Moritz Heimann
Dr. Wislizenus
Moritz Heimann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8

Auf dem Wege fiel ihn eine Pein an, deren er nicht Herr wurde. Seine Tat, die er als ein vollkommenes Nichts vor sich und dem Weltlauf durchsetzen wollte, wuchs ihm vor Augen mit der Schnelligkeit, wie etwa ein mörderischer Wucherpilz in einer kinematographischen Darstellung. Schon nahm das bloß Kriminalistische unbequeme Dimensionen an, noch war ja der Tote nicht gründlich vor nachforschenden Augen verborgen und eigentlich kaum etwas geschehen, die Spuren des Ereignisses zu verwischen. Gestern abend, als er sich die Arbeit auf zwei Nächte verteilte, hatte er geglaubt, ein Tag sei eine geringe Spanne Zeit; jetzt aber schien ihm der halbe Tag, sowohl der hinter ihm lag, als der noch vor ihm lag, in aufdringlicher Weise die Länge seiner Stunden vorzudehnen. Prüfte er die ganze Lage, so mußte er sich gestehen, daß es nur einer winzigen Änderung seiner Willenskraft bedurfte, und sie war in einem Augenblick noch vollkommen ungefährlich, im nächsten fast schon verzweifelt. Über diese kleine Änderung war er nicht mehr Herr. Gestern hatte er die Tötung eines Menschen mit einem Blick wie aus zehntausend Meter auf die Erde angesehen, heute fühlte er sich versponnen und gegen allen seinen Stolz in das Getriebe niedergezwängt.

Dennoch erreichte er es immer wieder, seine Kaltblütigkeit zurückzugewinnen und sich klarzumachen, wie unwahrscheinlich es wäre, daß im bürgerlichen Sinne ihm irgend etwas Verhängnisvolles passieren könnte. Schließlich war Wohlgethan der einzige, der zu fürchten gewesen wäre, und, dessen war er sicher, der würde den Mund nicht eher auftun, als bis ihn einmal das dichterische Gewissen jückte. Der würde nicht eher ihm, dem Freund Wislizenus, den Strich unter die Rechnung setzen, als bis er es mit der nötigen biographischen Emphase tun könnte, oder wenn es ihm sonst bequem wäre, ihm sonst zu einer Attitüde verhülfe. Hat jemals ein Dichter eine ehrliche Empfindung gehabt, und wenn er sie hatte, ist er ihr reinen und einfachen Sinnes gefolgt?

Wislizenus fühlte böser und milder als in der vergangenen Nacht den unbändigsten Haß, nicht nur gegen Wohlgethan, sondern gegen die Dichter und ihre Werke überhaupt in sich aufzucken; einen so übermächtigen, daß er die körperliche Erregung der Wollust an sich erlitt; zugleich den Haß der Ohnmacht, aller Welt die Wahrheit über die Nichtigkeit, Eitelkeit und Lügenhaftigkeit der Dichter beweisen zu können. In einem gemalten seelenvollen Auge steckt mehr Seele, als in allen aufdringlichen Dichtungen zusammengenommen – und welch ein Betrug ist noch dieses gemalte Auge! Wislizenus ging Schritt auf Schritt in diesem Gedankengang weiter, der ihm wieder alle Erscheinungen vernichtete, indem er alle wirklich nahm. Und damit gewann er auch wieder ein Mittel, seine Tat in eine Bagatelle zu verwandeln, nur daß es nicht mehr mit Stolz, sondern mit Bitterkeit und Verzweiflung geschah.

Aber hierbei fiel ihm unversehens ein, daß die Landstreicherin in den Augen ihres Gefährten den Selbstmord gesehen hatte; und so abergläubisch wie die Verbindung auch anmutete, seine Tat, sinnlos für ihn selbst, bekam für das Schicksal des Vagabunden eine mehr als zufällige, eine geheimnisvoll vorbestimmte Bedeutung. Wo er am freiesten gewesen zu sein glaubte, bei einer ungeheuerlichen Handlung fast ohne Motiv, da also wäre er das unfreieste Ding gewesen, ein Werkzeug in der Hand eines Dämons, ein Ziegel, den der Sturm vom Dach auf einen Menschenkopf schmettert. Und wie sehr er sich auch dagegen sträubte, die nicht bezweifelte Notwendigkeit des Weltganzen schon in einem einzigen Teile abgeschlossen offenbar zu sehen, und so sehr er dieses als Aberglaube und Schwachsinn verwarf, er hatte fortan keine Geistesmacht mehr dagegen.

Zu Hause angekommen, wurde er von dem schweigsam beredten Einverständnis seiner Wohnung wieder zur Ordnung gebracht. Er kleidete sich um, legte eine derbe, blauleinene Arbeitshose und eine gleichfalls leinene, weiße Jacke an und machte sich daran, seinen Garten umzugraben. Der Stall lag mit dem Giebel, in welchem die Tür war, nach dem Hof zu, mit der Front zum Garten hin. Hier war in einer Ecke ein Komposthaufen angelegt, und in dessen Nähe begann Wislizenus ein Grab auszuheben. Abwechselnd schaufelte er an der Grube und warf in dem von draußen sichtbaren Teil des Gartens seine regelrechten Spatenstiche um; so hatte er sich in der vergangenen Nacht seine Arbeit eingeteilt. Da er die verrotteten Blätter des Komposthaufens als Dung in den Garten eingrub, war das Hin- und Wiedergehen, falls ihn jemand beobachtet hätte, begründet. Aber es kam, wie gewöhnlich, den ganzen Nachmittag über niemand dort hinaus, die Arbeit selbst machte ihn tüchtiger und enthob ihn jeder Angst, und als es zu dunkeln anfing, ließ er den Garten im Stich und vollendete, wiewohl zitternd von der großen Anstrengung und unter strömendem Schweiß, das Grab in kurzer Zeit; die Wurzeln eines Apfelbaums, die die Stätte des Grabes durchzogen, machten ihm, da der Spaten nicht scharf genug war, besonders zu schaffen.

