nicht zum wenigsten in den Augen Ebbs und des Bankdirektors. Nach einem Ringen von zehn Minuten siegte die gesunde Vernunft. Doch nur bis zu einem gewissen Grade. Der Dozent beschloß, ein Wissen, in dem er bisher nicht allzu viele Lücken gefunden hatte, zur größeren Sicherheit noch einmal zu kontrollieren.

Als er zur Villa zurückkehrte, war das Mädchen mit dem Katzengesicht verschwunden. Nun, vielleicht fand er ein andermal Gelegenheit, sich mit ihr zu befassen. Jetzt hatte er an etwas anderes zu denken – nämlich an den Konditoreibesuch, den er sich nach der detektivischen Arbeit versprochen hatte.

»Versuchen Sie unsere ausgezeichnete Mandelmasse!« sagte eine Tafel im Schaufenster. Lütjens, der glaubte, daß französische Cafés ohne ganze Batterien von vielfarbigen Flaschen mit alkoholischem Inhalt undenkbar seien, war äußerst erstaunt, als er die Tür öffnete und eintrat. Ein paar Flaschen Wermut und Dessertwein, das war alles, was das Etablissement in diesem Genre zu bieten hatte. Und hierher hatte Arthur Vanloo sich begeben, nachdem er sich an dem letzten Abend, den er erlebte, vom skandinavischen Kriminalklub verabschiedet hatte!

Eine behäbige, freundlich lächelnde Frau, deren Augen in gleich hohem Grade Neugier und Klatschsucht ausstrahlten, begrüßte ihn. Er bestellte eine Tasse Kaffee sowie eine Torte aus der »ausgezeichneten Mandelmasse« und eröffnete die Unterhaltung, indem er sagte, er komme gerade von der Villa Longwood. Kannte sie vielleicht die Herrschaften dort oben?

»Das will ich meinen, Monsieur! Ich war doch dort durch viele Jahre Köchin – bis vor einem Jahr! Da meinte Madame, es wäre an der Zeit, daß ich mich selbständig mache. Ja, wenn alle Damen so fürsorglich und hilfsbereit wären wie Madame Vanloo, dann gäbe es nicht so viel Unzufriedenheit unter dem Dienstpersonal, Monsieur, das kann ich sagen, denn ich war fünfzehn Jahre bei ihr.«

»Fünfzehn Jahre! Das ist etwas!« stimmt Lütjens bei. Innerlich stellte er die Betrachtung an, daß Fürsorglichkeit und Hilfsbereitschaft nicht gerade die Tugenden waren, die er erwartet hätte an der alten Dame in der Villa rühmen zu hören. Eher Festigkeit und Energie! Aber er war hier, um zuzuhören, nicht um Einwände zu machen. »Fünfzehn Jahre!« wiederholte er. »Das ist heutzutage wirklich eine Seltenheit! Und nicht Sie haben gekündigt? Sondern Mistreß Vanloo ist auf die Idee gekommen, daß Sie sich eine eigene Existenz gründen sollten?«

»So wie ich sage, Monsieur! Ich hatte mir ja etwas zusammengespart, aber Monsieur weiß doch, unser Franc ist gefallen, immerzu gefallen, und was ich hatte, hätte nicht ausgereicht, um das Café hier zu kaufen. Aber Madame hat mir dazu verholfen. War das nicht rührend schön von ihr? Gibt es noch viele solche Arbeitgeberinnen? Und wenn man auch fünfzehn Jahre sein Bestes für sie getan hat!«

»Nein, die sind sicher dünn gesät!« räumte der Dozent bereitwillig ein. »Und Mistreß Vanloos Handlungsweise ist um so bewundernswerter«, fügte er galant hinzu, »als Sie, Madame, sicherlich die perfekteste Köchin sind, die man sich nur träumen kann. Man braucht Sie nur anzusehen, um davon überzeugt zu sein!«

Die Wirtin warf sich in die Brust.

»Sie schmeicheln, Monsieur! Aber übrigens« – sie warf ihm einen koketten Blick zu – »übrigens mag vielleicht etwas daran sein! Ich kann gut kochen! Was wollen Sie? So etwas ist angeboren! Es gibt zwei Sorten Menschen: die mit diesem Talent geboren sind und die es nicht sind – et v'là tout, monsieur!«

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Madame. Selbst bin ich leider ein elender Stümper auf diesem Gebiet, aber das verhindert nicht, daß ich zu schätzen weiß, was man mir vorsetzt. Da machen Sie sicherlich auch eine gute Bouillabaisse.«

Die Cafetière strahlte.

