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So ging die Woche zu Ende und dann der Sonntag, von dessen Ruhe und Waffenstillstand unmerkliche Spuren selbst bis zu ihm drangen. Am Montagmorgen fiel ihm, er wußte nicht was, im Betragen seiner jungen Magd auf; mittags kam überraschenderweise ihr Vater zu ihm heraus. Es war ein kleiner und behender, sonst nicht auf den Mund gefallener, dreister Mann, der aber dieses Mal vor Wislizenus erst die Mütze drehte und verlegene Redensarten machte, ehe er seine Sache vortrug. Und kurz und gut, er kündigte dem Herrn Doktor den Dienst seiner Tochter auf, ja sogar: obwohl Herr Doktor zweifelsohne nie anders als sorglich und freundlich gegen das junge Ding gewesen wären, müsse er als verantwortlicher Vater doch bitten, das Kind schon heute aus der Stellung zu lassen und am besten gleich mitzugeben.
Wislizenus, der über das unerwartete Verlangen sehr betreten war, fühlte sich auch nicht beruhigt, als er die Gründe des Mannes erfuhr. Jene Landstreicherin, die er im Wirtshaus gesehen hatte, war, trotz alles Lamentierens, von dem Wirt davongejagt worden. Allgemein war man der Ansicht, daß ihr Gefährte sich keineswegs ein Leid angetan, sondern wahrscheinlich, wie sie beide gewollt hatten, sich nach Berlin aufgemacht hätte. Sie schien es zu glauben, ließ sich vom Wirt die Papiere aushändigen und zog davon. Bald aber stellte sich heraus, daß sie die Gegend nicht verlassen hatte. Sie war hier und da gesehen worden, niemand wußte, wovon sie sich nährte, vielleicht ging sie über Tags in benachbarte Dörfer betteln; so viel war sicher, daß sie sich immer wieder in der Umgebung einfand, daß sie in Torfhütten oder Heumieten oder wohl auch im Freien irgendwo übernächtigte. Und nun hatte es sich herausgestellt, daß Lüdriane von Knechten, zugezogenes Volk, das bei der Leutenot aufgenommen würde – nicht einen Schuß Pulver wert – hinter dem Frauenzimmer her wären. An den Abenden gingen sie truppweise auf ihren widerwärtigen Raub aus, die Wirtshaustüren klappten in einem fort, das Gejohle dauerte bis in die Nacht, und wenn sie zurückkämen, ließen sie keine anständige Frau, die ihnen begegne, ohne Unflätigkeit und handgreifliche Beleidigungen vorbei. Unter diesen Umständen sei es unmöglich, daß ein junges Mädchen, nun gar abends, sich getrauen dürfe, den weiten Weg hier von Herrn Doktor bis ins Dorf zu machen.
Das Mädchen hätte ja im Hause schlafen können, wie jede Magd; aber Wislizenus erinnerte sich, daß schon beim Mieten die Eltern das nicht hatten zugestehen wollen. Jetzt noch einmal den Vorschlag zu machen, wehrte ihm eine zornige Mutlosigkeit.
»Herr Doktor werden ja ohne Schwierigkeit etwas Passendes finden«, meinte der Mann. »Das braucht Ihre Sorge nicht zu sein«, erwiderte Wislizenus schroff. Er machte der Unterredung ein Ende, indem er das Zimmer verließ. Als er auf dem Hofe erregt hin und her ging, sah er Vater und Tochter zur Tür heraustreten, achtete aber ihrer Verlegenheit nicht, sondern ließ sie ohne Abschied ziehen.
