Karl Borromäus Heinrich
Menschen von Gottes Gnaden
Karl Borromäus Heinrich

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Baron Frangart und der Bajazzo

In einer süddeutschen Stadt, sagen wir es gerade heraus: in München, sollte Baron Frangart – von seiten des Ordens und diesem nahestehenden hochmögenden Persönlichkeiten an den Rektor eines Gymnasiums herzlichst empfohlen – die Oberprima durchmachen und sich das Maturitätszeugnis erwerben. Er stieg in einem alten Hotel ab, wo auch sonst die Angehörigen unseres alten Adels Quartier nehmen. Nachmittags nahm er sich einen Wagen und durchfuhr die Stadt: außer einigen Häusern in der Briennerstraße, die er vornehm fand, gefiel ihm nur die Frauenkirche (»das einzige Gebäude, das alt genug ist für unsereinen«) und die Ludwigsstraße, diese indes nicht wegen des Stils ihrer Häuser, sondern wegen ihrer Breite und weil die Häuser selbst, nach seinem Geschmack, wenigstens einfach genug gebaut waren. »Das übrige kann man alles in einen Topf werfen, moderne Ware, ekelhaft.« Dies war sein Urteil über München, das zu berichtigen er während der folgenden Zeit seines Aufenthaltes nicht Anlaß nahm.

Auch am andern Morgen begab er sich zuerst wiederum in die Frauenkirche. Es war dies übrigens während der ganzen Zeit seines Münchener Aufenthaltes sein erster täglicher Gang. Er fand, daß er dort mit seinem Gott in einer Dessen würdigen, für ihn, Baron Frangart, auch standesgemäßen Stätte reden könne; nichts schien ihm verkehrter als die Behauptung, die so oft ausgesprochen wird: »Gott sei überall gleich gern zu Hause, wozu also besondere Gotteshäuser bauen;« diese Behauptung war ihm gleich verwerflich wie jene andre: daß Gott alle Menschen seelisch gleich ausgestattet und keinen bevorrechtet habe.

Um Mittag kleidete sich Baron Frangart zu Besuch an und fuhr zu dem Rektor, an den er empfohlen war. Er wurde in das Empfangszimmer eingelassen, dessen Möbel ihm für die Wohnung eines höheren Beamten zu schlecht erschienen. Das mochte wohl daher kommen, daß der Staat einen zu niedrigen Gehalt an die Rektoren bezahle. Er sagte sich – was für ihn das Wichtige an der Sache war –, daß der Staat daran sehr unrecht tue und mit seiner pauvreté die Ausbreitung der Revolution offenbar in unsinnigster Weise unterstütze.

Mittlerweile trat der Rektor ein; man verneigte sich gegenseitig, und der Rektor streckte Baron Frangart freundlich die Hand zum Gruße hin (diese Hand, stellte Baron Frangart in aller Ruhe fest, ist gottlob soeben gewaschen worden. Im Hotel hatte er nämlich nicht ohne Groll bemerkt, daß, wenigstens nach dem Frühstück, keine Wasserschale serviert wurde, ein Versehen, das im Jesuitenkloster nie vorgekommen war). Der Rektor sagte, es freue ihn sehr, Baron Frangart als Schüler zu bekommen; dieser erwiderte, es sei ihm eine besondere Ehre, in dem Rektor seinen künftigen Lehrer begrüßen zu dürfen. So spielte sich wenigstens der Anfang in jenen Formen ab, die Baron Frangart so ungern vermißte. Überhaupt stellte sich heraus, daß der Rektor weltmännische Bildung besaß und zu schätzen wußte. In der Art, wie er sich leise nach dem und jenem, nach Frangarts Verhältnissen, Absichten und Ansichten erkundigte, kam dies sehr gut zum Vorschein. Zur tiefen Befriedigung Frangarts, der, während er verbindlich-gemessene Antworten gab, sich erinnerte, daß ihm ein deutscher Bekannter im Jesuitencolleg die abschreckendsten Dinge über deutsche Professoren erzählt hatte. Dieser da schnupfte weder, noch trug er einen ungepflegten Bart; er sprach weder jovial, noch gelehrt und schwulstig.

Leider sollte Baron Frangart sogleich noch einige Dinge hören, die er weder in einer Großstadt für ernst, noch seines Ranges für würdig halten konnte. Der Rektor fragte ihn nämlich, wo er zurzeit wohne. »Im Hotel soundso.« »Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie nach dem Sinn unsrer Satzungen als Primaner wohl nicht dauernd in einem Hotel wohnen dürfen.« »Entschuldigen Sie, daß ich das nicht recht begreife! Wenn ich irgendetwas vorhätte, was meiner Wohlerzogenheit eigentlich widerspräche, so wäre doch die Stadt groß genug, daß es niemand erführe. Und dann ist das ein altes Hotel, innerhalb dessen ein sehr empfindliches Publikum verkehrt.« »Ich bedaure sehr, es ist nun einmal Vorschrift, daß die Schüler privat wohnen.« – »Glauben Sie, Herr Rektor, daß ich in einem der Häuser an der Briennerstraße bei Privatleuten etwas mieten kann?« – »Ich weiß nicht, dort wohnen wohl größtenteils Leute, die nicht auf das Vermieten angewiesen sind. – Und dann, meinen Sie nicht, daß die Straße zu weit abseits von unserer Anstalt liegt?« – »Ich muß vielleicht einen Wagen nehmen ...« – Dann setzte der Rektor Baron Frangart auseinander, daß er sich zunächst einer Aufnahmeprüfung unterziehen müsse; ferner, als wichtige Bestimmung des Gymnasialstatuts, daß er, einmal Schüler der Anstalt geworden, bei Eintritt der Dunkelheit seine Wohnung aufzusuchen habe. Der junge Baron, der diese Information für eine bloße Formsache hielt, bemerkte lächelnd: »Aber hier in München scheint es ja immer dunkel zu sein.« – »Ja, ja,« nickte der Rektor, der ihn verstand, und sein Ton wurde ernster als bisher, ja beinahe schmerzlich: »Auch ich liebe den hellen Süden. Aber da nun Gott gewollt hat, daß wir jetzt hier sind, müssen wir uns zufrieden geben. Im Grunde lieben wir in Bayern alle das Südliche ... Wir sind römisch-katholisch.«

Nach diesen liebenswürdigen Worten, die Baron Frangart dankbar hinnahm, schien es diesem an der Zeit, sich zu empfehlen.

