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Viertes Kapitel.
Die zweite Sitzung des Kriminalklubs

1

Was sagen Sie, Geneviève?« rief der Dichter Ebb und setzte sich ruckartig im Bett auf, während sein blonder Haarschopf sich sträubte. »Arthur Vanloo ist gestorben? Woher wissen Sie das? Und wie ist das gekommen?«

Genevièves norwegischer Dialekt war, als sie diese Fragen beantwortete, dermaßen überwältigend, daß Ebb nur mit Mühe verstehen konnte, was sie sagte. Aber als der Inhalt ihres Berichtes ihm endlich klargeworden war, dauerte es nicht allzu viele Sekunden, bis er unter der Brause im Badezimmer stand …

Mentones palmenumrauschte Markthalle liegt am Gestade des Mittelmeers, an der Grenze zwischen dem alten und dem neuen Stadtteil. Dahin strömen in den frühesten Morgenstunden jene Mitbürger, die mit Fleisch, Fischen, Obst und anderen Lebensmitteln handeln, und da finden sich auch allmählich die Hausväter und Hausmütter der Stadt ein, um unter langem energischem Feilschen ihre Einkäufe zu besorgen. Und da hatte Geneviève vor einem der Verkaufsstände die Person getroffen, von der sie die große Neuigkeit aus erster Hand erfahren hatte, nämlich die zweite Köchin der Villa Longwood. Diese war von dem Vorgefallenen noch zu überwältigt, um eine zusammenhängende Darstellung geben zu können, aber die Einzelheiten ließen sich so zusammenfassen: Herr Arthur Vanloo war in der Regel ein Frühaufsteher. Wenn er nicht von selber erwachte, hatte der Bediente Auftrag, ihn spätestens um sieben Uhr zu wecken. Als Christophe an diesem Morgen anklopfte, erfolgte keine Antwort. Er öffnete die Tür, hatte aber zuerst nicht den Eindruck, daß etwas passiert war. Erst als er die Vorhänge zurückgezogen und die Fensterladen geöffnet hatte, ohne daß sein Herr ein Lebenszeichen von sich gab, begann ihm die Sache nicht geheuer vorzukommen. Er sah den Mann im Bett näher an, und dann brauchte er nicht lange, um in die Küche hinunterzukommen. Der Haushofmeister wollte zuerst das Ganze als Ausgeburt einer überreizten Phantasie abtun, doch schließlich bequemte er sich, mit ins Schlafzimmer zu kommen. Und da zeigte es sich …

Während Christian Ebb das eiskalte Wasser auf sich herabströmen ließ, starrte er durch das Fenster auf eine Palme, deren Zweige im Morgenwind hin und her wehten.

Vor vierundzwanzig Stunden hatte Arthur Vanloo auf der Strandpromenade von Mentone blutrote Plakate angeklebt, beseelt von der Überzeugung, dadurch helleren Zeiten den Weg zu bahnen. Vor zwölf Stunden hatte er bittere Worte mit seinen beiden Brüdern gewechselt und über den Gedanken einer gesetzgebenden Macht im Weltall hohngelacht. Die Erde hatte eine halbe Drehung um jene mathematische Abstraktion gemacht, die man ihre Achse nennt, stumme Sterne waren ihre schicksalsbestimmte Bahn über das Himmelszelt gezogen, das Morgenlicht hatte die Landzungen gegen Italien zu opalblau gefärbt – und als die Sonne über diesen Landzungen aufging, war Arthur Vanloo nur mehr ein Name, ein Schatten, eine Mär … dahin waren seine Pläne, diese um sich selbst kreisende Welt zu verbessern, dahin sein Zwist mit den Brüdern, die Hitze und Last des Tages war für immerdar in die kühle Ruhe des Todes übergegangen, »der Tod, das ist die kühle Nacht …«

Christian Ebb stellte den Strahl der Dusche ab, kleidete sich hastig an, kritzelte zwei kurze Briefe, einen an Trepka und einen an Lütjens, und erteilte Geneviève den Auftrag, sie persönlich abzugeben. Dann riß er Hut und Stock von der Spiegelwand im Vorzimmer und verschwand im Eilmarsch über die Straße. Eine halbe Stunde später stand er vor der Zufahrt zur Villa Longwood.

Diese wurde von keinem Pförtnerhäuschen behütet, nur von zwei Metallgittertüren im Empirestil, und diese standen offen, jetzt wie am vorigen Abend, als er, seine Kollegen und Arthur Vanloo das Haus verlassen hatten. Er schlenderte langsam die Zufahrtsstraße hinauf. Die zahllosen Blumen des Parkes leuchteten in holdester Frühlingspracht. Plötzlich erblickte er einen Mann, der in einer Seitenallee rastlos auf und ab ging und von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke zur Villa hinauf warf. Es war Martin Vanloo. Er begrüßte Ebb mit allen Anzeichen der Befriedigung.

»Hallo, Ebb – furchtbar nett von Ihnen, heraufzukommen! Sie haben natürlich die traurige Nachricht schon gehört. Ja, traurig muß man ja sagen, obwohl –«

»Obwohl – was?«

»Ich meine, obwohl wir ja alle diesen Weg gehen müssen. Arthur und ich waren einander so unähnlich wie Feuer und Wasser, doch damit ist ja noch nicht gesagt, daß man sich den Tod wünscht. Aber so geht es!«

»Verzeihen Sie, Vanloo, wenn ich ein peinliches Thema berühre, aber wie ist es geschehen? Als wir uns gestern abend um halb zwölf Uhr trennten, war Ihr Bruder ja so frisch und munter wie irgendeiner von uns, und sieben, acht Stunden später …«

»Ist er tot! Nun eben – sonderbar, sehr sonderbar und ganz unbegreiflich plötzlich, obwohl –«

»Obwohl wir alle diesen Weg gehen müssen. Das weiß ich. Aber ich kann mir nicht helfen, ich finde, Sie nehmen die Sache recht leicht, wenn man bedenkt, daß er doch auf alle Fälle Ihr Bruder war.«

Martin sah wieder zur Villa auf und tat einen tiefen Atemzug, wie jemand, der in ein besonders kaltes und tiefes Wasser zu springen gedenkt.