Er war zornig, als ob er einer Undankbarkeit begegnet wäre. Sich sogleich einen Ersatz aus dem Dorfe zu holen, schien ihm dafür die rechte Strafe und Genugtuung; aber wiewohl er sich beim Auf- und Abgehen, heftig gestikulierend, diesen Beschluß einredete, wußte er, daß er ihn nicht ausführen würde. Er wußte, daß er irgendwo in seiner Seele einen unerwarteten, lähmenden Schlag empfangen hatte. Waren die Miene und Haltung des Mannes nicht drohend gewesen? War nicht eine versteckte, verstockte Feindseligkeit in der Entschiedenheit gewesen, mit der er seine Bitte vortrug? Wäre nicht die Heiterkeit in Wislizenus für immer zerstört gewesen, so hätte er keinen Sinn in der Drohung und Feindseligkeit gesucht – kleine Leute, die kündigen, nehmen leicht eine solche Miene an, wie der Vater des Dienstmädchens ihm gezeigt hatte. Aber Wislizenus mußte deuten und Zeichen sehen.
Er ging hinaus und prüfte die Zimmer und Kammern, öffnete Schränke, zog Schübe heraus, es war alles in Ordnung. In der Küche fand er in einer Schüssel Kartoffeln geschält, geschnitten und gewaschen, auf einem Teller Fleischstücke in Bröseln, eine Konservenbüchse mit Reineclauden geöffnet. Indem er das Geschäft, ein neues Mädchen zu dingen, aufzuschieben glaubte, beschloß er für heute, sich das Mittagessen selbst zu bereiten. Er zündete Feuer im Herd an, setzte die Kartoffeln im richtigen Topf zum Sieden hin, fand auch das Tischzeug und legte es auf. Dann briet er das Fleisch, es geriet auf der einen Seite zwar etwas schwarz, aber schließlich stellte er sich sein ganzes Mittagsmahl in leidlicher Sauberkeit auf den Tisch. Als er aber essen wollte, waren die Kartoffeln kalt geworden, das Fleisch war zäh, und der Appetit darauf ihm auch sonst durch den Geruch beim Braten verschlagen. Er hielt sich an die süßen Früchte, deren Zucker ihn erfrischte, die ihn aber doch nicht genug sättigten, um ihm seine beginnende Mutlosigkeit vor diesem Geschäft zu nehmen. Dann mußte er abräumen, das Geschirr reinigen, Wasser tragen, und als er sich endlich die Hände gewaschen hatte, war es längst vier Uhr vorbei. Die Zeit hatte ihm schon lange keine Früchte getragen, dennoch schien es ihm, als ob er sie erst jetzt verlöre. Es kam ihm das erstemal im Leben zum Bewußtsein, wieviel Arbeit, Treue und Entsagung dazu gehören, auch den kleinsten Haushalt zu führen, und er traute sich nicht zu, so viel für einen Menschen zu schaffen, wie seine schmale vierzehnjährige Magd für zwei geschaffen und dabei immer noch einen lebendigen Tag gehabt hatte. Als er Licht machte und die Haustür schloß, erinnerte er sich der Befriedigung, mit der er jeden Abend das Mädchen zu entlassen pflegte. Hatte die Hoftür nur erst geklappt, so war das Mädchen in die Nacht, in das Nichts zerstoben. Heute aber klappte die Tür nicht, und gerade heute fühlte er sich nicht allein. Er ersehnte ihren Schritt, das Kratzen eines Besens, das Klirren eines Tellers. Er sah ihre Gestalt vor sich, und indem er sich ruhelos durch die Zimmer trieb, wurde sie ihm, was sich bisher niemals angedeutet hatte, auch als Weib gegenwärtig. Und da geschah es nun, daß er, wie in einem Blitz, die Gefahr erkannte: wenn sie noch hier im Hause diente, so würde er sie, vielleicht heute, vielleicht morgen, irgendwann, aber sicherlich bald, überwältigen, zerstören, töten – und das war es, was ihr Vater gefürchtet und was ihn so drohend gemacht hatte!
So völlig grundlos der Verdacht auch war, so trug er doch das Seine dazu bei, daß Wislizenus nicht die Sicherheit fand, sich für Essen und Trinken und wessen er sonst bedurfte, aus dem Dorfe zu versorgen; gerade daß er es sich gefallen ließ, jeden Morgen einer Semmelfrau, die für ein paar Pfennige den Weg bis zu ihm hinaus nicht scheute, Weißbrot und Milch abzunehmen. Er erinnerte sich, im Laufe des Sommers einmal das Preisverzeichnis eines Berliner Versandgeschäftes bekommen zu haben, und suchte einen halben Tag lang nach dem Papier, fand es auch schließlich. Nun bestellte er sich durch die Post Vorräte und Konserven in einem Umfang, als ob es eine Expedition auszurüsten gälte. Die Sachen kamen, er fühlte sich freier, fühlte sich noch mehr auf einer Insel einsam und geborgen als vorher.
