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Die Reise nach Berlin

Ich weiß nicht, ob jemand noch den Rentier Schellenbogen kennt. Er wohnte am Karlsbad und ist so eine Art Jugendfreund von mir. Ich kenne ihn an die dreißig Jahre, und damals schon war er nicht mehr gerade der jüngste. Sein Vater ist – aber in allen Ehren – Julius Rodenberg; der hat ihn geschrieben, und so habe ich seine Bekanntschaft gleich nach seiner Geburt gemacht. Dieser Schellenbogen also, geborener Berliner, Rentier und Junggeselle, pflegte jedes Jahr um die Ferienzeit seinen Koffer zu packen. Er verabschiedete sich von Freunden und Bekannten, ließ eine Droschke holen, stieg ein, rief dem Kutscher »Stettiner Bahnhof« zu oder je nach dem, und fort ging es. Sobald er aber bis zum Potsdamer Tor gekommen, dann … Aber ich will doch lieber erst erzählen, warum ich mich seiner wieder so lebhaft erinnert habe.

Es war an einem der letzten, glutheißen Augustabende. Ich hatte bei Stallmann vergebens auf ein paar Freunde gewartet; so ging ich und schritt die Jägerstraße entlang. Kein Mensch weit und breit, der Asphalt schien förmlich zu dampfen. Ein feiner, grauer Staub flimmerte von ihm empor, tanzte zitternd an den Häusern hinauf, erfüllte die ganze Luft. Auch auf dem Gendarmenmarkt keine Menschenseele. Die Sträucher fahlgrün, regungslos, schier unwirklich, die Häuser wie hinter einem Spinnwebschleier. Ein mattes Leuchten aus den Büschen zur Rechten: der Marmor des Schillerdenkmals.

Da könnte nun wie vordem oft leibhaftig der selige E. T. A. Hoffmann sitzen mit seinem Kneip- und Herzensbruder Ludwig Devrient, und ein gespenstiger, grünschurziger Küfer brächte ihnen aus Lutter und Wegners Keller da drüben neue Flaschen – ich hätte mich nicht groß gewundert. Ich hätte mich nicht mal gewundert, wenn, Schatten der Schatten, der Student Anselmus und Konrektor Paulmann, Peter Schlemihl und Erasmus Spikher dahergewandelt wären und Hoffmannsche Allotria getrieben hätten.

Langsam schlich ich die Jägerstraße weiter hinab; hier ist sie vornehm breit und still, macht einen seltsamen Knick. Ein paar alte Leutchen saßen auf Stühlen vor der Haustür, geruhsam, tagesmüde, wie in einer kleinen Stadt. Hinter der Reichsbank bog ich in die Kurstraße und drang in das Geschiebe verlassener Gäßchen zur Linken. »Adlerstraße« lese ich und denke daran, daß hier ja Fontanes Professor Willibald Schmidt hauste und die Kommerzienrätin Treibel, als sie, noch eine einfache Jenny Bürstenbinder, in ihres Vaters Materialwarenladen auf einem über zwei Kaffeesäcke gelegten Brette Tüten klebte. »Zwei Pfennig fürs Hundert – eigentlich viel zu viel, Jenny, aber Du sollst mit Geld umgehen lernen«, pflegte der Alte dann zu sagen.

Plötzlich »Raules Hof«. Ein Durchgang, viel zu schmal für einen ordentlichen Wagen, eine phantastisch modern bemalte Tür scheint ihn zu sperren. Und da bin ich an der Stätte, von der die Idee der deutschen Weltmacht ihren Ausgang nahm. Hier im ehemaligen »Ballhaus« hat Benjamin Raule, Reeder und Ratsherr zu Middelburg und nachmals »Generaldirekteur« der von ihm begründeten Marine des Großen Kurfürsten, gewohnt, hier waren die Speicher und Gewölbe der »Afrikanisch-Brandenburgischen Kompagnie«, deren letzten Besitz, die erste deutsche Kolonie in Afrika, der manchmal allzu praktische Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. 1721 um 6000 Dukaten und »6 wohlgemachte junge Neger mit goldenen Halsbändern« an die schlauen Holländer verkaufte.

Und ich biege in die Alte Leipziger Straße ein, in der »Nouis Bneu, Nederhändner« Glaßbrennerschen Angedenkens wohnte, der das L nicht aussprechen und darum »ohne Nachtnichte nicht schnafen« konnte, »Nouis Bneu von der französischen Kononie« …

Vor mir nun die Jungfernbrücke, dieses köstliche, berlinisch-holländische Zugbrückenidyll, das Meister Zilles Buntstift uns mit dem Schmuck des Winterschnees als echt berlinische Rodelbahn unsrer Tage für alle Zeiten bewahrt hat. Die älteste und jetzt auch letzte hölzerne Zugbrücke in Berlin.