Die Aufnahmeprüfung, im Verlaufe deren sich die Professoren einig wurden: »daß das Wissen des Baron Frangart zwar stellenweise die bedauerlichsten Lücken aufweise, wofür aber die große Selbständigkeit und Reife seines Denkens einigermaßen entschädige, er somit in die Oberprima zuzulassen sei,« fand am andern Tage statt. Ein bezeichnender Zwischenfall erregte das Kopfschütteln der Prüfenden: Nach den bayrischen Königen gefragt, wußte er sie nur ungenau zu nennen, wandte sich aber mit der Frage an die Professoren, ob die bayrischen Könige der Bestätigung der französischen Republik bedürften. Die Professoren sahen sich einander hilflos an. »Nun, ich meine, weil das bayrische Königtum doch von Napoleon etabliert worden ist?«

Durch Vermittlung des liebenswürdigen Rektors selbst bekam Baron Frangart übrigens eine Wohnung in der Briennerstraße bei zwei alten alleinstehenden adligen Damen. Er fand dort wenigstens äußerlich alles, was er von einer Wohnung verlangte: nämlich die vollkommenste Stille.

Drei Tage später ließ er sich früh siebeneinviertel Uhr einen Wagen holen, hörte in der Frauenkirche wie gewöhnlich seine Messe und kam schlag acht Uhr, immer im Wagen, am Gymnasium an. Auf dem Rektoratszimmer wurde er einem Lehrer des Griechischen vorgestellt, der in der Oberprima die erste Unterrichtsstunde von acht bis neun Uhr zu erteilen hatte.

Dieser führte ihn in das Klassenzimmer.

*

Die Schüler, ungefähr dreißig an der Zahl, erhoben sich beim Eintritt ihres Lehrers, teils nachlässig, teils aufmerksam, wie es eben in eines Jeden Art lag. Da entfuhr einem Schüler, der allein in der letzten Bank saß, ein hörbares »Ah!« des Erstaunens. Und jetzt richteten auch die weniger Aufmerksamen ihre Blicke nach den Eingetretenen.

Diese waren bereits am Katheder angelangt. Der griechische Lehrer, ein alter Mann, bildete in seiner müden Haltung einen merkwürdigen Gegensatz zu Baron Frangart. Dieser stand gleichmütig neben ihm, in der reizvollen Zierlichkeit seiner etwas kleinen, aber eleganten Gestalt; seine Gesichtszüge waren während der letzten Jahre herber, schärfer und daher noch stolzer geworden. Die satte Bronze der weichen Haut seiner Wangen hatte sich in Chamfort nicht mehr verloren und bezeugte seine südliche Heimat. Die langen langen Wimpern beschatteten wie ehedem seine dunkeln Augen, die Strenge ihres Blickes mildernd. Nur die Haare waren nicht mehr gelockt; im linksseitigen Scheitel auseinandergekämmt, gaben sie eine edle Stirne bloß. Die geschwungenen Linien des Mundes erschienen bestimmter, und auch sie erhöhten den Stolz seiner scheuen verschlossenen Jugend.

Natürlich war er glatt rasiert, sorgsam, ohne auch nur eine Spur der Haare zurückzulassen. – So stand er gleichmütig da und sah zuerst zerstreut über seine künftigen Mitschüler hinweg; sein Blick haftete sodann verloren auf dem letzten Fenster, vor dem sich hohe Bäume mit kahlen Ästen erhoben, vom Novembernebel bedeckt.

Ach, wo blieb die strahlende Sonne, die zu diesem seltsamen Fremdling gehörte! wo die durchsichtige südliche Luft, die seinem jungen Körper lebendige Plastik verlieh! – Einsam und fremd stand er da.

*

»Entzückender Junge!« murmelte halblaut der Schüler auf der letzten Bank. Frangart schien es nicht zu hören; eben begann der griechische Lehrer: »Hier stelle ich Ihnen Fritz Freiherrn von Frangart vor, der neu in Ihre Klasse eingetreten ist ...« Der Vorgestellte verneigte sich. »Nur keine langen Reden vonwegen Freiherrn!« kam es halblaut aus der hintersten Bank. Der Lehrer verzog über dem Gemurmel ärgerlich seine Miene. Die Schüler kicherten leise. »Wollen Sie Sich setzen, Baron Frangart!« sagte der Lehrer. Der einzige noch freie Platz war in der letzten Bank neben dem Schüler, der sich die Zwischenrufe geleistet hatte. Dem Lehrer fiel in aller Eile ein, daß er diesen strafen könne. »Sie kommen neben Ludwig Schlagintweit, nicht gerade unsern schlechtesten, aber sicher unsern frechsten Schüler,« bemerkte er zu Frangart. Schlagintweit, den sie in der Klasse Bajazzo nannten, versteckte sein gutmütiges Gesicht mit den herzlichen spottlustigen Augen hinter dem Rücken seines Vormannes. »Das stimmt, Gott sei Dank!« flüsterte er. Die Schüler verbissen das Lachen.

