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Goethe und die Sprache der Bibel

Zuerst erschienen im Goethe-Jahrbuch 1885.

Das Alte und Neue Testament, wie es stückweise aus Luthers Händen gekommen war, bildete seitdem in den protestantisch gewordenen Teilen Deutschlands die erste und allgemeinste Bildungsquelle. Die Jugend lernte daraus lesen, der Hausvater verzeichnete auf den ersten weißen Blättern die wichtigsten Familiendaten, jede Predigt stützte sich auf Stellen des heiligen Buches – und die Predigt durfte nicht versäumt werden, ja wurde häufig sogar nachgeschrieben. Was die Bibel erzählte, war reine, unzweifelhafte Geschichte, lag allen Vorstellungen von der Urwelt und der Herkunft und den Schicksalen der Völker zugrunde, begleitete, im frühesten Lebensalter als Stoff aufgenommen, das Kind durch das ganze Leben und ersetzte völlig all das Mannigfaltige, das der jetzige Unterricht der jungen Seele, nicht immer zu ihrem Besten, überliefert. In wohlhabenden Häusern war die Bibel mit Kupfern geschmückt; da sah man, wie Adam und Eva im Paradiese unter dem Apfelbaum saßen, wie die Tochter Pharaonis den kleinen Moses auf dem Wasser schwimmend fand, wie der Herr auf dem Sinai blitzte, donnerte, wie die Mauern Jerichos fielen und Bileam mit seiner Eselin Zwiesprache hielt usw.; die Kinderwelt, noch ehe sie das Abc kannte und Begriffe hatte, ergötzte sich an diesen naiven Bildern, die sich ihr eben darum für immer unauslöschlich einprägten. Wo ein Puppenspiel vorhanden war, wie in Wilhelm Meisters väterlichem Hause, da wurden vor den kleinen Zuschauern nicht etwa mythologische Fabeln dargestellt, sondern man sah Samuel und Jonathan, und Saul trat auf, und der kleine David mit Schäferstab, Hirtentasche und Schleuder erlegte den Philister Goliath, und das Haupt des Riesen wurde im Triumph über die Bühne getragen. Noch näher lag den Eltern und Lehrern natürlich der Inhalt der Evangelien am Herzen: unser aller Heil hing von dem Glauben daran ab, und so wußte jedermann, der in irgendeiner Schule gewesen war, im Neuen Testament Bescheid und konnte das Apostolische Glaubensbekenntnis sowie die zur Bestätigung oder Erläuterung demselben beigegebenen auserwählten Bibelsprüche ohne Anstoß hersagen.

Nun aber war die Bibel nicht bloß in der Sprache einer weit entlegenen Vergangenheit, sondern in der einer orientalischen, ganz anders gearteten Rasse geschrieben, und auch das uns nähere und verwandtere Griechisch in den Apokryphen und dem Neuen Testament trug immer noch eine semitische Farbe. Man mag Luthers Geisteskraft so hoch anschlagen, als man wolle, und seine Vermittelungs- und Übersetzungsarbeit nach Gebühr verherrlichen – es strömte doch aus dem allverbreiteten Buche etwas ganz Heterogenes in die gewohnte deutsche Rede. So wurde seit der Reformation unsere Sprache eine andere: allmählich fühlten und unterschieden die Menschen nicht mehr, was in dem, was sie sagten, eingeboren und was fremd war; wer in biblischen Wendungen sich ausdrückte, sprach ein echtes, natürliches, von den Vätern ererbtes Deutsch. Als dann um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eine Epoche neuer Geistesbildung anbrach, war diese Verschmelzung schon geschehen, und während die aufgeklärten Schriftsteller sich eines abstrakten Verstandesstiles bedienten, mußte die dichterische Sprache der jungen rhein- und mainländischen Genossenschaft, die sich auf dem Naturboden des Volkes und der Überlieferung hielt, als eine ebenso kernig-deutsche wie hebräisch-biblische und griechisch-hebräische sich darstellen.