»Hören Sie mal, Ebb, Sie sind doch ein Dichter. Sie kennen die menschliche Natur. Warum sollte ich vor Ihnen heucheln? Diese Redensart De mortuis nil nisi bene und so weiter ist ja doch nur Quatsch. Sie wissen ebensogut wie ich, daß das ein Überbleibsel aus den Zeiten des Animismus ist. Man hatte Angst, der Tote könne es hören, wenn man Übles von ihm spricht, und den Lebenden erscheinen. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß es noch eine andere Kategorie Menschen gibt, von denen man auch nichts Böses sagen will – ich meine die Zahnärzte. Oder haben Sie schon jemand getroffen, der nicht versichert hätte, daß sein Zahnarzt etwas noch nicht Dagewesenes sei? Man hat Angst vor dem nächsten Mal, wo man auf dem Marterstuhl sitzen wird! Aber nicht davon wollte ich sprechen. Was ich sagen wollte, ist folgendes: Es ist natürlich sehr bedauerlich, daß Arthur so – hm – so plötzlich dahingehen mußte. Aber wenn ich daran denke, daß er sonst jetzt mit einem Kleistertopf und einem Stoß Plakate herumgegangen wäre, kann ich sein – hm – Hinscheiden nicht als einen so großen Verlust empfinden, wie ich es natürlich sollte! De mortuis, Zahnärzte! Ich muß unseren Freund Lütjens, wenn ich ihn das nächste Mal treffe, auf diese Parallele aufmerksam machen. Idee zu einer Abhandlung für ihn, meinen Sie nicht? Hallo, da ist Granny mit dem Doktor …«

Er senkte die Stimme, als er dies sagte. Zählte er auch gewöhnliche Doktoren zu den Wesen, von denen man nichts Übles sagen darf? Oben, auf den Eingangsstufen zum Hause, waren zwei Personen sichtbar geworden. Die alte Dame trug einen Spitzenschal um die schmalen Schultern und hielt einen Sonnenschirm über den Kopf. Der Mann an ihrer Seite war schwarz und robust und hatte einen großen assyrischen Vollbart. Es war der bekannteste, der sozusagen offizielle Arzt der Stadt, Doktor Maxence Duroc. Er redete, und sie hörte zu.

Er schien sie von etwas überzeugen zu wollen, das sie nicht recht einsah. Nun näherten sie sich der Seitenallee, in der Ebb und Martin standen. Die alte Dame hob den Kopf und erblickte sie.

»Guten Morgen, Herr Ebb!« grüßte sie. »Wie freundlich von Ihnen, heraufzukommen! Ich verstehe, Sie haben schon von unserem schweren Verlust gehört … ja, wer hätte sich so etwas denken können, als wir uns gestern abend trennten?«

»Ja, wer?« murmelte Ebb. Noch immer wußte er nichts über die näheren Umstände von Arthur Vanloos Tod. Martin war von seinen eigenen Betrachtungen viel zu sehr in Anspruch genommen gewesen, um dieser Seite der Sache irgendwelches Interesse widmen zu können.

»Kennen Sie Doktor Duroc?« fragte sie. »Er hat soeben meinen armen Enkel untersucht. Wissen Sie, was der Doktor sagt? Er glaubt, daß eine Obduktion notwendig sein wird.«

»Eine Obduktion?« wiederholte Ebb und fühlte, wie ihm ein leichter Schauer über den Rücken lief. »Ist das möglich? Ich meine, ist das notwendig? Ist die Todesursache nicht klar?«

Sie trug den Kopf hoch, und ihr Blick war fest, aber eine kleine Grimasse um den Mund sagte Ebb, was es sie kostete, sich so zu beherrschen.

»Anscheinend nicht«, antwortete sie. »Doktor Duroc sagt es. Ich habe ihn daran erinnert, daß der Gesundheitszustand des armen Arthur nicht der beste war, aber er …«

»Nicht der beste?« unterbrach Ebb, außerstande, sich zu beherrschen. »Wenn man davon absieht, daß er sehr mager war, hat er auf mich wie das Urbild robuster Kraft gewirkt!«

»Der Schein kann trügen, Herr Ebb«, murmelte sie. »In diesem Fall hat er bestimmt getrogen. Vor einigen Jahren, als mein lieber Sohn, der Papa der Jungen, so plötzlich starb, ließ ich sie alle von unserem damaligen Hausarzt untersuchen. Ich dachte an das alte englische Wahrwort: Vorbeugen ist besser als kurieren. Ich wollte nicht noch weitere plötzliche Verluste erleben. Der Doktor nahm eine Untersuchung vor, aber das Resultat war nicht so erfreulich, wie ich gehofft hatte. Arthur war durchaus nicht der starke junge Mann, für den man ihn gehalten hätte. Das habe ich Doktor Duroc gesagt, aber er …«

Erst in diesem Augenblick schien Martin sich genügend gefaßt zu haben, um das Wort zu ergreifen.

»Eine Obduktion!« rief er. »Das – das fehlte gerade noch! Als ob Arthur nicht schon bei Lebzeiten genug Aufsehen erregt hätte! Soll das jetzt, wo er tot ist, so weitergehen? Das wäre noch schöner! Sein Tod kam unerwartet, zugegeben – aber Großmutter hat ja die Aussage unseres früheren Arztes, daß seine Gesundheit nicht die beste war, und sterben müssen wir ja alle, das ist nun einmal das Gesetz der Natur. Omnes eodem cogimur, omnium sors exitura – wunderbarer Vers! Alle werden wir demselben Ziele zugetrieben, aller Los fällt. Das Los des armen Arthur fiel schneller, als man erwarten konnte, aber wenn er kränklich war, ist das ja nicht so erstaunlich!«

Doktor Duroc hob die Hand, eine starke, wohlgeformte, wohlgepflegte Doktorshand, die imstande zu sein schien, ohne ein Zittern die schärfsten Instrumente zu führen.

»Verzeihen Sie! Die Dinge liegen nicht ganz so einfach, wie Sie zu glauben scheinen, Mister Vanloo. Ihr Bruder hatte ein Magenleiden, das mit der Zeit hätte verhängnisvoll werden können. Er litt an einem beinahe totalen Mangel an Salzsäure – ein seltener Defekt in so jungen Jahren. Ein solcher Mangel kann, ja muß unter gegebenen Umständen zu verschiedentlichen Leiden führen, auf die ich nicht näher einzugehen brauche. Das geht aus der Diagnose meines geschätzten Vorgängers hervor. Aber daß ein solcher Mangel im Laufe einiger Stunden und unter äußerst, sagen wir, akuten Symptomen zum Tode führen sollte, halte ich für gänzlich ausgeschlossen. Das Gesetz verlangt, daß ich ein Todesattest schreibe. Aber da ich die Todesursache nicht feststellen kann, muß ich leider auf einer Obduktion bestehen. Sie denken an das Aufsehen, das eine solche erregt, Madame, und ich verstehe Ihre Gefühle. Aber es gibt einen anderen Gesichtspunkt, den Sie vergessen.«

»Und der wäre?« murmelte sie. Ihre Augen hingen unverwandt an Martin.