Baron Frangart nahm gleichmütig seinen Platz ein, nachdem er sich ein wenig vor Ludwig Schlagintweit verneigt hatte. Dieser sah ihm unbekümmert ins Gesicht: »Grüß Gott, guten Tag, habe die Ehre, Herr Baron Frangobald!« flüsterte er, während vorn ein Schüler aufgerufen worden war und »Platons Apologie des Sokrates« zu übersetzen sich bemühte. »Frangart,« korrigierte Fritz ruhig seinen Nachbarn, indem er die übrige Anrede ignorierte. Dieser rückte, da Frangart kein Buch mitgebracht hatte, das seine in die Mitte der Bank. Vorn rief eben ein grober Übersetzungsfehler einen zornigen Ausbruch des Lehrers hervor. Schlagintweit benützte den entstandenen Lärm, um seinen Nachbarn zu fragen: »Kennen Sie diese ›Phraseologie des Sokrates‹ schon?« Frangart nickte bejahend. »Können Sie überhaupt was im Griechischen?« forschte er weiter. Frangart zuckte die Achseln. »Dürfen schon reden, seien S' ganz unbesorgt! Er hört schlecht, der Herr Professor,« flüsterte Schlagintweit, der das frostige Benehmen Frangarts entweder nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte. Aber in diesem Augenblick sah der Professor doch warnend zu ihm her. Er erwiderte seinen Blick treuherzig. Dann aber bückte er sich wieder und murmelte zwischen den Zähnen: »Herr Professor, trauen S' Ihnen nicht, traun S' Ihnen nicht ... Sonst blamiere ich Sie wieder einmal, wenn mir griechische Konjekturen machen!« Die in der Nähe Sitzenden grinsten, auch Baron Frangart mußte lächeln; der Lehrer rief gerade einen andern Schüler auf. »Wissen S' was, Herr Baron,« setzte Schlagintweit die einseitige Unterhaltung fort, »alles können S' von mir abschreiben, nur in der Mathematik kann ich selber rein gar nichts. ›Schlagintweit, wieder Note vier, ungenügend, können nichts, werden nie etwas lernen in der Mathematik!‹« ahmte er den Mathematiklehrer nach. Der Vordermann wandte unvorsichtig den Kopf, um Schlagintweit seinen Beifall für die gelungene Imitation auszudrücken. In den hinteren Bänken entstand langsam eine allgemeine Unruhe. Schlagintweit rief dem Vordermann flüsternd zu: »Liebe dicke Mittelmäßigkeit, schau gefälligst nicht so, ich red nicht mit dir ... So, schön ruhig sitzen mit deinem breiten Rücken! ...« (Fast alle Spitznamen in der Klasse, auch die zurechtgewiesene »liebe dicke Mittelmäßigkeit«, waren von Schlagintweit erfunden und verbreitet worden.) Baron Frangart sah seinen lebhaften Nachbarn mit ruhiger Aufmerksamkeit von der Seite an. Dieser fühlte es, blickte ihm offen ins Gesicht und errötete in leichter Verlegenheit. Einige Minuten schwieg er. Aber dann hatte er es wieder vergessen oder er wollte doch noch einen Versuch machen, Baron Frangart aus seiner Ruhe zu bringen. »Oh mei', Drapologie des Sokrates!« begann er halblaut. Baron Frangart lächelte. »Können Sie auch stenographieren?« schrieb Schlagintweit jetzt an den Rand des Buches, da ihm der Lehrer eben den zweiten warnenden Blick zugeworfen hatte. »Nein,« nickte sein Nachbar; vorn ging die Übersetzung weiter. »Ja Herrschaft, ja Sie armer Mensch, das müssen S' lernen! ...« knurrte Schlagintweit zwischen den Zähnen und machte ein aufrichtig betrübtes Gesicht. Da geschah etwas Merkwürdiges: Baron Frangart, der die vertraulichen Worte seines Nachbarn mit einer Mischung von Indignation, Kopfschütteln und Belustigung schweigend angehört hatte, sah diesen wieder von der Seite an und bemerkte die komische Betrübtheit seines Ausdruckes. Da verlor er seine Fassung und fing ohne Überlegung zu lachen an. Schlagintweit und die Mitschüler erschraken zuerst. Aber Frangarts Lachen (er hatte es nie geübt und also, wie es ihm angeboren war, erhalten) klang so vollkommen heiter in den still gewordenen Schulraum hinein, daß alle angesteckt wurden, auch der erschrockene Schlagintweit und schließlich der entrüstete Lehrer, und in schallendes Gelächter ausbrachen.

Frangart hörte zuerst auf; das allgemeine Echo gab ihm seine Fassung wieder, und Schamröte, gleich als ob Lachen für ihn Unrecht wäre, überzog sein Gesicht; überdies fiel ihm jetzt ein, daß er Schlagintweit mit diesem Lachen verraten hatte.

»Entschuldigen Sie gütigst!« sagte er zu ihm. »Ach Unsinn, was entschuldigen, das tut mir nichts.«

Der Vorfall endigte damit, daß Schlagintweit eine Strafaufgabe zudiktiert wurde, nämlich einige Seiten aus der Apologie des Sokrates schriftlich zu übersetzen.

Dies also war der Anfang der großen Freundschaft, die Ludwig Schlagintweit für Baron Frangart in der Folge empfand, und auch der Anfang der ruhigen, aber immerhin unleugbaren Sympathie, die dieser wenigstens zuweilen für Schlagintweit bezeigte.

*

Um es vorneweg zu sagen: wenn alle Gefälligkeiten, die Ludwig Schlagintweit, Sohn eines pensionierten Briefträgers, Fritz Freiherrn von Frangart unaufgefordert erwies; wenn alle rührenden Züge freundschaftlicher Besorgtheit, die an diesem herzlichen jungen Menschen während der Zeit ihres Beisammenseins hervortraten; wenn alle Grade des Gefühls, zu denen sich seine Zuneigung verstieg; wenn einem das alles auf einmal gegenwärtig sein könnte, und man vergliche hiermit jene monotone, jederzeit beherrschte Sympathie, mit der Baron Frangart, zuweilen bei sich selbst, seltener schon mit freundlichen Blicken, mit Worten vollends nur dann und wann, stets aber sehr kärglich Ludwig Schlagintweit dankte, – so möchte man wiederum mit einem Vergleich sagen, daß der mit einem goldenen Kelch beschenkte einen irdenen Krug als Gegengeschenk gegeben habe. Aber so einfach ist die Rechnung nicht. Man muß bedenken, wie ganz von selbst der Eine aus sich herausging, wie er mit seinem allzeit offenen Herzen durch die Welt zog, gleichsam Gott nacheifernd, der die Sonne über Gerechte und Ungerechte ohne Auslese scheinen läßt, wohingegen der Andere, zur Unterscheidung und Distinktion geboren und erzogen, Herzlichkeit im allgemeinen fast als Schmutz empfand, »weil in ihr die Schranken fallen und alles durcheinanderfließt«; den verborgenen Reichtum seines Herzens, gemäß dem Ratschluß Gottes, bei sich behalten mußte und vielleicht so schwer daran trug wie ein Baum an überreifen Äpfeln, die nicht abgeschüttelt werden. Und überhaupt ist in Dingen des Gefühls alles Urteilen ungerecht. Dies war der Gedankengang, auf dem sich Ludwig Schlagintweit während seiner Freundschaft für Baron Frangart und auch lange nachher noch tröstete ...

