Karl Borromäus Heinrich
Menschen von Gottes Gnaden
Karl Borromäus Heinrich

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Erstes Buch

»Eine Mutter hatte ihren Kindern, zu ihrer Bildung und Besserung, Äsops Fabeln zu lesen gegeben. Aber sehr bald brachten sie ihr das Buch zurück, wobei der älteste sich, gar altklug, also vernehmen ließ: ›Das ist kein Buch für uns! ist viel zu kindisch und zu dumm; daß Füchse, Wölfe und Raben reden könnten, lassen wir uns nicht mehr aufbinden: über solche Possen sind wir längst hinaus!‹ – Wer erkennt nicht, in diesen hoffnungsvollen Knaben, die künftigen erleuchteten Rationalisten?«

Arthur Schopenhauer,
Parerga und Paralipomena:
zweiter Band.

Aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S.J.

Clermont-Ferrand, Osterdienstag 1884

Zu spät! Hier, wie immer, bin ich zu spät gekommen. Es ist mein Verhängnis, zu spät zu kommen, und vielleicht bin ich auch zu spät geboren. Wenigstens sagt man, daß meine Mutter daran gestorben ist.

Ich bin zu spät gekommen.

Heute hat sich mein Freund Baron Frangart, den ich vor zehn Jahren im Jesuitenkollegium kennen und lieben gelernt habe, mit Komtesse Riom verheiratet.

Er hat ihre Bekanntschaft auf Schloß Choiseul, bei Clermont-Ferrand, gemacht. Die Frangart und Choiseul sind seit langen Zeiten verwandt. Die Choiseul und Riom sind seit noch längeren Zeiten verwandt. Und so bleibt alles in der Verwandtschaft, hauptsächlich aber bei den Choiseul, die der verwaisten Komtesse Riom hundertachtzigtausend Franken für die ganzen Liegenschaften Riom bezahlt haben; nun, schließlich ist es ja auch ganz gut, wenn der Alte auf Choiseul sein Stammgut auf billige Weise vergrößert. Die Frage bleibt nur, für wen; denn eines Tages muß das ja doch wieder an die Komtesse zurückfallen; denn daß es an die Bourbonen übergehe, wird der alte Einsiedler kaum verfügen, obwohl ja die Choiseul, und die Frangart und die Riom, mit ihnen seit längsten Zeiten verwandt sind. Das hat der Adel so an sich, die weiten Verwandtschaften. Wenn zum Beispiel, ich sage nur zum Beispiel (»nur« und, »zum Beispiel« macht sich hier sehr gut!), wenn also der damalige Herr von Choiseul nicht mit seiner Tochter vor der Gier des Königs François II. nach Mailand hätte flüchten müssen, hätte diese den Edlen von Frangart nicht dort kennen gelernt. Und wenn, wiederum nur zum Beispiel ... Nein, es ist genug mit dem einen.

Denn wenn nur dieses eine zur Tatsache geworden wäre, so hätte ich zwar sehr wohl mit dem Baron Frangart aus Südtirol bekannt werden können, obwohl ich aus dem französischen Departement Puy-de-Dôme stamme: weil ja das Jesuitenkollegium in Chamfort ganz unabhängig von allen diesen Verwandtschaften existiert. Nun ja, allerdings, wenn der alte Baron Frangart nicht mit französischen Familien verwandt wäre, hätte er, in betreff der Erziehung seines Sohnes, vielleicht gar nie an ein französisches Jesuitenkollegium gedacht. Das stimmt. Aber wenn die Güte Gottes wollte, daß ich und der junge Baron Frangart Freunde werden und uns so lieb gewinnen, – ach, wie lieb hab ich den jungen Frangart! – dann hätte er ja seinen Vater ganz zufällig auf die Idee führen können, seinen Sohn in ein französisches Jesuitenkollegium zu geben, noch einmal, nur zum Beispiel, nach Chamfort. Er wäre dann mein Freund geworden, ohne der Gemahl der Komtesse ... Oh großer Gott, wie schrecklich ist das alles! Ich werde verrückt.

