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Fünftes Kapitel.
Lord Peter und French und Vater Brown machen Untersuchungen

1

Sobald Christian Ebbs Freunde sich nach dem Lunch verabschiedet hatten, begab sich dieser selbst in die Stadt. Er hatte einige Angelegenheiten zu erledigen und wünschte nicht, daß der Dozent und namentlich der Bankdirektor erfuhren, worin sie bestanden.

Was für Angelegenheiten? Tja, man pfuscht dem Privatdetektiv nicht ungestraft ins Handwerk! Es ist mit dieser Laufbahn so wie mit der des Verbrechens: Ce n'est que le premier pas qui coûte …

Der erste Besuch des Dichters galt einer Apotheke.

Die »Pharmacie Polonaise« erwies sich als eines der kleineren Institute dieser Branche. Sie befand sich im Besitz der Witwe eines verstorbenen Apothekers und ihrer beiden Töchter und wurde für deren Rechnung von einem ältlichen, glatzköpfigen, unterdrückten und unterbezahlten Pharmazeuten geführt. Als Ebb die Tür öffnete und das nach Chemikalien duftende Lokal betrat, wurde er von drei so blendenden Frauenlächeln begrüßt, daß es ihm beinahe den Atem verschlug. War es sein flachsblondes Haar und seine blauen Augen, die diese Wirkung hervorgerufen hatten? Die Eitelkeit suchte ihm dies einzuflüstern, aber die nüchterne Beobachtungsgabe stellte sich sofort mit einer Korrektur ein: es verhielt sich wohl eher so, daß der ledige Stand sowohl für die Apothekerin wie für ihre Töchter seinen Reiz eingebüßt hatte. Diese Vermutung verstärkte sich, als er glücklich mit seinem Anliegen herausgerückt war, denn im selben Augenblick verloren alle drei Lächeln wie auf Kommando ein gut Teil ihres Strahlenglanzes.

Die Besitzerin nahm den graubraunen Papierfetzen, den Ebb ihr reichte, in die Hand und prüfte ihn vorsichtig durch ein langstieliges Lorgnon.

»Dieses Papier, mein Herr? Sie fragen, ob es von uns ist? Ja, soviel ich sehe, könnte es der Fall sein. Aber warum …?«

»Mama«, flüsterte eine der Töchter, sozusagen mit gesperrten Lettern, »wie kannst du das sagen? Das Papier, das Monsieur dir gereicht hat, ist ja ein Stück gewöhnliches Packpapier, das von jeder xbeliebigen Apotheke sein kann. Wir haben solches Packpapier, aber das gleiche haben viele andere Apotheken und Geschäfte! Bei deiner Kurzsichtigkeit solltest du nicht …«

»Du vergißt das Etikett«, unterbrach die ältere Schwester. »Der Aufdruck sieht wie unserer aus. Aber da steht ja nicht ›Pharmacie Polonaise‹! Da steht ›Pharmac‹ auf einer Zeile und ›Po‹ auf der Zeile darüber. Wie könnte das ›Pharmacie Polonaise‹ ergeben? Da wäre ich wirklich neugierig!«

»Das Etikett war sehr übel zugerichtet«, wendete Ebb bescheiden ein. »Es wäre denkbar, daß die Zeilen sich verschoben haben und daß …«

Das Lächeln sämtlicher Damen war bereits um mindestens fünfzig Prozent an Börsenwert gesunken. Bei dem letzten Einwand Ebbs riß die Apothekeninhaberin selbst wieder die Führung an sich:

»Warum fragen Sie nach diesem Papier, mein Herr? Haben Sie irgendeine Lieferung von uns erhalten? Ich kann mich nicht an Sie persönlich oder an Ihren werten Namen erinnern. Wie war er doch?«

»Christian Ebb aus Norwegen«, murmelte der Dichter. »Nein, ich habe keine Lieferung von Ihnen erhalten, Madame.«

»Warum fragen Sie dann?«

Bei Ebbs Antwort verschwanden auch die letzten Reste von allem, was Ähnlichkeit mit einem Lächeln hatte, vom Markte, fortgefegt wie von einer plötzlichen Baisse.

»Ich hörte zufällig im Radio«, sagte er so überlegen wie möglich, »daß einem Ihrer Boten ein Paket weggekommen ist. Ein Paket, das man so rasch wie möglich zurückhaben möchte, da es ein gefährliches Gift enthält. Als ich nun dieses Papier hier fand, erachtete ich es für meine Pflicht, zu …«

»Wo haben Sie es gefunden?« fragte Madame. Ihre Stimme war scharf und durchdringend wie der Klang einer Metallscheibe.

Sollte Ebb es sagen? Ein Augenblick der Überlegung sagte ihm, daß das sehr unangebracht wäre. Es konnte einen unberechtigten Verdacht in eine ganz falsche Richtung lenken – einen Verdacht – für den er keinerlei wirkliche Grundlage hatte, einen Verdacht, der noch nicht einmal in seinem Kopfe feste Form angenommen hatte.

»Ich bedaure, dies nicht sagen zu können, Madame. Die Hauptsache ist ja doch, ob Sie das Papier agnoszieren können. Allerdings ist es recht arg zugerichtet, aber …«

Die ganze Zeit über hatte er hinter seinem Rücken schwere Atemzüge gehört, Atemzüge, die von gespanntem Interesse zeugten oder doch zu zeugen schienen. Sie kamen von dem kahlköpfigen Pharmazeuten, der in völligem Schweigen dem Gespräch folgte.

Anstatt seinen Satz zu vollenden, drehte Ebb sich plötzlich auf dem Absatz herum – er bildete sich ein, daß Lord Peter es auch nicht schneller oder überrumpelnder hätte machen können – und hielt dem Manne seinen Fund unter die Nase.

»Und Sie, mein Herr!« fragte er barsch. »Haben Sie etwas zu sagen? Erkennen Sie dieses Stück Papier?«

Er durchbohrte mit seinen gletscherblauen Augen den Pharmazeuten, wie um ihn zu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Kein Zweifel, daß seine Hand ein wenig zitterte, als er das graubraune Papier entgegennahm. Kein Zweifel auch, daß er sich anschickte, irgend etwas zu sagen. Aber plötzlich begegneten seine Blicke über dem Rand der Augengläser hinweg einem anderen Blick, vermutlich dem Madames, und mit einem Schlage veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wurde leer, wie ausgeblasen, die Augen verloren allen Inhalt, der Mund erstarrte.

»Ich weiß nichts«, antwortete er trocken. »Ich habe absolut nichts zu sagen.«

Ebb drehte sich wieder auf dem Absatz herum und grüßte Madame mit einer Verbeugung von vollendeter Ironie.

»Ausgezeichnet! Natürlich geht die Sache mich ja im Grunde nichts an! Alles, was ich wollte, meine Damen, war, Ihnen die Unannehmlichkeit eines Polizeiverhörs zu ersparen – ausschließlich deshalb habe ich hier vorgesprochen!«

Er zögerte noch einen Augenblick auf der Schwelle, wie um ihnen eine letzte Chance zu geben. Aber niemand griff sie auf.

»Wir haben vor der Polizei nichts zu verbergen, mein Herr. Sie ist uns willkommen – willkommener als Sie, mein Herr – wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen.«

Ebb wiederholte seine ironische Verbeugung und trat auf die Straße hinaus. Durch die geschlossene Tür hörte er ein vollständiges Babel von Stimmen losbrechen. Alle schienen zugleich zu sprechen, Madame, die beiden Töchter, der Pharmazeut – der letztgenannte jedoch am wenigsten. Was man sagte, war unverständlich. Aber so viel glaubte Ebb konstatiert zu haben: der Provisor hatte das eine oder andere gesehen oder zu sehen geglaubt, und er war im Begriff gewesen, Ebb dies mitzuteilen, als Madame dem vorbeugte. Schade! Natürlich würde er sprechen, wenn die Polizei ihn dazu zwang. Aber wenn er auch sprach und wenn auch festgestellt wurde, daß das Papier in Ebbs Tasche von dem verschwundenen Giftpaket stammte, so war man darum der Lösung der Hauptfrage selbst: War das Gift gegen Arthur Vanloo verwendet worden – und von wem? um keinen Schritt näher gekommen.

Und noch immer blieb der Einwand bestehen, der sowohl von Ebb selbst wie eben von der jüngeren Tochter der Apothekeninhaberin ins Treffen geführt worden war: »Pharmac« hätte auf der oberen Zeile stehen müssen, vor »Po«.

