Moritz Heimann
Dr. Wislizenus
Moritz Heimann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4

Aber der Vorlesende kam nicht weit, ein Gegenstand wurde an die Haustür geworfen, von dem Wislizenus sogleich vermutete, daß er das Geldstück wäre, das er dem Betrunkenen gegeben hatte. Und wirklich donnerte es gleich darauf wieder an die Tür, und ein heulendes Schimpfen hob an. Wohlgethan war tief gekränkt. Wislizenus aber sah ihn an und wurde mit einem Schlage blaß bis in den Bart; ihm schwindelte, wie einem bei vorgestellter Wut schwindelt; er ging an die Kommode, nahm seinen Revolver heraus und steckte ihn in die Tasche. Als er an der Haustür war, den Schlüssel umdrehte, hörte er den Betrunkenen, immer brüllend, zurücktaumeln, er öffnete die Tür und trat hinaus. Der Betrunkene stand fünf Schritte vor ihm auf dem Hof, riesengroß in dem schwachen Licht vom Flur, er lachte wütend und schrie:

»Willst du Hund mir für eine lumpige Mark dein Haus abkaufen? Willst mir dein Licht abkaufen für eine Mark? Willst Bücher lesen?«

Wislizenus nahm den Revolver aus der Tasche und trat auf den Betrunkenen zu. Der schrie ihn mit gesteigerter Wut an: »Für eine Mark tu' ich es nicht wieder.« Wislizenus hob den Revolver und schoß; der Betrunkene fiel mit einem japsenden Laut zusammen.

Einen Augenblick blieb Wislizenus stehen, dann ging er zurück, schloß, wie jedesmal, die Haustür sorgfältig und kam in sein Zimmer. Dieses Mal traf er den Dichter nicht beim Korrigieren, Wislizenus ging hinter ihm zur Kommode und legte den Revolver hinein, dann nahm er wieder seinen Platz ein.

»Was war das«, fragte Wohlgethan entsetzt, »es war mir doch, als ob – ich hörte doch -«

Wislizenus sah ihn prüfend an. »Du kannst jetzt ungestört weiterlesen. Lies weiter, Wohlgethan! er wird dich nicht mehr stören.«

»Was hast du gemacht?« fragte der Dichter.

»Ich habe ihn abgeschossen wie einen Hund, der er war«, lautete die Antwort.

Er ist wahnsinnig, fuhr es Wohlgethan durch den Sinn, und alle seine Glieder lösten sich vor Schreck. Er sah, wie seinem Gegenüber die Schläfen bebten, aber seine Stimme klang beherrscht, als er fortfuhr, ohne daß freilich Wohlgethan unterscheiden konnte, ob der Wahnsinn oder der teuflische Hohn zu ihm spräche:

»Wäre ich an deiner Stelle, oder wären wir beide an der Stelle irgendeines verschollenen Helden, so würden wir uns über diesen Zwischenfall leicht fassen. Sollte das flüchtige Leben einer Fliege« – er zeigte auf eine, die winterträge an dem Manuskripte kroch – »nicht leicht wiegen gegen Verse, die vielleicht die Unsterblichkeit von Jahrzehnten in sich tragen! Gesteh es: auf eine so großartige Weise ist noch keinem Dichter geschmeichelt worden.«

Doch Wohlgethan war nicht imstande, die Sache von dieser Seite zu nehmen. Mit einer fast kindlichen Bangnis rief er aus:

»Aber, Wislizenus, ein Mensch! es ist ja ein Mensch!«

»Ich dachte, es wäre ein Hund«, erwiderte Wislizenus, »ich dachte, es wäre eine Fliege. Hund, Fliege, Mensch, liegt an dem Namen was? Du wirst doch nicht den Aberglauben des Wortes haben! Ich versichere dir, es war ein gänzlich verwahrloster Landstreicher und Chausseefeger. Er war, und jetzt ist er nicht mehr. Schade, ich dachte, daß dir damit etwas Gutes geschehe, – aber wem ist denn was Übles geschehen? Niemandem. Ich versichere dir wiederum, es hat ihn keine Qual gekostet. Der Schmerz ist ein Übel, der Tod nicht. Er war, und jetzt ist er nicht mehr, basta. Lies weiter.«

Wohlgethan zitterte vor Furcht: »Lesen?«

Wislizenus sagte: »Er war einer von den wilden Landstreichern, vielleicht schon über die Fünfzig, der sich nach seiner ersten Zuchthausstrafe, wenig über zwanzig Jahre alt, von der menschlichen Gesellschaft abgelöst hat. Seinem Aussehen nach würde ich ihn für einen Litauer halten. Niemandem ist Übles mit seinem Tode geschehen, es sei denn, du glaubtest, ihm selbst. Glaubst du das?«

»Ich kann nicht philosophieren in diesem Augenblick«, erwiderte Wohlgethan.

