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Stände

Das Zusammenleben der Menschen, naturgeschichtlich bestimmt, sondert sich je nach der Beschäftigung in getrennte Gruppen, jede mit eignem, durch die Stellung und das Verhältnis zum Ganzen ihr ausgedrückten Gepräge. So fand es schon, wie wir gesehen haben, ein ehrwürdiger Gesetzgeber des Altertums, der weise Solon, sechshundert Jahre vor der christlichen Ära, ja in noch früherer Zeit zeigen sich uns in Griechenland leichte Abbilder des ägyptischen und indischen Kastenwesens, durch Abkunft und Vererbung befestigte Arten der Tätigkeit: so die Sänger, denen wir das älteste Epos verdanken, die Homeriden, oder die Ärzte, die Asklepiaden, auf der Insel Kos und anderswo; sie tragen alle gleichen Namen, zum Zeichen, daß das Individuum außer dem Geschlechte und Berufe nichts ist und nichts zu sein verlangt.

Auch die germanische Welt erscheint, wo sie uns zuerst bekannt wird, in die drei Stände der Knechte, Freien und Edlen geteilt; aus den letzteren gingen die Könige hervor, die zugleich das Amt des Priestertums übten. Dieselben drei Stände leitet das altnordische Rîgsmâl in mystischer Weisheit aus der Familie und deren Erbfolge ab. Von dem Ältervater und der Ältermutter ( ai und edda) stammen die Knechte ( thraelar), vom Großvater und der Großmutter ( afi und amma) die Freien ( karlar, noch heute deutsch Karl, Kerl), endlich von Vater und Mutter ( fadir und môdir) die Edeln ( iarlar, das angelsächsische eorl, englische earl). Die ersteren sind mißgestalt und schmutzig, nähren sich von grober Speise, die letzteren schön, leuchtend, tapfer und kriegerisch. Im christlichen Mittelalter zerfällt die Gesellschaft noch immer in drei Teile, aber als eine durch fremde Kultur und den Gang der Völkergeschichte bewirkte Gliederung: es sind die Bauern, die Ritter, die Priester. So in Freidanks »Bescheidenheit«, 7, 1:

Got hat driu leben geschaffen,
Gebôre, ritter, phaffen –

was andere mit den drei Worten: stole, swert, phluoc bildlich ausdrücken. Gegen Ende des Mittelalters, als die adlige Romantik, die aus Frankreich gekommen war, und die religiöse Phantastik, die die Kreuzesfahne nach Jerusalem getragen hatte, verblüht war, kam eine vierte Abstufung von mehr prosaischem und nüchternem Charakter hinzu – die Bürger der Städte, die Zünftler und ihre Obrigkeiten. Die Reformation entfernte dann in allen Gegenden, wo sie sich durchgesetzt hatte, die Pfaffheit oder Stola als eigene, der Welt der Laien gegenüberliegende Schicht, und es blieben wiederum die drei sich übereinanderbauenden Stockwerke: Bauern, Bürger, Adel. Im achtzehnten Jahrhundert endlich, zur Zeit Goethes, war im modernen Staate das Leben mannigfacher geworden und zerfiel innerhalb der genannten, noch immer geltenden Grundzüge in eine Menge besonderer Gestalten und individueller Berufskreise. Aurelie im »Wilhelm Meister« (4, 16) zählt einige auf, mit kurzer, scharfer Charakteristik: der kühne Soldat ( fortis et animosus, Egmont im Kerker: »Wo der Soldat sein angeborenes Recht auf alle Welt mit raschem Schritt sich anmaßt«, Soldatenlied im Faust: »Kühn ist das Mühen, herrlich der Lohn«, »Mädchen und Burgen müssen sich geben«) Aus Ottiliens Tagebuche: »Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat. – Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Charakter, und weil doch meist hinter der Stärke eine Gutmütigkeit verborgen liegt, so ist im Notfall auch mit ihnen auszukommen.«, der rasche Prinz (der flüchtige Junker am Anfang von »Wilhelm Meister« ist soviel als der Offizier), der derbe Landbaron, der phantastisch aufgeputzte Student (auch innerlich phantastisch, erfahrungslos, hohlbegeistert, seine Kräfte vergeudend), der bewegliche Ladendiener (der dienstwillig und gefällig im Laden hin und her fährt, auf und ab klettert), der schwankfüßige, genügsame Domherr, der freundlich glattplatte Hofmann, der eingebildete Kaufmannssohn (anspruchsvoll und halbgebildet, mit Ringen und Ketten), der gewandte, abwiegende Weltmann, der junge, aus der Bahn schreitende Geistliche (damals vielleicht der rationalistische, keck das Dogma verwerfende, der Freund der Literatur, des Theaters und der Schauspielerinnen; später kam eine Zeit, wo der Geistliche im orthodoxen Eifer nach der entgegengesetzten Seite aus dem Geleise geriet), der steife aufmerksame Geschäftsmann, der demütig-stolz verlegene Gelehrte (äußerst treffende Beiwörter), der gelassene sowie der schnelle und tätig spekulierende Kaufmann (ersterer der deutsche in den Seestädten, letzterer der jüdische) usw. Vielleicht ist dies Bild der sozialen Bestandteile um dieselbe Zeit entworfen, wo der Dichter an Frau von Stein schrieb (20. September 1785): »Edelsheim (Geheimrat im Dienste des Markgrafen von Baden) ist auch hier, und sein Umgang macht mir mehr Freude als jemals, ich kenne keinen klügeren Menschen. Er hat mir manches zur Charakteristik der Stände geholfen, worauf ich so ausgehe« – oder auch drei Jahre früher, als er in sein Tagebuch schrieb (19. Januar 1782): »Jeder Stand hat seinen eigenen Beschränkungskreis, in dem sich Fehler und Tugenden erzeugen« – oder endlich in oder bald nach Italien, denn von dort schreibt er (2. Oktober 1787): »Ich habe Gelegenheit gehabt, über mich selbst und andere, über Welt und Geschichte viel nachzudenken, wovon ich manches Gute, wenngleich nicht Neue, auf meine Art mitteilen werde. Zuletzt wird alles im Wilhelm gefaßt und beschlossen« – und in der Morphologie, Schicksal der Handschrift: »Das dritte, was mich beschäftigte (nach der Rückkehr aus Italien), waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie aus dem Zusammentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerstand ein drittes hervorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und zufällig, absichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesellschaft.«