Warum war das nicht der Fall? Beruhte es wirklich darauf, daß das Etikett beschädigt war? Oder …

Ebb zog die zwei anderen Blätter heraus, die die Ausbeute seiner morgendlichen Expedition darstellten, und begann sie zu mustern. Im Geiste ging er die verschiedenen Mitglieder der Familie Vanloo und ihre Füße durch, so wie er sie von jenem Abend in der Villa in Erinnerung hatte. Martin hatte einen kurzen breiten Fuß, wie er zu seiner gedrungenen Gestalt paßte. Allan, der groß und mager war, hatte dementsprechende Füße. Die Fußtapfen, die er abgezeichnet hatte, rührten entweder von einer Frau oder von einem Mann mit ungewöhnlich koketten Füßen her. Der junge John? Er konnte es nicht bestimmt sagen, aber er glaubte es nicht. Die alte Mrs. Vanloo? Der Gedanke, daß sie mitten in der Nacht an das Fenster ihres Enkels klopfen sollte, damit er sie einließ, war zu grotesk, um in Frage zu kommen. Je länger er die Fußabdrücke studierte, desto fester wurde sein Entschluß, die Theorie zu untersuchen, die Bankdirektor Trepka solche Heiterkeitskaskaden entlockt hatte, die Theorie, daß Arthur Vanloo den Besuch eines seiner politischen Freunde gehabt hatte.

Ohne weiteres Zögern lenkte er seine Schritte zu der Redaktion der Zeitung »Eclaireur« in der Rue Saint-Michel. Das Blatt war das konservative Organ der ganzen Riviera. Es führte tagaus, tagein einen erbitterten Kampf gegen alle gesellschaftzersetzenden Elemente, unter denen der Kommunismus natürlich den Ehrenplatz einnahm. Dort kannte man sicherlich die Adresse der Kreise, in denen Arthur Vanloo sich mit so großer Vorliebe bewegt hatte. Es zeigte sich, daß Ebb richtig gerechnet hatte. Die erwähnten Kreise hatten ihr Hauptbüro im Val du Carréi. Ob dem Blatte etwas über Arthur und seine Tätigkeit bekannt sei? Doch, ein wenig! Monsieur Vanloo war dem Blatte schon lange Zeit ein Rätsel und zugleich ein Dorn im Auge gewesen. Ein Rätsel, weil es unbegreiflich war und blieb, wie ein reicher Engländer aus angesehener Familie sich in eine solche Agitation stürzen konnte. Ein Dorn im Auge, weil die Zeitung, so gern sie es auch getan hätte, doch nicht wagte, ihn nach Gebühr zu behandeln. Er war ja Engländer, und es ließ sich nicht leugnen, daß die Küste von den Engländern lebte. Ja, die Adresse des roten »Zirkels« war das Carréi-Tal, im selben Hause wie das Café du Commerce.

Christian Ebb schlenderte langsam das erwähnte Tal hinauf. Die Platanen standen wie lichtgrüne Kandelaber da, es duftete nach Rosen, nach Orangenblüten und nach Eukalyptusblättern, die verbrannt wurden, und mitten durch das Tal wälzte der Fluß Carréi seine Fluten über ein weißlichgraues Kalksteinbett. Er fand das Café du Commerce und erkundigte sich, ob das Kommunistische Zentralkomitee für Mentone und Umgebung hier im Hause anzutreffen sei. Die Antwort war überraschend. Das Komitee hatte wohl sein Büro hier im Hause, aber augenblicklich hielt es gerade seine Plenarsitzung anderswo, nämlich im Boulodrome gleich gegenüber.

Ein Boulodrome ist eine gestampfte Lehmbahn, auf der man jenes Spiel mit Holzkugeln spielt, das in Frankreich Boule und in Italien Boccia genannt wird und das Krocket an Lasterhaftigkeit keineswegs übertrifft. Ebb sah eine Anzahl Mitbürger in Hemdärmeln mit größerem oder geringerem Erfolg Kugeln werfen, von ihren Partnern mit gespanntem Interesse beobachtet und ebenso vertieft in das Spiel wie kleine Jungen. Im Schatten eines Schilfdachs standen kleine Tischchen mit Flaschen und Gläsern. Im nächsten Augenblick saß er an einem dieser Tischchen neben einem etwa fünfzigjährigen Gesellschaftumstürzler und hatte bei der Kellnerin – übrigens einem ungewöhnlich schönen Mädchen – eine Flasche Wein mit zwei Gläsern bestellt.

Die Bekanntschaft mit dem Nachbar war schnell gemacht. Es zeigte sich, daß dieser ein Handwerksmeister war, der infolge der schlechten Zeiten in Konkurs geraten war – wenigstens sagte er so – und sich hierauf der Partei angeschlossen, die ehebaldigst das Paradies schaffen wollte. Sowie er gehört hatte, daß Ebb Norweger war, zeigte er sich bereit, ihm alle erwünschten Auskünfte zu geben. Denn hatte nicht das Parteiblatt berichtet, daß Norwegen – oder war es Schweden? – durch und durch kommunistisch sei und Kopenhagen – oder war es Amsterdam – eine direkte Filiale Moskaus? Ob er Arthur Vanloo kenne? »Un brave homme«, wenn auch Engländer und »fils de famille«! Es gab hier in Mentone nicht viele, die so viel für den Kommunismus geopfert hatten wie er. In Versammlungen gesprochen, den schmutzigen Bürgern gerade vor der Nase Plakate angeklebt! Wo sah man noch eine solche Begeisterung? »Un brave homme, que je vous dis!«

Ein jüngerer Mann mit schwarzem Haarschopf, der in den Pausen zwischen den Kugelwürfen zugehört hatte, steckte nun plötzlich das Gesicht zwischen Ebb und seinem Tischgenossen durch.

»Arthur? Un brave homme? Woher denn! Ein Heuchler wie alle Engländer! Gibt es einen Kommunismus in England? Nein! Na also! Ein Heuchler, vielleicht ein Spion – das ist das Ganze, que je te dis!«

»Du übertreibst, Marcel«, sagte der Handwerksmeister a.D. besorgt, zu weit gehende Trassierungen für einen unbekannten Akzeptanten gemacht zu haben. »Du übertreibst, Genosse«, sagte er und sah sich um, als fürchte er, eines Vorgesetzten Auge schon auf sich ruhen zu fühlen. »Arthur war ein Familiensohn, aber es gibt nicht viele so gute Kommunisten wie ihn – que je te dis!«

»Haha«, hohnlachte der Mann mit dem schwarzen Schopf. »Wenn Jeannine nicht gewesen wäre – glaubst du, er hätte uns auch nur fünf Minuten geopfert? Du bist und bleibst ein Idiot, dem jeder einreden kann, was er will – que je te dis!«

»Du übertreibst, Genosse«, murmelte Ebbs Nachbar und warf einen Blick hinter sich, als erwarte er, die Polizei mit dem Gefängnis karren warten zu sehen, »du übertreibst! Warum sollte er sich nicht für Jeannine interessieren dürfen? Weißt du nicht mehr, was das Programm sagt? Die Sexualverhältnisse sollen aus dem Dunkel gezogen werden, in das die Bourgeois sie verwiesen haben, und … du hast doch nicht das Alleinrecht auf Jeannine?« kreischte er auf, als der andere die Hand hob, wie um ihn zu schlagen.

»Spricht man von mir? Und was zum Teufel soll das heißen?«

Die Kellnerin stand plötzlich neben ihnen. Ja, nicht zu leugnen, unbestreitbar schön – wohlproportioniert, elastisch, schrägäugig, schwarzhaarig, nervös wie eine Katze und sicherlich ebenso heimtückisch gegen ihre Beute.

»Nein, Mademoiselle«, antwortete Ebb im Namen des ganzen Tisches. »Wir sprechen nicht von Ihnen. Wir sprechen von Monsieur Arthur Vanloo. Kannten Sie ihn?«

Ihre Nägel, die rot lackiert waren, vermutlich aus politischen Gründen, hoben sich automatisch. Der Blitz aus ihren schwarzen Augen ließ Ebb – aber er war ja auch Poet – an einen Revolver denken, der im Dunkel losgeht.