»Kannst du es nur, wenn es ein Spaß ist?« höhnte Wislizenus offen heraus; »glaubst du, daß er eine Seele hatte? Nein, du glaubst es nicht, so wenig du es von der Fliege glaubst. Dann ist also nichts weiter geschehen, als daß eine etwas zu groß geratene Fliege geklatscht wurde. Oder bist du ein wenig angesteckt von deinem eigenen Gedicht? und hätte er also doch ein Stück Seele gehabt? Oh, nicht wahr, lieber Freund, dann haben wir -.«

Unwillkürlich warf der Mitschuldige ein: »Wir?«

»Nein, ich«, sagte Wislizenus, »dann habe ich ihm wohlgetan, dem Leibe, den die Seele gewiß gequält hat, und der Seele, die sich verzweifelt in ihrem Gefängnis stieß. Dann hockt sie vielleicht, diese Seele, draußen auf dem Zaun und schaut durch den hölzernen Fensterflügel zu uns herein. Eine Seele kann gewiß durch ein fichtenes Brett sehen.«

Wohlgethan, aufs äußerste gequält, erhob sich zitternd und wollte hinaus.

»Wohin?« fragte Wislizenus.

»Nachsehen, ob nicht zu helfen ist«, sagte Wohlgethan mit Tränen in den Augen.

Aber als er sich zum Gehen wandte, hielt ihn das laute Gelächter seines Freundes zurück. »Nun, Wohlgethan, setz' dich«, sagte er. »Hast du wirklich diesen ganzen Spuk geglaubt? Oh, die Eitelkeit der Dichter ist doch grenzenlos! Es als möglich anzunehmen, daß man einen Menschen tötet, damit ein Dichter ungestört Verse vortrage!«

Zweifelnd, aber von einem beginnenden Jubel bedrängt, sagte Wohlgethan: »Ich habe doch den Schuß gehört!« »Natürlich hast du ihn gehört«, rief Wislizenus, »er hat ja geknallt. Ich habe den Revolver ständig voll Platzpatronen; ohne die getraute ich mich nicht so allein hier zu hausen. Mehr als einen Knall aber hat man wohl in den seltensten Fällen nötig, und für die seltensten Fälle – sorge ich nicht. Ohne ein Gewaltmittel, kannst du sicher sein, wären wir den Kerl nicht losgeworden. Der kommt nicht wieder, ich sah ihn noch gerade durch den Nebel davontorkeln, dem Walde zu, dort mag er seinen Rausch ausschlafen, oder in der Feuchtigkeit verklammen, oder sich an seinem Hosenriemen aufhängen. Würde es dir irgend etwas ausmachen, welcher von den drei Fällen eintritt?«

Wohlgethan sann einen Augenblick nach und antwortete: »Doch. Wenn ich in der Zeitung lese, daß da und da im Walde ein erhängter Trunkenbold aufgefunden wurde, so ist mir das vollkommen gleichgültig. Wenn es aber dieser und jener bestimmte Mensch ist, den ich kenne oder der mir auch nur begegnet wäre – am Schalter eines Bahnhofs, wenn ich ein Billett löse, gleich ist ein Interesse da, und mir wenigstens ist es in solchen Fällen so, als ob mein Verhältnis zu ihm stärker gewesen wäre, als es in Wirklichkeit war.«

»Nun, siehst du«, sagte Wislizenus, »so hätte ich ihn ja schon deshalb nicht töten dürfen, weil er gar nicht so losgelöst in der Welt herumschwamm, wie ich glaubte; hing er doch schon mit einem Fädchen an dir.«

»Und an dir«, versetzte Wohlgethan lebhaft, »und nicht an einem Fädchen, sondern an einem Seil, wenn du ihn getötet hättest. Der Mord ist ja eine Tat in der moralischen Welt auch ohne seine Wirkung, – und das war der Fehler in deiner ganzen Philosophiererei von vorhin. Du wolltest den Mord nur nach seiner Wirkung wägen, das eben ist der Fehler.«

»Sieh da«, sagte Wislizenus, »nun bist du wieder ein Dichter.«

Als aber Wohlgethan nach einem weiteren Gespräch doch wieder zu lesen anhub, mußte er die Bemerkung machen, daß er aus dem Umkreis seiner eigenen Dichtung vertrieben war und sie so von außen fühlte, wie kaum ein fremder Hörer. Eine schreckliche Nüchternheit befing ihn, und seine Verse klangen ihm nüchtern, willkürlich und sinnlos am Ohr vorbei. Dabei konnte er sich nicht enthalten, zuweilen hinauszuhorchen und in den dunklen Fenstern nach einem Paar Augen zu spähen.

Sein Gedicht bewegte sich indessen jetzt lebhafter vorwärts als in den einleitenden Partien. Es zeigte an scharf aufgefaßten Beispielen, wie die wissend gewordenen Seelen der Lüge inne wurden, von der sie während des Lebens umgeben waren. Da war zuerst ein reicher Wohltäter, dicker als die andern bleichen Lichtkugeln, der im Schweben noch wackelte und immer dicker wurde von der Erkenntnis, daß er Heuchelei statt Dank, Neid statt Dank, Fluch, Haß und Todesfeindschaft statt Dank überall geerntet hatte, wo seine Hilfe hingeflossen war; und alles das schmeichelte ihm jetzt mehr, als ihm im Leben Demut und Kriecherei geschmeichelt hatten; so daß er sich aufblähte vor Selbstgefälligkeit und moralischer Überlegenheit hoch über die andern Seelen hinaus; aber im Augenblick des Triumphes spürt er durch all seine Gespenstatome hindurch, daß er auch gelogen hat mit jedem Pfennig und jedem Goldstück, die er in die Hände der Armut gelegt, daß er unterdrückt, verhöhnt, verachtet und verspottet hat, wenn er spendete: er sinkt wie ein geplatzter Kinderballon zu einem Mißhäutchen zusammen, – und da lachten die Seelen auf dem Markte.

