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Es war freilich nur erst ein graues, schwaches Licht in der Welt, als er aufstand, die Haustür öffnete und den Hof, aufmerksam suchend, hin und her schritt. Der Nebelregen hatte alle auffälligen Spuren zur Genüge verwischt. Um das viele Holz zu rechtfertigen, heizte er den kleinen weißen Ofen in seinem Arbeitszimmer selbst, setzte sich an seinen Tisch, wo zwischen den Büchern noch die Weinflaschen, Gläser und Zigarren und Aschenschalen von gestern standen, und ließ diese abgestandene Unordnung, gegen seine sonstigen Gewohnheiten, unberührt. Die Magd kam, er hörte sie in der Küche wirtschaften. Da sie sich über nichts im Leben ihres Herrn wunderte, weil nichts im Leben ihres Herrn ihr verständlich war, nahm sie es auch mit ihrer gewohnten, scheuen Gleichgültigkeit hin, daß er geheizt hatte. Sie deckte im Speisezimmer den Frühstückstisch mit ihren bäuerischen, schüchternen Gebärden, und Wislizenus fühlte durch ihr Ab- und Zugehn den Tag in sein gewohntes Geleise gebracht.
Nicht lange, so fand sich Wohlgethan ein und gewahrte mit Erstaunen den reich besetzten Tisch, auf dem drei große, in der Form verschiedene Kannen, eine jede über einer kleinen Spiritusflamme, warm gehalten wurden.
»Tee, Kaffee, Schokolade, was befiehlst du?« »Das ist ja sybaritisch«, meinte Wohlgethan. »Ach«, sagte Wislizenus, »das ist quoad Magen mein einziger Luxus, er wäre unnötig, wenn ich eine Magd hätte, die von selbst wüßte, was sie mir an jedem Morgen zum Wetter gehörig zubereiten müßte; dann brauchte ich nicht für alle Möglichkeiten zu sorgen. Teewetter hatten wir schon eine ganze Woche nicht, für Kaffee ist es noch zu flau, ich werde Schokolade nehmen. Wenn ich eine Phantasie habe, woran ich zuweilen zweifle, so wird sie durch diese Düfte – trinkst du den Tee so dünn? – jedenfalls wird sie nach der geographischen Seite hin nicht erregt. Höchstens an die Verpackung denke ich zuweilen, ein Kaffeespezialgeschäft gehört zu den stilvollsten Dingen, die ich kenne, ja, und dann natürlich an das Wetter. Heute ist Schokolade, bald wird es Kaffee sein, und dann werden ja auch die Tage für Tee noch einmal in die Welt kommen.«
Das war nicht die gewöhnliche Art zu reden bei Wislizenus, und Wohlgethan sah über seine an den Mund gehobene Teetasse aufmerksam zu dem Gastfreund hinüber. Die Magd kam herein und sagte: »Ich habe ein Markstück beim Abfegen auf der Schwelle gefunden.«
»Sechzehn«, unterbrach Wislizenus.
Das Mädchen legte das Geldstück auf den Tisch. »Was sechzehn?« fragte Wohlgethan. »Sechzehn Schritt«, erhielt er zur Antwort und ein rätselhaftes Lächeln dazu. Das Mädchen wußte nicht, ob es gehen oder Bescheid bekommen sollte.
»Die Mark gehört Ihnen«, sagte Wislizenus, »ich habe sie gestern schon einmal verschenkt, aber der stolze Vagabund hat sie mir gegen die Tür zurückgepfeffert, fort mit Schaden«, und er schob das Geldstück dem Mädchen hin.
Wohlgethan wurde es unbehaglich zumute. In der Nüchternheit des Morgens erschien ihm der ganze gestrige Abend wie etwas widerwärtig Übertriebenes. Sein Verdacht gegen Wislizenus kam ihm ganz unausdenkbar absurd vor, und während er sich das mit den stärksten Ausdrücken innerlich sagte, spürte er, daß er Wislizenus ohne die Witterung von Verdacht nicht mehr würde anschauen können. Ja, er fühlte die ganze Niedertracht jedes Verdachtes in dem Zwiespalt in sich, nach welchem man einen Menschen wegen eines vermuteten Verbrechens verachtet, den man wegen eines eingestandenen oder sonstwie offenbaren beklagen, bewundern, sich vor ihm entsetzen, aber jedenfalls ihn nicht verachten würde.