Anders stand es bei den romanischen Völkern: bei diesen war die Religion nicht so streng auf die Bibel gegründet und diese, als in der fremden, lateinischen Sprache belassen, ein verschlossener Schatz: ihre Geschichten wurden zwar an die Mauer und auf Leinwand gemalt, aber der formale Einfluß ihres Wortlautes auf die lebende Sprache konnte nur ein verhältnismäßig geringer sein.

Aus »Dichtung und Wahrheit« ist bekannt, wie Goethe an und mit der deutschen Bibel aufgewachsen war. Er sagt im 7. Buch: »Ich für meine Person hatte die Bibel lieb und wert: denn fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig, und die Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief bei mir eingedrückt und war auf eine oder die andere Art wirksam gewesen«, und bei Gelegenheit des Konflikts seiner oberdeutschen Mundart mit der galanten Leipziger und angeblich allein richtigen Meißner Sprechweise, Buch 6: »Mir sollten die Anspielungen auf biblische Kernstellen untersagt sein, sowie die Benutzung treuherziger Chroniken-Ausdrücke. Ich sollte vergessen, daß ich den Geiler von Kaisersberg gelesen hatte, und des Gebrauchs der Sprichwörter entbehren, die doch statt vieles Hin- und Herfackelns den Nagel gleich auf den Kopf treffen.« Ähnliche Aussagen enthalten auch die Anmerkungen zum Westöstlichen Divan an verschiedenen Stellen. Daß nun Goethes Jugendschriften voll biblischer Anklänge sind, erklärt sich daraus leicht, aber auch in der folgenden Periode, der Zeit des hellenisch-idealen Stiles, tritt uns nicht selten ein Bild oder eine Wortverbindung entgegen, die dem hebräisch-christlichen Anschauungs- und Sprachkreise angehört. Es war ja eben die deutsche und die orientalische Denkweise, die sich dann auch in der Rede abdrückte, fast eins geworden, ja Gleichnisse, die nur durch die Sitten und die physische Natur des Morgenlandes begreiflich waren, erschienen natürlich und wurden gebräuchlich. So heißt es in der herrlichen Ode »Das Göttliche«:

Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös' und Gute –

(nach Matth. 5, 45: »Denn er lässet seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten«) und in der Rede des Pylades in der Iphigenie, 2, 1:

Und was wir tun, ist, wie es ihnen war,
Voll Müh und eitel Stückwerk! –

(Verschmelzung von Ps. 90, 11 und 1. Kor. 13, 9) oder in desselben Pylades Worten:

»die Götter rächen
Der Väter Missetat nicht an dem Sohn;
Ein jeglicher, gut oder böse, nimmt
Sich seinen Lohn mit seiner Tat hinweg.
Es erbt der Eltern Segen, nicht ihr Fluch« –

(mit lauter Formeln der Bibel, z. B. 2. Mos. 20, 5: »Denn ich der Herr dein Gott bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied« – aber ganz und gar nicht in deren Sinn). In der Romanze vom Fischer, die einer ganz anderen Welt als der der alten Hebräer angehört, nämlich der Mystik des Naturlebens, stammt doch die letzte Zeile:

Und ward nicht mehr gesehn –

aus Genesis 5, 24: »Nahm ihn Gott hinweg und ward nicht mehr gesehen« Wenn Don Manuel in der Braut von Messina sagt:
Entschwand sie mir und ward nicht mehr gesehen –
so kann dies eine Reminiszenz aus dem Goetheschen Fischerliede sein.
 – sowie die Worte der Harzreise im Winter:

Der du der Freuden viel schaffst

aus Jes. 9, 3: »Damit machst du der Freuden nicht viel.« Auch die gleichzeitigen Briefe an Frau von Stein, obgleich meistens nur flüchtig wie ein Gespräch hingeworfen, enthalten ähnliche Beziehungen in Fülle. Wenn ihn das erhöhte Gefühl des Schicksals und der ihm gewordenen Gaben ergreift, dann wiederholt er gern Ps. 8, 5: »Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest, und des Menschen Kind, daß du dich sein annimmst« – und wenn er, wie sooft, die Berge besteigt und das Land weit und breit überschaut, steht ihm die evangelische Versuchsgeschichte vor dem Geist – so am Schlusse der eben genannten Harzreise im Winter:

Du stehst mit unerforschtem Busen,
Geheimnisvoll offenbar,
Über der erstaunten Welt
Und schaust aus Wolken
Über ihre Reiche und Herrlichkeit –

auch 1780, 21. September: »Wir stiegen, ohne Teufel oder Söhne Gottes zu sein, auf hohe Berge und die Zinne des Tempels, da zu schauen die Reiche der Welt und ihre Mühseligkeit und die Gefahr sich mit einem Male herabzustürzen« – und 1782, 12. April: »Erlaube, wenn ich zurückkomme, daß ich Dich nach meiner Art auf den Gipfel des Felsens führe und Dir die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeige.« Hat er sich durch irgend etwas vergangen und die Geliebte ist streng und kalt gegen ihn, dann vergleicht er sich mit dem Gekreuzigten, 1780, 29. Oktober: »Ob ich Vergebung verdiene, weiß ich nicht, Mitleiden gewiß. So geht's aber dem, der still vor sich leidet und durch Klagen weder die Seinigen ängstigen, noch sich erweichen mag, – wenn er endlich aus gedrängter Seele Eli, Eli, lama asabthani ruft, spricht das Volk: Du hast anderen geholfen, hilf Dir selbst, und die Besten übersetzen's falsch und glauben, er rufe dem Elias.« An Kraft in Gera, 2. November 1778: »Um diesen Teich, den ein Engel nur selten bewegt, harren Hunderte viele Jahre her, nur wenige können genesen, und ich bin der Mann nicht, zwischen der Zeit zu sagen: steh auf und wandle!« (der Teich Bethesda bei Joh. 5, 2 ff.). Ebensohäufig als die christlichen Urkunden, oder noch häufiger vielleicht, schweben ihm die Begebenheiten und Aussprüche des Alten Testaments vor, die jetzt dem Gebildeten, mit Ausnahme etwa der Genesis und Exodus und einiger Psalmen, fremd und unbekannt zu sein pflegen. Er schreibt den 2. Dezember 1776: »Ich preise die Götter, die uns bei den Schöpfen fassen und uns gleich jenen Propheten mit unseren Reisbreitöpfen abseits tragen« (Vom Drachen zu Babel 32 ff., wo der Prophet Habakuk zu Daniel in der Löwengrube getragen wird), 1777, 10. Dezember: »Mit mir verfährt Gott wie mit seinen alten Heiligen, und ich weiß nicht, woher mir's kommt. Wenn ich zum Befestigungszeichen bitte, daß möge das Fell trocken sein und die Tenne naß, so ist's so« (Richter 6, 36-40, Gideons Bitte um ein Zeichen, die ihm der Herr gewährt), und tags drauf: »Und ich kam mir vor wie der König, den der Prophet mit dem Bogen schlagen heißt und der zu wenig schlägt« (2. Kön. 13, 17-19, der Prophet Elisa und König Joas von Israel). Das schöne Gleichnis in dem Briefe aus Berlin, 17. Mai 1778: »Sonst war meine Seele wie eine Stadt mit geringen Mauern, die hinter sich eine Zitadelle auf dem Berge hat. Das Schloß bewacht ich, und die Stadt ließ ich in Frieden und Krieg wehrlos: nun fang ich auch an, die zu befestigen – wär's nur indes gegen die leichten Truppen« – ist doch nur eine weitere Ausführung von Spr. Sal. 25, 28: »Ein Mann, der seinen Geist nicht halten kann, ist wie eine offene Stadt ohne Mauern.