Goethe selbst war bürgerlich geboren, und so zeigen uns seine Schriften zunächst Abbilder gerade dieses Standes und der in demselben herrschenden Gesinnungen und Sitten. Dies gilt besonders von den Dichtungen vor Weimar, dann von denen nach Italien. Über ihnen allen liegt ein eigentümlich bürgerlicher Himmel, und von diesem weht uns der Atem freundlicher Wärme, gesunden Verstandes, sittlicher Begrenzung, aber auch herber Strenge entgegen. Die letztere führt dann, da sie das Urrecht des Gemütes nicht anerkennen kann, zu Elend und Verderben; aber indem ihr dies Opfer dargebracht wird, löst sie sich in ihrem harten Eigensinn auf, und es ergibt sich ein milderes Urteil über den Selbstmörder, wie Werther war, oder über den Fall eines armen Mädchens, wie Gretchen, die in Scham und Angst vergehend zur Kindesmörderin wird. Die Wahrheit dieser Schilderungen ist so groß, daß sie von selbst zur Schalkheit wird – die im nächsten Augenblick wieder in Ernst übergeht, der aber vielleicht selbst nur verstellt und dadurch um so liebenswürdiger ist. Dies alles kann mehr empfunden als in Worte gefaßt und dargetan werden, und wir begnügen uns daher, einige Züge aus dem Leben goethischer Bürgersleute zu sammeln und die Sicherheit der Auffassung und Treue der Wiedergabe an Beispielen ins Licht zu stellen.

Echt bürgerlich ist die Abneigung gegen Mystik und Vision, gegen Irrwege der Phantasie und Verrückung der Grundlagen des Lebens. Für tiefere Seelenleiden hat das Bürgertum weder Begriff noch Mitgefühl, es mag auch in der Kirche, Staat und Dichtung das Exzentrische nicht. Wie nur aus diesen Kreisen eine so reine Mädchennatur, wie Gretchen sie uns zeigt, hervorgehen konnte – aus dem Adel nicht, da wäre sie früh verbildet worden, aus dem Bauernstande nicht, da wäre sie in grober Arbeit derb und ohne Seele verblieben –, so war auch nur dort ihr Schicksal so rettungslos; unerbittlich ist Valentin in seinen letzten Worten, die Mädchen am Brunnen kennen kein Erbarmen, und der böse Geist im Dome flüstert der Schuldbewußten schreckliche Gedanken zu. Klärchens Mutter war schwach genug gewesen, die Liebe ihrer Tochter zu dem vornehmen Ritter zuzulassen, doch macht sie sich Vorwürfe und gedenkt mahnend der Zukunft; Gretchens Mutter muß aber eine strenge Frau gewesen sein: »Würden wir von ihr betroffen,« sagt Gretchen, »ich wär gleich auf der Stelle tot«, und der Tochter Schande, sowie daß ihr Sohn auf der Straße erstochen worden (beides hing ja genau zusammen), wird ihr den Tod gebracht haben. Denselben Fehltritt wie Gretchen hatte Melinas nachmalige Gattin begangen, und sie bekannte dies frei; dies schadete ihr in Wilhelms Augen nichts, anders aber dachten die Gerichtspersonen und die gegenwärtigen Bürger: die einen erkannten sie für eine »freche Dirne«, die andern dankten Gott, »daß dergleichen Fälle in ihren Familien entweder nicht vorgekommen oder nicht bekannt geworden waren« (Wilhelm Meister 1, 13). Auch nahm es mit Frau Melina ein fast ebenso böses Ende wie mit Gretchen und Klärchen: sie wurde Schauspielerin, und was konnte es Verächtlicheres geben als dies landstreicherische, zuchtlose Gewerbe? Ein bedeutungsvoller Kontrast ist es, daß Wilhelm, der angehende Bretterheld, der mit einer desgleichen Heldin durchgehen wollte, der Sohn eines stattlichen und richtigen Kaufherrn sein mußte; daß er, der in Mariannens Kammer alles durcheinanderliegen sah, in einem feinen Bürgerhause, wo Ordnung und Reinlichkeit aufs höchste galten, erzogen war (1, 15; »fein« ist hier der technische Ausdruck; auch Goethes Vaterhaus war ein feines, Hermanns Vater ein feiner Bürger). Aber eben die »verworrene Wirtschaft« ist es, die zur Entdeckung von Mariannens Untreue führt; der Nebenbuhler war ein junger Kaufmann, und in den wenigen Zeilen seines Briefchens (am Ende des ersten Buches) malt sich meisterhaft, in jeder Wendung und bis ins kleinste Wort, die eigentümliche Roheit der Jünglinge dieses Standes. Der Kaufmann gehört zwar auch zum Bürgertum, aber in gewissem Sinne ist er darüber hinaus; er spekuliert und reflektiert, und so trägt ihn der Grund naiver Sitte nicht mehr; er muß die Menschen beobachten, die Zeiten bedenken, damit er aus beiden seinen Vorteil ziehe; ideale Motive liegen ihm fern, und er verfällt leicht in grobe Sinnlichkeit; er gehört zu den besten Kunden des Austernkellers und der Kupplerin; da er das Geld nicht zu sparen braucht, so gelingt ihm die Verführung bald, und nicht bloß die Tänzerin, auch die Tochter armer Eltern nimmt seine Geschenke an und leiht ihm Gehör. So war Norberg, der das erwähnte Zettelchen schrieb, so auch von andrer Seite Werner. Goethe, als geborner Frankfurter, wußte in der Kaufmannswelt Bescheid, und wenn er sie meist in ungünstiger Beleuchtung schildert, so geschieht es, weil sie ihm als Gegensatz zu der Wärme des Gemütes und dem Adel der Erscheinung dienen muß. Aus Frankfurt schreibt er an Schiller (9. August 1797): »Menschen, die aus dem Kaufmannsstamm zur Literatur und besonders zur Poesie übergehen, scheinen mir keiner Erhebung fähig, so wenig als des Begriffs, worauf es eigentlich ankommt; vielleicht tue ich dieser Kaste unrecht.« In »Hermann und Dorothea« ist das Haus des Kaufmanns, das dem Goldenen Löwen gegenüberliegt, neu und schön, mit weißen Schnörkeln in grünen Feldern und großen glänzenden Spiegelscheiben, »denn wo gewinnt nicht der Kaufmann«, der bei seinem Vermögen

auch die Wege noch kennt, auf welchen das Beste zu haben?