Und von nun an fegte er Haus und Hof, wusch und putzte er Geschirr, und kochte. Unter den Konserven waren Büchsen, die durch einen einfachen Handgriff in kleine Herde zu verwandeln waren, denen ihr Brennmaterial in Gestalt von festem Spiritus, als kleine, widerwärtig weiße Paste, beigegeben war; eine Vorrichtung, die Wislizenus besonders praktisch gedünkt hatte. Aber die auf diese Weise zubereiteten Speisen schmeckten fad und entnervt, und Wislizenus mußte sich wieder in das Hantieren mit Pfanne und Kessel schicken; anfangs tischte er sich die Speisen immer noch sorgfältig, und solange er Wäsche hatte, reinlich auf; aber es dauerte nicht lange, und er gewöhnte sich an den Schmutz. Er aß zuweilen aus der Pfanne, am Herde stehend; es kostete ihn jedesmal einen Entschluß, das Geschirr zu reinigen; war er aber erst dabei, so konnte er sich mit Arbeiten ähnlicher Art nicht genug tun. Stundenlang wühlte er dann in den Dachkammern alte Kisten mit modrigern Papier, Zeitschriften und broschierten Büchern um, bis er den Staub der Heiserkeit in seiner Kehle schmeckte und sich ihrer durch tiefes, knarrendes, sinnloses Sprechen vergewisserte. Oder er fegte den Hof gründlich wie eine Tenne, oder putzte die messingnen Türgriffe des ganzen Hauses.
So hielt er sich sein Anwesen in gutem Stande, er selbst aber verkam. Er rasierte sich nicht mehr die Oberlippe, schnitt sich nicht den Bart und ließ sein ganzes Gesicht von einer Wildnis zuwachsen, die er selbst noch um vieles unheimlicher und melancholischer glaubte, als sie war. Der Herbst blieb klamm und kalt, die Betten wurden feucht, und Wislizenus lernte, plump und geschlagen und jämmerlich zusammenzukriechen, wenn er schlafen wollte, und fröstelnd und müde, vor dem kalten Wasser scheu, in den Morgen zu schleichen.
Ein Brief, den er von Wohlgethan bekam, frischte ihn noch einmal auf. »Zugestanden«, schrieb der Dichter, »lieber Wislizenus, daß ein toter Landstreicher in der Wirklichkeit mehr wiegt als hundert tote Helden im Heldengedicht. Du hast mir eine Lehre gegeben, und es kann sein, daß ich dir dafür dankbar bin, ich weiß es nicht genau, – es kann ja auch sein, daß deine mit so vielem Aplomb an mich gebrachte Lehre nur eine glatte, bürgerliche Trivialität ist. Eine gemalte Rose riecht immer nur nach Öl und Terpentin, und von einem ganzen Snyders mit Wildschweinskopf, Rebhuhn, Fasan und Hummer, nebst Rettigen, Spargeln und blauen Riesentrauben wird kein Philister für einen Groschen satt. Zugestanden, daß eine Platzpatrone oder eine andere Patrone empfindlich laut und aufdringlich knallt. Zugestanden alle Weisheit, Sattheit und Überlegenheit. Soll ich deswegen Ingenieur werden? Etwa Elektrotechniker oder sonst etwas mit mathematischer Rechtfertigung? Ich kann zurzeit freilich, das gestehe ich dir offen, nicht arbeiten, die Verse fließen mir nicht, und wenn ich sie kriechen sehen soll – lieber sehe ich Raupen auf Kohlblättern kriechen. Dir wird das nicht besonders wichtig erscheinen, du bringst einen Landstreicher zu Fall und braust einen Abendtee. Ich aber -« und in ähnlichem Stile ging es sechs ganze groß, flüchtig und ohne Korrektur geschriebene Seiten lang. Es war ein recht pikierter Brief; gut so; der hatte seinen Hieb weg; der hatte ein Stückchen Menschenübermacht am eigenen Leibe erfahren.