« An Frau von Stein, 24. Juni 1779: »Sie tun sehr wohl, daß Sie mich durch Ihre Raben speisen lassen, morgens und abends, denn es ist doch eins der sichtlichsten und gemessensten Zeichen, daß man im Himmel an die Propheten denkt« (wie dem Propheten Elias geschah, 1. Kön. 17, 2-6). Tags darauf schreibt er in sein Tagebuch: »Aber ich lasse doch nicht ab von meinen Gedanken und ringe mit dem unbekannten Engel, sollt ich mir die Hüfte ausrenken« (wie der Erzvater Jacob, Genesis 32). Vom Gipfel des Gotthard, 13. November 1779: »Doch sind wir schon durch so vieles Große durchgegangen, daß wir wie Leviathane sind, die den Strom trinken und sein nicht achten« (nach Hiob 40, 18). Brief vom 9. Mai 1782: »Ein Fremder kommt immer wie Israel durchs Rote Meer, ein Zauberstab macht die feuchten Wände stehend – wehe dem, über den sie zusammenschlagen!« Auch wo sich keine bestimmte Stelle finden will, die den Ausdruck eingegeben hätte, vernehmen wir biblischen Klang, z. B. 13. September 1777: »Ich singe Psalmen dem Herrn, der mich aus Schmerzen und Enge wieder in Höhe und Herrlichkeit gebracht hat.« Auch die Briefe aus Italien, die mit ihrer seelenvollen Schwärmerei noch in diesen mittleren Lebensabschnitt und Dichtungsstil gehören, bedienen sich oft genug biblischer Formen. So gleich anfangs, 19. Oktober 1786 aus Bologna: »Es ist als da sich die Kinder Gottes mit den Töchtern der Menschen vermählten, daraus entstanden mancherlei Ungeheuer« (Genesis 6) und in demselben Briefe: »Und so geht mir's denn wie Bileam, dem konfusen Propheten, welcher segnete, da er zu fluchen gedachte« (4. Moses 22 und 23). Neapel, 3. März 1787: »Die Erde ist überall des Herrn« (nach Ps. 24, 1). Zweiter römischer Aufenthalt, 23. August 1787: »Nun hat mich die menschliche Gestalt gefaßt und ich sie, und ich sage: Herr, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn, und sollt ich mich lahm ringen« (wie oben, Genesis 32), und in demselben Brief: »Die Gestalt dieser Welt vergeht« (1. Kor. 7, 31) und am 28. September: »So lebe ich denn glücklich, weil ich in dem bin, was meines Vaters ist« (Luc. 2, 49). In dem fünften Akt des Egmont, der in Rom geschrieben sein wird, sagt Brackenburg: »Er war der reiche Mann und lockte des Armen einziges Schaf zur besseren Weide herüber« (nach der Parabel Nathans, 2. Sam. 12). Auch in »Rastlose Liebe« ist der Ausdruck »Krone des Lebens«, der kurz vor der italienischen Reise dem Gedicht eingefügt wurde, der Apokalypse 2, 10 entlehnt, so wie das Motto, das er sich in den ersten Wochen nach der Rückkehr zur Lebensführung wählte: »Wenn du stille bist, so wird dir geholfen« (Caroline Herder an ihren Mann, 8. August 1788), nur die Sprüche Jes. 30, 15 und Ps. 62, 2 wiederholt Dasselbe Wort hatte er übrigens schon vor Jahren, in der ersten Weimarer Zeit, sich als Regel vorgehalten, in einem Briefe an Frau v. Stein (bei Schöll. S. 28. Fielitz Nr. 84) und an den Musiker Kayser (1 . August 1776).. Auch wo er nicht dieselben oder ähnliche Worte braucht, sieht er mitten im klassischen Lande biblische Szenen vor Augen: so in Palermo, 15. April, den Zug der Kinder Israel durchs Rote Meer oder in der Todesgefahr auf der Seefahrt von Messina nach Neapel den stürmischen See Tiberias und die Rettung durch den Herrn.