»Ihr Enkel ist ganz plötzlich gestorben«, antwortete der Doktor. »Glauben Sie nicht, daß die Fama in dieser kleinen klatschsüchtigen Stadt allerlei zu flüstern hätte, wenn die Todesursache nicht völlig klargestellt würde?«

Ein Zucken durchlief ihre zarte Gestalt.

»Sie haben recht, Herr Doktor. Tun Sie, was Sie wollen! Es ist sicherlich das beste!«

Martin erhob seine Stimme, die vor Erregung zitterte. »Granny! Hast du bedacht, was du sagst? Daß die Leute klatschen würden, wenn es nicht zu einer Obduktion käme, ist, mit Verlaub gesagt, ein Nonsens. Menschen jeden Alters sterben, ohne daß man einen Gedanken daran wendet. Aber wenn es zu einer Obduktion kommt –«

»Martin«, unterbrach sie ihn mit ihrer dünnen, kristallklaren Stimme, »warum regst du dich auf? Hast du nicht gehört, was der Doktor sagt? Daß er sich weigert, ein Todesattest auszustellen, wenn man ihm nicht seinen Willen läßt? Glaubst du, ein anderer Arzt würde es tun, wenn Doktor Duroc es nicht will? Ich kann dich wirklich nicht verstehen.«

Martins Erregung verschwand ebenso rasch, wie sie gekommen war – wenigstens schien es so. Er produzierte ein Achselzucken, das gallisch überlegen wirken sollte, was ihm aber vielleicht nicht restlos gelang.

»Ich muß wirklich um Entschuldigung bitten«, sagte er. »Ich bin offenbar zu altruistisch. Wenn ich einstmals meine Augen schließe, ist es mir tief gleichgültig, was man mit meinen irdischen Überresten macht oder nicht macht. Warum sollte ich mich dann darum kümmern, was mit denen eines anderen geschieht? Bitte, sehr Herr Doktor – von mir aus haben Sie carte blanche!«

Doktor Duroc verbeugte sich mit einer Erkenntlichkeit, die vielleicht übertrieben wirkte. Er murmelte einige Worte, die besagten, daß die Obduktion von ihm persönlich und in aller Stille vorgenommen werden würde und daß sie überhaupt nicht zur Kenntnis der Allgemeinheit zu kommen brauche, wenn es sich nicht als unumgänglich notwendig erwies. Hierauf verschwand er mit einer Reverenz vor der alten Dame und einem kurzen Gruß für Ebb und Martin. Bisher hatte Mrs. Vanloo sich bewunderungswürdig straff gehalten, aber plötzlich wankte sie ein wenig, der Sonnenschirm sank herab, und das scharfe Licht enthüllte die tausend feinen Fältchen in ihrem Antlitz.

»Martin, sei so gut und führe mich hinein! Das war doch etwas angreifend.«

Die zwei Gestalten, die eine so zart und fein, die andere so robust und lebenskräftig, entfernten sich in der Richtung zur Villa. Der Dichter Ebb blieb allein stehen. Und noch immer, so dachte er in seinem Innern, wußte er nichts darüber, was sein Kommen veranlaßt hatte: Wie, wo und wann war Arthur Vanloo gestorben?

Nun ja, er würde es vielleicht erfahren, wenn der Doktor seine Untersuchung vorgenommen und Bericht erstattet hatte. Das war aber nicht sicher, und auf jeden Fall befriedigte es ihn nicht. Tags vorher hatte er seinen beiden skandinavischen Freunden etwas vorgelegt, das er ein fakultatives Problem nannte, eine Gleichung mit drei Unbekannten … seither, im Laufe von einigen kurzen Stunden, war diese Gleichung in einer Weise »eliminiert« worden, die in der Mathematik nur äußerst selten vorkommt. Sie war vom Tode selbst »eliminiert« worden und enthielt jetzt nur mehr zwei Unbekannte …

Tags vorher hatten er und seine Freunde über verschiedene Dinge debattiert, die sich nun beinahe lächerlich ausnahmen, über Napoleon, über die Begräbnisformen der megalithischen Völker. Außerdem darüber, wer der größte Detektiv war, Lord Peter, Mr. French oder Vater Brown … Wie wäre es, wenn er versuchte, diese Theorien auf die Probe zu stellen? Daß er nichts entdecken würde, war freilich gegeben! Aber es ließ sich nicht bestreiten, daß das, was seither geschehen war, eine Lösung verlangte – nein, nach einer Lösung schrie.

Er sah sich um. Gerade vor ihm lag der Eingang zur Villa. Links mußte sich die Küchenregion befinden. Rechts, hinter den Räumen, die das Appartement der alten Dame bildeten, erstreckte sich ein langes, niedriges Seitengebäude, das die Zimmer der übrigen Bewohner der Villa enthalten mußte.

Er bog in eine Seitenallee ein, von der er annahm, daß sie hinaufführte. Bienen summten, Blumen dufteten. Plötzlich hatte er freien Ausblick und wußte, daß er nicht fehlgegangen war.

Er wußte es, weil die Läden vor den drei Fenstern am anderen Ende des Flügels geschlossen waren und ein matter, in der blendenden Märzsonne kaum sichtbarer elektrischer Lichtschein durch die Spalten dieser Läden herausdrang. In Frankreich werden bei einem Todesfall immer die Fenster im Sterbezimmer geschlossen, und drinnen wird Licht angezündet. Hier war also in dieser Nacht »das Los gefallen«, hier war der grimmige Kampf ausgekämpft worden. Wenn er noch einen Zweifel daran hegen konnte, wurde er rasch zerstreut.

Ein greiser Diener stellte soeben einen Tisch vor eine Tür, die sich in unmittelbarer Nähe der geschlossenen Fensterläden befand. Er rückte ihn auf den Kies des Gartenweges, breitete eine Decke darüber, legte ein Buch im Format eines Folianten auf die Decke, musterte sein Werk mit kritischen Blicken, verschwand und kehrte bald darauf mit einem Tintenfaß, einer Feder und Löschblatt zurück. Bei Todesfällen ist es in Frankreich Sitte und Brauch, daß ein Tisch mit diesen Requisiten für diejenigen aufgestellt wird, die den Angehörigen des Verblichenen kondolieren wollen.

Christian Ebb wartete, bis alles parat war. Dann verließ er die Seitenallee. Er schrieb seinen Namen als erster Leidtragender in das Buch ein, trocknete ihn sorgfältig mit dem Löschblatt ab und begann ein Gespräch mit dem Diener. Dieser war nicht schwer zum Reden zu bringen.

