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Nach Schöneberg und Steglitz

Eigentlich müßte diese Reise wohl mit dem Potsdamer Platz beginnen. Aber meine Erinnerungen lassen mich hier im Stich. Denn so erbärmlich, wie ich ihn im Gedächtnis habe, kann der Potsdamer Platz doch Ende der siebziger Jahre nicht mehr ausgesehen haben – oder doch?! – einfach ein unregelmäßiger, häßlicher, leerer Raum, gleichsam ein gähnendes Loch in der Straßenkreuzung, umrahmt von ebenso erbärmlichen, kleinen Häusern.

Mit den beiden noch von Schinkel herrührenden, tempelartigen Torbauten schloß die Leipziger Straße ab, und dann kam eben dieses Nichts. Ich weiß auch nicht mehr recht, ob damals noch mehrmals am Tage der merkwürdige »Verbinder« über den Potsdamer Platz schlich: ein riesenlanger Güterzug, dem ein Beamter, mit einer großen Glocke läutend, voraufging. Aber ich erinnere mich noch des putzlustigen, engbrüstigen Apothekerhäuschens, das da stand, wo heute Josty ist: ein paar eiserne oder hölzerne Stufen mit einem Geländer führten hinauf, und ein mächtiges, steiles Dach drückte es dann zu Boden.

Heute … gibt es noch ein Bild, das die moderne Großstadt Berlin so vollendet verkörpert, wie der Potsdamer Platz? Dieses Hasten, Lärmen und Durcheinanderwimmeln von Wagen und Menschen und doch die Ordnung darin, diese lange Zeile von Straßenhändlern rings um das an die Bordschwellen unablässig brandende Wogen: Blumenverkäuferinnen, Zeitungshändler … Diese Häuserpaläste (nicht alle gerade geschmackvoll), diese Lichterfülle des Abends, diese großzügigen Prospekte: die festlicharbeitsfrohe Leipziger Straße – wie eine leuchtende Perlenschnur hängen die Lichtkugeln darüber – die ernste, etwas nüchterne Königgrätzer mit dem Bahnhofsgebäude, die Budapester, nunmehr Friedrich Ebertstraße, die immer irgendwie an große Politik und Bismarck erinnert, die trotz allem immer noch in ihrem Grün vornehm und reserviert wirkende Bellevuestraße, die stets leicht erregte Potsdamer Straße … das ist das Herz des Groß-Berlin von heute und zu jeder Tageszeit ein unvergeßlicher Eindruck.

Die Potsdamer Straße war einmal eine richtige Chaussee, vom Soldatenkönig bis nach Schöneberg hin mit Weiden bepflanzt, und das Stadtgebiet vor dem Potsdamer Platz hieß einmal das »Cöllnische Sommerfeld«. Gärten über Gärten und dazwischen kleine Häuser und Landhäuser und sehr viel »Jejend«, so war's noch in meinen Kindertagen hier überall, und der alte Helmerding sang damals: »Kommt man vor das Potsdamer Tor, kommt Berlin einem wie ein Blumengarten vor.«

Blumengärten – na ja, es waren wohl nicht selten echt Berlinische darunter, solche wie der, von dem Fontane aus der Lützowstraßengegend einmal einem Freunde schrieb: »Wir saßen vorgestern beim Nachmittagskaffee in unsrer Geisblattlaube und sogen die echte Berliner Gartenluft – Blumen vorne und Müllkute hinten – in vollen Zügen ein …«

Nur bis zur Brücke – einer jämmerlichen, hölzernen Aufziehbrücke – standen noch größere Häuser gereiht, und manches davon erinnere ich mich noch sehr gut. Wo heute der Prachtbau der » Gesellschaft der Freunde« sich erhebt (Nr. 9), war damals » Sommers Salon«, und in dem dazu gehörigen, ziemlich großen Biergarten, von dem sich noch ein kleines, lauschiges Winkelchen erhalten hat – ich sah's neulich nicht ohne Rührung aus dem großen Prunksaal oben wieder – spielte Liebigs Sinfoniekapelle, lange vor Bilse und den Philharmonikern, Haydns, Mozarts, Beethovens Sinfonien und manches Werk der Kleineren. Greifbar klar noch steht mir der Musikpavillon in der Erinnerung, und ich höre wieder Schumanns romantische »Träumerei« – »Cellosolo mit Orchesterbegleitung« – Niels W. Gades weichlich-mystische »Ossian-Ouvertüre«, den gestrafften Preußenmarsch aus Raffs »Leonore«, den pompös-prächtigen aus der berühmten Suite von Franz Lachner – halbvergessene Musik, vorwagnerische, noch nicht so lärmende, das Entzücken unsrer Väter.