»Mais qu'on me fiche la paix! Was habe ich mit dieser Figur zu schaffen? Ein Typ ohne Geld, ein Muttersöhnchen, das sich als Kommunist aufspielen will! Ich frage euch«, rief sie mit einer heiseren Stimme, die mehrere Spieler ihren Wurf verfehlen ließ, »gibt es etwas Gleichgültigeres? Übrigens«, fügte sie mit einer geringschätzigen Grimasse hinzu, »übrigens ist er ja tot!«

»Aber Sie kannten ihn, als er noch am Leben war, Mademoiselle?« fuhr Ebb im selben artigen Konversationston fort »Sie haben mit ihm verkehrt? Oder irre ich mich?«

Sie vergaß sowohl den Handwerksmeister wie den Mann mit dem Schopf, um sich Ebb zuzuwenden.

»Ja, sagen Sie mir einmal, was zum Teufel meinen Sie eigentlich?« zischte sie mit einer Stimme, die immer heiserer wurde. »Ob ich mit ihm verkehrt habe? Bin ich vielleicht nicht fein genug dazu? Was? Ob ich ihn gekannt habe, als er noch am Leben war? Was meinen Sie? Wann sonst zum Kuckuck hätte ich ihn kennen sollen?«

»Sie haben recht«, erwiderte Ebb in dem gleichen idiotisch-liebenswürdigen Ton, »wann sonst hätten Sie ihn kennen sollen? Und da er erst heute nacht gestorben ist –«

Er kam nicht weiter. Ihr dreieckiges Katzengesicht senkte sich langsam, bis es in gleicher Höhe mit seinem eigenen war. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, aber er hatte das beängstigende Gefühl, daß die Nägel jederzeit ihre Richtung ändern konnten.

»Aber vielleicht sagen Sie mir: wer zum Teufel sind denn Sie?« murmelte sie zwischen den Zähnen. »Was geht das mich an, wann Monsieur Arthur Vanloo gestorben ist! Was meinen Sie? Sagen Sie mir zum Teufel einmal, was Sie meinen?«

Das Boulespiel hatte so ziemlich aufgehört. Aller Augen hatten sich von den Kugeln abgewandt und hingen an Christian Ebb. Im Bewußtsein des norwegischen Dichters brach sich die Überzeugung Bahn, daß es in der Wirklichkeit nicht so leicht sei, Lord Peter zu spielen wie in den Romanen – oder doch wenigstens leichter unter einer phlegmatischen englischen Bevölkerung als unter unbeherrschten Südländern. Der Mann mit dem Schopf atmete so heftig, daß Ebb ohne die geringste Schwierigkeit feststellen konnte, daß er bei seiner letzten Mahlzeit Knoblauch gegessen hatte. Die anderen verließen die Kugeln und begannen sich um den Friedensstörer zu scharen. Welches Ende das Ganze genommen hätte, wenn nichts dazwischengekommen wäre, läßt sich schwer sagen. Der Handwerksmeister war es, der die Situation rettete. Seine unruhig umherflackernden Blicke hatten etwas erspäht, und plötzlich stieß er ein heiseres Flüstern hervor, das eine magische Wirkung hatte: »Les flics!«

Auf der anderen Seite des Stakets des Boulodrome waren zwei wohlbekannte Profile aufgetaucht, die Profile der martialischen Männer mit der Revolvertasche am Gürtel und den Capuchons über den Schultern, die Profile der Wächter, die in Frankreich für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgen. Im nächsten Augenblick war das Kugelschleudern wieder in vollem Gang.

Die Kellnerin war es, die das letzte Wort behielt. »Das sieht euch ganz ähnlich!« schrie sie, indem sie aufstampfte, so daß der harte Lehmboden widerhallte. »Das sieht euch ganz ähnlich! Un sale bourgeois beleidigt mich, und keiner von euch rührt einen Finger! Ah, mein kleiner Marcel, warte – warte nur!«

Sie zog sich unter das Schilfdach zurück. Die Weinflasche des Dichters Ebb war kaum berührt, aber er hatte die starke innere Überzeugung, daß es am geratensten war, sie für ein andermal stehen zu lassen oder sie eventuell dem kommunistischen Zentralkomitee für Mentone und Umgebung zu spenden. Eine andere Sache war, daß er zuerst einen Plan ausführen wollte, der soeben in seinem Innern geboren worden war. Aber würde es möglich sein? Es war jedenfalls einen Versuch wert. Er bückte sich, wie um sein Schuhband zu knüpfen. Anstatt dessen schmuggelte er jedoch im Schutz seines Überziehers eine der Visitenkarten der Musen und seinen Bleistift heraus. Das Ganze dauerte nur eine Sekunde, und er glaubte nicht, daß jemand etwas bemerkt hatte. Als er auf die Straße hinaustrat, wo die Gendarmen ihn mit mißtrauischen Blicken maßen, sagte er sich, daß Lord Peter die Sache auch nicht viel besser hätte einfädeln können.

Es hatte inzwischen zu dämmern begonnen. Unter der ersten Bogenlampe blieb er stehen und zog seine drei Visitenkarten der Musen aus der Tasche. Die beiden ersten zeigten die Konturen von zwei Fußabdrücken, die in dem Beet unter Arthur Vanloos Fenster hinterlassen worden waren. Die dritte hatte er soeben im Boulodrome ausgefüllt. Als Jeannine vor Wut auf den Boden stampfte, hatte sie in dem Lehmboden einen der schönsten Fußabdrücke hinterlassen. Und da nun Christian Ebb die Fußabdrücke verglich und das Resultat sah, war sein Gesicht derart, daß Lord Peter vermutlich in herzliches Lachen ausgebrochen wäre, wenn er ihn gesehen hätte. Der Gymnasiast, der zum erstenmal ein algebraisches Problem auf eigene Faust gelöst hat, kann nicht verblüffter dreinschauen als der Dichter, der seine drei Blatt Papier anstarrte. Zwei der Abdrücke, der eine aus der Villa und der, den Jeannine vorhin im Lehm des Boulodrome hinterlassen hatte, paßten genau zusammen – ja, genau …

Und dann – ja, dann …

Von der anderen Seite der Straße beobachteten die zwei französischen Polizisten mit Interesse und schlecht verhehltem Mißtrauen den Dichter Ebb bei seiner Beschäftigung. Er merkte es nicht. Er merkte überhaupt nichts von der Umwelt, weder den Duft der Orangenblüten noch die beginnenden Liebesgesänge der Frösche. Seine Gedanken kreisten wie behext um den Inhalt der zwei Aschenschalen, die in einem bestimmten Zimmer der Villa Longwood gestanden hatten.

2

Der Bankdirektor Otto Trepka war an diesem Morgen nicht ganz ehrlich gegen seine Kollegen vom Kriminalklub gewesen. Er hatte ihnen eine Sache verschwiegen. Und der Zeugeneid aller Länder schreibt ja vor, daß man die Wahrheit, die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen soll.

Aber dem Bankdirektor fehlte es nicht an Gründen, sein Betragen zu rechtfertigen. Erstens war es nicht ausgemacht, daß die Episode, die er verschwiegen, irgend etwas mit der Sache zu tun hatte. Zweitens bestritt er energisch, daß es überhaupt eine »Sache« gab. Drittens wäre die Episode von einem Phantasten wie Ebb nur falsch verstanden und mißdeutet worden – übrigens vielleicht auch von dem Dozenten. Wenn er geschwiegen hatte, so war es nicht nur im Interesse einer gewissen Person oder auch gewisser Personen – es war ebensosehr seiner Kollegen wegen.

Es widerstrebte ihm, zu sehen, wie Menschen sich durch unüberlegte Handlungen blamierten. Und das hätte sehr leicht die Folge sein können, wenn er nicht geschwiegen hätte.

Was war nun das, was er verschwiegen hatte?

Es ließ sich in erheblich weniger Worten sagen, als er gebraucht hatte, um sich vor seinem inneren Forum zu verteidigen. Am frühen Morgen, noch bevor er Ebbs Brief erhalten und von dem Todesfall in der Villa Longwood gehört hatte, war er durch die alten Hafenviertel von Mentone spazierengegangen. Es gehörte seit vielen Jahren zu seinen Gewohnheiten, den Tag mit einem solchen Spaziergang zu beginnen.