»Das ist wohl der Eingang zu Mister Arthurs Privatwohnung, vermute ich?«

»Ja, Monsieur.«

»Wie ich sehe, hat der Flügel noch etliche andere Eingänge. Wohnen Mister Arthurs Brüder da?«

»Ja, Monsieur.«

»Und jeder von ihnen hat seine kleine Privatwohnung, zu der diese verschiedenen Eingänge führen?«

»Gewiß, Monsieur.«

Christian Ebb fiel ein, was der Bankdirektor gestern abend über die Ähnlichkeit zwischen diesem Hause und dem weltberühmten Hause auf Sankt Helena gesagt hatte. Sicherlich hätte es Napoleons in ständiger Fehde begriffenen Begleitern gepaßt, Privatwohnungen mit separatem Eingang zu haben wie die drei feindlichen Brüder Vanloo. Aber das hatten sie sicherlich nicht erreichen können.

»Sagen Sie mir eines«, fuhr er in einem leichten Ton fort – einem Ton, der, wie er hoffte, seines Helden in der Detektivbranche Lord Peter Wimseys würdig war, »ich bin nämlich mit Mister Martin Vanloo bekannt, und er hatte mich zufälligerweise gerade für gestern abend hierher eingeladen. Ja, das wissen Sie wohl – aber Sie werden verstehen, daß dieser Todesfall einen gewissen Eindruck auf mich gemacht hat? Rasch tritt der Tod den Menschen an, wie man so sagt! Man kann es faktisch noch gar nicht recht glauben!«

»Ich verstehe, ich verstehe vollkommen, Monsieur«, versicherte der Bediente.

»Um so besser«, sagte Ebb noch immer im selben Konversationston. »Um so besser! Ich traf eben Mister Martin und seine Großmutter, und ich hörte sie mit Doktor Duroc sprechen. Nur eines weiß ich noch immer nicht. Wie wurde der Todesfall entdeckt? Und was ist eigentlich geschehen?«

»Ich habe ihn entdeckt, Monsieur.«

»Sie haben …«

Der Dichter Ebb fühlte ein leichtes Sausen um die Schläfen. Das ließ sich ja besser an, als er zu hoffen gewagt hatte. Beinahe im Stil des edlen Lords!

Seine Hand tastete schon in der Westentasche, als ein Gedanke ihm Einhalt gebot: Griff Lord Peter je zu Bestechungen? Er konnte sich nicht erinnern, überreichte aber auf alle Fälle eine Banknote. Sie wirkte Wunder.

»Ich pflegte Monsieur Arthur immer um sieben Uhr zu wecken. Aber gewöhnlich war das gar nicht nötig. Er wachte immer früh auf, obwohl er spät ins Bett kam.«

»So? Er kam spät ins Bett?« sagte Ebb.

»Bitte mich nicht mißzuverstehen, Monsieur! Er pflegte sich zeitig am Abend in seine Wohnung zurückzuziehen. Aber bis er sich dann niederlegte – mon Dieu! Manchmal lagen dreißig, vierzig Zigarettenstummel in den Aschenschalen und auf dem Fußboden, wenn ich morgens das Rouleau aufzog!«

»Hat er so viel geraucht?«

»Er hat viel geraucht, aber doch nicht so viel. Es waren andere da, die ihm geholfen haben.«

»Wer denn?«

»Manchmal seine Brüder – oder richtiger gesagt, Monsieur, der seiner Brüder, mit dem er gerade im Augenblick am wenigsten böse war. Ich habe Sie ja gestern abend in der Villa gesehen, und so weiß ich, daß Sie die Verhältnisse kennen. Ja, manchmal saß einer seiner Brüder bis spät in die Nacht bei ihm. Aber in der Regel hatte er andere Gäste.«

»Andere Gäste? Um diese Tageszeit? Wie kamen die denn herein?« Der Diener lächelte.

»Es ist kein Torwart da, und Stacheldraht haben wir auch nicht um den Garten, nur eine Steinmauer. Da sind bei Nacht viele Gäste hereingekommen, die man bei Tag wohl nicht eingelassen hätte.«

Er machte eine Kunstpause.

»Ich sage nur das eine: Warum mußte er als Nichtfranzose sich in unsere Politik einmischen?«

Ebb fühlte wieder, wie es um seine Schläfen sauste. »Was meinen Sie?«

»Nur dies, daß die Leute, die hier an dieser Küste Politik treiben, nicht gerade reine Engel zu sein pflegen. Gehen Sie nur einmal in eine seiner Agitationsversammlungen – ja, jetzt wird ja ein anderer dort reden – und sehen Sie selbst! Araber und Türken und Polen! Alle sehen sie aus, als könnten sie einen für fünf Francs ermorden. Und mit solchen Leuten hat er verkehrt, der doch reich war und eine Erziehung hatte! Ah, mon Dieu – wie soll das noch enden?«

»Es gibt etwas, das Idealismus heißt«, bemerkte Ebb und sah sich um, als ob er fürchtete, ein Hohngelächter zu hören. »Mister Arthur wollte den kleinen Leuten zu ihrem Rechte verhelfen.«

»Schon möglich. Jedenfalls sind sie bei ihm aus und ein gegangen – Männlein und Weiblein.«

»Was sagen Sie?« rief Ebb. »Auch Damen?«

»Wenn man sie Damen nennen kann! Ich habe selbst die Flecke von ihren Schuhen aus den Teppichen geputzt – aber ich sage nichts.«

Ebb fühlte sein Herz schneller schlagen.

»Haben Sie heute nacht nichts gehört?«

Der Diener schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihn nach Hause kommen gehört. Es war früh – etwas nach elf, aber dann bin ich selbst schlafen gegangen, und mein Zimmer liegt auf der anderen Seite des Hauses. Einmal in der Nacht war es mir, als hörte ich Stimmen, aber ich kann nicht sagen, von wo sie kamen …«

Irgendwo in der Ferne läutete eine Glocke heftig. Der alte Diener zuckte zusammen und verschwand, so rasch seine offenbar verkalkten Beine ihn tragen konnten. Christian Ebb blieb stehen. Unablässig jagten sich die Ideen in seinem Kopf. Noch immer wußte er nicht, was der Diener eigentlich an jenem Morgen erlebt hatte. Hinter den geschlossenen Fensterläden glomm das elektrische Licht aus dem Sterbezimmer. Was würde man sagen, wenn man ihn dort überraschte? Beinahe ohne zu wissen, wie es zuging, öffnete er die Tür und überschritt die Schwelle.