»Und ob! Madame liebt Bouillabaisse. Es ist ja eigentlich merkwürdig, daß eine Dame in ihrem Alter eine so schwere Speise verträgt. Aber vorsichtshalber pflegt sie sie selbst zu Tisch zu würzen.«

»Ja, das ist mir aufgefallen, als ich abends in der Villa dinierte.«

»Sie waren in der Villa zu Gaste, Monsieur?«

»Allerdings. Und ich habe großartig gegessen, wenn ich auch nicht bezweifle, daß es noch besser gewesen wäre, wenn Sie gekocht hätten, Madame!«

Wieder ein koketter Blick.

»Ah, Monsieur schmeichelt mir! Es gibt nur eines, was ich, wie ich glaube, besser mache als die meisten anderen, und das sind meine Bäckereien aus Mandelmasse! Was sagen Monsieur dazu?«

»Unerreicht!« versicherte Lütjens aus aufrichtigem Herzen, indem er sich noch ein Stück nahm. »Ganz fabelhaft!«

»Das sagen auch die jungen Herren Vanloo«, gab die Wirtin zu. »Sie sind meine Stammgäste, seit ich Madames Haus verlassen habe. Wenn sie nur meine Backwaren haben können, sind sie schon zufrieden. Sie kommen fast täglich herein!« fügte sie stolz hinzu.

»Das ist eine Leidenschaft, die sie kaum ins Verderben stürzen kann«, sagte der Dozent. »Übrigens weiß ich, daß Sie nicht übertreiben, Madame, ich war ja mit dem jungen Mister Arthur an dem Abend vor seinem Tode beisammen. Und das letzte, das ich von ihm sah, war, daß er hier hereinging und sich drei von Ihren Torten nahm.«

Sie war plötzlich weniger redselig geworden.

»Ja«, gab sie zu, »er war an diesem Abend hier, der arme Herr Arthur, das ist richtig. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß ich ihn da zum letzten Male sehen würde. Aber so ist es, heute rot, morgen …«

Nicht um solchen Wahrheiten zu lauschen, war der Dozent hergekommen.

»War er an diesem Abend so wie immer?« fragte er unvermittelt.

»Das werden Monsieur wohl ebenso gut wissen wie ich, wenn Sie doch mit ihm zusammen waren!«

»Ja, aber ich hatte ihn ja nie vorher getroffen! Mir kam es vor, als ob er recht verstört gewesen sei. Was meinen Sie, Madame? Sie waren doch die letzte, die ihn am Leben sah, soviel man weiß.«

Sie machte einen Schritt zurück.

»Wie sagen Sie? Soviel man weiß? Was meinen Monsieur?«

»Nur, was ich sage. Soweit ich verstehe, müssen Sie die letzte gewesen sein, die den jungen Herrn Vanloo am Leben gesehen hat. Darum fragte ich, ob Sie den Eindruck hatten, daß er wie gewöhnlich war?«

Es sah aus, als reuten sie die Mitteilungen, die sie ihrem Gast gemacht hatte.

»Der arme Arthur, schon von Kindheit an nahm sein Wesen gegen ihn ein«, sagte sie endlich. »Die Menschen, die ihn nicht näher kannten, verstanden ihn nicht. Und übrigens«, fügte sie plötzlich hinzu, »auch die ihn besser kannten, nicht alle!«

»Es gibt Menschen, deren Wesen gegen sie einnimmt«, gab der Dozent bereitwillig zu. Ihr veränderter Ton war ihm nicht entgangen. Aber er war noch lange nicht mit seinem Verhör fertig. »Ja, Sie haben ganz recht mit dem, was Sie eben sagten. Ich bezweifle nicht, daß der arme Arthur Vanloo zu bedauern war. Die Stimmung zwischen ihm und seinen Brüdern war an jenem Abend nicht gerade die beste. Vielleicht machte er mir deshalb einen so verstörten Eindruck?«

»Ein bißchen aufgeregt war er schon«, gab sie zu. »Aber sein Bruder Allan war nicht derjenige, der ihm in diesem Punkte etwas vorzuwerfen hatte!«

Sie brach plötzlich ab. Lütjens gelang es, sich zu beherrschen.

»Kam sein Bruder Allan auch noch her? Und fand er, daß Arthur erregt war? Was sagen Sie? Dann sind Sie also nicht die letzte, die ihn am Leben gesehen hat?«

Sie sah aus, als wünschte sie den Dozenten dahin, wo der Pfeffer wächst, aber seine letzten Worte zwangen sie förmlich zum Reden.

»Ja. Als Arthur eine halbe Stunde dagesessen hatte, kam Allan her, um … um …«

Sie verstummte. Eigentlich ist das abscheulich, dachte der Dozent. Daumschrauben! Aber ich muß erfahren, was an diesem Abend vorgegangen ist.