Schon am ersten Tage bat er Baron Frangart, ihn mittags nach Haus begleiten zu dürfen. Auf dem Wege gab er ihm Aufschluß über die einzelnen Mitschüler, einerseits um ihn zu warnen, andererseits um ihm zu zeigen, wem er vertrauen dürfe. »Ich will niemand vertrauen und niemand mißtrauen, ich brauche das nicht.« – »Und trotzdem müssen Sie Sich vor dem Einen oder Andern in acht nehmen. Warum sollen Sie Sich denn Scherereien machen?« – »Warum wollen Sie denn, daß ich mir keine mache? – Sie haben doch auch solche durchgemacht, sonst wüßten Sie ja nichts davon.« »Warum ist wurscht, Baron Frangart, warum tut nichts zur Sache. Ich will Ihnen nur sagen, daß der dicke Vordermann vor uns, Hans Gabler, zwar eine Mittelmäßigkeit, aber auch ein windiger Schuft ist. Und daß der Andere neben ihm, der künftige Leutnant Groß, an Beschränktheit von niemand übertroffen wird. Aber ehrlich ist er bis auf die Knochen, ich sage Ihnen, mich freut jedes Wort an ihm, so gerad und unüberlegt redet er heraus. Und die zwei sind Freunde, ganz unglaublich. – Dann in der dreisitzigen Bank rechts von uns: Müller, Meier und Huber; die sind nur da, weil ohne sie die Bank leer stände. Tun keinem was Unrechtes und keinem was Rechtes. Saufen am meisten Bier und tarocken fabelhaft. Staatsbürger, einfach Staatsbürger, Baron Frangart; der eine wird Geometer, der andre Ingenieur und der dritte Architekt, also höhere Handwerker. Wieder in der Bank vor ihnen: Mehlmann, dessen Verstand mit Schimmel überzogenes Mehl ist; er eignet sich glänzend zum Juristen. Der kleine Silberstein – wie schon der Name sagt – der ängstlichste Mensch, den ich kenne; traut sich nichts zu lernen, weil er fürchtet, als Streber dazustehen; zahlt immer Bier, um seine sparsame Rasse zu verleugnen, na, einfach, feig. Aber trotzdem nicht ganz zu verachten. Am Ende dieser Bank ein brutaler Schmierfink. Bitte, geben Sie ihm nie die Hand! Er verdient sie nicht, Herr Baron. Hat auf dem Eis ein Mädchen irgendwie besoffen gemacht und ist mit ihr hinter die Hirschau hinausspaziert. Damals wenn ich nicht aufgepaßt hätte, – ach, die billigen Mittel von dem Kerl! Er wird Ihnen sagen, daß Sie Sich vor dem indiskreten Schlagintweit hüten sollen; ich bin nämlich zu den Zweien hin und dem armen Ding bin ich erst an ihrem Haus von der Seite gegangen. Gerettet ... Schwamm drüber. Die zweite zweisitzige Bank vor uns, die müssen Sie Sich merken: Der Eine hat ein Lachen, daß einem das Herz aufgeht, und es soll erwachsene Damen geben, die für ihn schwärmen: sagt nichts gegen ihn, er wird Benediktiner. Und ein guter, das weiß Gott ... Der neben ihm hinkt und stinkt vor Bosheit. Keine mag ihn, er möchte sie alle. 's ist ja wahr: der größte Teil von unserer ganzen Bande kann kein weibliches Wesen mehr anders ansehen, – aber der, der notzüchtigt sie mit seinem Gegaff. Dabei schüchtern, winselt fortwährend um Mitleid. Verdrückt und verlogen. Aber, aber feine deutsche Aufsätze! So was von Sprachgefühl; vielleicht müssen manche Menschen gemein sein, damit ihr Geist ungemein wird. – Dann in der ganzen Fünferreihe vor diesen fünf: fünf Prachtstaatsbürger, die zufällig nicht Müller heißen. Unnütze Mühe, sich ihre albernen Namen zu merken, einer ist wie der andere. Gut bin ich jedem, aber wem bin ich denn nicht gut! Sogar dem kleinen Groll weiter vorn, der schon seit seiner Geburt schläft. Soll weiter schlafen, angenehme Ruh! Nicht wahr, Herr Baron? Man könnte dieses runde bambino bemitleiden; vom Eis das schönste Mädchen ist ihm gut gewesen, hat es aber rein verschlafen.« Baron Frangart legte ihm belustigt die Hand auf die Schulter, zog sie aber sogleich zurück: »Und wie ist es mit Ihnen selbst?« – »Richtig, das hätt' ich beinahe vergessen! Also ich will Ihnen sagen: ich bin alles, nur nicht loyal. Republikaner, Demokrat, Sozialist, Anarchist. Natürlich keines von allen, aber solche Anfälle kann man kriegen, wenn man so hineinsieht wie ich. Seien Sie froh, Baron Frangart, daß Sie die Welt nicht kennen. Wie Sie sagen, Sie brauchen das nicht. Aber ich brauche das, weil ich dummerweise die Menschen gern hab'. Auch die Aristokraten, wenn ich darf ... Pardon, das war wieder so unvornehm direkt, – also das bin ich auch. Dann bin ich etwas älter als die anderen: erstens, weil ich mehr gesehen habe; zweitens, weil mein Vater in Anbetracht seiner kindischen Pension zu spät bemerkt hat, welche unaussprechlichen namenlosen maßlosen Talente in mir schlummern ... Lachen Sie doch ein wenig, Baron Frangart, nur ein wenig! ... Nicht? nun dann nicht ... Mein Vater hat diese Talente zu spät bemerkt und mich erst mit vierzehn Jahren aufs Gymnasium geschickt. Vierzehn und neun macht dreiundzwanzig. Also das bin ich; was sonst noch, fällt mir jetzt gerade nicht ein.«