Eine andere Möglichkeit, eine leichtere Möglichkeit, und für die Güte Gottes so leicht wie nur irgend etwas: Der alte Choiseul ist zwar mein Vormund; aber ich habe ja kaum dreißig Worte mit ihm gewechselt. Und das war vor zehn Jahren, als er mir auseinandersetzte, daß ich das uneheliche Kind der wohlhabenden Witwe Miéville und eines unbekannten Vaters sei; daß ich von mütterlicher Seite soundsoviel Vermögen besäße; und daß er es sorgsam verwalten werde, wie seine eigene Sache, und noch sorgsamer ... Das hat er ja auch getan, wenigstens ist es immer mehr geworden. Aber er hat wirklich kaum mehr als dreißig Worte mit mir gewechselt. Richtig – pardon, Alter! – er hat mich in ein gutes Regiment hineinprotegiert; freilich, ohne lang zu reden.

Wenn also der alte Choiseul, als ihm Baron Frangart sagte, daß er mich zum Trauzeugen bitten wolle, nur etwa obenhin gesagt hätte: »ach nein, ich möchte lieber den und den ...« dann hätte wenigstens ich die Komtesse Riom niemals kennen gelernt. Aber hat nicht der Alte geschrieben: »Ich hätte Sie, verehrtester Herr Miéville, auch ohne den besonderen Wunsch des Baron Frangart eingeladen.« – Ich setze hinzu: wenn er auch das nicht gewollt und nicht geschrieben hätte! Eine Kleinigkeit, lauter Kleinigkeiten für die Güte Gottes.

Und so hätte ich die Komtesse nie gesehen. Nie. Vor einem Vierteljahr ist sie aus dem Kloster gekommen, jetzt heiratet sie.

Hat geheiratet.

Komtesse Riom hat geheiratet.

Komtesse Riom ist schon verheiratet, verheiratet an Baron Frangart, meinen Freund Baron Frangart.

Vor sechs Tagen habe ich Komtesse Riom, pardon, Madame la baronne Frangart, zum ersten Mal gesehen. Und meine ersten Worte waren: »Komtesse, ich beglückwünsche meinen Freund Frangart, daß er eine Französin heiratet. Daß er aber das Glück hat, Sie heimführen zu dürfen, Komtesse, dazu wünsche ich ihm nicht Glück; denn ich beneide ihn zu sehr darum.«

Das war eine höfliche Phrase oder eine phrasenhafte Höflichkeit.

Jetzt ist es Ernst.

Pfui, man soll keinen Freund beneiden!

Aber ich liebe die Komtesse so sehr. Ich liebe ihre kleine schlanke Figur, ihr blauschwarzes Haar, ihr blasses Gesicht, ihren artesischen Mund, ihre mandelförmigen, fast chinesischen Augen. Ich liebe die Komtesse so sehr ... Im Ausdruck sehe ich ihr etwas ähnlich, meinte der alte Choiseul, und es ist wahr.

Ich verachte mich. Es handelt sich um die Frau meines Freundes.

Schäme dich, Miéville!

Ach Gott, ja. Aber ich glaube, die Komtesse Riom liebt mich.

Unsinn, Frangart, reg dich nicht auf! Ich spreche von der Komtesse Riom, nicht von der Baronin Frangart. Die liebt mich natürlich nicht. Und auch als Komtesse Riom war sie zu gut erzogen, um wegen eines sechstägigen neuen Gefühls einen älteren Entschluß umzuwerfen.

Baron Frangart ist schön. Ein beweglicher Mensch. So südlich sieht er aus. Und wie er unser Französisch spricht! Man muß ihn lieb haben. Sie wird ihn lieb gewinnen.

Aber ich weiß, sie hat mich geliebt. Sie pflegte ihre schmale weiße Hand, wenn ihr etwas gefiel, auf meinen Arm zu legen. Unabsichtlich, versteht sich.

Eine Komtesse Riom ist von zu gutem Blut, um Absichten zu haben. Und vielleicht, wahrscheinlich, nein, selbstverständlich wußte sie gar nicht, daß sie mich liebte.

Mindestens weiß die Baronin Frangart nicht, daß mich die Komtesse Riom geliebt hat.

Schäme dich, Miéville! Du bist ungalant!

Aber noch ein paar Tage Zeit, und die Komtesse Riom hätte empfunden, mit Bewußtsein empfinden müssen, daß sie mich liebt!