Aber am nächsten Morgen empfing Wislizenus einen andern Brief von dem Dichter – aus einer andern Tonart.
»Ich habe dir gestern aus einer üblen Laune geschrieben, du wirst mir das Zeugnis ausstellen, daß das meine Gewohnheit nicht ist, und ich finde es heute selbst unbegreiflich, ich glaube, ich habe dir nicht einmal für den seltsamen, mich wahrhaft revolutionierenden Abend bei dir gedankt. Muß ich es Laune nennen? Es scheint mir treffender, von einer Krisis zu sprechen. Die Bilder stockten, stauten sich an einem Hindernis, schwollen gegeneinander in meiner Seele an, und ich fürchtete, daß sie sich ins Nichts ergießen würden. Da schrieb ich dir meinen Brief in Unmut, aber der Unmut war nur die Maske eines bitteren, sehr bitteren Verzagens. Immer wieder gibt es diese Augenblicke des Unterliegens, und gegen ihren Druck und ihre Schmach hilft doch die hundertfach gemachte Erfahrung nicht, daß sie vorübergehen wie ein Wölkchen, ja, daß in ihnen der neue Durchbruch der Kraft sich anzeigt. Eben dieses letzteren darf ich mich rühmen, gegen dich darf ich es. Mein Werk strömt, und strömt in das richtige Bette. Jetzt erst höre ich auch hinter jedem deiner Lobsprüche den Tadel, ich gebe dir recht und werde dich ins Unrecht setzen. Das Schiefe meiner Konzeption besteht darin, daß ich mit einem erdichteten Geschick eine erdichtete Welt heimsuche, ich werde eine wirkliche Welt heimsuchen. Mein kleines von der Pest geschlagenes Fürstentum wird nicht die Insel bleiben, die es jetzt ist, ich werde mich nicht darin tummeln, wie ein Knabe in einem Park. Dieses Fürstentum und sein Fürst und der Adjutant des Fürsten werden das Jahr 66 gegen Preußen mitmachen. Ich werde Modelle haben. Ich werde Bismarck in mein Gedicht miteinbeziehen. Ich sehe mit einem Schlage so tief in die Dinge, daß ich das Recht habe, zu richten. Ich werde wirklich an Dante rühren, und jetzt, wo ich das weiß, beunruhigt mich die Rivalität mit dem großen Schatten nicht im geringsten.«
Wislizenus las den Brief, der sich immer weiter in eine bald vage, bald mit tatsächlicher Kraft aufblitzende Hoffnung schwang, las und verstand ihn schließlich nicht mehr, so ungeheuer war die Gleichgültigkeit, die, schwer wie ein körperliches Übel, in ihm zu lasten begann. Nicht einmal der Enttäuschung war er noch fähig, daß auch Wohlgethan seiner Macht fortan entzogen war. Aber an diesem Tage kochte er sich kein Essen, sondern suchte mit stumpfem Eigensinn so lange in Küche und Kammer herum, bis er in einer Schublade einen Kanten glashartes Brot entdeckte, das er splitterweise mit den Zähnen abbrach und verzehrte.
Die Welt war inzwischen in den Winter gekommen, in einen trüben, kalt regnerischen Winter, dessen Tag sich nur wie ein müdes, blindes Greisenauge öffnete. Der Sonderling auf dem abgelegenen Hofe führte sein gemiedenes, aber übrigens nicht beargwöhntes Leben immer tiefer in den Schmutz hinein. Abwechselnd versagte er sich die Nahrung, und verfiel einer gierigen Wut, zu essen. Abwechselnd ließ er die Unsauberkeit im ganzen Hause wie einen pelzigen Schimmel wachsen, und fegte und scheuerte unermüdlich wie eine taubstumme Magd.