Er verweilte nicht lange. Das Aussehen des Raumes lud nicht dazu ein. Er war nur ganz notdürftig aufgeräumt, vermutlich auf Weisung des Arztes, der eine Obduktion für notwendig befunden hatte. Das Bett war in der wüstesten Unordnung … der darin gelegen hatte, mußte sich hin und her geworfen haben wie ein Ringer auf seinem Teppich, und der Ringkampf, den er zu bestehen hatte, war ja auch der grimmigste von allen. Das Bettzeug war schweißdurchtränkt, auch andere unverkennbare Anzeichen von Übelkeiten waren bemerkbar. Die Wachskerzen, die man in einem Kreis um das Kopfkissen aufgestellt hatte, vermochten den verkrampften Zügen des Antlitzes und dem zu einer bitteren Grimasse verzerrten Munde keinen Frieden zu schenken.

Von dem Toten glitt Christian Ebbs Blick weiter zur Einrichtung des Zimmers. Die Titel auf dem Bücherregal bestätigten teils das, was man erwarten konnte, teils standen sie in Widerspruch dazu. Denn welcher Zusammenhang bestand zwischen dem »Kapital« und »Betrachtungen über die Berechtigung der Gewalt« einerseits und »Casanovas Memoiren«, »Le Chevalier de Faublas« und »Les Dames galantes« anderseits?

Auf dem Schreibtisch stand ein halbes Dutzend Aschenschalen. Aber der Bediente hatte doch gesagt, daß diese Schalen des Morgens bis zum Rande voll zu sein pflegten. Und Christian Ebb konnte alles in allem nur vier Überbleibsel darin finden. Das eine war der Rest einer Havannazigarre mit Bauchbinde. Die drei anderen waren Stummel einer höchst ordinären Caporal, einer Virginia- und einer türkischen Zigarette.

Unleugbar eine sonderbare Kombination! Sollte er …? Nein, das wagte er doch nicht. Es war arg genug, daß er ohne Erlaubnis hier eingedrungen war. Etwas mitzunehmen, das überstieg seinen moralischen Mut. Außerdem stand es – soweit er sich erinnern konnte – in Widerspruch zu Lord Peter Wimseys Gepflogenheiten.

Er zog die Tür hinter sich zu und trat wieder in die Sonne hinaus. Sie war so grell, daß er die Augen zu Boden schlagen mußte, und vielleicht fiel ihm dadurch etwas auf, das er sonst wohl übersehen hätte.

Unter Arthur Vanloos Fenster lag ein Rosenbeet. Und in dessen lockerem Erdreich zeichneten sich deutlich Fußspuren ab.

Aus ganzen Serien von Detektivromanen hatte er gelernt hohnzulachen, sowie nur das Wort Fußspuren fiel. Wußte er doch nur zu gut, daß alle oder doch die meisten das gerade Gegenteil dessen beweisen, was sie zu beweisen scheinen. Er wußte, daß ein Verbrecher mit einiger Selbstachtung heutzutage ebensowenig eine Fußspur wie einen Daumenabdruck hinterläßt. Was aber nicht hinderte, daß er beim Anblick dieser seiner ersten Fußstapfen zusammenzuckte wie seinerzeit Robinson.

Er sah um sich. Noch immer hatte er den Park für sich allein. Bienen summten, Pflanzen dufteten. Die Fußstapfen rührten entweder von einem relativ kleinen Männerfuß oder von einem ziemlich großen Frauenfuß her. Die Sohle lief recht spitz zu – aber in Frankreich tragen viele Herren noch immer spitze Schuhe. Und heutzutage bevorzugen ja viele Damen Schuhe mit niedrigen Absätzen. »Männlein und Weiblein« hatte der Bediente gesagt. »Ich habe selbst die Flecke von ihren Schuhen aus den Teppichen des Herrn geputzt!«

Christian Ebb steckte die Hand in die Tasche. Er pflegte immer eine Anzahl loser Blätter bei sich zu tragen, für plötzliche Inspirationen bestimmt, die »Visitenkarten der Musen« nannte er sie im vertrauten Kreise. Ein solches Blatt breitete er über den einen Fußabdruck und zeichnete eine vorsichtige Kontur, dann kam der zweite an die Reihe. Es ging leichter, als man hätte glauben können, denn die Visitenkarten der Musen waren ganz fein und dünn, wie es Damen von Distinktion ansteht. Er erhob sich rasch und ging mit möglichst unbefangener Miene der Zufahrtsallee zu.

Aber bevor er so weit gekommen war, sollte er noch eine Entdeckung machen. Der ganze Garten war schmuck und fein geputzt, wie ein altmodisches Brautbukett. Vielleicht blieben deshalb seine Blicke, die zerstreut zwischen Beeten und Sträuchern umherschweiften, plötzlich an einem Gegenstand hängen, den sie sonst wohl kaum beachtet hätten – einem abgerissenen Stück Papier. Es war nicht weiß und fein wie die Visitenkarten der Musen, sondern graubraun in der Farbe und recht grob. Auf dem graubraunen Grunde waren jedoch die Reste eines weißen Etiketts sichtbar, und Christian Ebb, der die Augen eines Seeadlers hatte, sah schon aus dieser Entfernung, daß das Etikett eine Inschrift zeigte. Nicht genug damit – er glaubte sie lesen zu können. Das Stück Papier lag mitten in einem Beet buntfarbiger Zinerarien. Von jedem anderen Standpunkt als dem, den er augenblicklich einnahm, war es absolut unsichtbar.

Er warf noch einen Blick um sich. Dann betrat er vorsichtig den smaragdgrünen Rasen, streckte seinen Spazierstock aus und begann nach dem Stück Papier zu angeln … jetzt hatte er es. Jetzt zog er es näher heran. Jetzt hielt er es in der Hand.

Es zeigte sich, daß er sich bis zu einem gewissen Grade getäuscht hatte. Das weiße Etikett hatte wohl eine Inschrift, aber sie war zerrissen, der größte Teil fehlte. Aus der Ferne hatte Ebb einerseits das Wort »Pharmacie«, anderseits das Wort »Polonaise« zu lesen geglaubt, und sein Hirn, das nunmehr nicht wenig erregt war, hatte nicht viele Sekunden gebraucht, um die Ideenassoziationen, die diese beiden Worte hervorriefen, zu registrieren: »Allo, allo, ici Radio de la Mediterrannée! Die Polizei in Mentone bittet uns, einem Paket nachzuforschen, das einer Apotheke hier in der Stadt abhandengekommen ist. Das Paket enthält ein überaus gefährliches Gift und ist von der Pharmacie Polonaise ausgegeben worden. Allo, allo, ici …« Waren es diese Worte, die auf dem Stück Papier, das Ebb in der Hand hielt, gestanden hatten? Vielleicht auch nicht. Aber vermutlich.