Wie alle Häfen der Welt hatte auch der unbedeutende Hafen Mentones etliche Gaststätten in seiner Nachbarschaft, einfache Kneipen von der Art, die man im Französischen »Bistro« nennt. Das Publikum dieser Lokale pflegt mit der Einrichtung zu harmonieren. Aber auf seinem Morgenspaziergang hatte der Bankdirektor zufällig einen Blick durch die offene Tür eines dieser Bistros, und keineswegs des feinsten seiner Gattung, geworfen, und was hatte er da gesehen? Er hatte Allan Vanloo gesehen. Der sonst so korrekte junge Engländer saß zusammengesunken in einer Ecke des Lokals, er starrte in ein Glas, und dieses Glas enthielt Pernod. Nun ist Pernod, mit anderen Worten Absinth, in Frankreich ein sehr populäres Getränk, aber es wäre unzutreffend, es ein Getränk der oberen Zehntausend zu nennen, und am allerwenigsten ein Morgengetränk. Wer es um diese Tageszeit zu sich nimmt, ist entweder ein sehr niedrig stehender Mensch, ein sehr versoffener Mensch, oder möglicherweise ein Mensch, der einen schweren seelischen Schock erlitten hat. Der Bankdirektor sah mit visionärer Klarheit das Gesicht des Dichters Ebb, das dieser machen würde, wenn er hörte, daß der elegante Allan Vanloo um halb acht Uhr morgens in einem Bistro am Hafen Absinth getrunken hatte! Darum, gerade nur darum, hatte er über das, was er gesehen, geschwiegen.

Aber nicht allein darum. Er hatte einen Plan, den er zur Ausführung bringen wollte. Er wollte ein für allemal die Fabel, daß es in der Villa Longwood ein Problem gebe, aus der Welt schaffen. Er wollte beweisen, daß es ein solches Problem weder gab noch geben konnte und daß, wer so etwas behauptete, einfach aus dem hohlen Faß redete. Und zu diesem Behufe gedachte er sich der Methoden zu bedienen, die Mr. French von Scotland Yard in einem ähnlichen Falle angewendet haben würde.

Vor einem Jahr hatte sich seine Bank bei der Regelung einer dänisch-französischen Steuerangelegenheit an einen Advokaten in Mentone wenden müssen. Wer wäre also geeigneter gewesen, dem Bankdirektor bei der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, behilflich zu sein, als eben dieser Advokat? Er begab sich in Monsieur Parmentiers Kanzlei in der Rue Partouneaux, schickte seine Visitenkarte hinein und wurde sofort vorgelassen.

»Monsieur Trepka aus Kopenhagen? Ah, welches Vergnügen, welche besondere Freude! Ich bin entzückt! Ob ich mich an unsere Angelegenheit im Vorjahr erinnere? Aber natürlich, mein lieber Direktor, natürlich! Und welcher günstige Wind weht Sie hierher nach Mentone?«

Trepka erwiderte die Artigkeiten nach Maßgabe seiner Kräfte. Er sagte, daß sein Steckenpferd, die Geschichte Napoleons, ihn jetzt in der Urlaubszeit nach Frankreich geführt habe, unterließ es jedoch, seine neuerworbene Mitgliedschaft im Kriminalklub zu erwähnen. Als er dann mit der Bitte um Diskretion dem Advokaten sein Anliegen vortrug, zeigte sich ein breites Lächeln auf Monsieur Parmentiers Antlitz.

»Ah, aber das ist ja großartig!« rief er. »Da haben Sie ja Gelegenheit, utile mit dulci zu verbinden, wie wir es in der Schule auszudrücken lernten – oder zwei Fliegen mit einer Klappe zu erschlagen, wie es etwas vulgärer heißt.«

»Wieso?« fragte der Bankdirektor, dem ein leises Prickeln über den Rücken lief.

»So«, antwortete Monsieur Parmentier, indem er sich auf dem Schreibtischfauteuil zurechtsetzte und einen belehrenden, ringgeschmückten Zeigefinger hob, »in folgender Weise, mein lieber Herr Bankdirektor! Sie sammeln Napoleana, und Sie wünschen gewisse Informationen über die finanzielle Lage der Familie Vanloo. Nun schön, das Familienvermögen soll eben aus geschäftlichen Transaktionen mit Napoleon stammen! So daß Ihr Steckenpferd in geradezu wundersamer Weise mit Ihren Geschäftsinteressen zusammenfällt!«

Trepka dachte noch immer nicht daran, seine Mitgliedschaft im Kriminalklub zu erwähnen. Er ließ Monsieur Parmentier bei seinem Glauben an die geschäftlichen Interessen. Aber das Prickeln im Rückgrat wurde intensiver.

»Geschäftliche Transaktionen mit Napoleon?« wiederholte er. »Es ist mir zwar bekannt, daß die Familie aus Sankt Helena kommt – ja daß sie die Insel erst zur Zeit des Todes des Kaisers verließ. Aber in Sankt Helena kann sie doch keinesfalls in Geschäftsverbindung mit ihm gestanden haben.«

»Und warum nicht, mein lieber Direktor?«

»Weil Napoleon meines Wissens nur mit einem einzigen Menschen auf der Insel in Geschäftsverbindung stand, nämlich seinem Lieferanten, einem Herrn namens Balcombe! Und ich glaube alle Literatur, die über diesen Gegenstand vorliegt, zu kennen.«

Monsieur Parmentier kaschierte geschickt ein Achselzucken, aber sein ausdrucksvolles Gesicht sagte so deutlich wie mit Worten, was er dachte: Wie schwer doch diese Germanen alles nehmen, selbst ihren Zeitvertreib!

»Natürlich sind Sie im Recht, mein lieber Direktor, und natürlich bin ich im Unrecht! Ich beuge mich vor Ihrem Wissen!«

»Aber Sie sagten doch, daß das Vermögen aus Geschäften mit der gestürzten Majestät stammt. Welchen Grund hatten Sie dazu?« beharrte Trepka, der das leise Prickeln im Rückgrat noch immer verspürte.

Monsieur Parmentiers Züge nahmen eine Ähnlichkeit mit denen des heiligen Sebastian an, auf den die Pfeile zu hageln nicht aufhören wollten.

»Ich sagte, daß es aus derartigen Geschäften stammen soll, das stimmt. Aber ich habe damit keinerlei Bürgschaft für diese Angabe übernommen. Wenn ich aufrichtig sein soll« – Monsieur Parmentier sah aus wie ein Mann, der einen heroischen, aber ihm schwerfallenden Entschluß gefaßt hat – »wenn ich aufrichtig sein soll, so war meine Äußerung nur une boutade – eine Replik um der Replik willen! Ich würde nicht einmal protestieren, wenn Sie, mein lieber Direktor, in diesem Zusammenhang von Klatsch sprechen wollten! Ich habe gehört, daß die Familie Vanloo ihr Geld auf diese Weise verdient hat. Aber wer dieses Gerücht in Umlauf gesetzt hat, oder wann es entstanden ist, ahne ich nicht. Geschweige denn, ob es irgendeine Grundlage hat. Wenn Sie sagen, daß es unmöglich zutreffend sein kann, glaube ich Ihnen aufs Wort. Davon bitte ich Sie überzeugt zu sein.«

Er stemmte alle zehn Finger gegeneinander, mit der Miene eines Mannes, der seine Karten auf den Tisch gelegt hat und nun mit ruhigem Gewissen das Resultat abwartet. Das leise Prickeln in Trepkas Rückgrat hatte sich verflüchtigt – und übrigens war er ja heraufgekommen, um Ebbs lächerliche Theorien über den Haufen zu werfen, nicht um historische Forschungen zu betreiben.

»Ich bitte um Verzeihung, wenn Sie mich vielleicht etwas aufdringlich finden«, sagte er mit seinem strahlendsten Amorettenlächeln. »Wir sollten ja nicht über die Geschäfte Napoleons sprechen, sondern über die Familie Vanloo. Ich möchte, wie gesagt, gewisse Informationen von Ihnen oder durch Sie haben, und ich hoffe, daß Sie mir diese kleine Gefälligkeit erweisen werden.«

Monsieur Parmentier neigte den Kopf. Der gemarterte heilige Sebastian war verschwunden, er war wieder ganz lächelnde Liebenswürdigkeit.

»Alles, was ich für Sie tun kann, mein lieber Direktor …«

»Davon bin ich überzeugt. Was ich benötigen würde, sind einige Aufschlüsse über die Bestimmungen des Familientestaments. Ich weiß, daß das Vermögen derzeit im Besitz der alten Mistreß Vanloo ist. Aber wie wird es, wenn sie …«

Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Monsieur Parmentier neuerdings der gequälte Sebastian wurde.

