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Nachwort

Als Viktor Hehn 1887, drei Jahre vor seinem Tode, nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem umfassendsten europäischen Genie seine »Gedanken über Goethe« herausgab, sträubte sich die Welk der Philologen und Fachgelehrten zunächst gegen die Anerkennung eines Werkes, das von einem Mann geschrieben war, der im übrigen über »Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergange von Asien nach Europa« und über naturwissenschaftliche Probleme nicht gerade aufsehenerregende Schriften verfaßt hatte. Erst der Fortschritt der Goetheforschung und der zeitliche Abstand von der Titanenleistung des Dichters vermochte auch die Arbeit Hehns in das richtige Licht zu rücken, und heute, da die Goetheliteratur ganze Bibliotheken füllt, stehen seine »Gedanken über Goethe« immer noch mit fünf oder sechs andern Werken in der vordersten Front der unzähligen Monographien über den deutschen Geistesheros, der, wie Hehn ihn zu Beginn des ersten Kapitels in seiner klaren und fast klassischen Weise charakterisiert, »durch den Zauber des Gesanges und die Kraft der Rede und des Denkens um die zerstreuten und verkümmerten Örtlichkeiten und Landschaften der Deutschen ein ideales Band schlang, das sie zur Nation machte«.

Hehn war Balte, aus alter Gelehrtenfamilie stammend, in der Universitätsstadt Dorpat zur Zeit der tiefsten Erniedrigung des politischen Preußens und Deutschlands 1813 geboren, wurde mit 27 Jahren Lektor der deutschen Sprache in Pernau, wirkte fünf Jahre in gleicher Stellung in Dorpat und mußte 1851 auf Grund einer verleumderischen Anklage in die Verbannung gehen, wo er vier Jahre unter größten Entbehrungen lebte, irgendwo in russischer Einöde, die ihm nichts gab als Muße für die eindringlichste Beschäftigung mit Goethes Werken. 1855 durfte er zurückkehren und rückte bald zum Oberbibliothekar in Petersburg auf, unternahm eine große Reise durch Italien, deren Frucht ein geistreiches und anschauliches Werk über das Land Dantes war, ließ sich 1874 pensionieren und lebte bis zu seinem Tode 1890 in Berlin, wo er seinen »Gedanken über Goethe« die endgültige Form gab.

Das Werk ist keine Biographie oder literarhistorische Abhandlung. Scheinbar willkürlich, in Wirklichkeit aber voll tiefer Bewußtheit von den landschaftlichen Bedingtheiten und Bindungen alles geistigen Wachstums überschreibt er das Einleitungskapitel: »Südwest und Nordost.« Wo in den deutschen Gauen konnte in der damaligen Epoche, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, der Genius entstehen, der wirklich schöpferische Dichter, der »als unmittelbare Stimme der Volksseele eine tiefere Weisheit verkündigen sollte als die der bisherigen poetisierenden Truggestalten?« In zwingender Beweisführung, ohne Beschwerung durch wissenschaftlichen Ballast, legt Hehn die mancherlei Elemente des Charakters, der Jugendbildung, der stammesartlichen Blutmischung und der internationalen Beeinflussung dar, die das Genie zwar nicht hervorbrachten, aber wesentlich mitbestimmten. Der Südwesten brachte naturnotwendig diesen Geisteshelden hervor zu einer Zeit, da der Nordosten (Brandenburg) den politischen Helden gebar: zwei mächtige Bewegungen in der Richtung zur deutschen Einheit, der geistig-kulturellen und der staatlich-politischen, ausgehend von scheinbar gänzlich gegensätzlichem Herz und Gehirn in völlig verschiedenartigen Landschaften.

Der Mensch Goethe wird uns aus den wenigen Seiten dieses ersten Kapitels deutlicher und faßlicher als durch langatmige Konstruktionen vieler anderer Autoren, und in derselben treffsicheren Manier wird im zweiten Abschnitt, den Hehn zu Recht »eine Literaturgeschichte im kleinen« nennt, unter dem Titel »Goethe und das Publikum« der wesentliche Gradunterschied aufgewiesen, der die allumspannende dichterische Größe Goethes vor den sämtlichen Mitschaffenden, Kritikern und Ästheten auszeichnete. Das eigentlich Charakteristische des Genies – nämlich die höchste künstlerische Synthese alles rein Menschlichen, das zutiefst und untrennbar verbunden ist mit der Allnatur, mit Sein und Werden des Kosmos – erkannte Viktor Hehn, ihm allein reicht er die Krone, und alle Zeitgenossen, Schiller nicht ausgenommen, stehen wie Höflinge vor dem Thron des Dichterkönigs Goethe. Deutsche Klassik ist ihm gleichbedeutend mit Goethe.

Diesen beiden Hauptkapiteln des Hehnschen Werkes schließen sich kürzere Abhandlungen an über die Naturformen des Menschenlebens, die Stände und die Naturphantasie, die Gleichnisse und die Verskunst, wie sie in Goethes Dichtungen Gestalt finden und geben, und den Schluß macht eine kurze Illustrierung des Verhältnisses Goethes zur Sprache der Bibel. Hehn fand in Berlin nicht die Gelegenheit, aus inneren und äußeren Gründen, seiner Arbeit die letzte Abrundung zu geben, aber was will das bedeuten gegenüber dem Ruhm, als Erster mit größter Klarheit und Entschiedenheit auf die Einzigartigkeit des weitaus größten deutschen Geistes hingewiesen zu haben?

Und dieser Ruhm überstrahlt auch jene durchaus berechtigte Kritik, die an einzelnen Auslassungen Hehns gegen Katholizismus und Judentum geübt worden ist. Wer viel geliebt hat, dem mag viel verziehen werden, und wenn die begeisterte Hingabe an Goethe manches schiefe Urteil veranlaßt über Heine, Börne, Romantiker und alles, was nach Hehns Ansicht im Gegensatz zu Goethescher Weltanschauung und Produktionsart stand, so vermögen diese Schwächen den Wert des eigentlich Bedeutsamen von Hehns »Gedanken über Goethe« nicht erheblich zu schmälern. Dem Versuch, auch andersgeartete Dichter, Denker und Strömungen wenigstens einigermaßen unparteiisch zu werten, begegnen wir an verschiedenen Stellen des Werkes, und wenn wir auch zugeben müssen, daß die Auffassungen Hehns in manchen Punkten kraß einseitig sind, so war doch seine Einseitigkeit letzten Endes das Resultat des rücksichtslos entschiedenen Bemühens, zunächst einmal dem Einen völlig gerecht zu werden, den zu erkennen und immer mehr sich zu eigen zu machen Aufgabe des deutschen Volkes ist. Hehn hat nicht wenig dazu beigetragen, Goethe näher an die Suchenden heranzubringen, und darum besitzt sein Goethebuch eine überragende und überzeitliche Bedeutung.

H.S.


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