Er fährt im offenen Landauer Wagen mit seinen drei Töchtern; Sonntags versammeln sich bei ihm die wohlfrisierten »Handelsbübchen, denen halbseiden das Läppchen herumhängt«; da wird aus der »Zauberflöte«, die damals noch neu war, zum Klavier gesungen; die Mädchen kichern und lachen über Hermann, weil er nicht nach der Mode gekleidet ist, »denn eitel sind sie und lieblos«, wie auch der Vater, und allen den Menschen dieses Kreises fehlt es an Herz. Ihnen gegenüber stellt Hermann das deutsche Bürgertum in echter Gestalt dar, das Bürgertum, wie es innerhalb seiner Schranken seine Gesinnung und seinen Frieden bewahrt hat. Hermann ist treu und fleißig, gediegen und tüchtig. Ihm ist versagt, raschen Geistes dem Scheine der Dinge leichten Ausdruck zu geben, die feinere und geistreichere, aber auch flüchtige und nichtige Lust des Lebens zu erkennen und zu ergreifen. Aber man kann sich auf ihn verlassen, sowohl auf sein Wort als auf die Arbeit, die er tut. In Gesellschaft ist er ungeschickt und blöde, sein Auftreten, seine Kleider sind etwas bäurisch; Weltmenschen erscheint er lächerlich, der List gegenüber ist er ohne Waffen. In der Schule ging es mit ihm langsam; der Vater klagt, daß er immer der Unterste saß; war aber etwas von ihm angeeignet, so war es, weil seiner Natur gemäß, sein Besitz auf immer. Das Unbehilfliche seines Wesens ist nur die Kehrseite der Lauterkeit seines Innern. Gutmütig ließ er sich von andern Knaben manches gefallen; nur wenn sein Gemüt ins Spiel kam, z. B. wenn über seinen Vater gespottet wurde, über dessen bedächtigen Gang und großblumigen Schlafrock, dann erwachte sein Zorn, und blind hieb er um sich. Fließend und beredt sprechen war nicht seine Sache; »deine Zunge stockte immer«, sagte der Vater. Desto besser gelangen ihm ländliche und häusliche Arbeiten, im Garten, im Weinberg, auf dem Felde; seine Hengste hat er selbst auferzogen und besorgt sie selbst im Stalle, recht ein Wirtssohn, dessen Freude immer die Pferde sind. Er ist frühmorgens auf, und wenige Stunden gesunden Schlafes genügen ihm; überhaupt ist er gesund, hat starke Nerven und einen hohen Wuchs. Er ist kein Jean-Paulischer Held, der Sehnsucht nach den Sternen hat; nicht für das Weite und Umfassende ist er geschaffen, sondern für ein geordnetes, immer wiederkehrendes Erwerbs- und Familienleben. Zwar will er in den Krieg ziehen und aus den gewohnten Verhältnissen scheiden, aber nicht weil ihm diese zu eng sind, sondern weil er in der ihm zukommenden Gestaltung seines häuslichen Lebens gestört und gehindert wird. Vor den Mädchen in zweierlei Tuch zu prunken, diese Eitelkeit fällt ihm nicht ein. Am Schlusse des Gedichtes spricht er eine standhafte patriotische Gesinnung aus, aber nur weil der gewonnene Besitz des Weibes ihn mit dem Gefühl des Eigentums überhaupt erfüllt hat: »Nun ist das Meine meiner als jemals«, ruft er aus; dann auch, weil er dunkel empfindet, daß allein in der Nation, im nationalen Staate die Sphäre gegeben ist, die alles Privatglück erzeugt und verbürgt. Auch die Art, wie seine Liebe zu Dorotheen sich äußert, ist dem Lebenskreise gemäß, dem er angehört. Kein Wahn und Rausch der Phantasie stürzt ihn zu des Mädchens Füßen, sondern in stiller Kammer hat er sich einsam gefühlt, die Geschäfte sind ihm öde erschienen, der Vater wird alt, die Habe mehrt sich – für wen schaffen und sich mühen? Er entbehrte der Gattin, er sehnte sich nach einer Lebensgefährtin. In solcher Stimmung begegnete er Dorotheen; er sah sie am Wagen in froher Gewandtheit,

die Stärke des Arms und die volle Gesundheit der Glieder,

vernahm ihre verständigen Worte, und mit reinem Gefühl ist er im Augenblick entschieden, und seine Neigung ist so herzlich, daß sie sicherlich durch ein bleibendes häusliches Glück belohnt werden wird.

Hermann hat in gehobener Rede die entschlossenen Völker gepriesen, die für Gott und Herd gegen den Feind mit den Waffen einstehen, aber er schließt doch mit den Worten: »Und wir erfreuten uns alle des Friedens.« So auch der Vater am Anfang des Gedichtes: »Müde schon sind die Streiter«, sagt er und sieht mit ungeduldiger Freude dem erwünschten glücklichen Feste entgegen, wo das Tedeum in der Kirche den Frieden verkündigt und die Gemeinde dem Himmel ihren Dank dafür darbringt. Und was anders ist der Sinn der ganzen Dichtung von Hermann und Dorothea, als daß in wilder Zeit, in der Auflösung alles Gewordenen, doch die heilende Naturkraft sich bewährt und in Haus und Besitz, in Stiftung der Familie, in begrenztem Dasein und wiederkehrender sich bescheidender Tätigkeit die ewige Ordnung unzerstörbar ist? So sagt der Pfarrer:

Aber jener ist mir auch wert, der ruhige Bürger,
Der sein väterlich Erbe mit stillen Schritten umgehet
Und die Erde besorgt, so wie es die Stunden gebieten –
Glücklich, wem die Natur ein so gestimmtes Gemüt gab!