Ich habe die Komtesse zu spät kennen gelernt. Zu spät! Ich komme immer zu spät!

Heute haben sie geheiratet.

Diese Nacht ist ihre Hochzeitsnacht. Diese Nacht. Heute, jetzt! Eben jetzt! ... Oh Schrei der Sehnsucht!

Oh Gott, hilf mir! Hilf mir vor diesem Gedanken!

Mein Herz schlägt so schnell. Oh Gott! Hilf mir!

Es soll keine Komtesse Riom mehr geben, nur mehr ... Oh Gott, hilf!

Vater unser, der du bist in dem Himmel, geheiliget werde dein Name, zukomme uns dein Reich, dein Wille geschehe, dein Wille geschehe! ...

Nicht dein, nein, nicht mein, sondern dein Wille geschehe!

Ja, ja, ich verzichte. Ich begehre die Komtesse Riom nicht.

Gott, ich danke dir! Ich liebe sie beide. Meine Liebe umarmt beide, ohne Begehrlichkeit.

Ich segne sie beide mit meiner Liebe, meinen Freund Frangart und die Komtesse Riom.

Es gibt keine Komtesse Riom mehr. Jetzt nicht mehr.

Ich segne die Baronin Frangart und ihren Gemahl, meinen Freund ...

Paris, 2. Mai 1884

Ob das nicht ein Frevel ist! –

Seit einer Woche habe ich Urlaub. Und heute habe ich zum siebenten Male eine Kokotte ins Hotel eingeladen. Jedesmal eine andere.

Keine habe ich berührt. Jeder habe ich hundert Franken geschenkt. Und zu jeder habe ich gesagt: »Du mußt mit mir beten für das Wohl einer Dame!«

Eine hat mich gefragt: »Ist das eine neue Perversität?« Ich habe sie gleich fortgebeten.

Die andern haben geweint und gebetet, innig gebetet. Und von einer, der letzten, weiß ich, daß sie so innig gebetet hat wie noch nie ein Mensch – nach der heiligen Magdalena, welche die Füße des Herrn mit ihren Haaren trocknen durfte.

Der alte Choiseul ist wütend, weil ich soviel Geld gebraucht habe. » Vous êtes fou, rentrez de suite!« Auf offener Karte.

Ich werde heimfahren; aber verrückt bin ich nicht.

Clermont-Ferrand, 14. Mai 1884

Choiseul hat mir geschrieben, daß die Baronin Frangart in andern Umständen ist, und daß er mit den Ärzten für ihr Leben fürchte. Gott erhalte sie! – Sie stationieren in Wien: es muß auch hart für Baron Frangart sein, der sich so gefreut hatte, mit ihr zu repräsentieren.

Wie merkwürdig! Ich liebe sein Kind wie mein eigenes, noch bevor es geboren ist.

Oh, ich habe es ja frühzeitig gesegnet, das Kind und auch seine Eltern. Damals ...

Mein Segen war von allem Anfang an bei diesem Kind. Die Baronin sieht mir ähnlich; vielleicht wird mir auch das Kind ähnlich sehen. Das wäre kein Wunder, aber eine große große Gnade.

Clermont-Ferrand, 23. Mai 1884

Ich benehme mich so komisch im Regiment. Die Nacht von gestern auf heute haben wir gespielt. Mir war alles ganz gleich, ich dachte an weit weg, wo alles in großer Ruhe liegt, unter schwarzen, schweigenden Zypressen. Ich dachte überhaupt an nichts, ich sehnte mich nach etwas ... Aber ich soll fürchterliche Summen gewonnen haben. Visitenkarten mit höchsten Zahlen haben sich bei mir angehäuft. Ein Kamerad, der kleine Tourgot, – er muß doch ein Jude sein – hat viel mehr, als er überhaupt in seinem ganzen Leben hätte aufbringen können, an mich verspielt. Per Visitenkarte natürlich.

