Moritz Heimann
Dr. Wislizenus
Moritz Heimann

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10

Eines späten Nachmittags, als er, menschlicher gefaßt als sonst in den letzten Wochen, vom Stall in den Hof und wieder zurück, immer sechzehn Schritte tat, klinkte es an der Hoftür. Herein kam ein Weib in einem blau und rot gewürfelten, mit Schmutz bedeckten Umhang und mit einem formlosen Kapotthut auf dem Kopf, die Landstreicherin aus dem Wirtshaus. Ihre Augen schielten unter den zusammengewachsenen Brauen zu Wislizenus hin, er unterbrach seinen Gang nicht, und sie wagte sich weiter auf den Hof. Er ging ins Haus hinein und verließ es nicht vor dem nächsten Morgen. Da war sie weg, aber Wislizenus fand in dem Stall, den er längst nicht mehr verschloß, Anzeichen, daß sie darin übernächtigt hatte. Am Abend kam sie wieder.

Es dauerte nicht lange, und sie hielt sich über den Morgen hinaus auf dem Hof; nicht lange, und sie stand neben ihm in der Küche, als er eben aus der Pfanne mit dein Löffel zu essen begann. Sogleich holte er sich einen Teller, füllte von dem Inhalt der Pfanne die Hälfte darauf und ging mit dem Essen in sein Zimmer.

Sie blieb, sie wuchs ungeheuerlich in das Haus hinein, er kochte für sie. Und in einer Nacht fühlte er, daß sie im Hause schlief. Es war ihm unmöglich, sich vorzustellen, in welche Ecke sie sich hingelagert hätte; aber er fühlte, daß sie im Hause schliefe. Ihr Gesicht sah ihn mit einer entsetzlichen Verführung aus dem Dunkel an.

Am Morgen nach dieser Nacht wusch er sich zum erstenmal wieder mit Energie und nahm sowohl den ersten Schauder als auch die Erfrischung des kalten Wassers begierig an. Er ging hinunter, und der Eindringling war verschwunden. Wislizenus tat seine häuslichen Verrichtungen umständlicher und sorgfältiger als sonst, aß früher als sonst, und dieses Mal ungestört, zu Mittag und setzte sich darnach an seinen Arbeitstisch; las mit Anstrengung und Stolz, bis es dunkel wurde. Dann zündete er die Lampe an und las weiter.

Aber in der Nacht wußte er wiederum, daß der Gast im Hause war – sie lag auf dem Diwan im Arbeitszimmer, nirgend anders, roh, mit gelockerten Kleidern, sicherlich wach, ja mit offenen, horchenden, triumphierenden Augen. Sie wartete – indem er es wußte, ohne es zu wissen, war er in den Wirbel des Blutes gezogen, aus dem keine andere Macht als die des Zufalls rettet, und nicht mehr gegen den Aberwitz seiner Vorstellung, nur gegen ihren Sieg suchte er sich zu wehren. Er knirschte Schimpfwörter zwischen den Zähnen hervor, aber er hörte sie nirgends in seiner Seele, sie kamen nur aus der Gewohnheit der Sprache. Er rief die Frauen, eine nach der andern, die er geliebt und besessen hatte, in seine Phantasie, da ekelte ihn vor ihrer Gewaschenheit, vor ihrer Schönheit, vor den treuherzigen, täuschenden Augen. Es schien ihm: je blanker der Leib, je engelhafter das Angesicht, um so schauerlicher der Liebesvorgang, um so mehr Unzucht. Wahrheit ist nur im Tier, und zum Tiere macht den Menschen nur der Schmutz. Er hob sich auf, tappte hinunter und fand, wo er suchte, eine Schlafende.

Um die fünfte Stunde des nächsten Tages, wieder lesend und dieses Mal durch den abgestumpften Sinn vor Zerstreuung bewahrt, hörte er den Eindringling die Haustür öffnen. Er begann zu zittern, die Buchstaben der aufgeschlagenen Seiten gefroren zu einem formlosen Gallert.

Die Landstreicherin kam schwer, leise und klotzend herein, und das Unerhörte geschah, sie setzte sich zu ihm, gegenüber, an den Tisch. Sie lächelte zweideutig; und er starrte verzweifelt in ihre schielenden Augen. Immer mehr zu ihm hingezwungen, wie es schien beugte sie sich über den Tisch vor, griff in ihre Brust und holte ein kleines Päckchen Papiere heraus. Es waren ihre und des abhanden gekommenen Landstreichers Polizeipapiere.

Wislizenus stand langsam und zitternd auf, er wollte sprechen, und zutiefst in seiner Seele sammelte sich noch einmal das Wort der Gesundheit und Kraft, nüchtern und übermächtig genug, das freche Weibsbild zu vertreiben. Aber je näher er das Wort zur Kehle bekam, um so sinnloser wurde es, er öffnete den Mund und stöhnte.

Die Frau spießte den Zeigefinger auf die Polizeipapiere und schob sie triumphierend auf dem Tisch ihm zu.

Das Wort erlosch vollends in seiner Seele, er ließ die Schultern sinken, und mit dem schweren Schritt, den man wohl annimmt, wenn man im plumpen Scherz einen überraschen will, ging er hinaus; das Weib neben ihm, an ihrer Brust, wohin sie die Polizeipapiere gesteckt hatte, wild und hastig knöpfend.

Auf dem Hof kehrte er noch einmal um, nach dem Hausflur zurück, dort stand in der Ecke, wohin er ihn gestellt, der Wacholderstock des toten Landstreichers. Niemandem, auch der Dirne nicht, war er aufgefallen. Wislizenus faßte ihn und wanderte hinaus. Als er, ohne Überrock, wie er war, fröstelnd sichtlich zusammenschauderte, drängte sich die Dirne an ihn und nahm auch seine Schultern unter ihren Umhang, und sie zogen in den Wald hinein. Aus dem Hause leuchtete die Lampe golden in die Nacht nach ihnen aus und erlosch in immer trüberem Schwelen kurz vor dem Anbruch des Tages.


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