»Erzählen Sie mir wieder von den anderen, bitte – es war so amüsant!« – »Ach, amüsant, na ja, ich bin eben doch ein Bajazzo, wie die andern sagen. Sie glauben das auch, Herr Baron?« »Ich glaube nie etwas ›auch‹ ...« »Wenn Sie es sagen, wird es wahr sein. Und ich mag das, ich verehre das, ich liebe die outsider ... Outsider stehen am Anfang und am Ende einer jeden Welt, oder hören Sie unsern lateinischen Professor: Solitudo est mater omnium malorum – oh weh, so heißt es nicht, will sagen: Stultitia est mater usw. –.«

Und Schlagintweit erzählte Baron Frangart von den andern Mitschülern: von den zwei jüdischen Vettern Eichhorn, die alle beide so unangenehm praktisch, aber sehr »gent« waren; von dem künftigen Mediziner Graßmann, der schon als Junge in sexueller Freude die Schmetterlinge quälte und für den Beruf eines Frauen- und Nervenarztes also alle wünschenswerte Begabung mitbrachte; von dem notleidenden Jehle, der seine Mutter durch Lektionengeben ernährte, aber ein Neidhammel war und nicht sehen konnte, daß es andern gut ging. Von vier weiteren Staatsbürgern, die alle für einen Assessor oder Richter oder sonstigen Juristen nötige Weltfremdheit inklusive Mangel an Einsicht und Überfluß an schwammiger Bourgeoisie besaßen, also von in ihrer Art natürlich ehrbaren Leuten. Von einem, der an eine verborgene Individualität in sich glaubte, und da man diese in einem privaten Landerziehungsheim nicht hatte entdecken können, nun doch lieber in einer staatlichen Anstalt auf ihre Entdeckung hoffte. Von dem quasi Dandy Wörner, der alle Schülerinnen der Töchterschule mit dem Vornamen ansprechen durfte, weil sie blöd genug waren, die Vornamen für den Anblick seines Schnurrbartes herauszugeben; von einem Burschen also, der mit solchen Errungenschaften eine Zeitlang sein Staatsbürgertum zu beschönigen hoffte. Und von einem Dutzend »anderer Lausbuben«, die mit der Zeit ihrem Brotinstinkt gemäß ihre Krippe schon finden konnten: der Eine beim Militär mittels reicher Partie, der Andere mittels sonst einer vierprozentigen Bürgerstochter ... »Aber schließlich, noch gehen sie an, für Sie freilich nicht mehr, Herr Baron, aber für mich. Nun, das heißt, auch nicht immer; aber wenn mich einer um etwas bittet, schlage ich es ihm nie ab ... Weil ich nicht kann. Sehn Sie, da haben wir noch einen Fehler von mir, grad zum Schluß; ich kann nicht anders, ich muß auf alle Bitten ja sagen. Herrgott, bin ich dumm!«

Sie waren an dem Hotel angekommen, wo Baron Frangart seine Mahlzeiten einnahm. Er sah müde aus, als er sich von Schlagintweit, der ihm die Hand hatte geben wollen, mit leichter Verbeugung trennte. »Sagen Sie, Baron, wollen Sie vielleicht nachmittags lieber zu Haus bleiben?« – »Ja, geht denn das?« – »Das machen wir einfach so: Ich habe Sie nach Haus begleitet, es ist Ihnen schlecht geworden, Sie werden diesen Nachmittag wohl nicht kommen. So werde ich in der Schule sagen. Lassen Sie mich nur machen, auf meine Verantwortung. Für einen Nachmittag, das ist das Gute, brauchen wir kein ärztliches Zeugnis. Also, Sie kommen heute nachmittag nicht?« – »Nein; ich danke Ihnen, Herr Schlagintweit.« – »Auf Wiedersehen morgen!« – »Guten Tag.«

Baron Frangart aß im Restaurant des Hotels, wo außer ihm sehr wenig Menschen speisten. Um drei Uhr, als er es verließ, um dank der Güte Schlagintweits spazieren zu gehen, senkten sich bereits wieder die schweren grauen Nebel über die Straßen. Verstimmt rief er einen Wagen heran und fuhr sofort nach Hause. Dort warf er sich in ein Fauteuil und blieb bewegungslos stundenlang sitzen. Seine Gedanken waren nicht zu enträtseln; und vielleicht dachte er nichts, sondern »genügte sich einfach selbst«.

Abends ging er in ein Konzert. Aber da eine Dame im Reformkleid den Platz neben ihm innehatte, eine Dame, der er schon ansah, daß sie mit ihrem »zuckenden Ich, ihrer modernen Seele, ihren ringenden Gefühlen« (Ausdrücken, die er mit Schaudern in dem Buche einer Emanzipierten gelesen hatte) seinen eventuellen Genuß stören würde, entlief er noch vor Anfang des Konzerts. Er fuhr nach eingenommenem Diner gleich wieder heim, setzte sich wieder in das Fauteuil und träumte ...

*

Baron Frangart trat, wie zu erwarten war, mit keinem seiner Mitschüler in Verkehr. Diese hier liebten ihn auch keineswegs, wie etwa vorher die adeligen Zöglinge des Jesuitencollegs ihn geliebt hatten; sondern zum Teil beneideten sie ihn wegen seines Reichtums, zum Teil wegen seiner Freiheit und wegen seiner Schönheit; wegen dieser vielleicht am meisten, obwohl er, in der Sprache der alten Weiber zu reden, keinen Gebrauch davon machte. Wenigstens wurde er während der sieben Monate, die er in Oberprima zubrachte, nie mit einem Mädchen gesehen. Ein paarmal war er in Begleitung Schlagintweits auf dem Kleinhesseloher See Schlittschuh gelaufen. Es belustigte ihn eine Zeitlang, wie die jungen Mädchen aus guten Familien, welche ja seine Kameraden vom Tanzkurs her kannten, sich ihm bemerkbar machen wollten; wie sie gerade in seiner Nähe alle Figuren liefen, damit die Röcke hochflogen und er ihre Waden betrachten konnte. Aber bald ekelte ihn davor und er blieb für immer aus.