Heute mittag, als ich noch zu Bett lag, kam der alte Choiseul angefahren, drang mit Gepolter in mein Schlafzimmer und schrie mich an: »Her mit der Karte des Herrn Tourgot!« »Aber lieber Herr Choiseul,« sagte ich verstimmt, »suchen Sie Sich doch die Karte. Ich weiß nichts mehr.« Er suchte in meinem Visittäschchen und außerdem in allen Taschen der Uniform, deren einzelne Stücke an den Stühlen herumhingen, aber er fand nichts. Da kam er denn zu mir ans Bett, zog meine Hand unter der Decke hervor und drückte sie so fest, daß ich vollends aufwachte. »Sie sind doch ein guter Kerl, Miéville!« Aber ich hatte wirklich keine Ahnung, wohin ich die Karten getan haben mochte.

Im Regiment spottet man über mich.

Clermont-Ferrand, 10. Juni 1884

Ich bin manchmal so müd. Alle Dinge um mich her werden zu Schatten, und ich verstehe nicht, warum die andern sie so wichtig nehmen. Vor allem verstehe ich nicht, warum ich selbst sie einmal so wichtig genommen habe.

Das alles ist doch nur aufgebauscht. Neulich fing ich mitten im Rapport an zu lachen, und da ich mich gar nicht beherrschen konnte, endigte es in einer bösen Blamage.

Ich lachte nicht über das Militär. Unlängst, als ich in einem Laden Schuhe aussuchte, erging es mir genau so: Ich mußte einfach gerade hinauslachen über die allgemeine Wichtigkeit.

Clermont-Ferrand, 12. Juli 1884

Man hat mir heute nahegelegt, meinen Abschied einzureichen. Ich ertrage es ruhig. Früher oder später hätte ich den Dienst von selbst quittiert; denn daß es so wie in der letzten Zeit mit meinen täglichen Verspätungen, meinen Unaufmerksamkeiten, meiner lächerlichen Güte gegen die Mannschaft nicht weitergehen könne, hätte mir allmählich schon eingeleuchtet. Ich war nur zu geistesabwesend, um darüber nachzudenken.

Aber der eigentliche Grund, den man im Conseil gegen mich angeführt hat, daß ich seit einiger Zeit in den Kirchen herumsäße wie ein altes Weib, und daß dazu nur die Adeligen das traurige Privileg hätten, – der ist nicht stichhaltig für einen Abschied. (Übrigens haben sie vor kurzem in Paris auch einige Adelige unter dem gleichen Grund aus der Armee hinausgeekelt. Als ob das Kirchengehen jemals einem Soldaten geschadet hätte!) Es scheint, daß der kleine Tourgot dahintersteckt; seit jener Spielnacht oder vielmehr seit dem Morgen darauf schämt er sich vor mir und haßt mich deshalb nicht wenig. Ich gehe. Es hätte ja sowieso keinen Sinn mehr.

Alle Wege sind dunkel. Welchen werde ich nun gehen?

Nizza, Oktober 1884

Oh verlorene Jugend! Oh Schrei der Sehnsucht! Klinge durch die weiche, süße, südliche Luft hinauf zur geliebten Sonne! Heilige Flamme, steh mir bei!...

Nizza, Ende Oktober 1884

Dem Menschen bleibt an sich selber alles Wesentliche dunkel, immerfort und so lange, bis er tot ist. Dann beten die Überlebenden: »Der Herr gebe ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm!«

Durch das weite Dunkel des Daseins aber tönt unaufhörlich der langgezogene grausige Schrei aus aller Menschen Mund, der Schrei der Sehnsucht nach dem Lichte.

Und manche Menschen scheinen gleich einem Wald, in dem sich dieser Schrei wie in einem Echo fängt. Ich bin so ein Mensch. Ich leide nicht mehr um mich, ich leide um das ganze Dasein.

Nizza, November 1884

Ich bete unaufhörlich, daß die Baronin Frangart, über die Choiseul mir so betrübende Nachrichten und Befürchtungen mitteilt, die Entbindung überlebe und daß auch das Kind mit dem Leben davonkomme.

Chamfort, 18. Dezember 1884

Gott sei Dank! Die Baronin und ihr kleiner Sohn leben beide. Soeben bekam ich das Telegramm von Choiseul.

Ich habe heute meinen Eintritt in den Jesuitenorden erbeten.

Chamfort, Weihnacht 1884

Mein letzter Wille.

