Karl Borromäus Heinrich
Menschen von Gottes Gnaden
Karl Borromäus Heinrich

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Neue Bekenntnisse des Pater Bonaventura

4. September 19..

Fritz Frangart ist seit einem halben Jahre bei uns. Alle lieben ihn; er aber scheint niemand zu lieben. Er benimmt sich gegen uns alle, gegen Erzieher und Mitschüler, mit ausgesuchter Höflichkeit; das ernüchtert sie und stachelt sie doch zugleich wieder an, ihn zu lieben; indes läßt er niemand an sich herankommen.

Nur mich sieht er zuweilen vertraulich an: aber es liegt etwas Erschreckendes in dieser Vertraulichkeit, er droht mir damit ... Wenn er gegen alle höflich ist, gegen mich ist er immer hochmütig, und am hochmütigsten, wenn er sich vertraulich zeigt.

3. Januar 19..

In der äußeren Bildung, in den Formen des Verkehrs wird Fritz Frangart hier von niemand übertroffen. In dieser Beziehung hat er nichts mehr zu lernen. Er hat das überhaupt schon mitgebracht. Vom Lernstoff aber interessiert ihn wenig: in der Religionslehre alles Mystische, was man nicht mit dem Verstand begreifen, sondern mit Glauben und Gefühl erraten oder vielmehr erleben muß. In der profanen Geschichte fesseln ihn nur ganz bestimmte Personen und Zeitläufte: es scheint, daß er sich alles mit viel Geschick heraussucht, was ihm geistig oder moralisch verwandt ist. Die Sprachen liegen ihm; aber er studiert sie mit nonchalance und ohne wissenschaftliche Freude, vielleicht nur, weil sie für ihn zum guten Ton gehören.

Von allen andern Dingen nimmt er nur genau soviel auf wie nötig ist, um den Lehrern nicht beschwerlich zu fallen, also nur ein Anstandsquantum.

Im Vergleich zu andern ist er von ungemeiner Trägheit, für sich selbst betrachtet nur von Gleichgültigkeit, von großer geistiger Selbstzufriedenheit.

Im Französischen und Griechischen, worin er mein Schüler ist, zeigt er jedoch einen ausnehmenden Fleiß und läßt in seinem Können alle Mitschüler weit hinter sich. Er scheint den Drang in sich zu fühlen, mir seine Meisterschaft zu zeigen. Gerade mir. Bei sonst niemand liegt ihm daran, der Erste zu sein.

Oh ich fühle, er will mich kränken mit diesem Ausnahmefleiß. Das heißt, er will das nicht. Zu solch kleinen Absichten ist er zu nobel. Er fühlt sich einfach gedrungen, bei mir mehr zu lernen als bei den andern. Und ich weiß nur, daß ich mir nichts darauf einbilden darf, ja, daß es im Gegenteil irgendwie gegen mich spricht.

8. März 19..

»Sokrates, der indiskreteste unkultivierteste Schwätzer des Altertums, der mit seinem ewigen ›Warum und inwiefern und wozu‹ beweist, daß ihm alles abgeht, was die andern in seiner Zeit haben, ist als Anarchist mit Recht zum Tode verurteilt worden. – Was ich habe, danach frage ich nicht; ich bin ευγενησ (wohlgeboren), und es wäre pietätlos gegen meine Ahnen, zu fragen, was eigentlich diese und jene Tugend sei, warum ich sie für eine Tugend halte. Denn die Antwort könnte nur sein: weil ich meinen Vätern vertraue, mehr vertraue als dem geschwätzigen Verstand. Sokrates ist das Vorbild aller geistigen Proletarier, die nichts mitbringen als einen Kopf; er könnte zur Zeit der französischen Revolution gelebt und das Wörterbuch mit herausgegeben haben; er ist also mit Recht verurteilt worden. ωσ απολοιτο χαι αλλοσ οστισ τοιαυτα γε ρεξοι – wie auch jeder andere zugrunde gehen möge, der immer solches verübt.« Dies ist der altkluge, zornige hochmütige Schluß eines Aufsatzes des Baron Frangart, den ich über das Thema »Der Tod des Sokrates« gegeben hatte. Was denkt der junge Frangart also von mir, der ich den Schülern die Größe des Sokrates erklärt hatte?!

Den Aufsatz könnte schließlich der alte Choiseul genau so geschrieben haben. Oh ich weiß, was Frangart denkt: gar nichts denkt er von mir. Er lehnt mich einfach ab, ohne Gehässigkeit, nur weil er mich ablehnen muß. Ist es doch gerade, als ob er meine illegitime Geburt erriete.