Ein einziges Mal hatte er auch versucht, die Gesellschaft seiner Mitschüler auf der sogenannten Absolventenkneipe zu genießen. Schlagintweit saß an seiner Seite und konnte bezeugen, von welcher Höhe der Verachtung aus sein schweigender Blick dieses Treiben ablehnte. Es war ihm schon ganz unbegreiflich, wozu denn die sogenannten Chargierten immer mit ihren ungeschliffenen Schlägern auf den Tisch schlugen; noch mehr erbitterte ihn der angebliche Gesang der Cantusse; in grenzenlosem Ekel aber erhob er sich, als sie bei dem traurigen Fiducit der »Exkneipe« sich Ochsenmaulsalat bringen ließen, diesen ganz sans façon hinunteraßen, gewaltig hineintranken und dann wirr durcheinander zu gröhlen anfingen: »ein Prosit, ein Prosit, der Gemü... a... a... t... lich... kei... eit ...!« Zwei wollten ihn bei seinem Weggehen anpöbeln; da er vor Ekel überhaupt nicht antworten konnte und wollte, belehrte Schlagintweit die zwei Schreihälse eines Besseren. Schließlich rollte das schläfrige runde bambino Groll betrunken unter sie hinein, und ein allseitiges Gelächter der Begeisterung erscholl, währenddessen Schlagintweit ruhig Baron Frangart folgen konnte.

Zwei Tage blieb Baron Frangart nach diesem »Fiducit« zu Hause liegen; es wäre ihm unmöglich gewesen, unter diese Gesellschaft hineinzutreten. Der Arzt verschrieb ihm Beruhigungsmittel, die Ludwig Schlagintweit entschlossen zum Fenster hinaus goß. »So ein Trottel! ... Ihnen Beruhigungsmittel zu verschreiben. Ihnen, Baron Frangart! Er soll lieber sich und andere Saufbrüder beruhigen!«

Die Gesellschaft Schlagintweits ertrug Fritz Frangart wie die eines lustigen treuen Dieners. Seine Ergebenheit hatte in der Tat etwas Rührendes. Eine Woche nach jener Kneipe kam er freudestrahlend zu Frangart: »Die Weltordnung ist umgangen, meine Illoyalität hat gesiegt!« – »Bitte?« – »Ich habe einen mir bekannten jungen Arzt wiederentdeckt, der Ihnen jederzeit alle nur gewünschten Schulkrankheiten bestätigt.« Frangart benutzte die Liebenswürdigkeit dieses Arztes ausgiebig: Im Januar und Februar saß er wochenlang zu Hause. Schlagintweit, der allein ihn besuchen durfte, kam gegen Abend und nahm mit ihm in einer knappen Viertelstunde alles durch, was der ganze Tag zu lernen gebracht hatte. Die schriftlichen Probearbeiten in der Schule schrieb er auf Drängen Schlagintweits von diesem voll und ganz ab; dieser schmierte dann in seine eigene Arbeit eiligst noch einige Fehler, um einen Unterschied herzustellen und den Professoren den Nachweis des Abschreibens zu erschweren.

Schließlich duldete Schlagintweit nicht mehr, daß Frangart die häuslichen Arbeiten selbst anfertigte. »Herr Baron, das hat doch für Sie keinen Sinn mehr; daran sterben Sie ja vor Langeweile,« konstatierte er und kam von nun ab jeden Tag punkt sieben Uhr in die Wohnung Frangarts, worauf dieser die Aufgaben abschrieb. Das war natürlich auch in einer Viertelstunde geschehen. Frangart fuhr dann wie immer zur Frauenkirche in die Messe, wohin ihn jedoch Schlagintweit nie begleitete. Da aber Frangart sich nicht bemüßigt fühlte, es auch für formlos gehalten hätte, nach der Weltanschauung eines andern zu fragen, kam es darüber nie zu einer Auseinandersetzung.

Diese vollkommene Schweigsamkeit des Baron Frangart über sein eigenes Wesen, über seine Anschauungen tat Schlagintweit weh. Wenn er im Bette lag und nachsann, welche Gefälligkeiten er morgen Baron Frangart erweisen konnte, träumte er manchmal davon, daß ein Mal, ach, nur ein einziges Mal dieser sein Herz öffnen würde. Er dachte es sich so schön, wenn sie sich dann gegenseitig ihre Ideen klarlegen würden, er würde die Hand um Baron Frangart legen ... Oh nein, er wußte schon, daß er dies nie wagen dürfte, daß jener sich nie eröffnen, auch nie eine freundschaftliche Vertraulichkeit gestatten würde.

Frangart seinerseits, wenn er über Schlagintweit (was sehr selten geschah) nachsann, formulierte seine Sympathie für diesen Menschen so: »Er hat noch den Takt der alten Leute aus dem Volke, er verlangt keine Aufklärungen, keine Gründe von den Menschen, die er verehrt.« Und so erriet er die Sehnsucht des armen Schlagintweit nicht, weil sie ihm selber fehlte. In der warmen Heiterkeit aber, die von diesem Menschen ausging, sonnte er sich mit einer gewissen trägen und selbstverständlichen Ruhe, wie vor Jahren, an die Schloßmauer von Frangart gelehnt, in der lachenden Sonne des Südens ...

*

In den Osterferien lud Baron Frangart den treuen Schlagintweit ein, mit ihm nach Brixen zu reisen und dort eine Woche zu bleiben. Er sehnte sich nach südlicher Sonne, wollte aber nicht bis nach Bozen und Sigmundskron fahren, da er keine Lust verspürte, seine Heimat wiederzusehen, so gerne Schlagintweit gerade dieses gewollt hätte.