Und in demselben Sinne die Mutter zu Hermann:

Denn es ist deine Bestimmung, so wacker und brav du auch sonst bist,
Wohl zu verwahren das Haus und stille das Feld zu besorgen.

Der Krieg ist ein Übel, er bleibe fern von uns:

Doch nur zu Hause bleib's beim Alten –

aber wie es süß ist, vom Hafen Schiffbrüchige zu sehen, so gibt es nichts Besseres, als an Sonn- und Feiertagen (in der Woche ist keine Zeit dazu) bei dem Kruge Bier oder dem Glase Wein über die Absichten der Fürsten und den Marsch der Armeen weise Meinungen auszutauschen und, wenn dies mit Hitze geschehen ist, abends ruhig nach Hause zu gehen und Fried' und Friedenszeiten zu segnen. Besonders reich an Zügen bürgerlicher Politik ist »Egmont«. »So seid ihr Bürgersleute,« ruft Vansen den ehrsamen Meistern Schneider, Zimmermann und Seifensieder zu, »ihr lebt nur so in den Tag hinein, und wie ihr euer Gewerb von euren Eltern überkommen habt, so laßt ihr auch das Regiment über euch schalten und walten, wie es kann und mag.« Was ist bezeichnender als des Schneiders Jetter bürgerliche Abneigung gegen das Soldatenwesen und die Einquartierung, als seine Furcht und Ängstlichkeit Wie der Schmied kräftig, der Metzger roh, so ist der Schneider furchtsam. S. das Gedicht: »Schneidercourage«; Wilhelm Meister 5, 12: »schneidermäßig gejammert«., der übrigen Vertrauen auf den adligen Führer, den Grafen Egmont, ihr Einspinnen in Haus und Gewerbe bei öffentlichem Unglück und drohender Gefahr? So bringen sie denn auch beim Wein, der ihnen das Herz öffnet, den bürgerlichen Trinkspruch aus: »Sicherheit und Ruhe, Ordnung und Freiheit!« Freiheit nämlich von jedem Eingriff in das Herkommen und die alten Rechte, Freiheit auch der persönlichen Existenz und der eignen Meinung – denn das Murren wider den Burgemeister, der Streit der Ratsherrn und der Zünfte untereinander – das muß erlaubt sein.

Nein, er gefällt mir nicht, der neue Burgemeister!
– Gehorchen soll man mehr als immer
Und zahlen mehr als je vorher

Im übrigen dankt der Bürgersmann jeden Morgen Gott, daß er nicht Kaiser oder Kanzler ist und nicht für das römische Reich zu sorgen braucht. Denn

Tu nur das Rechte in deinen Sachen,
Das andre wird sich von selber machen.

Überall, wo das Bürgertum sich unverdorben erhalten hat, liebt es, den sittlichen Mächten, von denen es beherrscht wird, in Sprichwörtern, Maximen, Erfahrungen, allgemeinen Sätzen Ausdruck zu geben. Diese Lehrsprüche sind dem Bürgersmann was die Wetterregeln dem Bauern und leiten sein Tun mehr als die Dogmen, die er Sonntags von der Kanzel hört. Er führt sie gern im Munde und fügt dann hinzu: »So sagen die Weisen« oder: »So sprachen die Alten.« Nicht alle sind auf deutschem Boden erwachsen, viele stammen von Griechen und Römern und wanderten auf verschiedenen Wegen ein, viele sind aus der Bibel geschöpft. Als im Mittelalter der farbige Nebel romantischer Fiktionen zergangen und allmählich in den Städten ein arbeitender Bürgerstand ausgetreten war, da tat sich in Spruchgedichten die echt bürgerliche, etwas beschränkte Lebensweisheit aus – worüber jede Literaturgeschichte Auskunft gibt. So ist auch Sancho Pansa, der verkörperte plebejische Menschenverstand, unerschöpflich in Sprichwörtern, mit denen er die Schwärmereien seines adligen Herrn zu Fall bringt. In »Hermann und Dorothea« ist dies der Ton, in dem alle Reden gehalten sind: es sind ganz bürgerliche Betrachtungen und Erwägungen, gezogen aus der Erfahrung des täglichen Lebens, aus dem Umgang unter Gleichen, in kleinen Kreisen, nicht geistreich und originell, da sie ja geltende Klugheit enthalten, aber kräftig und verständig, auch liebevoll und treu. Und auch das eigentliche Sprichwort fehlt nicht; so sagt der Vater:

Ein- für allemal gilt das wahre Sprüchlein der Alten:
Wer nicht vorwärts geht, der geht zurücke. So bleibt es.

Da das Gedicht von Reineke Fuchs sich die Aufgabe stellt, den Lauf der Welt, die Menschen, wie sie sind, zu schildern – daß unter diesen nicht gerade das Böse, wohl aber die List und der Verstand stets die Oberhand behalten –, so ist es besonders reich an sprichwörtlichen Wendungen echt deutscher Art, und wer sie sammeln wollte, könnte wohl mehr als einen Bogen damit füllen. Drum hier nur ein paar Beispiele. Im ersten Gesang:

Alt und wahr beweist sich das Sprichwort:
Feindes Mund frommt selten.

Im zweiten:

Aber vergebens, wie Toren sich oft mit Hoffnung betrügen.

Ebenda:

Maß ist überall gut, bei allen Dingen.

Sechster Gesang:

Besser geschworen als verloren.