»Pharmac…« war auf dem Papier deutlich leserlich und ebenso »Po«, aber diese Buchstabenserien standen jede auf einer separaten Zeile, und zwar »Po« auf der oberen, »Pharmac« auf der unteren. Wie war das zu verstehen? Wie ließ sich das erklären? Adjektive, die eine Nation bezeichnen, kommen im Französischen immer nach dem dazugehörigen Substantiv, es muß »Pharmacie Polonaise« heißen, nicht umgekehrt. Anderseits war das Etikett sehr zerrissen und übel zugerichtet. Vielleicht war es einer Mißhandlung ausgesetzt gewesen, die sich, wenn auch nicht an der französischen Sprachlehre, so doch an der Reihenfolge der Buchstaben auf dem zerrissenen Etikett ausgewirkt hatte … Ja, vielleicht. Ja, vermutlich. Denn welche andere Erklärung gab es sonst? Daß »Pharmac« etwas mit Pharmacie zu tun hatte, ließ sich kaum bezweifeln. Und was sollte dann »Po« sein, wenn nicht der Anfang von Polonaise?

Der Dichter Ebb grübelte noch ein paar Sekunden über seinen neuen Fund nach. Dann steckte er ihn vorsichtig in dieselbe Tasche, in der bereits die Schuhabdrücke lagen, und ging weiter, dem Ausgang zu. Als er gerade in die Zufahrtsstraße einbiegen wollte, tauchte Martin, von der Villa kommend, auf. Er machte einen gehetzten, nervösen Eindruck und warf wiederholt Blicke auf seine Uhr.

»Hallo, Ebb, Sie sind noch hier? Haben Sie auf mich gewartet? Wahnsinnig nett von Ihnen! Ich brauche weiß Gott Gesellschaft! Und wissen Sie, was ich außerdem brauche?«

»Einen Drink bei Fräulein Titine?« vermutete Ebb.

»Späterhin!« räumte Martin ein, indem sein Gesicht sich erhellte. »Aber zuerst muß ich bei den guten Schwestern vorsprechen und mir eine Piqûre machen lassen.«

»Sie meinen, bei den katholischen Krankenschwestern?« fragte Ebb, der kaum seinen Ohren trauen wollte.

»Natürlich! Warum machen Sie ein so erstauntes Gesicht? Haben Sie sie nie besucht?«

»Bis jetzt nicht«, murmelte der norwegische Dichter. Nur die Umstände hinderten ihn, sich auch buchstäblich an den Kopf zu greifen. Martin ließ sich bei den katholischen Schwestern Injektionen machen! Was konnte man da demnächst erwarten? Durch Geneviève wußte er ja, welches Vertrauen die bescheidenere Bevölkerung hier wie in allen Ländern rings um das Mittelmeer zu der Wirksamkeit einer solchen Einspritzung hatte. Wenn man sich verstimmt fühlte oder etwas »au corps« zu haben glaubte, war man nicht im Zweifel, was in solchen Fällen zu tun sei, man eilte zu den Schwestern und bekam eine Einspritzung – Silbersalz, Goldsalz, weiß Gott was. Der Erfolg blieb nie aus, wenigstens nach ihrer eigenen Ansicht. Der Doktor, das war etwas für die reichen Leute, und ein Besuch bei ihm zog ungeahnte Konsequenzen nach sich. Auf die frommen Schwestern und ihre kleine Piqûre konnte man sich immer verlassen. Ja – dies wußte er. Aber daß Martin, ein kultivierter Engländer …

Laut sagte er nichts von all dem, was er dachte, und er brauchte auch nichts zu sagen. Martin besorgte selbst alle Konversation, die nötig war.

»Haben Sie je so etwas wie die Stupidität dieses Doktors gesehen?« rief er. »Eine Obduktion! Ich frage Sie: wozu soll eine Obduktion gut sein? Ich kann verstehen, daß man Leute obduziert, die man ermordet auffindet oder von denen man vermutet, daß sie Selbstmord begangen haben. Aber Arthur war der letzte Mensch auf der Welt, der einen Selbstmord hätte begehen können. Dazu war er ein viel zu großer Egoist! Und wie hätte er ermordet werden können, ohne daß man sofort gesehen hätte, daß es ein Mord war?«

»Er hätte ja vergiftet sein können«, sagte Ebb und fand selbst seine Stimme sonderbar. »Haben Sie nicht an diese Möglichkeit gedacht? Der Doktor hat sie sicherlich in Erwägung gezogen.«

Martin riß die Uhr aus der Tasche und sah darauf.

»Nach elf! Ich muß mich beeilen, wenn ich rechtzeitig zum Lunch wieder da sein soll. Was gäbe ich nicht darum, wenn ich mich heute davor drücken könnte! Aber das traut man sich ja nicht wegen der Großmutter – und heute weniger denn je, das können Sie sich denken. Wie sagten Sie doch vorhin: vergiftet? Unsinn! Es ist nicht so leicht, sich Gift zu verschaffen, wie Sie zu glauben scheinen – ganz abgesehen davon, daß kein vernünftiger Mensch heutzutage, wo die Chemiker so gerissen sind, so etwas riskiert! Kommen Sie mit? Oder treffen wir uns bei Titine?«

Ebb murmelte, daß er leider Gäste habe, die zu Hause auf ihn warteten. Martin drückte ihm mit jener reservierten Höflichkeit die Hand, mit der ein aktiver Soldat dem Deserteur begegnet. Als Ebb nach Hause kam, fand er, daß er, wenn er von Gästen sprach, gar nicht so sehr gelogen hatte, wie er glaubte. Seine beiden Kollegen vom Kriminalklub saßen da und warteten auf ihn.

2

Der Bankdirektor eröffnete die Attacke. Sein rosiges Antlitz strahlte kampflustige dänische Skepsis aus.

»Wir haben Ihren Brief bekommen!« rief er. »Und da haben Sie uns! Sagen Sie nichts, ich weiß schon im vorhinein, was Sie denken. Erklären Sie nur eines: Was wäre der Sinn des Ganzen, wenn Sie recht hätten?«

»Also was gedachte ich zu sagen?« fragte der Dichter Ebb fügsam und ließ sich in einen Fauteuil sinken.