Heute erfolgt mein Eintritt in den Orden. Indem ich von der Welt draußen Abschied nehme, verfüge ich letztwillig wie folgt über meine weltlichen Dinge: Ein Drittel meines Vermögens gehöre dem Collegium Societatis Jesu in Chamfort; das zweite Drittel etwa von mir noch lebenden Verwandten, und, wenn deren nicht zu finden sein sollten, den Armen in der Umgebung des Schlosses Riom, Departement Puy-de-Dôme, Frankreich; das letzte Drittel gehöre, mit Zinsgenuß vom heutigen Tage ab, dem jüngstgebornen Freiherrn von Frangart, Fritz Paul Joachim, auf Frangart in Südtirol. Ihn liebe ich, wie wenn er mein eigenes Kind wäre. Ich segne ihn heute, wie ich ihn von allem Anfang an gesegnet habe.

Gott sei mit ihm und seinen Eltern!
Anno Domini 1884, Weihnacht.
Paul Miéville, Frater Bonaventura S. J.

An den hochwürdigen Pater Bonaventura S. J., Chamfort (Belgien)

In deo pax!

(Aus dem Lateinischen übersetzt.)

Wien, 7. Februar 1894

Hochwürdiger Bruder in Christo dem Herrn,

ich bin Deiner Angelegenheit während der letzten Wochen mit großem Eifer nachgegangen, was mich in den Stand setzt, Dir heute die gewünschten Nachrichten zu geben.

So muß ich Dir denn zu meiner großen Betrübnis mitteilen, daß das immerhin bemerkenswert unhöfliche, zehnjährige Schweigen, das Baron Frangart und seine Familie Dir als einzige Antwort auf Deine Briefe gegeben haben, sich aus mancherlei traurigen Begebenheiten erklärt, die Gott, in Seiner unerforschlichen Absicht, über diese edle Familie verhängt hat. Wobei ich von vornherein dem Wunsche Ausdruck gebe, und auch der innigen Überzeugung, daß Er alles, so oder so, zu einem guten Ende führen werde. Denn Er hat in Seiner großen Gnade unserer heiligen Kirche drei Selige aus der Familie Frangart zugeführt, die im dreizehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert von den Päpsten ritu als solche erklärt worden sind. Freilich sind, was sehr zu beklagen ist, seit dem siebzehnten Jahrhundert sieben der Herren von Frangart im Zweikampf getötet worden, allemal mit ihrem Verschulden, indem sie Frauen aus edlen Geschlechtern, obwohl selbst verheiratet, wider alle Heiligkeit der Ehe begehrt und verführt hatten.

Aber ich sehe, daß ich mich in Weitläufigkeiten verirre.

Im Hause des jetzigen Herrn von Frangart ist es folgendermaßen hergegangen: Die verehrungswürdige Freifrau von Frangart liegt seit der Geburt ihres einzigen Kindes und noch länger krank. Sie ist daher in der Gesellschaft hier persönlich nahezu unbekannt. Schon vor neun Jahren mußte sie, auf Geheiß der Ärzte, die das hiesige Klima als nachteilig für sie erklärten, in den Süden übersiedeln. Sie wohnt jetzt in dem winzigen Stammschloß der Frangarts, auf Frangart bei Sigmundskron in Südtirol. Man hat mir erzählt, daß sie dort mit ihrem Kind zusammen in schweigsamer ununterbrochener Ruhe, ohne irgendwelche Menschen zu empfangen oder zu besuchen, die Tage hinbringe. Das Kind, Fritz P. J. Frangart, dessen zarte Schönheit in der ganzen Gegend dort berühmt sein soll, erhält seinen Unterricht von einem geistlichen Mitbruder, der von Bozen aus jeden Tag in das Schloß fährt. Er hat mir über die Begabung des jungen Herrn, über seine Leichtigkeit im Erfassen aller geistlichen und weltlichen Dinge, ebensoviel Rühmliches geschrieben wie Trauriges über seine beispiellose Trägheit und seine unerschütterliche Selbstgenügsamkeit. Er macht indes große Fortschritte; es soll mit ihm sein wie mit einem Menschen, der schon alles von selbst und von lange her weiß und den man nur daran zu erinnern braucht. Im übrigen aber lehne er alle freie Zeit an der Mauer des Schlosses, das auf einer Höhe liegt, lasse sich schweigsam von der satten Sonne des Südens bescheinen und sehe immerfort hinunter in das lichtgetränkte farbenreiche Tal.