Achter Gesang:

Durch die Welt sich zu helfen, ist ganz was eignes: man kann sich
Nicht so heilig bewahren als wie im Kloster, das wißt ihr;
Handelt einer mit Honig, er leckt zuweilen die Finger.

Ebenda:

Kleine Diebe hängt man so weg, es haben die großen
Starken Vorsprung, mögen das Land und die Schlösser verwalten.

Elfter Gesang:

Besser laufen als faulen.

Ebenda:

Recht bleibt Recht, und wer es auch hat, es zeigt sich am Ende.

Neben solchen Erfahrungssätzen findet auch die positive Religion in dieser Bürgerwelt die gebührende Achtung und Ehrfurcht, doch nur insofern sie den natürlichen Verlauf des Lebens begleitet und die bestehenden sittlichen Anstalten heiligt und regelt, Geburt und Tod, Verlobung und Trauung, silberne Hochzeit, Friedensschluß, Fest des Landesherrn, Weihe des Hauses usw.; sie ist um so willkommener, je mehr sie mit mäßigem Anspruch im Geleise des Hergebrachten verbleibt und mit ihren Satzungen sich nicht aufdrängt. So ist auch der Pfarrer in »Hermann und Dorothea« ein milder, aufgeklärter Mann, der nicht bloß die heiligen, sondern auch die besten weltlichen Schriften kennt und schätzt und mit seinen Tröstungen und Ermahnungen nur die allgemeine Gesinnung bestätigt und durch höhere Bildung läutert und adelt.

Daß die Gewohnheit dem Bürgersmann heilig ist, erhellt aus allem Obigen. Durch Neues wird das Behagen gestört; ein lange getragenes Kleid ist bequem, und man legt es nicht gern ab; ein neuer Schuh drückt immer, auch wenn ihn der Meister Knieriem von drüben mit bekannter Geschicklichkeit dem Fuße angepaßt hat. Wir wollen nur an eine Redensart erinnern, durch welche die Sprache selbst diesen Umstand zu bekräftigen scheint: die löbliche Gewohnheit, das löbliche Herkommen, die löbliche Ordnung und Sitte. Bei Goethe kehrt diese Formel häufig wieder: »Im Innern ist ein Universum auch, daher der Völker löblicher Gebrauch« (Gott, Gemüt und Welt) – »nach meiner löblichen und unlöblichen Gewohnheit« (Italienische Reise) – »herkömmlich löblicher Sitte gemäß« (Campagne in Frankreich) – »in der genauesten und bestimmtesten Beschränkung einer löblichen hergebrachten Freiheit genoß« (Aus meinem Leben, Buch 14) – »der schweizerischen löblichen Ordnung und gesetzlichen Beschränkung« (ebenda, Buch 19) – »in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edeln Gegenständen, im Umgänge mit guten Menschen aufgewachsen« (Wilhelm Meister) – »die Frauen genießen einer löblichen Freiheit« (Die guten Weiber) – »nach alter löblicher oder unlöblicher Gewohnheit« (Olfried und Lisena) – »nach seiner löblichen Gewohnheit« (An Schiller, 15. Okt. 1796) – und gewiß noch an andern Stellen.

Bürgerlich, kleinstädtisch ist auch die Geltung, die der Nachbarschaft zukommt. Die Nähe der Wohnung bringt gleiche Not, gleichen Zufall, wird zum Bande der Freundschaft, zur Vertraulichkeit. Nachbarn sehen sich oft, helfen sich aus, die Kinder erwachsen zusammen spielend aus demselben Hofe, klettern über dieselben Gartenzäune herüber und hinüber. Die Verlästerung ist nur die andre Seite dieser wärmeren menschlichen Teilnahme. Frau Marthe Schwerdtlein, die von ihrem Städtchen klagt:

es ist ein gar zu böser Ort,
Es ist als hätte niemand nichts zu treiben
Und nichts zu schaffen,
Als auf des Nachbarn Schritt und Tritt zu gaffen,
Und man kommt ins Gered', wie man sich immer stellt –

ist Gretchens Nachbarin, zu ihr springt Gretchen hinüber, vertraut ihr, was sie der Mutter nicht zu gestehen wagt, und in ihrem Garten geschehen die Zusammenkünfte mit Faust. Der Apotheker wird mit »Nachbar« angeredet und hat als solcher ein Recht, Hermann bei der Brautwerbung zu helfen und in einer so wichtigen Angelegenheit seine Stimme abzugeben. »Frisch, Herr Nachbar, getrunken!« ruft ihm der Vater zu, und der andere sagt: »Gerne geb' ich es zu, Herr Nachbar.« Auch Hermann redet ihn so an: »Nachbar, keineswegs denk' ich wie Ihr!« Ein anderes Beispiel bietet das Fastnachtsspiel vom Pater Brey. Da ist der Würzkrämer als Nachbar befugt, der Frau Sibylle den Wahn zu benehmen und den Herrn Pater zu entlarven. »Frau Nachbarin,« sagt er, »was ist Ihr Begehr?« und sie spricht: »Ei, der Herr Nachbar braucht einen nicht sehr«, worauf er erwidert:

Red' sie das nicht. Es war eine Zeit,
Da waren wir gute Nachbarleut'
Und borgten einander Schüsseln und Besen.

Und auch der Bürger, der am Osternachmittage vor dem Tor spaziert, spricht zum andern:

Herr Nachbar, ja, so laß ich's auch geschehn.

