Moritz Heimann
Dr. Wislizenus
Moritz Heimann

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3

Aber von jetzt an war die tiefe Stille des Hauses gestört. Beide, der Leser und der Hörer, lauschten zuweilen zerstreut hinaus, und es wunderte sie nicht, als sie vom Wege her eine Stimme sich nähern glaubten. Nicht lange, und sie erkannten wirklich eine menschliche Stimme, die sich in einem betrunkenen Singsang entlud und in ein veritables Heulen überging.

Wohlgethan warf sein Manuskript nervös hin, mit einer vorwurfsvollen Geste, als trage sein Gastfreund schuld an der Störung. Der aber lächelte und hörte nur immer mit einem wunderlichen Vergnügen dem Toben von draußen zu. Als er jedoch den Dichter vor Wut an der Lippe kauen sah, raffte er sich höflich und entschuldigend auf und sagte, daß er selbst von dem Zwischenfall überrascht sei, es komme manchmal in drei, vier Wochen kein Angerufener zu ihm heraus. »Aber«, fügte er hinzu, »das wird dich doch nicht aus dem Konzept bringen; fahre nur fort!«

Draußen ging das Geheule und Gesinge weiter, und der Trunkenbold schien sich damit zu vergnügen, auf dem Staketenzaun mit einem Prügel Harfe zu spielen. Wohlgethan las mit zusammengezogenen Augenbrauen ein paar Verse, dann aber unterbrach er sich: »Ich kann nicht«, und reckte den Kopf zum Hören, »das ist ein toller Hund, nichts Besseres. Wenn eine Hundeseele in einen Menschenleib fährt, dann ist der Teufel los.«

Wislizenus maß ihn mit einem seltsamen Blick, stand auf und machte sich an einer Kommode zu schaffen: »Ich kann dir nicht helfen, lieber Dichter, oder soll ich dir den Hund niederschießen? Ich habe einen schußfertigen Revolver hier im Schub.«

Wohlgethan versetzte hochmütig: »Wenn es keine bürgerlichen unangenehmen Folgen hätte, ich sagte nichts dawider.«

»Wir wollen ihm doch noch eine Gnadenfrist geben«, meinte Wislizenus und begab sich wieder auf seinen Platz.

Der Betrunkene war verstummt und schien weitergegangen. Es war plötzlich stiller als vorher im Haus, und Wohlgethan fing wieder zu lesen an. Dem Hörer schien es, daß die Unterbrechung dem Dichter irgendwie nicht unwillkommen gewesen sein mochte. Sie war gerade an einer Stelle eingetreten, wo das Gedicht einen kleinen Bruch hatte. Es kam von der weiter als nötig malenden Schilderung der bleichen, kugelhaften, erschrocken hin und her wehenden Seelen nicht los und bedurfte eines gewaltsamen Überganges: Vom reinen Himmel dröhnt Posaunenklang, der Erzengel Michael, die Waage in der linken, die Lanze mit dem Fähnlein in der rechten Hand, fährt mit Scharen von Engeln hernieder, die Seelen im Schrecken lösen sich von den Stellen, an denen sie kleben, und wimmeln dem Marktplatz zu. Erst in dieser Schilderung gewann die Dichtung wieder Kraft; aber Wislizenus war tiefer verstimmt als bei jeder früheren Schwäche, und es war nichts von Schadenfreude, sondern eher eine Erbitterung in seinem Urteil. Dichter, o Dichter, sagte er in seiner Seele, und er überhörte nicht ein Geräusch, das ihm wie das Klinken seiner Hoftür vorkam. Und richtig, ein paar Augenblicke später donnerten ein paar harte Fäuste schon gegen die Haustür.

Wohlgethan fuhr entsetzt in die Höhe: »Das ist doch aber -«

Wislizenus beruhigte ihn: »Jetzt haben wir ihn, jetzt werden wir ihn am ehesten los.« Er nahm aus seiner Börse ein Geldstück, ging hinaus, holte sich eine brennende Lampe aus der Küche und schloß die Haustür auf. Er leuchtete einem riesenhaften Menschen, der in der Blendung des plötzlichen Lichtes verstummte, ins Gesicht und fragte ihn ruhig und ohne sonderliche Strenge: »Was wollen Sie hier?«

Der Betrunkene starrte ihn an, sein Gesicht war von einem mächtigen Bart umwuchert, seine Augen blinzelten irre und wild, sein Atem strömte im Nebel sichtbar wie eine Wolke von ihm aus. Er wußte nicht zu antworten und heftete seine Augen auf die Schwelle.

Wislizenus reichte ihm das Geldstück hin und sagte. »Da, kaufen Sie sich was dafür, Schnaps am besten; Sie haben noch nicht genug.«

Der Betrunkene nahm das Geld und sah Wislizenus an. Er war weder aus dem Dorfe noch auch aus der Gegend überhaupt. Einen solchen fanatischen, wahnsinnigen Blick hätte in dieser dürftigen, sich kläglich und klüglich haltenden Bevölkerung kein Auge hervorzubringen vermocht. Die beiden Männer starrten einander an.