Ein paar Häuser weiter kam Frederichs Restaurant mit seinem merkwürdigen, ganz und gar aufs Sommerliche zugeschnittenen, hölzernen, naiven Vorbau – Menzels Stammlokal. Hier sah man ihn oft am Fenster sitzen, ein Vogel-Plauenscher Gnom, ganz Riesenkopf und Brille, verkniffen, mürrisch, und spät abends tauchte er noch einmal bei Josty auf, saß hinter mächtigem Zeitungsblatt an einsamem, rundem Tischchen und – schlief.

Gegenüber von Frederich, Nr. 134c, – jetzt steht da der Prachtbau des »Bazar« – hat Theodor Fontane im obersten Stock, drei Treppen hoch, ein Vierteljahrhundert gewohnt. Alles, was er uns an größeren Dichtungen gab, ist hier geboren, und hier ist der Dichter auch 1898 gestorben. Die Wohnung hat ihn beglückt und geärgert. Beglückt, weil er hier arbeitsreiche, zufriedene Zeiten verbracht, geärgert, weil er sich des Unstandesgemäßen, »Popligen« einer Drei-Treppen-hoch-Wohnung bewußt war. Diesem Aerger hat er in einer noch unveröffentlichten Plauderei ganz fontanesch-berlinischen Ausdruck gegeben, und darum will ich ein paar Stellen daraus (nach der Mitteilung seines Sohnes Friedrich) hier wiedergeben, darum, und weil die Schilderung typische Verhältnisse aus dem Berlin meiner Jugend zeigt.

»Drei Treppen hoch wohnt sich's gut«, schreibt er, »es hat was für sich, daß man da freier atmen kann, dem Himmel näher ist. Aber je höhere Treppen man steigt, desto mehr kommt man auf der Rangleiter nach unten, und wenn der Sommer kommt, kommt allerhand, das einen mahnt, daß man so hoch wohnt. Jeder Tag führt einen Schlag gegen die Drei-Treppen-hoch-Leute. Winters geht es, da wird man so mit durchgeschleppt, aber im Sommer fallen die Schläge. Das gibt eine lange Liste. Sommers wird gestrichen, mitunter das ganze Haus, oder, wenn nicht das, so doch die Treppen. Es wird wieder für Sauberkeit gesorgt … Aber an der obersten Stufe der zweiten Treppe hört die Erneuerung auf. Ich könnte mich beschweren, ich könnte mit Auszug drohen. Komisch! Drei-Treppen-hoch-Leute dürfen nicht. Sie sind froh, ein Unterkommen gefunden zu haben. Wozu auch? Ueberall dasselbe oder aus dem Regen in die Traufe … Um dieselbe Zeit wird es auch gefährlich. Im ganzen Hause geht das Gas aus. Was nur zwei Treppen hoch wohnt, ist fort, und was drei Treppen wohnt, ja, das ist da. Aber daß es da ist, das ist eben Beweis, das spricht gegen die Leute, sonst wären sie nicht da. Wozu also ihnen zu Ehren drei Etagen beleuchten? …«

Solch eine verdrehte, zwiegeteilte Brücke wie die Potsdamer Brücke von heute gibt's wohl nicht noch einmal, und solchen Blick über den Kanal und die wundervollen, alten Bäume, mitten in der Stadt, gewiß auch nicht zum zweiten Male. Und wie ich heute auf die Böschung schaue, kommt mir plötzlich in den Sinn, daß ich hier einmal mit Heinrich Seidel an einem wundervollen Sommerabend entlang spaziert bin. Das letzte Sonnengold sprühte durch das dichte Blätterdach, wir sprachen, in Schauen versunken, kaum miteinander, und plötzlich blieb Seidel stehen, hielt mich am Rockärmel fest und lachte: »Wissen Sie, hier habe ich mal die zünftigen Berliner Botaniker nett reingelegt«. Und dann erzählte er, wie er hier auf der Böschung das zierliche Zymbelkraut (Linaria cimbalaria) heimlich ausgesät – »angesalbt« nannte er es –, und was dann das unerklärlich massenhafte Auftreten dieses fremden Pflänzleins für ein »wissenschaftliches« Aufsehen erregt habe. Er hatte das kleine Horndöschen mit den winzigen Samenkörnern für vorkommende Fälle stets bei sich in der Tasche, und ich sah ihn so einmal, seine geliebte Linaria cimbalaria auch auf den Ruinen von Kloster Himmelpfort sorglich aussäen.