In Brixen übertraf sich Baron Frangart gleichsam selbst in der unerschütterlichen Trägheit, mit der er sich in die Sonne stellte und acht Tage lang schwieg. Schlagintweit war unglücklich während dieser Zeit; nie mußte er stärker empfinden, wie wenig er dem verborgenen Wesen Frangarts nahe kommen konnte. In seiner Trauer vergaß er darauf, die Schönheit des Landes zu genießen. Er war froh, als sie wieder zurückfuhren, wo er überdies den Vater eines seiner Schüler – denn er lebte von seinen Lektionen und erhöhte so den Pensionsbezug seines Vaters – ob seiner Abreise grollend zurückgelassen hatte. Gerade die Osterferien hatte dieser für die beste Zeit gehalten, die Lücken im Wissen seines Sohnes durch den Instruktor auszufüllen. Er sah sich denn auch bald um jemand andern um. Von diesen Dingen erfuhr übrigens Baron Frangart keine Silbe.

Der junge Baron ging um diese Zeit, halb aus Neugierde, halb aus konventionellem Zwang, etliche Male zu den Tees und andern gesellschaftlichen Veranstaltungen einiger adeliger Familien, an die man ihn liebenswürdig empfohlen hatte. Aber bald unterließ er es wieder: bei den einen sah er sich mit Künstlern und Literaten zusammen eingeladen, die unter dem Beifall der Hauswirte ihre modernen und billigen Phrasen von neuen Wegen zur Kultur kommentierten, aber für Fritz Frangart durch ihr ganzes gesellschaftliches Benehmen hinlänglich bewiesen, daß sie die wohl bewährten alten Wege zur Kultur noch nicht gegangen waren. Seiner Ansicht nach wurden sie der hohen Bedeutung, die man sogar in alten Familien ihrer Anwesenheit beimaß, nicht im geringsten gerecht, um so mehr aber dem Teegebäck, dem kalten Büfett, oder am meisten dem Abendessen, wenn es ein solches gab: ihr unanständiger Heißhunger paßte durchaus zu dem Bild, das sich Baron Frangart von ihrer neuen Kultur machte. Wenn aber etwa in diesen Gesellschaften Wein getrunken wurde oder gar Sekt, so unterschieden sich die Gäste nur in der Qualität des Getränkes, aber keineswegs in ihren Sitten von seinen kneipenden Mitschülern; höchstens noch darin, daß, was dort »Gemü...a...a...t...lichkei...eit« genannt wurde, hier als »Originelle Viecherei« oder gar als »dionysischer Taumel« der Gemüter galt.

In andern Kreisen hinwiederum, die zwar in den Formen immer noch strenger und genauer lebten, bemerkte er mit Mißvergnügen, daß sich alle Männer ohne Ausnahme und sogar die meisten Frauen offenbar viel mit Politik beschäftigten. Er aber empfand Politik, wie sie heute getrieben wird, als eine Degradierung; so zog er sich also auch aus diesen Kreisen zurück.

*

Von den stets willig-gelieferten Krankheitsbestätigungen des erwähnten Arztes bezog Fritz Frangart in den Monaten Mai und Juni eine reichliche Anzahl. So konnte er sich unbehindert seiner Ruhe hingeben.

Ein paar Tage vor der Maturitätsprüfung, also in der zweiten Hälfte des Juni, ereignete sich indessen ein Vorfall, der ihn in unangenehmer Weise aufstörte. Er hatte von seinen Mitschülern ja nach jener Kneipe niemals mehr Notiz genommen und war somit allerdings der Mühe enthoben, sich an ihre von Schlagintweit gegebenen Charakteristiken zu erinnern. Aber da die jungen Leute die Bevorzugung Schlagintweits nicht ohne Neid sehen konnten und dieser selbst auch wegen seiner Spottlust heimliche Feinde genug hatte, bildete sich unliebsames Gerede über ihre Beziehungen. Die große Ergebenheit des einen gegen den andern war ja allen bekannt. So sagte man denn, daß sich der schöne Baron Frangart den Schlagintweit als Diener, ja »Haustier« halte und ihn dafür hoffentlich und jedenfalls anständig bezahle.

Als er nun eines Morgens in das Klassenzimmer eintrat und mit den Augen den noch abwesenden Schlagintweit suchte, flüsterte die dicke »Mittelmäßigkeit« einem Mitschüler einige Worte zu, die Anspielungen der erwähnten Art enthielten. Baron Frangart hörte es, ohne es zu wollen. Daher ging er mit der sicheren Ruhe, die ihm eigen war, zu der »Mittelmäßigkeit« hin und ersuchte, verbindlich lächelnd, aber nicht ohne leise Drohung in seinen dunkeln Augen, um Aufklärung. Die »Mittelmäßigkeit« erschrak heftig und ihr bourgeoises Fett (mit Schlagintweits Worten zu reden) wackelte. »Herr Baron, das sage nicht ich, das habe ich nur gehört. Man hat mir erzählt, daß Schlagintweit seine Schüler und sein Einkommen vernachlässigt, weil er die freie Zeit jetzt meistens bei Ihnen zubringt.« Baron Frangart sah den ängstlichen Stotterer an wie eine Kröte und wandte sich ab. Das Gerede war sehr ekelhaft, aber er nahm sich vor, Schlagintweit kein Wort davon zu sagen, ihn hingegen, wie es gerecht war, auf irgendeine Weise zu entschädigen. Baron Frangart hätte ja mit Leichtigkeit, ohne es zu verspüren, die Familie Schlagintweit über die groben Sorgen des Tages hinausheben können. Es war nicht Geiz, was ihn davon abhielt. Aber es gehörte zu seinen Überzeugungen, daß die Armut von Gott gewollt und zur Erhaltung des überlieferten Standes der menschlichen Dinge nützlich sei, sie beheben zu wollen somit auch einen Akt der Revolution begehen hieße. Es hatten schon genug Verschiebungen in der menschlichen Gesellschaft stattgefunden, im Laufe des letzten Jahrhunderts ...