Der alte Choiseul hat mir die Hand geküßt. Der junge Frangart – – hat sich ja auch »höflichst entschuldigt, daß er mir leider hat widersprechen müssen«. Und ich liebe ihn so sehr. Lieber Gott im Himmel, laß ihn nur einmal lieb zu mir sein!

10. Mai 19..

Baron Frangart hat sich noch immer an niemand angeschlossen. Er ist sich gleich geblieben. Aber unter seinen Mitschülern hat er eine tiefe Verwirrung angerichtet.

Da er mit niemand Freund sein will, möchten ihm wenigstens alle ihre Verehrung zeigen. Zum Beispiel: er lernt in der Mathematik nur das Notdürftigste, und das sehr ungenau. Jetzt machen ihm das alle nach. Keiner will mehr Mathematik studieren. Das ist jetzt für die jungen Leute haut goût, dernier goût, goût de Frangart ...

Man hat Baron Frangart zur Rede gestellt. Er antwortet, wie es sicher der Wahrheit gemäß ist: »daß er keinen Mitschüler aufgefordert habe, in der Mathematik nichts zu arbeiten.« Das stimmt durchaus; ich weiß, daß er nichts für diese Nachäfferei kann. »Ich finde das sehr komisch,« sagt er und zieht die Schultern hoch.

August 19..

Fritz Frangart ist jetzt anderthalb Jahre bei uns und hat in Dingen des Betragens nie eine Strafe oder auch nur eine Zurechtweisung bekommen. Nicht einmal ich selbst, der ich seine delikate Verachtung meiner Person mehr und mehr herausfühle, habe jemals etwas Greifbares finden können, wofür er Strafe verdient hätte, – vorausgesetzt, daß ich ihm eine hätte geben wollen. Nein, das werde ich nie wollen ...

Aber ich frage mich allmählich: Ist nicht seine unendliche Suffisance der Gesinnung strafbar? ... Freilich, er hat dieser Gesinnung niemals Ausdruck gegeben; wer kann also wissen, ob es »Gesinnung« ist. Nein, es ist auch das bei ihm unbewußt. Er gehört zu seiner Art. Vergleiche den Aufsatz über Sokrates, schwerfälliger Bonaventura! Für seine Art aber darf man niemand strafen, da diese Gott so gewollt hat.

Man wird also auch nie Anlaß haben, Baron Frangart zu strafen; denn er wird nie etwas tun, was über seine Art hinausgeht.

Er glaubt so fest an die Güte seiner Art; aber könnte er darin nicht doch Unrecht haben? ...

Lieber Gott, verzeih mir! Ich frage à la Socrate. Meine Art ist also strafbar ... Ach, das ist alles so schrecklich und tut mir so weh! ...

Weihnacht 19..

Kann denn dieser Fritz Frangart überhaupt jemand lieb haben? – Sein Geist ist so fertig und nimmt nur an und auf, was ohnehin zu ihm gehört.

Ist sein Herz auch so? Aber wo wären die Menschen, die zu ihm gehören? Scheint es nicht, als ob er über alle weit hinaus sei?

Großer Gott, wie soll dann dieser junge Mensch in seinem Leben jemals fruchtbar werden?

Vater im Himmel, ich stehe zu dir: laß ihn nicht einsam bleiben! Laß ihn Gleichgestellte finden, damit sein Herz fruchtbar werde.

Wie allein stand er mitten unter den weihnachtsfrohen Menschen! Wie unbewegt!

Februar 19..

Ich kann Fritz Frangart nicht mehr verstehen. Da verkehrt er nun auf einmal ausschließlich mit dem ganz krüppelhaften Vicomte Meudon; Meudon ist ein halber Kretin und erst vierzehn Jahre alt. Was mag Frangart mit ihm vorhaben?

Alles in der Schule wütet, man spürt die allgemeine Aufregung, daß er sich gerade mit dem ... Das heißt, alles Gute gewähre Gott dem armen Vicomte Meudon!

April 19..

Ich habe ein kleines Buch über das Allerheiligste Geheimnis der Eucharistie geschrieben; Gott in seiner großen Güte hat mich die Worte dazu finden lassen. Aber da dieses Büchlein unter Laien leicht Mißverständnisse hervorrufen könnte, habe ich es auf den Rat des Obern ins Altgriechische übersetzt und den Druck nur für die Ordensbibliotheken herstellen lassen. Ich hatte mir die Erlaubnis erbeten, es in griechischem Text Baron Frangart zu lesen zu geben.

»Es ist schön,« sagte er zu mir, »ich habe es genau gelesen und ich danke Ihnen. Aber eigentlich, meine ich, sollte man den heiligen Geheimnissen nicht so nachgehen; man sollte sie nur erleben. Und es gibt Geheimnisse zu erleben, nicht wahr, Pater?« Nie vergesse ich die unsagbar hochmütige Vertraulichkeit, womit er mich dies gefragt hat.