Und wie natürlich ist es, daß auch aus der Nachbarschaft gefreit wird! Beide, Jüngling und Mädchen, sind ja zusammen Kinder gewesen, in derselben Umgebung erwachsen, sie reden dieselbe Sprache, die Eltern sind sich bekannt, vielleicht befreundet – das paßt zueinander; sich täglich sehen, heißt in dem Alter, wo das Naturgefühl erwacht, sich lieben, mit allmächtigem, nur durch die Scham verhülltem und gehemmtem Zuge einander zustreben. So gibt schon der alte Hesiod die Lehre: »Du heiratest am besten die, die nahe bei dir wohnt« (Werke und Tage, 700):

τὴν δὲ μάλιστα γαμεῖν ἥτις σέϑεν ὲγγύϑι ναίει –

und so waren Hermanns Eltern Nachbarskinder gewesen, so sind es Alexis und Dora:

Schöne Nachbarin, ja so war ich gewohnt, dich zu sehen –

und wäre es nach des Vaters Willen gegangen, so hätte sich Hermann drüben aus dem grünen Nachbarhause eine der Töchter geholt. Aber Hermann mochte dies nicht, denn, wie der gleich folgende Vers der »Werke und Tage« lautet: »Schaue gleichwohl bei der Wahl um dich, daß du nicht zur Schadenfreude der Nachbarn werdest«:

πάντα μάλ' ἀμφὶς ἰδών, γείτοσι χάρματαὴ γήμςης.

In ältester Zeit, wo unsre Voreltern mit ihren Herden noch unstät umherzogen, da raubte sich der Mann aus der Ferne, aus fremdem Stamme das Mädchen zum Weibe, und so kam immer frisches Blut in die abgeschlossene Horde und mit dem Wechsel oft auch Veredelung. Dann wurden die Menschen ansässig, und die Blutsverwandten, die Stammesgenossen siedelten sich nebeneinander an. Noch später lockerte sich das patriarchalische Band, und die Nachbarschaft erhielt in friedlicher Zeit freien sittlichen Wert. Gute Nachbarn wurden ein Segen, böse Nachbarn ein Fluch, und viele Sprichwörter der Alten und der Neuern geben darüber Bescheid. Wenn es in der vierten Bitte im Vaterunser heißt: »Unser täglich Brot gib uns heute«, so sollen wir darunter, wie Luther erläutert, nicht bloß des Leibes Nahrung und Notdurft verstehen, sondern auch »gute Freunde und getreue Nachbarn«. Als einst Themistokles, so wird erzählt, ein Grundstück verkaufen wollte, ließ er ausrufen, es habe den Vorzug guter, wohlgesinnter Nachbarn (Plut. Themist. 18). Oft hadern zwei Nachbarn um ein Stück Land; gibt nun der eine seine Tochter dem andern zum Weibe, so erledigt sich der Streit von selbst. So taten der Brautvater und der Bräutigam im »Götz von Berlichingen«, und es kehrte Ruh' und Frieden unter ihnen wieder ein. Hermann freilich verband sich mit einer Fremden von jenseit des Rheins – er hatte sie aber sicher erkannt, und als Fremde brachte sie Bewegung und neue Gedanken in das sonst allzu stille Haus und Städtchen. Und wäre wohl das Gedicht möglich gewesen, wenn alles nach dem Maße gemeiner Sitte gegangen wäre?

In älterer Zeit, berichtet uns der Apotheker, war es Gebrauch, daß, wenn die Eltern für ihren Sohn eine Braut sich ersehen hatten, sie einen vertrauten Freund des Hauses beriefen und ihn als Freiersmann zu den Eltern des Mädchens sandten. Dieser kam etwa Sonntags nach Tische stattlich geputzt in das erkorene Haus, sprach zuerst über Allgemeines, lenkte dann das Gespräch geschickt auf die Tochter, die er nach Gebühr lobte, dann auf den Mann, von dem er kam, und dessen er gleichfalls rühmend gedachte. Kluge Leute merkten die Absicht und konnten sich weiter erklären; ward der Antrag abgelehnt, so war's für niemand eine Schande. Gelang aber die Unterhandlung, so blieb im Hause des neuen Paares der Freiersmann auf immer der Erste, und sie erinnerten sich seiner ihr Leben lang. »Jetzt ist das alles«, fügt der Sprechende hinzu, »mit andern guten Gebräuchen aus der Mode gekommen.« Hier ist zunächst die letztere Äußerung ganz im Geiste und Sinne des Bürgers: in die behagliche Gegenwart eingesponnen, stößt er doch aus dieses und jenes Hindernis, auf mehr als eine unwillkommene Neuerung; unmutig über die Störung, liebt er es, aus frühere, bessere Zeiten sich zu berufen und die jetzigen Unsitten zu beklagen. Sonst, sagt der Gastwirt, ging man bequem in Pantoffel und Mütze, jetzt will man, der Mann soll immer gestiefelt sein usw. Alles wird täglich teurer, klagt er bei anderer Gelegenheit, und der Apotheker sagt, er hätte wohl auch gern sein Haus erneuert,

Aber es fürchtet sich jeder, auch nur zu rücken das Kleinste,
Denn wer vermöchte wohl jetzt die Arbeitsleute zu zahlen?

Ganz so heißt es von König Emmerichs Schatze (im »Reineke Fuchs«, 5. Gesang):

Goldnes Kunstwerk: man macht es nicht mehr, wer wollt' es bezahlen?