»Warum haben Sie denn noch Licht, he?« fragte der Betrunkene.

Wislizenus wußte nicht, warum er mit dem ganzen Aufwande, nicht nur einer gelegentlichen, sondern seiner letzten Energie antwortete: »Weil ich hier lese, und dazu brauche ich Ruhe, und nun scheren Sie sich!«

Der Betrunkene drehte erst seinen ganzen Leib weg, ehe er die Füße regte, dann tappte er davon. Wislizenus blieb noch ein Weilchen stehen. Die Sterne, wie von einem wahnsinnigen Engel ausgeschüttet, funkelten, der Nebel schwankte in Strähnen, von den Feldern her kam der Geruch von Rüben, Kohl und verfaulenden Pilzen.

Wislizenus trat zurück und schloß die Tür wieder ab. In seinem Zimmer fand er den Dichter mit einem Bleistift in seinem Manuskript Notizen machend, und kaum aufsehend, als er zu ihm trat. Er nahm, indem er den Bleistift in eine an der Uhrkette baumelnde Hülse zurücksteckte, sogleich sichtlich erfrischt seine Vorlesung wieder auf: Die Seelen der Verstorbenen, vom Engel Michael wie Schafe zusammengejagt, fahren auf dem Platze der Residenz auf und ab, gewöhnen sich aneinander und erkennen einander. Damit hebt ihre Qual an. Aber ehe sie ihr gänzlich ausgeliefert werden, gibt es noch eine Unterbrechung; die schöne Gärtnerin aus dem ersten Gesang kommt lichthaft, doch in ihrem Umriß unverstellt, nur blinden Auges, in ihrer Rechten noch die Zuchtrute weisend, dahergeschwebt, hält still und schlägt die Augen auf. Kaum aber hat sie gesehen, so wirft sie Kopf und beide Arme dem Himmel entgegen und fliegt wie ein Pfeil aus dem düstern Brodem ins Helle hinauf. Und wenn dieser stummen Gespenster- und Todeswelt noch Sinne geblieben wären, so hätte sie die Bewegung des Mädchens als einen Schrei des Entsetzens und ewigen Abschieds vernommen; so aber waren sie zurückgelassen, der Wohltat der Sinne beraubt und zum Wissen verdammt.

»Damit schließt der zweite Gesang«, sagte der Dichter, »und im dritten beginnt die Hölle, die Hölle des Wissens.«

Wislizenus hatte einen winzigen Rest vom Geruch der Nacht in seinen Sinnen; der peinigte ihn, daß er eine Erinnerung, einen Gedanken, ein Einverständnis über seine Person hinaus suchen mußte. Nach einem Seufzer des Verzichts brach er, als der Dichter schwieg, unvermittelt aus: »Verflucht sei doch keiner wie der Mensch, der uns lehrte, in der Natur etwas zu suchen, das spricht! Welch eine Qual, das Unfaßbare vor Augen zu sehen. Die Trauer, daß die Natur uns nichts gibt, das ist alles, was sie gibt. Die Linie des Horizonts ist die größte Marter, die ich kenne; das Licht ist eine schlimmere Ungeduld als die Pubertät; und wenn ich nun denke, daß es doch vielleicht Menschen geben könnte, die in Heiterkeit Herren darüber sind, worüber ich nicht Herr bin -! Zu denken ein Gemüt, das alle Schönheit, alle Seele, die Feierlichkeit, das Geheimnis der Bäume, des Horizonts, des Lichtes und der Dunkelheit nicht, wie ich, mit Trauer und Sehnsucht faßte, sondern mit Freudigkeit und Besitz! Es ist das Wesen des Horizonts, traurig zu machen – wie? das sagte ich schon? – aber zu denken der, den es heiter machte! Die Unfaßbarkeit der Schönheit – zu denken der, der sie faßte – versteh es recht: nicht der die Schönheit faßte, sondern die Unfaßbarkeit! Doch verzeih! glaube nicht, daß ich nicht gehört hätte! Vielleicht nur – bin auch ich schon unter deinen ›wissenden Seelen‹.«

Der Dichter schüttelte besorgt den Kopf und sagte ungekränkt: »Du bist nervös, Freund. Die Einsamkeit, ja, in dieser Übertreibung, wie du sie pflegst, ist doch ein Gift.«

»Laß weiter hören«, sagte Wislizenus; und der Gast begann seinen dritten Gesang, der von der Strafe der Seelen handelte, die zum »Wissen« verdammt sind. Jetzt löste das Gedicht sich in Gestaltung auf, und es war schnell ersichtlich, daß es Repräsentanten der Menschheit einzeln vornehmen, ihre Lüge entlarven und ihre Sünde abstrafen wollte.


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