So in einem bösen, immer böseren Reigen führte der Dichter seine Typen vor. Aber die saubere Ordnung und Vollständigkeit seiner Gesichte erschien ihm jetzt pedantisch und quälte ihn, so daß er immer abgehackter las und für jeden Vorwand, aufzuhören, dankbar gewesen wäre.

So war er denn wie erlöst, als Wislizenus, gleichsam unwillkürlich und bezwungen, bei einem Absatz ihn unterbrach: »Es ist stark; stark und gut.« Wohlgethan, der verständlicherweise dem Wort nicht glaubte, sah ihn bedenklich an; aber Wislizenus stand auf, und als ob er von der Vortrefflichkeit des Gehörten geradezu bedrängt wäre, ging er durch das Zimmer und sprach mit dem Verständnis, das ihn auszeichnete, und dabei mit gut gesteigerter Hingerissenheit über das Werk.

Sonderbarerweise wurde Wohlgethan davon nur immer mutloser. Es war in den Worten seines zweideutigen Freundes etwas, was das Gedicht als Leistung richtig und dabei weit über das Mittelmaß einschätzte, was ihr aber einen Platz ganz außerhalb der Wahrheit anwies, in der die wirklichen Meisterwerke der Kunst zu Hause sind. Niemals hatte Wohlgethan eine solche Hellhörigkeit für diesen zweideutigen Ton gehabt wie jetzt, und so überwand er sich, und mitten während der Expektoration des andern klappte er sein Manuskript zu und sagte: »Weiter wollte ich dir ohnehin nicht vorlesen.« Wislizenus nahm das mit einer lebhaften Geste an, als verstünde er den Dichter vollkommen. Dann erkundigte er sich nach dem Plan und Fortschritt des Werkes, aber Wohlgethan wich ihm aus und sagte: »Verzeih, daß ich darüber nicht spreche, ich möchte mir jedoch nichts vorwegnehmen; man muß sich eine gewisse Selbstüberraschung sichern. Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir zugehört hast und bisher nicht ganz widerwillig gefolgt bist.«

Wislizenus, den das geschlossene Manuskript befriedigte, bezeigte eine große Wärme und sprach noch einmal zusammenfassend über das Gedicht, in einer Weise, die den Dichter, und schließlich ihn selbst, mit dem Stand der Dinge, nämlich der Lektüre und dem Aufhören der Lektüre, aufs beste versöhnte. »Nun aber«, schloß er, »müssen wir noch etwas miteinander trinken und auch rauchen, und dann heißt es zu Bett, es ist elf Uhr vorbei, da schläft die ganze Welt hier – bis auf das, was wacht, natürlich.«

Er brachte aus einem Schrank im Nebenzimmer Gläser und eine Kiste Havannazigarren, bat den Freund, sich zu bedienen, und holte inzwischen aus einer Kammer neben der Küche den Wein, eine dicke Flasche, deren ehrwürdiger Altersstaub etwas Besonderes versprach und auch hielt. Er goß ein, es war ein schwerer, wie reines, flüssiges Harz leuchtender weißer Burgunderwein von einem alten Jahrgang. Dann setzte er sich wieder an seinen Platz, aber bevor er mit dem Freunde anstieß, legte er ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Diese unendliche Stille! jetzt erst ist sie wieder da, jetzt erst hat sie auch dich vollständig bezwungen und deine widerstrebenden Wellen in sich bezogen.«

Der Dichter horchte ins Zimmer hinein, und auch ihm schien die Stille so ungeheuer, daß er sich im Augenblick kaum vorstellen konnte, das Haus stehe über der Erde, vielmehr schien es tief hineingesunken und überlagert von Schichten der Dunkelheit und des Schweigens.

Sie saßen unter spärlichem Gespräch, rauchten, tranken die Flasche und noch eine zweite leer, ohne daß der Dichter merkte, daß der andere ihm immer zweimal einschenkte, ehe sich einmal. Dann begleitete Wislizenus seinen Gast in das unter dem Dach gelegene, ziemlich kahle, aber saubere Fremdenzimmer, deckte ihm das Bett ab und sagte, er selbst schlafe in dem Zimmer geradeüber, falls Wohlgethan etwas wünsche; er habe, da die Post sehr früh zu ihm herauskomme, nur noch eine Viertelstunde zu schreiben. Dann wünschten sie einander gute Nacht, und Wislizenus ging in sein Zimmer hinunter.


 << zurück weiter >>