Moritz Heimann
Dr. Wislizenus
Moritz Heimann

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7

In der Wirtsstube wurden sie von dem Gastwirt, einem kleinen, fetten und bleichen Menschen, empfangen. »Schönen guten Morgen, meine Herren, bitte näher zu treten. Fuhrwerk steht zur Verfügung, meine Herren, Ihr Mädchen hat alles bestellt, Herr Doktor.« Er komplimentierte sie in das halb private Zimmer für die nobleren Gäste, das neben der großen Wirtsstube lag, und bot ihnen seine kleine Auswahl von Mittagsgerichten an, die aber, wie Wislizenus wußte, von der tüchtigen Hausfrau aufs beste zubereitet wurden. »Das Gescheiteste ist, Herr Moser, Sie schicken uns Ihre Frau«, sagte Wislizenus. »Wird gemacht, Herr Doktor«, antwortete der Wirt und rief hinaus.

Während die Frau, eine zarte, freundliche, saubere Erscheinung, kam und wegen des Essens so lange verhandelte, bis man sich wie gewöhnlich auf Koteletten mit Zubehör geeinigt hatte, hörte Wislizenus den Wirt in der Gaststube schimpfen. »Was sitzen Sie denn da immer in der Ecke? Faul ist die Bande, daß sie nicht die Hand rührt um ein Stück Brot. Wenn Sie nicht bald machen, daß Sie rauskommen, schmeiß ich Sie raus. Scheren Sie sich hin aufs Feld, helfen Sie Rüben putzen, dann können Sie sich ein Fünfgroschenstück verdienen. Nehmen Sie sich bloß in acht, daß meine Geduld nicht zu Ende geht -« und in diesem Stile weiter, wobei Wislizenus mit seinem geübten Ohr bemerkte, daß das alles nicht ganz so böse gemeint war, und daß eher ein gutes Zureden als eine Drohung in den Worten lag. Die Wirtin deckte ein weißes Tuch über den Tisch und sagte dabei: »Das ist eine Herumtreiberin, der ist der Kerl davon gelaufen, und nun sitzt sie den ganzen Vormittag da drin auf der Fensterbank und geht manchmal hinaus, kommt dann wieder, trinkt einen Schnaps nach dem andern und redet kein Wort.«

Die Frau ging ab und zu, legte die Gedecke auf, und als sie sich zur Küche wandte, fragte Wohlgethan: »Was für ein Kerl?« Die Wirtin verstand die Frage erst nach einem Blick mit offenem Mund, und gab Auskunft: »Ihr Kerl, mit dem sie getippelt ist.«

Wohlgethan wurde, ohne es zu merken, blaß und sagte zu Wislizenus mit einem Lächeln: »Das ist vielleicht unser Besuch von gestern gewesen.«

»Sehr wohl möglich«, antwortete Wislizenus, »sogar wahrscheinlich.«

Die Frau ging in die Küche hinaus. Wohlgethan stand auf und trat an die Glastür, die zur Gaststube führte. Nahe bei der Tür, durch die sie gekommen waren, sah er das Frauenzimmer hinter einem braun gestrichenen Tisch sitzen, ein Schnapsglas vor sich. Sie hatte einen blau und rot gewürfelten Umhang um die Schultern, einen verbeulten Kapotthut auf dem Kopf. Ihr Gesicht war rot und geschwollen, von Wetter, Trunk und Lastern, doch sichtlich auch von Tränen. Sie wischte sich noch jetzt zuweilen mit dem Zeigefinger die Augenwinkel aus. Ihr Alter war unbestimmbar, sie konnte ebensoweit in den Dreißigen wie in den Vierzigen sein. Dabei lag in dem versteckten, trotzigen Schmerz, mit dem sie dasaß, etwas, das über ihrer Verkommenheit einen Hauch von besserem Wesen bildete.

Wohlgethan hatte das alles mit einem Blick übersehen und kam in Verstimmung an den Tisch zurück. Auf eine Bemerkung von ihm begann Wislizenus, ihm allerlei von diesen Straßenläufern zu erzählen, die er oft im Wirtshaus beobachte, und sprach um so beflissener und ruhiger weiter, als er Wohlgethans zerstreute Verstimmung wachsen fühlte.

Zu ihrer beider Erleichterung kam das Essen, und als sie eben fertig gespeist hatten, knallte auch schon der Kutscher mit der Peitsche vor der Tür. Es gab einen hastigen Aufbruch, Wislizenus begleitete Wohlgethan zum Wagen, während der Wirt und die Wirtin, unter Bezeugung ihrer Höflichkeit, in der Haustür stehenblieben. Als nach dem teils forcierten, teils doch herzlichen Abschied Wohlgethan davongefahren war, trat Wislizenus in das Wirtshaus zurück und bat um Kaffee. Die Wirtin ging an ihre Arbeit, Wislizenus streifte die Landstreicherin mit einem prüfenden Blick, gewahrte dann, daß ihre Augen unter zusammengewachsenen Brauen schielten, was sie weniger entstellte, als ihr einen phantastischen, wilden Ausdruck verlieh.