Dann ist jene Art der Ehestiftung, wo die Eltern wählen, die am meisten bürgerliche, denn sie setzt ein noch ungebrochenes Dasein voraus, Einheit der Sitte und des Gemütes. Der Sohn muß heiraten – dieser Entschluß geht voraus. Die Eltern ratschlagen; indem sie seinen Sinn auf ein Mädchen lenken, folgt daraus von selbst die Neigung. Hegel an einer berühmten Stelle seiner »Philosophie des Rechtes« (§ 162) möchte es sogar ganz im allgemeinen für sittlicher halten, wenn die Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern den Anfang macht, und in der Tat, die Eltern werden bei ihrer Wahl mehr durch den Sachverhalt, den allgemeinen Zweck bestimmt, sie erwägen, ob die Häuser, die Charaktere passen, das Vermögen zureicht, die neue Familie gedeihliche Verhältnisse vorfindet; der Sohn, unverdorben und von den Ausschweifungen übergreifender Phantasie unberührt, begehrt nur nach Ergänzung durch das Geschlecht überhaupt, und das nußbraune Mädchen gilt ihm dann soviel als das schneeweiße. In einer völlig gesunden Welt freilich werden beide Seiten nicht in Widerspruch geraten, aus der ursprünglichen Einheit nicht hervortreten; wer einem ansehnlichen Geschlechte angehört, wird sich ohne viel Rat und Ermahnung von selbst der Ebenbürtigen zuwenden; der Reichtum wird ihn anlocken, weil dieser in der Fülle der Mittel auch Schönheit der Erscheinung bedingt und gewährt; die fremde Rasse, die fremde Religion, der über- oder untergeordnete Stand stößt ihn ab oder sagt ihm nichts – wie es dem Steinadler nur im Gebirge wohl ist, der Möwe am Seestrande, den Drosseln und Amseln unter den Früchten des Gartens. Was sich über Mesalliancen sagen läßt, hat am feinsten und treffendsten Therese im Wilhelm Meister, 7, 6 vorweggenommen: »Die Vermischungen der Stände durch Heiraten verdienen nur insofern Mißheiraten genannt zu werden, als der eine Teil an der angebornen, angewohnten und gleichsam notwendig gewordenen Existenz des andern keinen Teil nehmen kann. Die verschiedenen Klassen haben verschiedene Lebensweisen, die sie nicht miteinander teilen noch verwechseln können, und das ist's, warum Verbindungen dieser Art besser nicht geschlossen werden« Ovid, Herold. 9, 32: Si qua voles apte nubere, nube pari!
(Gleich und gleich, so allein ist's recht,
Drauf will ich leben und sterben!)
Auch bei Aschyl. Prom. 890 und bei andern.
. Nun aber löst sich, bald im Aufsteigen, bald im Verfall der Bildung, das Bewußtsein des einzelnen, das Gemüt mit seiner eigenen Art von dem allherrschenden, dunklen, sittlichen Element (nach Hegel: das Subjekt von der Substanz), und es wird daher die Ehestiftung durch die Eltern gern in die Zeit der Väter zurückverlegt, in eine Höhe, zu der wir mit Ehrfurcht aufblicken, und wo das, was wir schmerzlich vermissen, noch nicht zerstört war. Und dies klingt auch aus den Worten des Apothekers wieder, dem sonst doch die ideale Stimmung fremd ist.

Das lieblichste Bild eines wohlhabenden Bürgerhauses, in dem viele Töchter sind, gibt uns die zweite Epistel. Alle Wirtschaftszweige, alle Beschäftigungen eines solchen werden nacheinander vorgeführt, jede in der Hand einer der Töchter: der Keller, die Küche, die Bodenkammer, der Garten, Obst und Gemüse, Nadel und Zwirn, auch der weibliche Putz. Die viele Arbeit im Hause bewahrt die Mädchen vor herzverderbender Lektüre überspannter Romane, ja im Bürgerhause fehlt nicht bloß die Zeit, sondern auch die Lust zum Lesen, und jedes Geschwätz ist willkommener als ein Buch. So reift jedes der Mädchen im stillen

Häuslicher Tugend entgegen, den klugen Mann zu beglücken.

Auch der Garten um das Haus ist kein Park, romantisch und feucht, sondern auf sonnigen Beeten trägt er nützliche Kräuter, die auf den Tisch kommen, und an den Bäumen Früchte, die die Freude der Jugend sind. Der Vater beherrscht so sein patriarchalisches Königreich – »es ist eine schöne Philisterei im Hause, es wird einem ganz wohl« (an Frau von Stein, von der Harzreise im Winter). Auch hier mischt sich in die reizende Schilderung eine leise Ironie, verstärkt durch die Anklänge an antike Redeweise, die wohlmeinende Gesinnung schließt heitere Züge nicht aus, z. B. von der Schwester, deren Reich die Küche und der Mittagstisch ist:

Gerne nimmt sie das Lob vom Baker und allen Geschwistern,
Und mißlingt ihr etwas, so ist's ein größeres Unglück
Als wenn dir ein Schuldner entläuft und den Wechsel zurückläßt.

Hier würde sich das schöne Gedicht »Die glücklichen Gatten«, das dem Dichter bis in sein höchstes Alter lieb war, passend anschließen, wenn wir davon nicht schon an einer andern Stelle gesprochen hätten Unter den »Naturformen«. Manches von dem, was in jenem Kapitel zusammengestellt worden, ließe sich auch hier unter den Sitten des Bürgertums einordnen und umgekehrt, wie das Allgemeine und das Besondere sich nicht trennen, sondern sich immer aufeinander beziehen. Doch ist der Gesichtspunkt hier und dort ein verschiedener und in anderer Betrachtung tritt aus demselben Gegenstände auch ein anderer Inhalt hervor..

Nachdem die Woche über fleißig gearbeitet worden, ist der Sonntag die Zeit der Erholung, bescheidenen Genusses, der Spaziergänge vors Tor, der Landfahrten. Am Vormittag geht der Bürger, sauber gewaschen und gekämmt, das Gesangbuch unterm Arme, in die aus alten Zeiten stammende Kirche, die durch ihre seltsame Bauart nur noch ehrwürdiger wird; die Stube, die Werkstatt ist schon tags vorher gescheuert und ausgestäubt, die messingenen Beschläge glänzen spiegelhell, die Betten sind schneeweiß überzogen, ein Gericht mehr wird aufgetragen. Nachmittags geht's in Begleitung von Frau und Töchtern, Gesellen und Burschen zum Tore hinaus ins Freie. So sehen wir im »Faust« am Osternachmittage die Stadt nach allen Richtungen aufs Land, an die Lustörter sich ergießen, und sie wandern alle an uns vorbei, Typen jeder Art, je nach Stand und Alter in den natürlichsten Worten redend, die der Dichter in die ungezwungensten, holdesten Reime gefaßt hat. »Saure Wochen, frohe Feste« – diese Lehre wird dem Schatzgräber zuteil, d. h. dem, der auf abenteuerlichen Wegen dem Glück nachjagt und den wahren Schatz, die bleibende Befriedigung in Arbeit und geordnetem Wechsel, nicht zu finden weiß. Nur der Fleißige genießt den Sonntag, den Festtag, der ihn auf eine Weile frei macht und sich selbst zurückgibt:

Aus Handwerks- und Gewerbesbanden
Sind sie alle ans Licht gebracht.