Nach diesen Mitteilungen unseres geistlichen Mitbruders zu schließen, muß es ein sehr merkwürdiger Knabe sein; dazu kommt, daß er sich im Verkehr mit den Menschen einer ebenso natürlichen Höflichkeit als vollkommenen Kälte befleißigt; er soll gar nicht das Bedürfnis haben, das sonst den Kindern eigen ist, sich anzuschließen und Zutrauen zu bezeugen. Die Mutter lebt sehr fromm und betet viel; aber sie liegt und träumt den ganzen Tag. Ich gebe Dir den Schluß des Briefes unseres Mitbruders in wörtlicher Übersetzung:

»Selten fährt die Freifrau mit dem jungen Herrn aus. Ihr schmächtiger Körper ist dann in Decken gehüllt, ihre tiefliegenden Augen träumen in die Ferne (die Leute hier sagen: sie hat ›ein allwissendes Geschau‹, d.i. oculos omnisapientes). Sie nickt von Zeit zu Zeit langsam mit dem blassen Haupt, aber sie scheint niemand von all denen zu sehen, die sie ehrfurchtsvoll begrüßen. Bei ihrem Anblick füllen sich die Augen unserer Landbewohnerinnen mit Tränen. – Neben ihr aber sitzt ihr Sohn, der junge Herr von Frangart, und sieht kalt und gleichmütig über alle hinweg. Er ist seiner Mutter aus dem Gesicht geschnitten, nur daß seine kindlichen Züge schon hart sind, ganz wie gemeißelt, wie auf unsern ältesten Denkmälern und Bildern. Seine schwarzen Haare sind leicht gelockt, die seiner Mutter leicht ergraut.

In der Frangarter Kirche beten die Bauern freiwillig nach jeder Messe ein Paternoster für die Gesundheit der edlen Frau im Schloß.

Ich kann gar nicht aussprechen, wie wir alle hier die beiden lieben; die Mutter ist wahrlich wie ein Hauch und Schatten aus der andern Welt, der Sohn aber, in seiner zierlichen Schlankheit, ein geborener Herr.«

So schreibt unser Mitbruder in Bozen. Wenn Dich, hochwürdiger Bruder in Christo, schon manches in diesen Nachrichten betrüben wird, besonders das über die Gesundheit der verehrten Frau Gesagte, – wie wird es vollends Dein Herz zerreißen, wenn ich, nur durch Deinen dringenden Wunsch bewogen, Dir die Wahrheit über den Vater und Gemahl eröffne. Oh, über die harte Aufgabe, die Du mir gestellt hast!

In der ersten Zeit seiner Ehe soll der Baron Frangart, der noch immer in Wien Dienst macht, mit allen Zeichen eines schwerbekümmerten Menschen herumgegangen sein. Das hat sich auch nach der Geburt seines Sohnes nicht sogleich geändert. Aber als Mutter und Sohn nach dem Süden übersiedelt waren, stürzte sich der Vater in den Strudel der Welt. Wieviele leichtsinnige Dinge werden nicht von ihm erzählt! Wieviele Frauen hat er verführt, ohne auf göttliche und menschliche Gesetze zu achten! Gilt er doch als einer der schönsten Männer der großen Gesellschaft; bei diesen Abenteuern magert er jedes Jahr mehr und mehr ab, indes erhöht dies nur die Eleganz und Geschmeidigkeit seiner Haltung. »Oh diese Taille, oh diese Taille!« kann man die verrückten Damen hier flöten hören. Seine Augen strahlen die Glut der südlichen Sonne wieder, unter der er geboren ist. (In seiner Heimat gibt es viele schöne Leute; der Rotwein macht sie schlank; die Sonne bräunt ihre stolzen Gesichter; ihre Augen sind dunkel und gefährlich. Verzeih diese Einschaltung, hochwürdiger Bruder in Christo! – spricht doch jeder gern von seinen Landsleuten!)

Der Baron Frangart lebt durchaus wie ein Junggeselle. – Alle verderblichen Eigenschaften seiner Vorfahren scheinen sich in ihm gleichsam gesammelt zu haben und, nunmehr losgelassen, ihr Spiel zu treiben. Nur ein einziges Mal, sagt man, hat er Frau und Sohn besucht und soll ärger zurückgekommen sein, als er hingefahren war.