Mit dem Umschwung, der bald nach der Wiederkunft in Goethes Gemüt und Stimmung erfolgte, werden die lutherischen Reminiszenzen seltener. Doch mitten in der heiteren, zärtlichen, mythologischen Sprache der Römischen Elegien klingt noch der Vers:

Und mir leuchtet der Mond heller als nordischer Tag

nach Ps. 139, 12: »Und die Nacht leuchtet wie der Tag«, und in der ersten Epistel:

Doch bald wie jeder sein Antlitz,
Das er im Spiegel gesehen, vergißt –

nach Ep. Jacobi 1, 23-24: »Der ist gleich einem Manne, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschauet. Denn nachdem er sich beschauet hat, gehet er von Stund an davon und vergißt, wie er gestaltet war.« Auch in Hermann und Dorothea, Gesang 5, erinnert der Vers: »Die gebt mir, Vater«, an Richter 15, 2: »Gebt mir dieselbe zum Weibe, gib mir diese«, und der andere im 6. Gesange: »Glück dir und dem Weibe der Jugend« an Spr. Sal. 5, 18: »Freue dich des Weibes deiner Jugend«, oder die Rede des Vaters:

Denn wo nicht immer von oben die Ordnung und Reinlichkeit waltet,
Da gewöhnt sich leicht der Bürger zu schmutzigem Saumsal –

an Sirach 10: »Wie der Regent ist, so sind auch die Amtleute; wie der Rat ist, so sind auch die Bürger«, oder Hermanns Worte:

Und nicht das Mädchen allein läßt
Vater und Mutter zurück, wenn sie dem erwähleten Mann folgt;
Auch der Jüngling, er weiß nichts mehr von Mutter und Vater,
Wenn er das Mädchen sieht, das einziggeliebte, davon ziehn –

an Genesis 2, 24: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen« (auch bei den beiden ersten Evangelisten und Ephes. 5, 31). – Auch Wilhelm Meister schließt mit dem Hinweis auf eine alttestamentliche Geschichte (in Absicht, die Idee des Romans, d. h. die des bloß von seinem Gemüte geführten Irrenden, den dennoch das Schicksal oder das Glück oder eine höhere Hand, oder wie man es nennen will, zum Ziele führt, prägnant zusammenzufassen): »Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand« – und wenn Mignon singt:

Zieht mir das weiße Kleid nicht aus –
– Dort ruh ich eine kleine Stille –

so hat ihr Apokalypse 6, 11 vorgeschwebt: »Und ihnen wurde gegeben ein weiß Kleid und ward zu ihnen gesagt, daß sie ruheten eine kleine Zeit«, und in ihrem Sehnsuchtsliede:

Ach, der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite –

Hiob 16, 19: »Der mich kennt, ist in der Höhe.« Aus der späteren Prosa wollen wir nur aus Dichtung und Wahrheit, Buch 15, die eine bildliche Redensart anführen: »Ich trete die Kelter allein«, die dem Propheten Jesaias 63, 3 angehört. Noch am Schlusse des Lebens brachte der Dichter im vierten Akt des Faust die drei Gewaltigen: Raubebold, Habebald, Haltefest und die Eilebeute aus dem Alten Testament hervor – indem er Jes. 8 und 2. Sam. 23 kombinierte.

Näher und reichlicher als aus den Werken des Mannes und des reifen, gemäßigten, mehr antiken Stiles, spricht die biblische Rede- und Vorstellungsweise aus Vers und Prosa der Jugendzeit. In manchen Straßburger und Frankfurter Briefen scheint der werdende Dichter sich gar nicht anders als in Bildern und Worten des Alten und Neuen Testaments ausdrücken zu können. So wenn er an Herder schreibt: »Ist uns köstlicher denn Myrrhen, tut wohl wie Striegel und hären Tuch dem aus dem Bade Steigenden«, – an denselben: »Ich sah den gepeitschten Heliodor an der Erde, und der himmlische Grimm der rächenden Geister säuselte um mich herum« (nach 2. Makkab. 3), – an Kestner: »Ich wandere in Wüsten, da kein Wasser ist, meine Haare sind mir Schatten und mein Blut mein Brunnen«, – an denselben: »Daß ich ihm wünsche, er möge den Hals brechen wie Eli« (1. Sam. 4, 18), – an Schönborn: »Aber ich höre das Philistervolk schon rufen: er ist voll süßen Weines! und der Landpfleger wiegt sich auf seinem Stuhl und spricht: Du rasest« (Act. Ap. 26, 24).