»Wie verteilen wir den Vormittag?« fragte Wislizenus. »Ich schlage vor: erst ein Spaziergang, dann liest du vor Tisch deine Sache zu Ende.«
»Lesen?« fragte Wohlgethan hastig, »o nein, ich habe auch nichts mehr zu lesen. Vom vierten Gesang habe ich ja kaum mehr als eine Skizze. Zwölf sollten es werden, ich weiß nicht. Nein, und am Vormittag lesen, das geht nicht, ich bin ein Abendvogel, das weißt du ja.«
Wislizenus ließ eine kleine Pause vorbei, ehe er sagte: »So wirst du heute abend weiterlesen.«
Doch Wohlgethan wehrte das sogleich ab: »Heute abend muß ich in Berlin sein, ich gedenke mit dem Mittagszuge zu fahren. Ich habe ja, Egoist, der ich bin, wieder deine Zeit und dein Interesse mehr als gebührlich für mich genommen.«
»Ja, Egoist, der du bist, Dichter, der du bist«, unterbrach ihn Wislizenus, »schade, nun hast du mir alle deine starken Geister ins Haus gebracht, und heute abend werde ich hören, wie sie noch ein Weilchen herumfegen, in acht Tagen haben sie sich zur Ruhe gelegt, wie der Staub unter dem Dach.«
»In acht Tagen?« fragte Wohlgethan gespannt; worauf Wislizenus lebhaft erwiderte:
»Ja, so lange werde ich wohl brauchen. Du unterschätzest doch hoffentlich nicht selbst die Wirkung, die von deinem Werke ausgeht. Den Himmel und die Hölle beschwören, das ist nichts Alltägliches, und man findet sich nicht so schnell damit ab, wenn man auch weiß, daß alles nur ein Gleichnis ist. Vielleicht nicht einmal ein bloßes Gleichnis. Das Volk beobachtet immer richtig, es schließt nur falsch; und wenn es nicht aufhört, von Gespenstern zu fabeln, so bin ich nicht abgeneigt, zu sagen: es muß etwas daran sein. Grade daß die Gespenster nur Unsinn und Schabernack treiben, grade das könnte vielleicht mehr für als gegen ihre Existenz aussagen. Man könnte sich vorstellen, daß der Mensch die Aufgabe hat, das Leben durch die Seele oder die Seele durch das Leben bis auf den letzten Tropfen aufzuzehren, und wem das nicht gelingt, der ist nicht fertig, nicht zu Ende, nicht vollendet oder erlöst oder wie du es nennen willst, und der muß weiterspuken, wie er auch vor dem Tode mehr gespukt als gelebt hat. Goethe und Napoleon spuken nicht, aber der Faule, der Dumme, der Eitle, der Hochmütige, der Geizhals, die gehen um. Sehr viel weniger Frauen gehen um als Männer, und Kinder hoffentlich gar nicht. Es ist sehr interessant, daß du deine Hölle unbewußt so zu bevölkern scheinst, wie das Volk seine Kirchhof- und ehemaligen Spinnstubengeschichten.«
Wohlgethan wurde es warm ums Herz, und Wislizenus merkte wohl, daß es nur noch eines burschikos derben Wortes bedurft hätte, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Aber er hütete sich wohl, in diesen Ton zu verfallen, sondern befliß sich einer höflichen Haltung, wodurch alle Entschließungen gültig wurden. Sie verhandelten weiter bis ins einzelne über Wohlgethans Epos, nur Wislizenus richtete bei aller scheinbaren Aufmerksamkeit seine Gedanken auf den Ablauf der Stunden, dessen ihm geläufige Anzeichen er auf das genaueste kontrollierte.