Das ist ja hier überhaupt Heinrich-Seidel-Gegend, das weltabgeschiedene » Karlsbad« mit seiner alten Gartenpracht, das einst ein wirkliches »Bad« war, und hier wohnte ja auch Freund Schellenbogen Rodenbergschen Angedenkens, und dann sind Erdmann Graesers Lemkes hier hingezogen und haben am Schöneberger Ufer ihre Gartenwirtschaft gehabt … Noch merkwürdiger fast als das Karlsbad ist die »Potsdamer Privatstraße«, und gleich daneben kommt der »Sternkieker« von einst, die stolze Astronomenvilla im Garten, in der nachmals Meister Joachim als Direktor der »Königlichen Hochschule für Musik« jahrzehntelang das Zepter und den Taktstock schwang.

Sie hat etwas nüchtern Geschäftsmäßiges und eigentlich langweilig Häßliches, die Potsdamer Straße von heute, die sich immer so nervös gibt, und gar nichts mehr von dem »Blumengarten« aus dem alten Couplet. Diese Querstraßen: die Lützowstraße, Steglitzer, Kurfürstenstraße, ja, selbst der »Boulevard« der Bülowstraße mit dem langen Hochbahnviadukt, monoton, unschön und manchmal fast armselig sieht das aus. Früher: die netten kleinen Häuschen und die Gärten, o, wie genau ich das noch weiß: ich wills nur verraten – an der Ecke der Lützowstraße (Nr. 35) bin ich nämlich am 11. Januar 1873 geboren (»wenn Se mir vielleicht wat schenken wollen«, sagt Glasbrenners Nante vor Gericht bei Angabe seiner Geburtsdaten) – und mein »Schloß Boncourt« (wißt Ihr: »Ich träum' als Kind mich zurücke«) gehörte dem Schlächtermeister Valdieck und war nur einen Stock hoch. Im Garten vor dem Hause stand ein einziger Baum, eine alte Kastanie; aber es war doch eben »unser« Garten und ganz besonders »mein« Baum. Nebenan und drüben – Nr. 113, das heutige Gurlittsche Haus, gibt noch eine Vorstellung davon – waren wohl größere Gärten, und ringsum dehnte sich, wie gesagt, »Jejend«. Wer das Skarbinasche Aquarell vom Nollendorfplatz aus dem Jahre 1885 kennt, der kann sich einen Begriff davon machen, wie lange und wie sehr das hier alles »Gegend« war, und da lag ja auch irgendwo in dieser Gegend das stolze Holzkasten-»Schloß« und die Gärtnerei von Dörr, und Lene Nimptsch ging selig am Arme ihres Botho zwischen den Johannis- und Stachelbeersträuchern, zwischen Reseda, Levkojen und Thymian auf und nieder, und in die beginnenden »Irrungen – Wirrungen« klang das Konzert vom Zoologischen Garten.

Das Gurlitt-Haus – wenn wir durch den viel später erbauten Torweg schreiten, öffnet sich jäh ein weltabgeschiedenes Plätzchen mit Villen und Gärtchen. Zur Linken ein nüchternes Backsteinhäusel. »Labor gaudet, 1874, A. v. W.« steht an der Front, und im Hausflur hat der als Maler nur zu fleißige Anton v. Werner dies Latein in den Goethespruch verdeutscht: »Tages Arbeit, abends Gäste« und Könige und Fürsten als Gäste empfangen. Man denke sich: beinahe hätte Max Pechstein diese Villa erworben!

An der Pallasstraße, wo heute der Kleistpark (pardon: »Heinrich-von-Kleist-Park«) ist mit den alten Königskolonnaden und dem stolzen, neuen Kammergericht, kam der » Botanische Garten«. Ein vollkommenes Idyll, naiv bei aller Wissenschaft, ein wahrer Garten, uralt, als »Churfürstlicher und Königlicher Küchengarten ehedessen angelegt und sonst unter dem Namen des Hopfengartens bekannt«, verzeichnet Büsching, ein wahrer Garten voll Blumenduft und Vogelsang, und Chamisso saß hier in einer Laube und bestimmte sein »Heu« und sang sein rührend schönes »Frauenliebe und -leben«. Was hat mich als Jüngling der Anblick dieser » Chamissolaube« nicht jedesmal ergriffen: Du lieber Gott, ich war verliebt, schrieb selber Verse und wollte zu all dem Unglück auch dereinstens wie Chamisso Weltumsegler werden.