Ebenso in den Dichtwerken jener Jahre. Götz von Berlichingen: gleich in der ersten Szene der Wirt: »In meiner Stube soll's ehrlich und ordentlich zugehen« (1. Kor. 14, 40: Laßt alles ehrlich und ordentlich zugehen); Bruder Martin: »Der Wein erfreut des Menschen Herz« (nach Ps. 104, 15); derselbe: »Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat, des lebt er noch eins so lange« (wörtlich aus Sir. 26, 1); Liebetraut: »Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande« (Matth. 13, 51, Parall.); Bischof: »Und das Reich ist eine Mördergrube« (Matth. 21, 13, Parall.); Götz: »Daß ich nicht sehen soll, wo alles hinaus will« (Matth. 26, 58: Auf daß er sähe, wo es hinaus wolle); derselbe: »Die mein Fleisch den Vögeln unter dem Himmel und den Tieren auf dem Felde zu fressen vorschneiden soll« (1. Sam. 17, 44: Ich will dein Fleisch geben den Vögeln unter dem Himmel und den Tieren auf dem Felde); Adelheid: »O ihr Ungläubigen, immer Zeichen und Wunder!« (häufige biblische Formel); Elisabeth: »Die großen goldenen Ketten stehen ihnen zu Gesicht« – Götz (unterbricht sie): »Wie dem Schwein das Halsband« (Spr. Sal. 11, 22: Wie eine Sau mit einem goldenen Haarband; wegen der Ketten mußte das Haarband in ein Halsband verwandelt werden und, weil es sich um Ratsherren, also um Männer handelt, die Sau in ein Schwein).

Faust: Allbekannt ist, daß der Prolog im Himmel den ersten Kapiteln des Buches Hiob nachgebildet ist, selbst bis auf einzelne Worte hinaus. Faust: »Ob mir durch Geistes Kraft und Mund (Röm. 15, 19: Durch Kraft des Geistes Gottes); derselbe zu Wagner: »Sei er kein schellenlauter Tor« (d. h. kein Narr? oder vielmehr nach 1. Kor. 13, 1: Ein tönend Erz oder eine klingende Schelle); derselbe zu Gretchen: »Als alle Weisheit dieser Welt« (1. Kor. 3, 19); der Bürger vor dem Tor: »Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei« (Matth. 24, 6: Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen, Mark. 13, 7); Mephistopheles zu Frau Marthe:

Ja, gute Frau, durch zweier Zeugen Mund
Wird allerwegs die Wahrheit kund –

(schon im mosaischen Gesetz, danach auch im Neuen Testament, z. B. Joh. 8, 17: auch stehet in eurem Gesetz geschrieben, daß zweier Menschen Zeugnis wahr seie); derselbe: »Habe noch gar einen feinen Gesellen« (Tob. 5, 5: und fand einen feinen jungen Gesellen stehen); derselbe:

»Ein eigner Herd,
Ein braves Weib sind Gold und Perlen wert –«

(nach Spr. Sal. 31, 10: Wem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler, denn die köstlichsten Perlen). Margarete:

Ihr Engel, ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!

(nach Ps. 34, 8: Der Engel des Herrn lagert sich um die her, so ihn fürchten, und hilft ihnen aus). In ihrem Liede von dem König in Thule ist die Zeile:

Die Augen gingen ihm über

dem Ev. Joh. 11, 35 entnommen: Und Jesu gingen die Augen über (wegen des Lazarus, wie dem König von Thule wegen des Todes seiner Buhle).

Prometheus: »Ich habe sie geformt nach meinem Bilde« (Genesis 1, 26-27); »Ist seine Hand wider jedermann, wird jedermanns Hand sein wider ihn« (nach Genesis 16, 12); »Da ich ein Kind war« (nach 1. Kor. 13, 11).

Werther, 3. November: »Ich habe oft Gott um Tränen gebeten, wie ein Ackersmann um Regen, wenn der Himmel ehern über ihm ist und um ihn die Erde verdürstet« (nach 5. Mos. 28, 23-24: noch in der Eugenie 5, 6: Ist denn der Himmel ehern über mir?).