»Ah, mein lieber Direktor, was verlangen Sie da von mir! Erstens habe ich keine Ahnung von dem Testament, von dem Sie sprechen, zweitens wissen Sie sicherlich, daß es uns Advokaten verboten ist, solche Informationen, wie Sie sie wünschen, zu geben. Drittens …«

Er unterbrach sich, unschlüssig, welches neue Hindernis er auf den Pelion und Ossa noch türmen sollte.

Da Trepka nichts erwiderte, schloß er den Satz etwas lahm ab, indem er die Stimme senkte und flüsterte: »Ich vermute, daß einer der jungen Herren Vanloo Schulden bei Ihnen hat – oder bei Ihnen spekuliert hat und daß Sie …«

Trepka schwieg noch immer.

»Und daß Sie deshalb …«

Trepka zog seine Zigarrentasche mit einer Langsamkeit hervor, als vollziehe er einen religiösen Ritus.

»Wirke ich auf Sie wie ein Mann, der unnötige Fragen stellt?« erkundigte er sich, indem er die Augenlider halb schloß, »Haben Sie aus unserer bisherigen Zusammenarbeit diesen Eindruck gewonnen?«

»Natürlich nicht, natürlich nicht«, beteuerte der Advokat und sah in einer raschen Vision angenehme Ziffernkolonnen vor seinem geistigen Auge – das Endresultat ihrer früheren Zusammenarbeit. »Aber Sie begreifen, mein lieber Direktor«, fuhr er fort, indem er fünf Fingerspitzen an die linke, fünf an die rechte Schläfe drückte. »Sie begreifen, daß Sie jetzt gerade das Unmögliche von mir verlangt haben, Sie begreifen, daß es Dinge gibt, die …«

Er unterbrach sich in der Hoffnung, daß sein Gegenspieler den Satz vollenden werde. Doch dieser schwieg.

»… die total außerhalb der Kompetenzsphäre eines armen Advokaten liegen – Sie begreifen, daß das Dekorum seines Berufs gewisse Anforderungen an ihn stellt, unabweisliche, unerläßliche Anforderungen, über die …«

Trepka schwieg noch immer.

»… über die man sich ganz einfach nicht hinwegsetzen kann! Jawohl! – nicht kann!« rief er, da sein Gast noch immer auf die Rauchringe seiner Zigarre starrte.

»Auch mein Beruf hat sein Dekorum, das gewisse unerläßliche Anforderungen stellt«, erklang es endlich aus den Rauchwolken heraus. »Ich bedaure, daß Sie aus unseren bisherigen Beziehungen den gegenteiligen Eindruck gewonnen zu haben scheinen. Dann erübrigt sich nur, die Tatsache zu konstatieren und …«

»Aber ich kann ja nicht!« Monsieur Parmentier schrie es beinahe, denn er sah plötzlich vor seinem geistigen Auge die angenehmen Ziffernkolonnen im Blauen verschwinden wie das Tuch mit den vielen Eßwaren, das dem widerstrebenden Petrus fortgezogen wurde. »Das Testament habe doch nicht ich – ganz abgesehen von aller Berufsmoral!«

»Aber Sie wissen, wer es hat«, murmelte eine Stimme aus den Tabakswolken. »Tja – natürlich ist es Ihre Sache, ob Sie mir die Auskünfte, die ich wünsche, selbst verschaffen wollen oder ob Sie es …«

Er deponierte die Zigarrenasche in der Aschenschale mit einer Geste, als ob er Monsieur Parmentiers Staub von den Füßen schüttelte. Bevor er mehr als den obersten Knopf seines Jacketts zugeknöpft hatte, hielt der Advokat die Telefonmuschel in der Hand und rief wie ein Mann in Seenot:

»Dreißig sechsundzwanzig! Nein, nein! Dreißig sechsundzwanzig – nicht vierzig sechsundzwanzig! Allo, allo! Allo, allo! Fräulein, bitte, geben Sie noch ein Signal, es meldet sich niemand! Ja so, er hat spekuliert, der gute Allan. Allo, allo, ist hier dreißig sechsundzwanzig? Allo, allo! – Ja, bei dem Leben, das er führt, kann man sich ja nichts anderes – allo, allo, ist hier dreißig sechsundzwanzig? Hier Parmentier. Kann ich Monsieur Corbeau sprechen? Sie sind selber am Apparat, lieber Kollega? Wie geht es Ihnen? Und wie befindet sich Madame Corbeau? Und Ihre entzückenden Kinderchen? Ah, das freut mich, das freut mich wirklich! Mein lieber Kollega, ich rufe Sie an, um eine Auskunft zum strikten privaten Gebrauch zu erbitten.«

Seine Blicke suchten die Trepkas, wie um zu sagen: Da sehen Sie, wie weit ich für Sie gehe – ich lüge, ich lasse mir etwas zuschulden kommen, das für einen Mann in meiner Stellung das Allerschwerste ist, eine direkte Unwahrheit. Trepkas Augen antworteten durch die Zigarrenwolken. Ich höre es, ich sehe es ein, und seien Sie versichert, ich werde es nie vergessen. Monsieur Parmentier telefonierte mit gesenkter Stimme und halb geschlossenen Augen weiter, hie und da traf Trepka ein Blick, wie er aus den brechenden Augen eines Sterbenden kommen könnte. Aber aus dem, was der Advokat sagte, entnahm er nicht sehr viel, denn er wählte seine Worte mit erlesenster Diskretion, und die Antworten, die er erhielt, ließen sich noch weniger erraten. Endlich legte Monsieur Parmentier mit einem Seufzer die Muschel zurück und sah seinen Gast stumm an.

»Ah!« sagte er. »Ah, dieser Corbeau! Können Sie sich in Gedanken ein Wesen vorstellen, das die Arglosigkeit des Fuchses mit der offenen mitteilsamen Art der Auster vereint, dann haben Sie ein Bild meines Kollegen Corbeau!«

Trepka wiegte teilnehmend den Kopf.

»Einem solchen Mann ein Berufsgeheimnis zu entlocken – ah, ich kann Ihnen versichern!«

Trepka nickte verständnisvoll.

»Natürlich bezahle ich den höchsten Tagespreis für alle Auskünfte.«

Monsieur Parmentier wandte sein Antlitz ab, als hätte er ein unanständiges Wort gehört.

»Sie begreifen offenbar nicht, was ich Ihnen zuliebe getan habe – gleichviel, die Informationen stehen Ihnen zur Verfügung«, rief er, als Trepka die Uhr zog. »Zum genannten Kurs«, rief er und ergriff den Schreibblock, auf dem er die ganze Zeit Notizen gemacht hatte, »Also!« spornte er sich selbst an und verstummte noch einmal, bevor er widerstrebend vorzulesen begann, was er geschrieben hatte. »Also!«

Trepka hörte zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen oder sich etwas zu notieren, bis der Advokat den Block beiseitelegte.

»Sind Sie zufrieden?« fragte Monsieur Parmentier in dem bitteren Ton eines Mannes, der Familie und Vaterland verraten hat. »Sind Sie nun zufrieden, Herr Direktor?«

Trepka neigte stumm den Kopf und überreichte ihm ein paar größere Banknoten. Sie verschwanden ebenso diskret in einer Schreibtischlade, wie die Gefangenen in den Verliesen des ancien regime verschwunden waren. Einige Minuten später stand der Bankdirektor wieder auf dem Trottoir vor dem Hause in der Rue Partouneaux.

War er mit dem Geschäft, das er soeben abgeschlossen hatte, zufrieden?

Eigentlich nicht. Er hatte Auskünfte gewünscht und erhofft, die die verrückten Theorien des Dichters Ebb ein für allemal widerlegen konnten. Aber waren sie ihm geworden?

Die Auskünfte, die Monsieur Parmentier ihm unter so schmerzlichem Paktieren mit seiner Berufsmoral verschafft hatte, schienen eher die – sei es auch nur theoretische – Möglichkeit offen zu lassen, daß Ebb gewisse – sei es auch unbewiesene und unbeweisbare – Gründe für sein Phantasiegebilde haben konnte! Der Vater der drei Brüder war in überraschend jungen Jahren gestorben, und da sie zu jener Zeit noch unmündig waren, war in seinem Testament bestimmt, daß das Familienvermögen von der Großmutter bis zu deren Tod verwaltet werden solle. Dann sollte es als Fideikommiß an den Ältesten von ihnen übergehen, natürlich mit der Verpflichtung, für die anderen Familienmitglieder zu sorgen. Aber man weiß ja, wie solche theoretischen Verpflichtungen in der Praxis gehandhabt werden können – ja, das wußte man leider als Bankmann wie als Mensch. So daß sich unleugbar Umstände denken ließen, unter denen ein nicht sehr skrupulöser Bruder zu – hm – nicht sehr skrupulösen Methoden greifen könnte, um die Erbfolge in befriedigender Weise zu ordnen … (Aber natürlich gehörten solche Umstände, solche Mittel und solche Theorien im ganzen genommen in das luftige Reich der Phantasie, nicht in die Wirklichkeit, wie Ebb partout glauben wollte.)