»Das war in Schöneberg im Monat Mai« … Sanft steigt die Straße den »Schönen Berg« in die Höhe, zur Rechten noch immer, hinter den Häusern versteckt, große, ländlich verwilderte Gärten und Kuhställe wie einst. Noch immer längs der Hauptstraße überall hier und da winzige Häuschen: Bauernhäuser, Landhäuser, Villen mit Parks. Gleich vorn steht so eines noch: die »Maison de santé«, das Irrenhaus – im Kriege hatten sie die französisch beschönigende und doch so mitleidslose goldene Inschrift mit einer Fahne verhüllt – heute ist's ein »Mietseinigungs- und Wohnungsamt« geworden. Drüben der »Schwarze Adler« das sechs Tage lang heiß ersehnte »Sonntagsvergnügen« der Dienstmaid und ihres Musketiers, ist längst neumodisch verfeinert. Dieser hübsche Straßenprospekt vorauf: schnurgerade Reihen von schattigen Bäumen, inmitten die alte Promenade und hinten rechts das Bild schließend und überhöhend der Rundturm der neuen Kirche. Mir freilich gibt das alte, gar so schlichte, friderizianische Kirchlein mit der Wetterfahne von 1764 und dem alten Kirchhof dahinter mehr.

Es ist noch nicht lange her, gewiß keine fünfundzwanzig Jahre, da schloß sich an dieses Ende von Schöneberg weit und breit freies Feld: Ackerland, Laubengelände, Weiden, Wiesen, und all diese neuen Straßenzüge hier an der Friedenauer Grenze haben mit ihren klaffenden Häuserlücken und gähnenden Baustellen trotz der großzügigen Anlage, trotz Asphalts und elektrischen Lichts noch etwas Unfertiges, Unausgeglichenes – sind, darf ich es mit einem Georg Hermannschen Wort sagen, gewissermaßen noch: »Kubinke«-Milieu. Auch das Friedenau hier an der Chaussee nach Potsdam (Rheinstraße) und selbst das viel ältere Steglitz (Schloßstraße) können solchen Eindruck des zu schnell Gewachsenen nicht verleugnen –, eines dicklichen Jungen, dessen zu kurzer und zu enger Anzug, prallgestopft wie eine Wursthaut, in allen Nähten kracht, wenn er sich bewegt. Neues und Altes dicht neben einander; aber es klingt nicht immer zu so schöner Harmonie wie das neue Friedenauer Rathaus und das enge Marktgewimmel auf dem kleinen, alten, baumbestandenen Platze ihm zu Füßen oder, gehst Du die Lauterstraße hinunter, der lichte Birkenwald des alten Maybachplatzes und das im Heidelberger-Schloß-Stil erbaute Gymnasium.

Aus der Kaiser-Allee keuchte einst die unsagbar plumpe Dampfstraßenbahn nach Steglitz hinein, und mit ihr fuhren wir bei mancher Schülerlandpartie und liefen dann weiter nach Zehlendorf. Alles hier Felder, Wiesen, Sand, Gräben, dazwischen Teiche, tief in den weichen Boden eingeschnittene Gleise, längs der Feldwege wie von Altersgicht verkrüppelte Weiden mit gesträubten Haaren, ein Kirchturm in der Ferne … Und in der Schloßstraße wechselten Hasen, stand ein lustiger Dorfkrug mit Futterkrippe, und die Berliner Kutscher machten hier, halbwegs, wenn sie nach Potsdam fuhren, halt, war eine echte, rechte Dorfschmiede noch mit funkensprühender Esse und dem lustigen Klingen der Hämmer … so vor kaum fünfundzwanzig Jahren. Und dann schloß das »adelige Dorf« das heimelnde Wrangelschloß (heute: Schloßtheater) und der prächtige Park, erhob sich zur Rechten der weithin herrschende Fichtenberg mit seinen Villen … noch heute wohl das Schönste, was ich so nahe bei Berlin mir weiß.

Wenn ich an dies ländlich naive Steglitz von damals denke, dann fällt mir immer jene Glaßbrennersche Geschichte von dem Berliner ein, der durch Steglitz ging und den Wirt des Dorfkrugs gerade damit beschäftigt sah, einen Jungen erschrecklich durchzuprügeln. Als er mitleidig fragte, wer denn der Knabe wäre und was er verbrochen, meinte unser Steglitzer seelensruhig: »Der? Der is aus de Stadt, mein'n Bruda seina, un hält sich bloß zum Vajniejen hia 'n paar Dage uff«.


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