Egmont, in einer der Volksszenen, also wohl noch in Frankfurt gedichtet: »Was an euch ist, Ruhe zu erhalten, Leute, das tut« (nach Röm. 12, 18: Ist es möglich, so viel an euch ist, so habt ihr mit allen Menschen Frieden).

Stella, die Postmeisterin: »Das tut die Jugend: werden sich schon legen die stolzen Wellen« (nach Hiob 38, 11: Hier sollen sich legen deine stolzen Wellen).

Mit allem Obigen haben wir nur Beispiele, einzelne Proben, keine erschöpfende Sammlung geben wollen. Eben durch solche bald bestimmte, bald unbestimmte biblische Erinnerungen wird zum großen Teil der Eindruck des Deutschen, des Traulichen, Heimatlichen bewirkt, den jeder von Goethes Dichtungen, wie bei seinem ersten Auftreten so noch jetzt, empfing und empfängt. So sprachen die Eltern, die Großeltern, so klang die Rede im Hause, im Verlauf des Tages und des Jahres; auch der Jüngling wußte es nicht anders und wiederholte nur, was er seit den Kinderjahren gehört. Goethes Mutter war gewohnt, mit der Bibel zu verkehren und diese in Zweifel und Sorgen als Orakel zu brauchen; so fand sie bei Erkrankung des Sohnes Trost und Beruhigung in dem Spruch aus Jeremias von den Weinbergen Samariä, und lesen wir jetzt die Briefe der Frau Rat, so fehlt fast in keinem eine Anspielung auf die Bibel oder eine Redensart von daher, und jedesmal, wenn die Schreiberin nach neckischem Geplauder ernsthaft wird, dient ihr der Ton der Psalmen zum Ausdruck des Gedankens oder Gefühles. Auch der Vater gab dem Sohne bei dessen erster Reise nach Italien, die aber nur bis Heidelberg ging, den Spruch aus dem Evangelium Matthäi mit auf den Weg: »Bittet, daß eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbat« – und der Text kam ihm also von selbst in den Mund. (Ein jetziger Vater würde, wenn er gebildet und nicht gerade ein Geistlicher wäre, bei solcher Gelegenheit einen Spruch nicht aus der Bibel, sondern aus Goethe oder Schiller oder, wenn er mehr zum mittleren Durchschnitt gehörte, einen aus Heine oder aus der Offenbachschen Oper wählen.) Während der unendlichen Verödung des Nationalgeistes in der langen Zeit von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war die Bibel der einzige Halt des Armen; die Bürgerwelt kannte keine andere Form idealer Erhebung und in Trauer und Not kein anderes Labsal. Die Vornehmen, die unter den groben und rohen oder pedantischen und servilen Volksgenossen nichts Ansprechendes fanden, wandten sich den Sitten und der Sprache des Auslandes zu, und allmählich hatte sich von diesem in immer weiterer Herrschaft jene Denkart festgesetzt, die man sich gewöhnt hat, die Aufklärung zu nennen. Diese neue Bildung nährte sich von nur oberflächlichen, selbstzufriedenen Verstandesbegriffen, und demgemäß war auch ihre Sprache arm, farb- und blutlos, dem Volksgemüt und der nationalen Vergangenheit abgekehrt. Von der letzteren aber, also aus Chroniken, Liedern, gedruckten und gesprochenen Vermächtnissen alter Zeiten, besonders aber aus der lutherischen Bibel zog Goethes Ausdruck sein Leben und seine Kraft.