Arthur Vanloo, der eben so unerwartet von hinnen geschieden war, war der älteste Bruder gewesen und hätte also zur gegebenen Zeit das Fideikommiß übernehmen sollen. Nach ihm kam Allan und nach diesem Martin. So daß …

Ein Gedanke durchblitzte plötzlich Bankdirektor Trepka, wie er da auf dem Trottoir vor Monsieur Parmentiers Kanzlei stand. In dem luftigen Reich der Phantasie, in dem Ebb sich bewegte, beging man allerdings sehr leichtherzig Verbrechen, aber eines war doch auf alle Fälle vonnöten: daß der Ansporn hierzu genügend groß war! Zugegeben, daß das Familienvermögen dem ältesten Bruder zufiel und daß die Erbfolge – hm – zu Torheiten verleiten könnte! Der Betrag, der auf dem Spiele stand, mußte jedenfalls groß genug sein, um ihn in Versuchung zu führen! Wie groß war das Familienvermögen? Darüber hatte Monsieur Parmentier keine Auskunft geben können. Vielleicht lag es außerhalb des Bereichs seiner Möglichkeiten, vielleicht rechnete er mit einem neuen Besuch des Bankdirektors. Aber dieser glaubte sich diese Auskünfte von anderer Seite besser und billiger verschaffen zu können. Es gibt ein Auskunftsbüro namens Schüttelmann, das seine Geschäftslokale in der Behrenstraße in Berlin hat. Was diese Firma über die Vermögensverhältnisse einer lebenden Person nicht weiß, ist nicht wissenswert. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob der Betreffende in Deutschland, Frankreich, Amerika oder Kamtschatka wohnt – im Laufe von ein paar Tagen hat die Firma Schüttelmann alles über ihn in Erfahrung gebracht.

Trepka drehte sich auf dem Absatz herum und ging mit festen Schritten dem Telegrafenamt von Mentone zu. Von seinem Fenster aus betrachtete der Advokat Parmentier wehmütig seinen Abmarsch. Bis zuletzt hatte er auf einen neuerlichen Besuch gehofft. Aber das Fenster zu öffnen und dem Bankdirektor nachzurufen, konnte für ihn nicht in Frage kommen – es gibt Grenzen.

3

Dozent Lütjens war an diesem Morgen nicht ganz ehrlich gegen seine Kollegen vom Kriminalklub gewesen. Es gab ein paar Dinge, die er ihnen verschwiegen hatte. Und der Zeugeneid aller Länder schreibt doch vor, daß man die Wahrheit sagen muß, die volle Wahrheit und nichts anderes als nur die Wahrheit.

Aber dem Dozenten fehlte es nicht an Gründen, sein Betragen vor sich selbst zu rechtfertigen.

Denn allerdings gab es zwei, drei Dinge, die ihn gestern abend frappiert hatten und die im Lichte dessen, was nachher geschehen war, noch eigentümlicher wirkten. Aber aus seinen religionswissenschaftlichen Studien wußte der Dozent, wie bedenklich es ist, anderen seine Eindrücke mitzuteilen, wie überaus leicht diese dann in etwas ganz Neues und Unvorhergesehenes umgedeutet werden können! Wo der objektive Beobachter ein schwer erklärliches Phänomen sieht, sieht ein weniger kritisch veranlagter Mensch ein Wunder. Und wo der objektive Beobachter möglicherweise selbst ein Wunder sieht, sieht der Skeptiker nur den reinen, aufgelegten Schwindel. Deshalb, eben deshalb, hatte er über das, was er am Abend vorher gesehen und gehört hatte, geschwiegen.

Denn was wäre geschehen, wenn er nicht geschwiegen hätte? Der Dichter Ebb mit seinem leicht erregbaren Temperament hätte die Bedeutung seiner Beobachtungen ins Ungemessene gesteigert, und Bankdirektor Trepka mit seinem skeptischen Intellekt hätte sie für Einbildung und Nonsens erklärt. Der skandinavische Kriminalklub wäre der Schauplatz noch einer animierten Katzbalgerei geworden, und letzten Endes wäre es an der Familie Vanloo ausgegangen!

Was war es nun, das den Dozenten frappiert hatte?

Vor allem das Betragen der alten Dame. Obwohl sie nur den kleinen Finger hätte zu heben brauchen, um dem unpassenden Zank der drei Enkel ein Ende zu machen – ein Zank, der überall »mauvais goût« gewesen wäre, aber in dieser Entourage besonders anstößig wirken mußte –, hatte sie es nicht getan. Sie hatte ihn geraume Zeit fortdauern lassen, worauf sie ihn dann mit einer Geste ihres Fächers stoppte. Warum gerade dann? Warum nicht früher? Warum nicht gleich?

Ja, warum?

Weiter war da Mister Martin Vanloo. War Arthur der Fanatiker und Allan der zügellose Genußmensch, so konnte kein Zweifel obwalten, daß Martin den Typ des liebenswürdigen Bohémien vorstellen wollte. Aber war er es auch? Der Dozent fühlte sich seiner Sache nicht recht sicher. Der Streit, der den Kriminalklub bei seinem Kommen begrüßt hatte, war eigentlich von einigen Worten ausgegangen, die Martin hingeworfen hatte … Als der Zank schon im Verebben war, fehlte nicht viel, und er wäre durch ein paar neuerliche Malicen Martins wieder aufgeflammt. Die alte Dame hatte es – diesmal – verhütet, und dann war Martin so allmählich dazu übergegangen, Verse zu rezitieren und Drinks zu mixen. Beides stimmte ja vortrefflich mit seiner Rolle als fröhlicher Bohémien überein. Aber ein Umstand machte Lütjens doch stutzig. Und das war, daß Martin, während er seine ganze Seele in Swinburnes melancholische Verse zu legen schien, so außerordentlich elegant mit Gläsern und Flaschen jonglieren konnte, daß die Getränke unter seinen Fingern aus dem Nichts geboren zu werden schienen. Man hätte meinen sollen, die Poesie hätte unter dem Mixen leiden müssen oder umgekehrt, doch nein! Beides ging gleich tadellos. Ein Zauberer, der auf einer Bühne auftritt, redet die ganze Zeit ununterbrochen. Je kleiner das Publikum ist, desto mehr redet er … und folglich mündete die Beobachtung Nummer zwei in eine Frage: War Martin im Hauptberuf Literaturschwärmer, oder war er im Hauptberuf Zauberkünstler? Und wenn er das letztere war, worauf hatten seine Zauberkünste damals abgezielt?

Der Dozent gelobte sich, keinesfalls die Hilfe Ebbs oder des Bankdirektors in Anspruch zu nehmen, wenn es sich darum handelte, dieses Problem zu lösen.

Eine dritte Beobachtung war noch da: einige Worte, die Martin hingeworfen hatte, als man dabei war, sich zu verabschieden, Die Großmutter hatte von Allans Gewohnheit, Schlafmittel zu nehmen, gesprochen, und Martin hatte mit einem Theaterflüstern gesagt: »Und dabei kennt sie noch sein am feinsten gepacktes Schlafmittel nicht, es ist in Chinchilla gewickelt I« Was damit gemeint sein sollte, war ja nicht mißzuverstehen. Allan hatte seiner illegitimen Freundin einen Chinchillapelz geschenkt. Der Dozent war kein Fachmann, wenn es sich um andere Felle handelte als jene, die in den Gräbern der megalithischen Völkerschaften zu finden sind. Aber er hatte den allgemeinen Eindruck, daß die jungen Frauen von heute erheblich höhere Ansprüche an Pelzwerk stellten. Er hatte den Eindruck, daß namentlich Chinchillapelze sehr, sehr kostspielig sein müßten … die Großmutter war kaum diejenige, die Geld für solche Extravaganzen hergab. Und also …?