Ach, wie nachlässig er mich ablehnt! Soll ich ihn strafen? Wofür? Was er wohl gemeint haben mag? Vielleicht ... Nein, das ist nicht möglich, nein, nur das nicht!

Aber: wenn er auch das nicht gemeint hat und wenn es in Wirklichkeit eben das wäre, was er nicht gemeint hat ... Soll ich dann mich strafen? Ist es noch nicht, noch immer nicht gebüßt? ...

Ich will sogleich den Hochmut vergessen, mit dem er mich gefragt hat.

Nie würde ich Baron Frangart strafen. Nie könnte ich ein Recht dazu haben.

12. Mai 19..

Frangart ist seit einigen Tagen zu dem armen kleinen Vicomte ebenso kühl und höflich wie zu den andern. Alle atmen auf. Ich aber bemitleide den kleinen Vicomte, der wie ein unbeachtetes Hündchen hinter Baron Frangart herhinkt. Und er bekommt keinen Blick ab, keinen einzigen.

14. Mai 19..

Der kleine Vicomte gebärdet sich wie irrsinnig. »Lieber lieber Baron Frangart!« schreit, ja heult er, mitten unter dem Studium, mitten im Schlaf. Es ist ein Unglück. »Sie hätten auch zu ihm von Anfang an so ... so höflich bleiben können wie zu den andern. Sie haben mit ihm gespielt, Baron Frangart!« So habe ich heute zu ihm gesprochen, und wahrlich, es ist mir schwer gefallen. »Ich habe nicht mit ihm gespielt. Er hat mich interessiert, weil er gar so merkwürdig ist. Jetzt kenne ich ihn und er interessiert mich nicht mehr. Soll ich heucheln und so tun als ob? ...«

So hat mir Baron Frangart geantwortet. Was läßt sich hiergegen sagen? So gut wie nichts. Höchstens, daß er sich nicht für den Vicomte hätte interessieren sollen.

Oh guter Vater im Himmel, wenn das immer so endet, sobald sich Fritz für etwas interessiert hat, dann laß ihn doch einsam bleiben! Man könnte ihn sonst für einen rohen Menschen halten, wenn man ihn nicht näher kennt ... Und doch wieder, nein! Ich mag Fritz so gern wie mein eigenes Kind. Man darf es nicht ihm anrechnen, wenn die andern durch ihn Schaden leiden, er eigentlich nichts dafür kann. Laß ihn nicht einsam bleiben. Mache sein Herz fruchtbar!

Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Amen.

14. Mai 19..

Dieses Amen habe ich im vorigen Jahre am gleichen Tage geschrieben. Und ich habe dieses ganze lange Jahr schweigend gelitten unter seinem Hochmut, unter seiner »Vornehmheit«, wie es die andern nennen.

November 19..

Ja, es ist besser, er verläßt uns. Er selbst hat den Wunsch geäußert, in einer Stadt weiter zu studieren. Er tut auch gut daran, nach Deutschland zu gehen. Macht er dort das Gymnasium zu Ende, dann kann er deutscher Offizier werden oder Geistlicher, wie seine Verwandten, die eine so der andere so, gewollt haben. Oder keines von beiden. Wie Gott will! Amen.

Ende November 19..

Das also war der Abschied.

»Seht, Pater, Ihr habt alles an mir zu wichtig genommen. Aber das eine, was für mich wichtig war, das habt Ihr nie berührt. Warum seid Ihr nie zu mir gekommen, um mir zu sagen, wie sich das verhält mit dem Schrei Miéville und das andre, wovon mir geträumt hat, daß Ihr und meine selige Mutter Geschwister wärt. Das hätte Euch nicht erniedrigt, nein, so wahr ich Frangart heiße. War es Euch zu schwer? ... Ich habe jedenfalls vier Jahre lang umsonst darauf gewartet, daß Ihr kämt. Ihr seid nicht gekommen, so wichtig Ihr auch alles genommen habt; und obwohl Ihr gewußt haben müßt, das für mich nur das Eine wichtig sein konnte: ob ich, Frangart, wirklich ... Nun Ihr wißt, der Schrei Miéville! ...«

Ich bin an den Zug gegangen, mit dem er abgereist ist. Vielleicht würde er doch noch einmal zurückschauen, nach mir schauen! ... – Ich habe ihn gesehen, wie er seinen Spiegel aus der Tasche zog und vor der Abfahrt des Zuges nochmals die Krawatte richtete. Und er hat sich nicht nach mir umgesehen.

Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Amen.


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