Mit solchen Ansichten verband Baron Frangart auch einige merkwürdige äußere Gewohnheiten, zum Beispiel, daß er nie ein anderes Licht in seinem Zimmer duldete als das von Wachskerzen. Niemals in seinem Leben benützte er das Telephon: es war ihm eine »zu junge Einrichtung«. Statt eine Zeitung zu lesen, ließ er sich von Schlagintweit allmonatlich die Reihe der nackten Ereignisse der Zeit auf einem kleinen Zettel zusammenschreiben. (Dieser, der »alles war, nur nicht loyal«, konnte nicht umhin, sich dabei manchen Scherz zu erlauben. Einmal schrieb er: Der Papst hat den Vatikan an einen Amerikaner verkauft und ist nach Berlin verzogen. Ein andermal: Der internationale Delegiertentag der Sozialdemokratie hat die Rethronisierung der Bourbonen auf sein Programm gesetzt. Oder: Gestern haben sich alle Pariser Anarchisten auf der Place de la Concorde freiwillig verbrannt. – Mit diesen Scherzen wollte er Baron Frangart zu einer Diskussion verleiten, was ihm aber nicht gelang.) Automobil fuhr Baron Frangart nie: »man soll nicht in seinen alten Tagen einen so neuen Sport anfangen«. Die Versuche der Luftschiffer vollends hielt er für ein Verbrechen und fand es in Ordnung, daß soviele dieser Leute tödlich verunglückten. Übrigens, behauptete Baron Frangart, hätten die Chinesen alle diese Neuerungen schon vor längster Zeit besessen, sie aber durch den Machtspruch des Gesetzes wieder abgeschafft; denn sie hätten ersichtlich nicht zur Hebung des Glückes und der menschlichen Gesellschaft überhaupt beigetragen.

Inzwischen stellte die Neuzeit, ja die allernächste Gegenwart eine nüchterne unumstößliche Forderung an Baron Frangart: nämlich, die Maturitätsprüfung zu machen. – Im Lateinischen, Griechischen und Französischen ging alles glatt, in der Religion ausgezeichnet, zur Freude seines Religionslehrers, den er selbst hochschätzte. Zweierlei aber stand ihm noch bevor: das Deutsche und die Mathematik. In der Mathematik rechnete er gelassen mit der allerletzten Note. Das Deutsche mußte ihm erhebliche Schwierigkeiten machen, wenn sich das Thema etwa auf die Geschichte bezog, in deren Studium er konsequent alles, was ihm nicht gefiel, ignoriert hatte.

Nun bestand das deutsche Thema in jenem Satz des antirevolutionären, von Frangart über alles verehrten Goethe: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.« Baron Frangart lieferte eine nur leise verhüllte »Begründung der Tradition in jedem Betrachte«, der Privilegien, sowie aller von Gott gewollten und historisch bewährten menschlichen Institutionen. Sein Aufsatz geriet wirklich sehr gut, und es war schade, daß ihn nur der deutsche Professor, nicht aber Schlagintweit zu Gesicht bekam; er hätte daraus doch einiges zum Verständnis seines Frangart gelernt.

Schlagintweit selbst gab zwei Bearbeitungen des Themas ein: Auf die eine schrieb er in Klammern: »Wie das Thema von einem Abiturienten behandelt werden muß.« Diese Bearbeitung war in der Form der edlen Chri abgefaßt und enthielt alles Wünschenswerte. Auf die andere schrieb er: »Wie das Thema von einem Menschen behandelt wird.« Hierin setzte er ironisch auseinander, daß ihm, mangels eines materiellen väterlichen Erbes, für den Satz, soweit er materiell gemeint sei, eigentlich jede Erfahrung fehle; daß er jedoch seinen eventuellen Nachkommen, vorausgesetzt, daß sie wenigstens etwas erbten, die Worte Goethes unermüdlich einbläuen werde. Dazu fügte er eine lächerliche Betrachtung über mögliche Widersprüche, die er zwischen dem Ideal der reinen Humanität (»d.i. Menschlichkeit!«) und dem der Tradition späterhin möglicherweise ent- und aufdecken werde.

Diese zweite Bearbeitung, von der er mit dem Wunsch, Frangart zu einer Gegenrede zu reizen, diesem erzählte, aber nicht mehr als ein Lächeln zur Antwort bekam, trug Schlagintweit in letzter Stunde eine Karzerstrafe ein.

*

Solchermaßen waren nun doch eine Zeitlang über die alte Mauer der Ruhe, von der umgeben Baron Fritz Frangart dahinlebte, die unruhigen Eidechsen der Heiterkeit geklettert, die der gute Bajazzo dorthin jagte; und Baron Frangart jagte sie nicht weg. Aber dem Bajazzo selbst öffneten sich die Mauern nicht. In dunkeln Nächten stand er manchmal leise schluchzend davor. Unerhört verhallte sein Schluchzen, und das Salz seiner Tränen konnte der Mauer so wenig anhaben, wie die zartfüßigen Eidechsen seiner Heiterkeit. – Ein solcher Bajazzo wie Schlagintweit hat ein schweres Los auf Erden: freilich darf er seine Späße auch dort aufführen, wo sich andre keine lustige Miene mehr getrauen, geschweige denn ein Wort. Aber das ist auch alles. Er muß froh sein, wenn er nicht mißverstanden wird; wenn ihn die andern nicht mit einem Allerweltshallodri verwechseln und ihm Pfennige hinwerfen, während er mit dem goldenen Klingebeutel seines Herzens Liebe einsammeln will. – Das nun brauchte Schlagintweit von Baron Frangart nicht zu befürchten; aber Liebe gab ihm dieser auch nicht, konnte sie ihm nicht geben ...

Oh über die süßen Schmerzen der Freundschaft! Oh unbelohnte Liebe! Oh Schrei der Sehnsucht, der ohne Echo verhallt! Oh verlorene, verlorene, verlorene Jugend! ...

»Ein schweigsamer Mensch ohne Echo zu sein, wie Baron Frangart, ist aber auch keine Kleinigkeit!« dachte sich Schlagintweit, zog sein Herz aus der Brust und wischte sich die Tränen damit ab.


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