Was ihm aber jetzt noch bevorstand, das erfüllte ihn zugleich mit Schauder und mit einer tiefen Verlockung. Er ließ die volle Nacht herankommen, ehe er sich in den Holzstall begab. Seine entzündete elektrische Taschenlampe legte er auf den Hauklotz, räumte die Kisten beiseite und hatte nun, wovor ihm gebangt und wonach er verlangt hatte, den Toten vor Augen. Er bezwang sich und sah hin. Was er sah, schien ihm infolge des schwachen und magisch bläulichen Lichtes weniger schreckhaft, als es in Wirklichkeit war. Das Gesicht des Toten hatte nicht die erdige Vergeistigung, die sonst über einem toten Gesicht liegt, sondern es schimmerte in einer unwirklichen Transparenz aus dem schwarzwuchernden Bart hervor. Nur die Augen, die Augen standen offen. Und Wislizenus deckte sein weißes Tuch über das Gesicht. Dann machte er sich daran, wie gestern rückwärtsschreitend, den Toten hinauszutragen, und die Schwäche, die ihn dabei überfiel, war fürchterlich. Er konnte sie nur überwinden, indem er den Körper des Mannes immer fester gegen sich drückte, der Gedanke übermannte ihn: nur die Liebe kann eine solche Last tragen.

Es gelang ihm, den Toten in sein Grab zu betten. Es war neblig wie gestern, und über dem Nebel funkelten die Sterne fast schon winterlich. So schwach das Licht davon auch war, genügte es ihm doch, das Grab zuzuschaufeln, die Spuren durch Würfe von dem Komposthaufen zu bedecken. Dann versorgte er sein Haus und sein Gerät, kam in sein Zimmer und setzte sich an seinen Tisch. Er fing zu zittern an, warf den Kopf im Stuhl zurück und gab sich, von den ersten spärlichen Tränen fast verbrannt, der erlösenden Verzweiflung hin.

Aber die Nacht brachte er nicht eigentlich in Verzweiflung zu Ende, sondern sein Gefühl glich am ehesten der Trauer, einer breiten, nicht ganz von Selbstgenuß freien, musikalischen Trauer. Er versuchte sich über das ganze Bett hinzudehnen, und ob er auf dem Rücken oder auf der Brust lag, immer hielt er die Arme weit ausgebreitet. Dabei wich das Bewußtsein nicht von ihm, daß die gegenüberliegende Kammer, daß das ganze Haus leer war, er selbst Alleinherrscher in seinem mächtigen Bereich. Nur die kurzen Schlummerunterbrechungen seiner hingebungsvollen, bitteren Bereitschaft endeten immer mit derselben quälenden, unbeschreiblich erschlaffenden Nüchternheit. Und wie er in der vergangenen Nacht das Bild des Mannes mit den Buchenscheiten nicht hatte abwehren können, so in dieser nicht die Vision eines Grabes in seinem Garten, eines regelrecht aufgeworfenen Grabhügels, dessen Decke und Böschungen mit noch erkennbaren flachen Spatenschlägen geglättet waren und das mit Kränzen und besonders mit einer Anzahl trivialer Palmenwedel gehörig prangte und trauerte.

Früh war er auf den Beinen, und als das Mädchen mit Brot und Milch vom Dorfe kam, hatte er sich längst im Garten warm und frisch gearbeitet. Er hatte es sich abgerungen, über die Stelle des Grabes hin und her zu gehen; und als sie ihn zum Frühstück rief, stieß er den Spaten in den Boden, holte sich vor ihren Augen eine Harke und reinigte die ganze Ecke des Gartens von den herumliegenden Klumpen der verwesenden Blätter und anderer Bestandteile des Komposthaufens. Er erklärte ihr, daß er die Beete für Gemüse und Blumen zugunsten eines Standes von Nadelbäumen, die er im nächsten Frühjahr setzen wolle, unwirtschaftlich genug, beschränken werde, und folgte ihr dann ins Haus. Als er auf seinem Tische die derben, spröden Äpfel in ihrem braunen Korbe vorfand, ging ihm für einen Augenblick die Sicherheit aus, er fühlte es in seiner Kehle würgen, und es war ihm, als ob er in seinem ganzen Leben keinen Apfel mehr essen würde.

Das indessen war vorläufig seine letzte Prüfung. Denn nun dehnte sich der Tag, dehnten sich die Tage ins Leere vor ihm aus. Die Ungeduld, die ihn erfaßte, war die der Langeweile. Er las und schrieb ohne Ausdauer, unterbrach jede Tätigkeit durch eine andere und war ohnmächtig, sich das geringste Ereignis auszumalen, das seinen Zustand hätte durchbrechen können.


 << zurück weiter >>