»Ich habe viel über Arthurs Tod nachgedacht«, sagte er, ohne sie mit dem Blick loszulassen, »und wissen Sie, was ich glaube, Madame? Ich glaube, daß er einen Schock gehabt hat und daß dies den Herzschlag herbeigeführt haben muß. Nach der Aussage des Doktors ist er ja an einem Herzschlag gestorben. Hat sein Bruder irgend etwas zu ihm gesagt, das einen solchen Schock verursachen konnte?«

»Ich pflege nicht zu belauschen, was meine Gäste reden«, antwortete sie, wobei ihr Mund sich zusammenzog, als ob sie Essig getrunken hätte.

»Davon bin ich völlig überzeugt«, versicherte der Dozent lügnerisch. »Wenn Sie etwas gehört haben sollten, dann natürlich, weil so laut gesprochen wurde, daß Sie nicht umhin konnten, es zu hören. Wer kann Ihnen daraus einen Vorwurf machen? Sie sagen, daß Allan mindestens ebenso erregt war wie der Bruder. Ich glaube beinahe zu wissen, warum er so aufgebracht war.«

»So?« sagte sie mit einer Miene, die deutlich verriet, daß sie das Gegenteil glaubte. »Dann sind Sie aber sehr scharfsinnig, das muß ich schon sagen!«

»Ich weiß nicht, ob man es gerade besonders scharfsinnig nennen kann«, versetzte der Dozent mit angemessener Bescheidenheit. »Eigentlich braucht man nur zwei und zwei zusammenzulegen und nachzusehen, was herauskommt. Ich habe gehört, daß der arme Arthur recht eigentümliche Gäste zur Nachtzeit zu empfangen pflegte. Gerade jetzt, als ich oben im Park war, sah ich zufällig ein junges Mädchen, ohne Hut, das dastand und zu seinen Fenstern hinaufschaute. Sie wußte offenbar, wo er bei Lebzeiten gewohnt hat. Denken Sie nur, wenn sie an jenem Abend zu Besuch gekommen und anstatt auf Arthur auf Allan gestoßen wäre! Allan, der so korrekt ist. Er würde nie solche Besuche empfangen, so viel steht fest. Das dürfte er ihr auch gesagt haben. Dann stürzt er hierher in Ihr Café, um seinem Bruder zu sagen, was er von einem Menschen hält, der solche Besuche empfängt. Arthur wird wütend – aufgeregt, wie Sie sagten – und Allan noch wütender. Sie vergessen ganz ihr bestelltes Gebäck, sie zanken sich, und dann rennt zuerst der eine, dann der andere davon – wohin ist übrigens Allan gegangen? Haben Sie das gesehen?«

Sie lauschte wie gebannt. Ihr Mienenspiel sagte so deutlich wie mit Worten, daß er recht oder doch jedenfalls annähernd recht hatte. Bei seinen letzten Worten zuckte sie zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

»Allan? Er ist natürlich nach …«

Sie brach plötzlich ab. Ihr Gesicht hatte mit einem Male seine ganze Freundlichkeit eingebüßt.

»Was bezwecken Sie damit, hierherzukommen und mich auszuholen?« rief sie. »Warum fragen Sie denn nicht Herrn Allan selbst, was er getan hat?«

»Das werde ich«, versprach der Dozent. »Aber im Augenblick ist er sicherlich zu sehr von anderen Dingen in Anspruch genommen. Sie wissen doch, daß morgen das Begräbnis ist?«

Allan – immer wieder Allan! Die Gedanken des Dozenten kreuzten hin und her, während er in sein Hotel ging. Den ganzen kommenden Tag hörte er nicht auf, verschiedene Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen.

Das Begräbnis fand in aller Stille statt. Der skandinavische Kriminalklub hatte Blumen geschickt, sich jedoch nicht persönlich eingefunden, da man sich dies in der Todesanzeige ausdrücklich verbeten hatte. Aber schon am nächsten Morgen wurde der Dozent durch ein paar Zeilen von Ebb geweckt, die ihn blitzschnell unter die Dusche jagten.

Die alte Mrs. Vanloo, so schrieb der Dichter, war am selben Morgen in einem komaartigen Zustand in ihrem Bette aufgefunden worden. Man hatte sogleich Doktor Duroc gerufen, und dieser hatte mit solchem Erfolg gearbeitet, daß die alte Dame sich nunmehr außer aller Gefahr befand.

Aber offenbar hatte nicht viel gefehlt, und der Tod hätte in dieser Nacht wiederum Ernte in der Villa Longwood gehalten.


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