»Natürlich, daß der Mann, der heute nacht starb, ermordet worden ist! Und daß natürlich einer seiner Brüder der Schuldige ist! Wie könnten Sie nach allem, was Sie gestern abend zusammenfabulierten, etwas anderes denken?«

»Ich komme eben aus der Villa«, bemerkte Ebb in demselben stillen Ton.

»Bravo!« Der Bankdirektor lachte stürmisch. »Sie liegen nicht auf der faulen Haut, das muß man Ihnen lassen! Dann ist der Schuldige natürlich schon festgenommen!«

»Und einstweilen«, fuhr Ebb fort, ohne sich beirren zu lassen, »kann ich mitteilen, daß der Doktor, der den Verstorbenen untersucht hat, auf einer Obduktion besteht, bevor er das Todesattest ausstellen kann.«

Seine Worte verfehlten nicht, eine gewisse Wirkung hervorzurufen. Dozent Lütjens warf ihm einen Blick durch seine goldgefaßten Augengläser zu, nahm sie dann ab und begann sie mit dem Taschentuch zu putzen. Aber der Bankdirektor war nicht derjenige, der sich so leicht ergab.

»Obduktion!« wiederholte er. »Konnte er die Revolverkugel nicht finden? Oder war das Stilett verschwunden?«

»Es lag kein Anzeichen äußerer Gewaltanwendung vor«, sagte Ebb.

»Aha!« Trepka rieb sich die Hände. »Wenn also Ihr famoser Mord begangen wurde, ist er mit Gift bewerkstelligt worden!«

»Darüber weiß ich nichts«, antwortete Ebb gleichsam mit abwesender Stimme. »Ich weiß nur, was ich gesagt habe: daß der Doktor die Obduktion der Leiche verlangt hat.«

»Und was meinte die Familie zu diesem Verlangen?«

»Man kann nicht sagen, daß diese Vorstellung sie besonders angenehm berührt hat. Die Großmutter erinnerte den Doktor daran, daß der Verstorbene an einem Magenleiden laborierte. Aber er weigerte sich, dieses Magenleiden als Todesursache anzuerkennen. Und da fügte sie sich. Aber Martin Vanloo zeigte sich erheblich weniger konziliant.«

»Dann ist kein Zweifel, wer der Schuldige ist«, sagte der Bankgewaltige mit vernichtender Ironie. »Er!«

»Martin protestierte im Hinblick auf all das Aufsehen, das eine Obduktion erregt. Aber übrigens gab auch er bald nach.«

»Noch verdächtiger!« rief Trepka, indem er sich auf die Knie schlug. »Als er einsieht, daß seine Weigerung den Verdacht auf ihn lenken könnte, beeilt er sich, klein beizugeben. Warum? Weil er weiß, daß das Gift nie nachgewiesen werden kann. Weil es solch ein geheimnisvolles morgenländisches Gift ist, wie es in den Detektivromanen vorkommt, während es der europäischen Wissenschaft gänzlich unbekannt ist. Er hat es einem herumziehenden arabischen Teppichhändler auf der Promenade in Mentone abgekauft. Und das Rätsel wäre ewig ungelöst geblieben, hätte Lord Peter nicht zufällig genau das gleiche Gift von einem indischen Fakir in Oslo erstanden.«

Seine Malicen begannen zu wirken. Christian Ebb warf seine Mähne zurück und schien auf dem Sprunge, eine zornige Antwort zu geben. Aber er beherrschte sich und zog dafür etwas aus der Tasche – das graubraune Papier, das er im Garten gefunden hatte. Er reichte es Trepka, der es mit übertriebenem Ernst prüfte, die Hand zu einer Lupe formte, um ein paar feuchte Flecke in der einen Ecke zu untersuchen, und es schließlich aufmerksam beroch, bevor er es an Lütjens weitergab.

»Meine Ansicht steht fest«, sagte er. »Ich werde sie bekanntgeben, nachdem wir Vater Browns intuitive Schlußfolgerungen gehört haben.«

Der Dozent warf einen Blick auf das Papier und den Firmenaufdruck.

»Meinen Sie«, fragte er Ebb, »daß dies der Umschlag des Giftpakets ist, das hier in der Stadt in Verlust geraten ist?«

»Ich meine, er könnte es sein. Daß es so ist, wäre erst noch zu beweisen. Ich verstehe nicht viel von Giften, aber soviel mir bekannt ist, ruft Nikotin ungefähr die Symptome hervor, die bei Arthur Vanloos Tod aufgetreten sind. Schlagen wir doch zur größeren Sicherheit im Konversationslexikon nach!«

Er nahm einen Band vom Bücherregal und las:

»Nikotin … tödliche Dosis 0,06 Gramm. Toxische Wirkungen schon bei ein bis drei Milligramm. Individuelle Empfänglichkeit sehr verschieden. Vergiftung tritt überaus rasch ein, in der Regel schon nach einigen Minuten. Vergiftungen werden nur selten durch reines Nikotin hervorgerufen, meistens durch die Pflanze oder daraus hergestellte Präparate, am häufigsten durch Rauchen oder Kauen, ziemlich oft auch durch Medikamente. Neben der lokal ätzenden Wirkung auch Wirkung auf das Nervensystem und Tod durch Atmungslähmung. Symptome: gesteigerte Schweiß- und Speichelabsonderung, Schwindel, Konvulsionen, verzerrte Züge, beschleunigter Puls und Atemnot …«

Er stellte den Band zurück und berichtete, was er im Sterbezimmer gesehen hatte. Während er sprach, wurde der Bankdirektor immer ernster und ernster, und als Ebb zu Ende war, saß er eine Zeitlang stumm da. Aber dann sprang er vom Sessel auf.

»Und wenn schon!« rief er. »Ich glaube nicht an einen Mord. Ich glaube nicht an irgend etwas, das auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit Mord hat! Arthur Vanloo hatte ein Magenleiden, das haben Sie selbst gesagt. Wir haben gesehen, was er gestern abend zusammengegessen hat – Bouillabaisse und Lammrücken! Ist das ein Essen für einen Magenkranken? Wir haben gesehen, wieviel er getrunken hat! Gar nicht davon zu reden, daß er sich nachher noch hinsetzte und sich an Mandelbäckereien gütlich tat! Ferner nicht davon zu reden, daß er wie ein Schlot zu rauchen pflegte, so daß der Diener des Morgens ein halbes Dutzend Aschenschalen voll fand. All das genügt Ihnen nicht als Erklärung! Sie müssen partout einen Mord haben!«

»Verzeihung!« bat Ebb. »Wir haben alle ungefähr gleich viel getrunken, wir haben alle Bouillabaisse und Lammrücken gegessen und befinden uns alle glänzend – auch ich, wo ich doch nicht übertrieben robust bin. Auf Arthur Vanloos Tisch standen summa summarum zwei benützte Aschenschalen, in der einen lagen die Reste einer Havannazigarre, in der anderen die Stummel einer Caporal, einer Virginiazigarette und einer türkischen Zigarette. Sind Sie der Ansicht, daß das für eine Nikotinvergiftung ausreicht, Trepka? Wenn nicht, dann müssen wir wohl auf das Backwerk, das er in einem öffentlichen Café zu sich nahm, als Todesursache zurückgreifen! Was meinen Sie?«

Der Bankdirektor starrte eine Weile die Buddha-Statuette auf dem Schreibtisch an. Dann kam ein Ausruf über seine Lippen, der beinahe wie ein Brüllen klang.