Er fürchtete, daß die Magd vor der Zeit nach dem Stallschlüssel fragen könnte, und war froh, als ein Blick auf die Uhr ihm zeigte, daß es nahe an zehn war. Als er aufstand, erhob sich auch Wohlgethan und machte nun seinerseits den Vorschlag, auf einem Umwege nach einem ausgiebigen Spaziergange ins Dorf zu gehen.
Wislizenus dachte einen Augenblick nach, dann rief er das Mädchen herein. »Hast du deine Sachen schon gepackt?« fragte er Wohlgethan, und auf die bejahende Antwort gab er dem Mädchen den Auftrag: »Nehmen Sie die Tasche des Herrn Doktor und tragen Sie sie ins Dorf zum Gastwirt Moser. Dort bestellen Sie, ich ließe um ein Fuhrwerk bitten zu dem Zuge, der um halb zwei geht, es braucht aber nicht hier herauszukommen, wir werden selbst noch vor der Zeit im Gasthof sein, denn wenn es dir recht ist, Wohlgethan, so essen wir unten. Unser Mittagessen steht zu unserm Frühstückstisch immer in einem bedenklichen Kontrast. Und, Johanna, Sie brauchen dann heute nicht mehr herzukommen, ich gebe Ihnen frei. Morgen früh wie gewöhnlich.« Er sah sich in beiden Zimmern schnell um und fügte noch hinzu: »Im Arbeitszimmer sind Sie ja fertig, nun räumen Sie nur hier noch das Geschirr weg, mehr habe ich für heute nicht nötig.«
So geschah es. Nach einer knappen Viertelstunde verließ das Mädchen, mit der ledernen Tasche Wohlgethans, das Haus, und eine Weile darauf machten die beiden Männer sich auf ihren Spaziergang. Sie gingen in den Forst, aus dem Wislizenus sein Grundstück herausgeschnitten hatte, tief hinein, kamen an einen See, der in dem Schleier der sonnenlosen Herbstfeuchtigkeit recht groß aussah, und beschlossen, um den See herum zu spazieren, einen Weg ins Dorf von guten anderthalb Stunden. Der See war überall umbuscht, wenn auch die Erlen und Weiden schon besendünn in die graue Luft ragten. Birken standen noch im Goldschuppenkleid des Herbstlaubes, und ferne Pappeln täuschten mit dem Honiggrün ihrer Blätter einen Frühlingsrest in die Landschaft, so wie sie ja im Frühjahr etwas vom Herbst vorwegnehmen. Das Schilf, das stellenweise weit in den See hineinbuchtete, war im ganzen noch grau, zeigte aber schon den rötlichen Anhauch des Winters. Nur die Akazien waren in ihrer Herbstentwicklung unterbrochen, ein früher Nachtfrost hatte wie ein Brand die gefederten Blätter gekrümmt und getötet, so daß sie wie eine zarte Wolke den Wipfel grau umhüllten. Es war völlig windstill, und kein Blatt bewegte sich. Der Anblick war ungewöhnlich friedevoll. Schläge von frischer Saat leuchteten still, die kalte Feuchtigkeit der Luft, die in der Nähe menschlicher Behausung und menschlicher Hantierung etwas Unwirtliches bekommt, war hier draußen in der tiefen Lautlosigkeit von großem Reiz; und die beiden Spaziergänger atmeten, ein jeder von seinen zwischenmenschlichen Gedanken befreit, tief und stark. Nur entdeckte Wislizenus in sich, daß er die anderthalb Stunden Weges, die vor ihm lagen, sonderbarerweise wie einen Gewinn betrachtete, wie einen Waffenstillstand oder etwas Ähnliches. Und immer, wenn der Stachel dieses Gedankens ihn traf, ließ er seinen Schritt entschiedener ausgreifen, als wollte er dem Schicksal seinen Willen und seine Kraft bezeugen.
Sie kamen um den See herum, durch einen kleinen Birkenwald auf die Felder, die das Hinterland zu der einen Seite der Dorfstraße bildeten, und bogen über ein bäuerliches Gehöft ins Dorf ein.