Als sich Wislizenus wieder in dem hinteren Zimmer an den Tisch setzte, wo inzwischen die Spuren des Mittagessens abgeräumt waren, folgte ihm der Wirt und begann in vertraulicher und zynischer Weise zu schwatzen. »Meinen Sie wohl, daß ich die wegkriege, Herr Doktor?«

Wislizenus tat, als ob er nur aus Höflichkeit fragte: »Was hat es denn für eine Bewandtnis mit dem Frauenzimmer?«

»Nun lassen Sie sich erzählen«, sagte der Wirt. »Sie kam gestern nachmittag so gegen vier, kann auch halb fünf gewesen sein, es dunkelte schon, mit einem Kerl hier an: ob sie über Nacht bleiben könnten. Haben Sie Schlafgeld und Papiere? frage ich; das war alles in Ordnung – ich muß von Polizei wegen die Frage stellen, woher so ein Plunder die Papiere hat, geht mich nichts an. Ich kann auch gerade Arbeiter brauchen, ich habe noch Rüben draußen, und meinen Knecht brauche ich zum Pflügen, und also, schön, sagte ich ihnen allen beiden, daß sie ein paar Tage Arbeit haben könnten.«

Wislizenus unterbrach den Wirt: »Ich könnte wohl auch meinen Garten anfangen umzugraben.«

»Schönes, fruchtbares Wetter, versteht sich«, sagte der Wirt. »ja, also die beiden setzten sich, genau da an den Tisch, wo das Frauenzimmer jetzt sitzt; was der Kerl war, war ein statiöser Mensch, einen Kopf größer als ich, sie redeten nicht viel miteinander, mit einemmal war meine Karline verschwunden. Der Kerl denkt offenbar, sie ist schon in den Stall zum Schlafen, und geht nach. Wie er die Stalltür aufmacht und die Laterne hebt, hat er seine Bescherung. Da liegt sie mit dem Hausknecht im Heu. Und nun, denken Sie, der Kerl, der das doch gewohnt sein muß, kriegt einen Rappel, schlägt die Stalltür zu, ohne ein Wort zu sagen, und geht davon. Das Weibstück kam nachher wieder in die Stube und wartete bis in die halbe Nacht, aber wer nicht kam, war der Kerl. Ja, nun kriege ich sie nicht weg. Sie will warten, bis ihr Andreas wiederkommt.«

Indem trat die Wirtin mit dem Kaffee ins Zimmer, der Wirt unterbrach sich, machte sich zu schaffen, und Wislizenus geriet darüber, und als er den bleichen, aufgeschwemmten Menschen mit der zarten, sauberen Frau verglich, auf den Verdacht, daß nicht der Hausknecht, sondern der Wirt selbst in seiner offenbar verwilderten und wahllosen Sinnlichkeit den Weg ins Heu gefunden hatte.

Die Wirtin trat in die zur Gaststube führende Tür, kreuzte die Arme über dem Leib und betrachtete eine Weile die Landstreicherin. Eine Regung von weiblichem Mitleid mochte über sie gekommen sein, und sie sagte: »Der Herr hier weiß etwas von Ihrem Mann, er hat ihn gestern abend noch gesehen.«

Auf das hin polterte die Frau aus ihrer Ecke hervor und streckte ihren grotesken, mit dem Hut bedeckten Kopf zu Wislizenus ins Zimmer. Der sah flüchtig auf und warf hin: »Er sprach um eine Gabe an, machte Krach und ging dann weiter, nicht zum Dorf zurück, sondern in den Wald.« Die Wirtin erläuterte: »Herr Doktor wohnt draußen, nicht weit vom See.«

»Er ist ins Wasser gegangen«, schrie die Landstreicherin, »ich habe es gewußt. Wie ich sein Gesicht gesehen habe, habe ich gewußt, der tut sich was an.« Sie trat aufgeregt, mit der rechten Faust auf die linke schlagend, ganz ins Zimmer. Aber der Wirt faßte sie beim Arm und geleitete sie wieder auf ihren Platz. Wislizenus hörte ihn sie energisch, aber leise zurechtweisen, wie man einen Hund kuscht. Er zahlte und verließ das Wirtshaus zur Hintertür und hielt den direkten Weg nach seinem Hause.


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