Ein Verwandter seiner Frau, Marquis Choiseul, ist vor drei Jahren nach Wien gekommen, um ihn zur Rede zu stellen. Der Marquis bereut wohl, daß er die beiden zusammengeführt hat. Bei Sr. Majestät, unserm Kaiser, hat er sich eine Audienz erbeten. Sie wurde ihm gewährt. »Kaiserliche Majestät,« soll er gesagt haben, »mir scheint, der Baron Frangart, Gemahl der früheren Komtesse Riom, täte gut, die Armee zu verlassen und zu seiner Familie heimzukehren. Eure Majestät würden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie ihm das sagten.« Es wird berichtet, daß Seine Majestät sehr gnädig zu dem alten Herrn gewesen sei, aber ihm seinen Wunsch, weil Baron Frangart eben doch ein sehr zukunftsreicher Offizier ist, hat abschlagen müssen. Es läuft überdies eine kuriose Anekdote um: Seine Majestät fragte den Marquis Choiseul, ob er in Frankreich irgendein öffentliches Amt bekleide. » Votre Majesté Imperiale,« antwortete der Marquis, » nous autres les Choiseuls, nous n'avons point accepté de charge publique depuis 1798. Après la revolution, cela n'aurait pas été digne de nous ni de nos traditions.« »Ah!« sagte Seine Majestät lächelnd, » voyez, cher marquis, vous êtes donc de beaucoup plus nobles que moi, qui exerce-là le métier d'empereur!« – » Loin de moi cette pensée, mais votre Majesté Impériale l'exerce par grâce de Dieu et non pas en France.« Man hat den alten stolzen Herrn sehr respektiert. –

Bevor er von hier abreiste, enterbte er den Baron Frangart, der viel Geld verbraucht hat, zugunsten seiner Frau und seines Sohnes.

Eine Dame der hiesigen Gesellschaft, die den Baron Frangart auf eine verrückte Weise, und so liebte, daß man sich öffentlich darüber moquierte, soll ihm tags darauf zwanzig Tausendkronenscheine ins Haus geschickt haben. Sie hatte einen Zettel beigelegt: »Wenn nötig – Fortsetzung folgt.« Als die lächerliche Dame den Nachmittag dieses Tages an seinem Haus vorüberfuhr, stand er schon am Fenster, zerriß, ohne einen Blick auf den Wagen zu werfen, die zwanzig Scheine in kleinste Stücke und ließ sie hinunterflattern. »Wenn nötig – Fortsetzung folgt!« schrie er dabei wiederholt. Die Dame mußte Wien verlassen, um dem Gespött zu entgehen, das sich allseitig laut erhob. Aber sie ist leider nicht die einzige, die seinetwegen Ehre und Achtung in der Gesellschaft verloren hat. – Seine religiösen Pflichten erfüllt der Baron Frangart regelmäßig. Auch soll er an manchen Tagen in bitterster Melancholie und Einsamkeit das Zimmer hüten. Aber nachher beginnt er das unsinnige Leben von vorn, und ohne daß auch nur eine Spur von Wandel der Gesinnung ersichtlich würde. Gott behüte ihn vor einem unchristlichen Ende!

Dies, hochwürdiger Bruder in Christo, ist die bedauerliche Wahrheit über den Baron Frangart. Wenn er Dein Freund ist, wie es nach Deinem Briefe scheint, so bete unablässig für ihn! Wenn er es nicht ist, bete trotzdem!

Ach, hochwürdiger Bruder, manchmal denke ich mir, wieviel ruhiger und angenehmer mein Leben verflösse, wenn ich es irgendwo auf dem Lande und nicht hier, in einer Pfarrei, zu der fast ausschließlich die Menschen der großen Gesellschaft gehören, zubrächte. Wieviel weniger Dinge erführe ich dann, die mein und nunmehr auch Dein Herz mit Sorge erfüllen!

Aber wir müssen dort ausharren, wohin wir gestellt sind. So liegt es im Sinne der Vorsehung, Welcher Dich hiermit empfiehlt

Dein Dich liebender Bruder in Christo Canisius S.J.


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