Ungefähr um dieselbe Zeit, zu der der Dichter Ebb zum Angriff gegen den Kommunistenklub im Val du Carréi schritt und Trepka gegen den Advokaten Parmentier, trat Dozent Lütjens eine ökonomische Entdeckungsreise durch Mentone an.

Denn die Antwort auf seine zwei ersten Fragen ließ sich absolut nicht forcieren, aber auf die dritte mußte man mit ein wenig List eine Antwort finden können.

Mit einem auf eine schwedische Bank lautenden Scheckheft bewaffnet, fand er sich in einem der größten Geldinstitute Mentones ein. Man wies ihn durch eine Tür mit der Aufschrift »Service des Etrangers« hinein, und ein Beamter bat ihn mit höflichen Verbeugungen, Platz zu nehmen. Aber als der Dozent sein Vorliegen vorbrachte, umwölkte sich die Stirn des jungen Mannes.

»Natürlich nehmen wir Ihren Scheck, mein Herr, aber nur zum Inkasso, da Sie bei uns kein Konto haben.«

»Aber einen Scheck in Schweden einkassieren, das dauert eine Woche, wenn nicht länger«, machte Lütjens aufmerksam. »Und ich brauche das Geld jetzt gleich.«

Der Bankbeamte spreizte die Hände aus.

»Ich bedaure sehr, aber unser Reglement verbietet uns, anders zu verfahren.«

»Und Sie glauben nicht, daß eine andere hiesige Bank sich entgegenkommender zeigen würde?«

»Ich bin fest überzeugt, daß Sie in jeder Bank Mentones denselben Bescheid erhalten werden.«

Der Dozent starrte schwermütig zu Boden, indem er das Scheckbuch zwischen den Fingern hin und her drehte. Plötzlich erhellten sich seine Züge etwas.

»Ich verstehe natürlich Ihren Standpunkt«, sagte er. »Man kann von einer Bank nicht verlangen, daß sie einen Scheck unbesehen honoriert. Aber sagen Sie mir eines – in einer so großen Stadt wie dieser hier muß es doch irgendeinen Privatbankier geben, der bereit ist, etwas zu riskieren, wenn er entsprechend dabei verdient?«

Der Beamte wand sich hin und her.

»Natürlich gibt es so etwas«, räumte er ein, »aber wir pflegen unsere Kommittenten ja nicht gerade dahin zu schicken.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, es nicht zu erwähnen«, sagte Lütjens.

»Und ich übernehme keine Verantwortung für die Behandlung, die Ihnen zuteil wird!« bemerkte der Bankbeamte, jedes Wort betonend.

»Die Verantwortung trage natürlich ich selbst und kein anderer«, versicherte der Dozent leichthin. »Sie glauben also, daß die Bedingungen hart sein werden?«

»Das zu vermuten, ist aller Grund vorhanden«, murmelte der Mann hinter dem Schalter und sah sich um, als fürchtete er, daß jemand das Gespräch belauschen könnte.

»Und – und man hat zwischen mehreren dienstfertigen Herren die Wahl?« erkundigte sich der Dozent nach einer angemessenen Pause.

»Das glaube ich nicht. Bitte, da ist die Adresse«, sagte der junge Mann und schob ihm ein Blatt Papier hinüber, auf das er ein paar Worte geschrieben hatte. »Ich wünsche Ihnen eine möglichst glimpfliche Behandlung. Das ist alles, was ich sagen kann.«

»Ich danke Ihnen herzlichst!« versicherte Lütjens. »Seien Sie ganz unbesorgt! Ich werde mir schon zu helfen wissen!«

Der Mann hinter dem Schalter folgte ihm mit einem Blick, der deutlich besagte, daß er das Gegenteil erwartete. »Monsieur Théron, Villa Ma Mie« lautete die Adresse auf dem Papier. »Ma Mie«, mein Liebchen, war unleugbar eine poetische Adresse für einen Herrn von Monsieur Thérons Gewerbe. Und das Äußere der Villa entsprach womöglich noch weniger dem Bilde, das man sich von der Behausung eines Wucherers macht. Ein kleines, einstöckiges Haus an der Strandpromenade, von einem gepflegten Garten umgeben und mit großen Fenstern nach dem Meere zu. Hinter einem dieser Fenster sah man einen Herrn in einem Schaukelstuhl, mit einem Kind auf dem Schoß, und es erwies sich, daß dies Herr Théron war.

»Bitte, Platz zu nehmen«, murmelte er mit etwas belegter Stimme dem Dozenten zu, nachdem dieser von einem dienstbaren Geist hereingeführt worden war. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

Lütjens konnte sich nur schwer einreden, daß er nicht träume. Der Geldverleiher war fast ebenso breit wie lang, er hatte ein viereckiges Gesicht mit vorstehenden kohlschwarzen Augen und einen gelbbraunen Teint, der ein Geschenk der Natur zu sein schien, denn das kleine Mädchen, das seine Tochter sein mußte, teilte es mit ihm und hatte dieselben vorstehenden kohlschwarzen Augen. Lütjens hatte erwartet, daß das Kind verschwinden würde, wenn man von Geschäften sprach. Aber daraus wurde nichts, der Geldverleiher schaukelte die Kleine weiter auf seinen Knien, während der Dozent sein Anliegen vorbrachte und sein schwedisches Scheckbuch vorwies. Vielleicht wurde sie von klein auf dazu erzogen, den Beruf des Vaters zu übernehmen. Herr Théron hörte unter unverbrüchlichem Schweigen das Anliegen seines Gastes an, während er ihn zugleich mit seinen vorstehenden Tintenfischaugen vom Scheitel bis zur Sohle musterte.

»Tausend schwedische Kronen!« murmelte er, als Lütjens endlich fertig war. »Wissen Sie, was tausend schwedische Kronen in Francs ausmachen, mein Herr? Nach dem Tageskurs über siebentausend Francs! Wie können Sie nur glauben, daß ich siebentausend Francs auf einen Scheck auszahle, wo ich Sie doch gar nicht kenne?«

»Ich sehe natürlich ein, daß das ein gewisses Risiko für Sie bedeutet«, gab der Dozent zu, »aber Sie sind sicherlich ein genügend guter Menschenkenner, um zu beurteilen, wen Sie vor sich haben, und Sie ersehen ja auch aus meinem Paß, wer ich bin …«

»Siebentausend Francs!« wiederholte Theron und fuhr seinem Töchterchen über das Haar. »Das Höchste, was ich Ihnen geben kann, sind viertausend Francs.«

»Für meinen ganzen Scheck?« rief Lütjens entsetzt.

»Das meinen Sie nicht, Monsieur Théron!«

»Gewiß meine ich es«, bestätigte der Mann im Schaukelstuhl und streichelte der Kleinen das kohlschwarze Haar. »Bedenken Sie doch, bevor ich den Scheck in Schweden einkassiert habe, sind Sie längst über alle Berge. Wenn er nun nicht gedeckt ist?!«

Seine belegte Stimme rief den Eindruck hervor, als würde der Dozent im selben Augenblick, in dem er zur Tür der Villa hinausging, in derselben Weise verschwinden wie der Halleysche Komet.

»Aber viertausend!« wiederholte Lütjens flehend. »Das kann nicht …«

»Viertausend Francs sind viel, sehr viel Geld, mein Herr. Man findet viertausend Francs nicht auf der Straße, mein Herr.«

Der Dozent blieb einen Augenblick wie gelähmt von dem Schlage sitzen. Dann hob er den Kopf mit einem Ausdruck wieder aufflackernder Hoffnung.

»Ich sehe ein, daß Sie einem Fremden gegenüber vorsichtig sein müssen«, erwiderte er. »Aber wenn ich Ihnen jemanden bringe, der den Scheck unterschreibt – jemanden hier aus der Stadt?«

»Warum ersuchen Sie nicht diesen Jemand um das Geld?« fragte der Geldverleiher und starrte ihn mit seinen ausdruckslosen Augen an.

»Weil ich nicht weiß, ob er über eine so große Summe verfügt.«

»Wen kennen Sie hier in der Stadt?«

»Ich kenne die Familie Vanloo«, antwortete der Dozent so einschmeichelnd wie möglich.

Der Schaukelstuhl ging ein wenig langsamer.