»Und nein, und nein! Ich glaube nicht an einen Mord! Was sollte das Motiv sein? Ich war ja selbst Zeuge der brüderlichen Sticheleien – aber meinen Sie in vollem Ernst, daß ein solcher Zank, ja selbst viele solche Zänkereien einen Mann zum Mörder machen können? Dann haben wir noch die gemeinsame Erbschaft. Ich gebe zu, Geld ist ein Motiv, das hinreicht, das meiste hier auf Erden zu erklären. Aber was hätte der Mörder damit gewonnen, Arthur Vanloo aus dem Wege zu räumen? Er wäre ja darum der Erbschaft um keinen Schritt näher, da doch, wie Sie uns selbst gesagt haben, die alte Dame die Verfügung über das Vermögen hat. Sehen Sie nicht ein, wohin die Mordtheorie uns führen müßte? Mindestens zu zwei weiteren Morden – ohne daß der Mörder entdeckt würde! Sind Sie bereit, diese Theorie zu akzeptieren? Ist sie Ihnen nicht doch ein wenig zu stark?«

Christian Ebb schwieg ziemlich lange.

»Ich habe mir das, was Sie sagen, schon selbst überlegt. Ich gebe zu, daß Ihre Einwände den Nagel auf den Kopf treffen. Aber wenn Sie in dem Zimmer gestanden und sein Gesicht gesehen hätten …«

Er brach ab und zog zwei weiße Papierblätter aus der Tasche – die »Visitenkarten der Musen«. Der Bankdirektor warf einen hastigen Blick auf die Kontur, die darauf aufgezeichnet war, und verfiel sofort wieder in seinen früheren ironischen Ton.

»Wie?« rief er. »Hat Lord Peter noch weitere Entdeckungen gemacht?«

Ohne sich beirren zu lassen, erzählte Ebb, was er von dem Bedienten über Arthur Vanloos politische Bekanntschaften gehört, und erwähnte, wo er die Fußabdrücke gefunden hatte. Trepka konnte seine Heiterkeit nur schwer in den Grenzen des Schicklichen halten.

»Räumen Sie ein, daß das nicht gerade dieselbe Theorie ist, die Sie ursprünglich lancierten, Ebb! Da sprachen Sie von Bruderzwist und Gewinnsucht. Jetzt kommen Sie mit politischen Komplotten. Damen und Herren, vermutlich maskiert, die zu mitternächtlicher Stunde anklopfen und Einlaß finden – nur um ihren Gastgeber mit einer Dosis Nikotin zu ermorden! Und die wunderbar passenden Fußabdrücke in dem Beet unter seinem Fenster zu hinterlassen! Ich glaube ähnliche Dinge schon gelesen zu haben. In den Nihilistenromanen meiner Kindheit. Aber daß ein moderner Mensch …«

Er wendete sich abrupt dem dritten Mitglied des Kriminalklubs zu. »Sie sagen gar nichts, Lütjens. Glauben Sie – glauben Sie auch nur einen Augenblick an die Möglichkeit eines Mordes?«

Der Dozent starrte durch seine frischgeputzten Augengläser den Gott des Wohlbefindens an.

»Ich bin Religionshistoriker«, erwiderte er. »Meine Studien haben mich gelehrt, daß die meisten Götter, die die Menschen angebetet haben, böse waren. Und so wie die Götter sind, sind auch ihre Anbeter. Es gibt nicht viele Dinge, die die Menschen nicht fähig wären zu tun, wenn es sich um ihr Wohlbefinden handelt – oder was sie für ihr Wohlbefinden halten.«

Sein Blick ging zu Christian Ebb.

»Als unser Freund, der Dichter, das Problem mit den drei Brüdern darlegte, mußte ich an eine Zeile bei Shakespeare denken, die mir immer seltsam suggestiv vorgekommen ist. Sie steht nicht im Text, sie ist eine einfache Bühnenanweisung, die Sie in ›Macbeth‹ finden können. Und sie lautet in ihrer ganzen elisabethischen Knappheit so: ›Enter three murderers.‹ Man erfährt nicht, wie die drei heißen, nur ihre Anzahl und ihre Aufgabe im Drama. Wäre das nicht ein guter Titel für solch einen Roman, wie wir ihn für das skandinavische Publikum auswählen sollen? Eine andere Sache ist es, daß, wenn Ebb mit seinem Verdacht recht hat, einer von den dreien bereits die Bühne verlassen und seinen Abgang vollzogen hat …«

»Wenn Ebb recht hat, ja! Das wäre eben noch zu beweisen!«

»Soviel ich beurteilen kann, wäre ebensogut noch zu beweisen, daß er nicht recht hat. Können Sie das – Mister French? Sonst finde ich Ihre Ausfälle gegen Lord Peter – sagen wir – unbefugt.«

»Und Vater Brown?« fragte der Bankdirektor mit einem Höchstmaß von Ironie in der Stimme. »Was sagt seine berühmte Intuition?«

»Vater Brown behält sich bis auf weiteres das Recht vor, seine eigene Ansicht zu haben«, antwortete der Dozent trocken.

»Das Recht, das seine Kirche ihren Gegnern immer abgesprochen hat«, bemerkte Trepka in womöglich noch herausfordernderem Ton.

Der Dozent und der Bankmann sahen sich ein paar Sekunden unverwandt in die Augen. Dann streckte der erstere, hell auflachend, die Hand aus, die der letztere mit dem Ausdruck einer nicht sehr herzlichen Heiterkeit ergriff.

Wie um die Versöhnung zu besiegeln, riß Geneviève gerade in diesem Augenblick die Türen zum Speisesaal auf und verkündete mit dröhnender grönländischer Stimme:

»Der Luntsch is aufgetragen, Herr Ebb!«


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