An der Friedrichsgracht

Ach, diese vielen Zugbrücken früher, für uns Schuljungens jede ein »Deus ex machina«, buchstäblich ein rettender Engel aus Hebeln und Schrauben, die willkommenste, nie versagende Ausrede fürs Zuspätkommen. »Die Brücke war aufgezogen.« Ich mußte zum Köllnischen Gymnasium täglich über die Waisenbrücke. Schon von weitem sah man, wie die Brückenaufzieher hüben und drüben ihre Vorkehrungen trafen. Dann galts zu laufen, um ja nicht das Hochwippen zu versäumen und womöglich, wenn man genügend Eile zu heucheln wußte und die »Uffziere« gut gelaunt waren, sich mit kräftigem Ruck über den gähnenden Abgrund schwingen zu lassen. Drüben konnte man dann in aller Ruhe das Hindurchgleiten des Mörtelkahns mit ansehen; das Zuspätkommen lief einem ja nicht davon.

In dem flimmernden Grau des heißen Sommerabends hat die Brücke mit dem schwarzen Wasser, das sie vielfältig wiederspiegelt, etwas Unheimliches, Totes, Gespensterndes. Wie in barocke Schnörkel gerahmt, leuchtet dahinter ein gelbliches Haus auf, breit ausladend, mit weit geöffnetem, behäbigem Tor; eine goldene Inschrift funkelt darüber in altmodischen Lettern: Französischer Hof. Das ist wie die Folie zu einer Gespensternovelle Hoffmanns oder der Anfang einer Sonderlingsgeschichte von Heinrich Seidel. Und so totenstill das alles, kein Mensch auf der Straße.

Da juchzt und schreit es auf einmal und plumpst mit dumpfem Fall ins Wasser. Das spritzt in weißen Fontänen auf und ringelt sich um helle Leiber. Fünf, zehn, sechzehn zähl ich, Jungens und Mädels. Sie laufen die steinerne Treppe hinab, sie springen vom hohen Steuer der leeren Zille hinunter, tauchen, plätschern, prusten, schreien. Ein paar Fenster gehen auf, Leute treten vor die Tür, alles lacht oder lächelt doch. Ein lustiges, lärmendes Freibad mitten in Berlin, zwischen Jungfern- und Gertraudtenbrücke, und die heilige Gertrud, die ja für lustige Vögel immer ein Herz hatte, bildet mit ihrer massigen Silhouette einen passenden Hintergrund zu dieser improvisierten Badeanstalt

Ich lasse die Blicke die Friedrichsgracht hinunterschweifen. Da drüben jenseits der Brücke grüßt hinter sich neigendem Kastaniengeäst ein wundersam zierlicher Balkon. Eine Mauer, ein Gartenhaus, wie's am Comersee stehen möchte oder in einer Köstlichkeit Paul Heyses. Mit ernster Geste breitet der massige Ravenésche Bau seine Front zum Abschluß des Bildes. Fontanes »L'Adultera« steigt in der Erinnerung auf, und da bin ich auch in Stralau bei Freund Tübbecke, dem Original von Schankwirt, und seiner noch originelleren besseren Hälfte, Tübbecke, der, wenn er seinen Koller hatte, in Klotzpantinen und Zylinder nach Berlin ins Café Bauer fuhr. In zitternden Wellen hebt und senkt sich's über den Bildern, die sich drängen und jagen.

Und ich denke daran, wie ich noch jedesmal mit klopfendem Herzen heimkehrte nach Berlin. Wie ich selig war, als Kind, wenn ich nach den vier Ferienwochen vom Zuge aus endlich wieder die hohen Häuser des Berliner Ostens sah, die Mietskasernen, ja, die grauen Mietskasernen meiner Vaterstadt Berlin. Wie ich die Zähne zusammenbeißen mußte, wenn ich als Mann, nach langen Monaten aus fremden Ländern heimkehrte. Wie mir die Tränen über die Wangen kollerten, als ich im Dezember 18 aus Frankreich, dem blutigen Morden, all der Not und Unrast, entronnen, wieder kam und die ersten Häuser Berlins sah, nachts, im Mondenscheine.

Und plötzlich begriff ich, wie klug, welch Philosoph mein alter Freund Schellenbogen war, wenn er allsommerlich die Koffer packte und aus Berlin nach – Berlin reiste.

Nämlich am Potsdamer Tor – und damit sind wir wieder beim Anfang – bog er sich aus seiner Droschke und rief dem Kutscher etwa zu: »Ich hab's mir überlegt, fahren Sie mich zum Hohen Steinweg«. Da lag ein altes, behagliches Hotel, und hier verlebte Schellenbogen seine Sommerferien Jahr für Jahr und zog auf Entdeckungen aus in Berlin.

Ich tu's ihm nach, gelobte ich mir an jenem Abend an der Friedrichsgracht. Das kann selbst ich mir leisten, simpler »Kopfarbeiter«, der ich bin. Da braucht man keine Eisenbahn, nein, zu Fuß, tut's not, mal mit der Elektrischen, will ich nach Berlin reisen. Komm mit, es wird Dich nicht reuen. Du wirst vieles sehen, Schönes und Bizarres, wirst große Geschichten erleben und Genre, und wenn Du nicht, mit Fontane zu reden, »gröbliche Augen hast, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein«, wirst Du auf Deine Kosten kommen.


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