»Die Familie Vanloo? Wen meinen Sie, wenn Sie sagen ›die Familie‹ Vanloo? Meinen Sie vielleicht Madame?«

»Hm – nein, eigentlich nicht Madame.«

»Sie meinen also einen der Enkel?«

»Ja. Macht das irgendeinen Unterschied?« fragte der Dozent mit äußerster Harmlosigkeit.

Der Schaukelstuhl bewegte sich nicht mehr. Die schwarzen Augen starrten ihn brütend an, aber kein Wort kam über Monsieur Thérons Lippen.

»Ich meine«, stammelte Lütjens nervös, »daß doch jedes Mitglied einer so reichen Familie als Indossent für einen Scheck auf siebentausend Francs gut sein wird? Ich glaube wohl, daß Herr Allan unterschreiben würde, wenn ich ihn darum ersuchte. Und das müßte doch genügen?« fragte er immer nervöser, da Herr Théron auch weiter schwieg. »Ja, natürlich muß es genügen«, beantwortete er seine eigene Frage selbst. »Und dann könnten wir vielleicht den Scheck ein klein bißchen höher ausstellen – sagen wir auf zweitausend Kronen anstatt eintausend. Die Sache ist nämlich die …«

Er kam nicht weiter. Der Schaukelstuhl ging plötzlich wie besessen. Die Worte strömten nur so aus Herrn Thérons Mund.

»Vierzehntausend Francs! Auf die Unterschrift eines Mannes hin, der nicht einen Centime besitzt, den er sein eigen nennen kann, und vielleicht auch nie besitzen wird! Was wollen Sie mit vierzehntausend Francs?«

»Ich brauche sie – und wenn Herr Allan Vanloo unterschreibt …« Der Schaukelstuhl stoppte so plötzlich, daß das Töchterchen des Geldverleihers auf ein Haar auf den Boden geflogen wäre.

»Jetzt durchschaue ich das Ganze!« rief Herr Théron. »Ihre ganze Geschichte, daß Sie ein Bankkonto in Schweden haben, ist von A bis Z erdichtet! Sie sind im Komplott mit ihm! Sagen Sie es nur rein heraus!«

»Mit wem?«

»Verstellen Sie sich nicht – mit Herrn Allan Vanloo, der Ihren Scheck unterschreiben sollte!«

»Wie wäre das möglich! Ich bin doch ganz fremd hier in der Stadt, und …«

»Wie haben Sie denn meine Adresse bekommen?« rief der Privatdiskonteur triumphierend. »Beantworten Sie mir das! Sie sind von ihm hergeschickt! Aber der Trick ist nicht geglückt, mein lieber Herr!«

»Ich verstehe Sie nicht«, murmelte der Dozent. »Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Herr Allan Vanloo nicht die leiseste Ahnung von meinem Besuch bei Ihnen hat. Ich versichere Ihnen auf mein Ehrenwort, daß mein Scheck in Ordnung ist. Ich …«

»Versichern Sie, was Sie wollen!« rief der Mann im Schaukelstuhl, indem er mit seiner gelbbraunen Hand rasende Signale auf einen elektrischen Taster drückte. »Ich lasse mich nicht von Ihnen betakeln – und auch nicht von Herrn Allan Vanloo, das können Sie ihm bestellen, wenn Sie ihn treffen. Außerdem können Sie ihm sagen, er soll sich gefälligst an den Zwanzigsten erinnern, bevor er mir noch weitere Boten ins Haus schickt, um mir Geld herauszulocken! Das ist die letzte Mahnung, die er von mir bekommt – sagen Sie ihm das!«

Der Schaukelstuhl flog hin und her wie ein irrsinnig gewordener Katapult, während das Stubenmädchen den Dozenten Lütjens hinaus geleitete, in dessen Gesicht sich die tiefste Betrübnis über diesen schimpflichen Rückzug malte. Aber draußen auf der Strandpromenade verwandelte sich wie durch einen Zauberschlag sein Mienenspiel. Anstatt Enttäuschung drückte es nur tiefe Nachdenklichkeit aus. Er hatte unleugbar mit seinen dunklen Ahnungen recht gehabt.

Allan Vanloo finanzierte seine Vergnügen durch »Vorschüsse« auf seine Erbschaft. Der Dozent erinnerte sich aus seiner Studentenzeit an Universitätskollegen, die sich die Mittel zu ihren Zerstreuungen durch Wechsel und Anleihen verschafft hatten. Auf die Dauer pflegte dies teuer zu kommen – entweder ihnen oder anderen. Und er bezweifelte nicht, daß, was in Schweden teuer war, an der Riviera sehr teuer sein mußte. Ein junger Mann, der viele Vorschüsse bei einem Monsieur Théron aufgenommen hat, ist sicherlich nicht beneidenswert zu nennen. »Sagen Sie ihm, er möge sich gefälligst an den Zwanzigsten erinnern.« Es war nicht mehr so besonders weit bis zum Zwanzigsten – etwas über zwei Wochen. »Ein Mann, der nicht einen Centime besitzt, den er sein eigen nennen kann, und vielleicht auch nie besitzen wird …«

Lütjens hatte das Gefühl, daß er bis auf weiteres die zwei ersten Fragen ruhen lassen konnte. Die dritte würde ihm genug zu schaffen geben.

4

Er schlenderte langsam über die Strandpromenade heimwärts. Im Osten lagen die Roten Felsen, wo der Urzeitmensch einstmals vor fünfzigtausend Jahren den Grund zur Berühmtheit der Riviera als Überwinterungsstation gelegt hatte, im Westen erhob sich der Berg, der La Tête du Chien genannt wird, beschützend über Monte Carlo. Fünfzig Jahrtausende … aber war eigentlich ein so großer Unterschied zwischen den Menschen, die Bärenknochen knackten, um das Mark auszusaugen, und jenen, die auf Silberschüsseln in Monte Carlo dinierten, nachdem sie die Bank zu sprengen versucht hatten? Waren nicht beide Arten gleich bereit zu allem, wenn es sich darum handelte, ihre Bedürfnisse und ihre Leidenschaften zu befriedigen?

Er fuhr zusammen. Wer saß vor Fräulein Titines Bar, wenn nicht Martin Vanloo! Eine halbleere Champagnerflasche stand auf seinem Tisch, und nach seinem Aussehen war es klar, daß der Wein seine Wirkung getan hatte. Jetzt hatte er den Dozenten erblickt und winkte ihm heftig, doch näher zu kommen. Lütjens gehorchte, hauptsächlich um nach der gestern genossenen Gastfreundschaft nicht unhöflich zu erscheinen. Was war der Anlaß zu Martins Trankopfer?

Lütjens sollte nicht lange im unklaren darüber schweben.

»Se–setzen Sie sich«, bat Martin. »Have one on me – doch, gewiß! Das wäre noch schöner! Selbstverständlich! Ein G–glas für Mister Lütjens! Sie finden, daß ich zu früh losgehe! Ich will Ihnen etwas sagen, meine Nerven brauchen das. Zuerst der Todesfall und dann das Verlangen dieses dummen Doktors, eine Obduktion vorzunehmen – Sie haben wohl durch Ebb davon gehört? Obdukti–tion! Lächerlich! In unserer Familie! Hab' ich's ihm nicht gleich gesa–sagt – aber glauben Sie, er hätte auf diesem Ohr gehört? Da kennen Sie ihn schlecht! Obduktion! Als ob es Arthur eingefallen wäre, Se–Selbstmord zu begehen – oder sich ermorden zu lassen! Lächerlich! In unserer Familie! Na – ich habe ja nachgegeben – wir haben nachgegeben, und heute nachmittag hat er seine Obduktion vorgenommen. In aller Stille! Nur um sein Berufsgewi–wissen zu beruhigen, natürlich! Lachhaft – aber rasend peinlich für uns!«

»Nun?« fragte der Dozent, nicht ohne ein leises Beben in der Stimme. »Was war das Resultat?«

Martin starrte ihn über den Rand seines Glases an.

»Brauchen Sie erst zu fragen? Haben Sie geglaubt, daß Arthur auf die Idee verfallen könnte, sich selbst zu morden oder sich ermorden zu lassen? Ev'ything a'right, of course! Alles in Ordnung! Keine Spur von Stiletten, Kugeln, Erdrosselungsschnüren oder Giften! So daß übermorgen das Begräbnis in der Familienkapelle stattfindet.«

Der Dozent griff nach dem eingeschenkten Champagnerglas und trank es auf einen einzigen Zug aus.

Wie herzlich würde Bankdirektor Trepka lachen! Er hörte dieses Lachen schon im Geiste.


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