Wir Neueren wissen in der Regel gar nicht, wieviel in unserer gewohnten Umgangssprache ursprünglich biblisches Gut ist. Wenn wir sagen: es geschieht nichts Neues unter der Sonne; niemand kann zweien Herren dienen; dem Reinen ist alles rein; Ehre, dem Ehre gebührt; wes das Herz voll ist, des geht der Mund über; ein Arbeiter ist seines Lohnes wert; wer Pech angreift, besudelt sich; die Haare standen mir zu Berge; wir schüttelten den Staub von den Füßen; es fiel mir wie Schuppen von den Augen; da wird kein Stein auf dem andern bleiben; die Axt an die Wurzel legen; wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler; nicht wert, ihm die Riemen seiner Schuhe aufzulösen; bleibe im Lande und nähre dich redlich; wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein; Arzt, hilf dir selber; dies soll man tun und jenes nicht lassen; wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; jeder Tag hat seine Plage (wie auch Philine singt); wes Geistes Kinder sie sind; sie sind ein Herz und eine Seele; Herzen und Nieren prüfen; nach seiner Pfeife tanzen; auf Händen tragen; ein Spott der Leute werden; sich in die Zeit (oder die Welt) schicken; an etwas Schiffbruch leiden; das gute Teil erwählen; zahllos wie Sand am Meer (auch bei den griechisch-lateinischen Klassikern); ein Ende mit Schrecken; das Herz ausschütten; mit Blindheit geschlagen; zuschanden werden; in den Wind reden; Recht und Gerechtigkeit; herrlich und in Freuden; Land und Leute; Hunger und Kummer; zittern und zagen; volle Kammern; des Todes Bitterkeit (»bittrer Tod« Gretchen im Kerker, »bittren Tod« Iphigenie 4, 2); das sei ferne; lieb und wert; von Stund' an; sauer sehen; über die Maßen; gehab dich wohl; weg mit ihm – so haben alle diese und viele andere umlaufenden Worte und festen Formeln ihre Quelle in Luthers Bibel, aus deren Sprache ja auch das Kirchenlied und der Stil jeder geistlichen Rede sich gründeten und noch gründen.

Wieweit nun auch der eigentliche deutsche Satzbau aus dem noch sehr elementaren der hebräisch-griechischen, lateinischen und deutschen Bibel sich hervorgebildet hat – dies zu ermitteln würde eine feine und lange Beobachtung und Untersuchung erfordern. Indes, da das Volk nicht schrieb, und auch die Frauen nicht, so war auch das syntaktische Gefüge, wie es im 18. Jahrhundert sich festgestellt hatte, mehr das Werk der Bildung, bewußter Kunst, des erwachten logischen Denkens, die Arbeit gelehrter Nachahmer. Das Lateinische und Französische, diese in der Kultur vorangegangenen, scharf in Syllogismen entwickelten und wie zu Kristallen gefrorenen Sprachen, gaben auch dem deutschen Schreiber das Muster und das Vorbild ab. Bei Luther sind die Konjunktionen noch sehr dürftig und unbestimmt, die Interpunktion eine bloß allgemeine, unentschiedene, das Verhältnis der Satzglieder schwankend, selbst die Wortfolge noch nicht geregelt. Auch darin folgt Goethe gern der Sprache des 16. Jahrhunderts und der Bibel. Wenn es z. B. heißt: »Nehmet wahr der Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen, sie arbeiten nicht, so spinnen sie nicht«, oder »Der Herr hat alles Land in unsere Hände gegeben, auch so sind alle Einwohner des Landes feig für uns«, so sagt auch der Fremde zu Wilhelm Meister, 1, 17: »Von Bronzen besaß er eine sehr instruktive Suite, so hätte er auch seine Münzen zweckmäßig gesammelt«, und nicht anders das Lied der Bauern im Faust:

Schon um die Linde war es voll,
Und alles tanzte schon wie toll,
So ging der Fiedelbogen.

Und wenn wir 2. Sam. 14, 13 lesen: »Daß er seinen Verstoßenen nicht wiederholen lässet«, so begegnet uns dieselbe ungewöhnliche Wendung in Hermann und Dorothea:

Er sprach zu seiner Verwunderten also –.

Sorglose Verbindungen der Art, da sie dem lateinischen periodologischen Stil, wie er in den Büchern der akademischen Magister und sogenannten Weltweisen herrschte, gerade entgegengesetzt sind, erhöhen nur den Reiz dieser lebendigen, kindlichen, nachlässigen, übermütigen, den Verstand geflissentlich neckenden und beschämenden Goetheschen Poesie und Prosa.


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