In der Stille des Sonntags regt sich das Höhere im Menschen – wir sehen es an Hans Sachs. Er steht im saubern Feierwams da, hat das schmutzige Schurzfell abgelegt, läßt Pechdraht, Hammer und Kneipe rasten, und da naht ihm die Muse und gibt ihm Schwänke und gute Sprüche und Lehren ein. Damals, als der Vater des Apothekers dem Knaben die Ungeduld benahm und drüben die Tischlerwerkstatt geschlossen war, da war es Sonntag, und die Fahrt ging nach dem Lindenbrunnen, und der Tischler mit seinen Gesellen wird sich auch dort eingefunden haben. Als vor zwanzig Jahren die Feuersbrunst im Städtchen ausbrach, wurde sie deshalb so gefährlich, weil alle Leute als am Sonntag in festlichen Kleidern spazierend in den Dörfern und in Schenken und Mühlen sich zerstreut hatten. Und an dem Tage, wo die Geschichte in »Hermann und Dorothea« vorgeht, ist es wiederum Sonntag; nur heute hat der arbeitsame Hauswirt Zeit, behaglich unter dem Torweg und später im kühleren Saale sitzend mit Frau und Nachbarn zu schwätzen; nur heute können die letztern auf der Stelle die Fahrt ins Dorf machen und dort sich erkundigen und verweilen. Daß die vergangene Zeit nach der Feuersbrunst berechnet wird, ist, wie wir beiläufig hinzusetzen, gleichfalls ein echter, dem Leben kleiner Städte entnommener Zug: in dem Jahre, wo es brannte, war er ein Knabe von zehn Jahren, folglich muß er jetzt dreißig zählen, oder: es war bald nach dem großen Feuer, oder ähnliche Redensarten, die zu fallen pflegen, wenn die Rechnung nicht stimmen will oder die Bürger beim Glase über ein Datum uneins sind.

Was die Feiertage im Laufe des Jahres sind – Lichtblicke, die von fern winken –, das ist in der Betrachtung des Lebens überhaupt der Traum von Utopien, das Märchen vom Schlaraffenlande. Die Zeiten sind schwer, die Arbeit drückt, die Bedürfnisse steigen; schaffe Geld, heißt es, wenn Frau und Kinder gekleidet und satt werden sollen, und die letzteren haben guten Appetit – wie schön müßte es im Lande des Wunsches sein, wo die Häuser mit Kuchen gedeckt ( cuccagna, pays de cocagne), die Zäune mit Würsten geflochten sind, wo der Müßiggang belohnt, der Weiß bestraft wird und niemand Bezahlung verlangt oder annimmt. Dies ist seit Jahrhunderten, schon seit Aristophanes und seinem Wolkenkuckucksheim, ein vielbeliebtes, immer willkommenes Thema, das aber nirgends mit so heiterer Grazie behandelt ist als in Goethes erster Epistel. Alles Grobe ist ausgeschieden, altgriechische Lebensform adelt die in reinem Fluß der Rede behaglich weitergetragenen Bilder einer verkehrten Welt. »Aber hüte dich wohl«, ruft noch zum Schlusse der Richter dem guten Hans Ohnesorge zu,

daß nicht ein schändlicher Rückfall
Dich zur Arbeit verleite daß man nicht etwa das Grabscheit
Oder das Ruder bei dir im Hause finde, du wärest
Gleich auf immer verloren und ohne Nahrung und Ehre.

Schmunzelnd hört das der wackere Meister und kehrt halb getröstet zu Hobel und Amboß zurück oder holt im Wirtshaus das Geldstück hervor, das so sauer verdient und so leicht vertrunken ist.

Nicht bloß die Männer müssen arbeiten, auch die weibliche Hausgenossenschaft darf die Hände nicht in den Schoß legen. Daß die Bürgermädchen mit ihren Krügen am Brunnen zusammenkommen, haben wir schon an andrer Stelle bemerkt; dort halten sie üble Nachrede, es dauert sie das Unglück, es ärgert sie das Glück des Nächsten, und die Zünglein gehen fleißig hin und her, aber die zu lange ausbleibt, wird, wie Dorothea sagt, mit Recht getadelt. Auch die Bank an der Tür des Hauses ist solch ein Ort lieblichen Schwätzens; sie fehlt auch in dem Landstädchen nicht, wo Wilhelm Philinens Bekanntschaft macht. Dorthin entschlüpft das Mädchen in der Dämmerung und wechselt verstohlene Worte mit dem Liebsten, doch gereicht es ihr nicht zum Ruhm. In der Kammer oben aber wird gesponnen:

Wenn unsereins am Spinnen war.
Uns nachts die Mutter nicht hinunterließ –

sagt Lieschen; am Spinnrade finden wir auch Gretchen, und Brackenburg muß Klärchen das Garn halten, indes die Mutter strickend dabeisitzt. Aber auch das Spinnen geschieht nur in freien Stunden, und diese sind selten, denn im Hause gibt es viel zu tun. Das Mädchen muß überall Hand anlegen, muß kochen, fegen, nähen, nachts das kleine Schwesterlein wiegen und zum Schweigen bringen, am Waschtrog stehen; dies erzählt uns Gretchen selbst, und doch haben sie sich nicht gerade einzuschränken, denn der Vater hinterließ ein hübsch Vermögen. Auch Dora trägt selbst die Früchte zu Markt, Dorothea ist zu jeder Arbeit geschickt und verdingt sich sogar als Magd, und was das auf sich hat, hält ihr der Pfarrer mit beredtem Munde vor, Hermanns Mutter bringt selbst den Wein und die Gläser auf den Tisch usw. Damit hängt es zusammen, daß in »Hermann und Dorothea« die Bürgerfamilie sich den armen Flüchtlingen gegenüber nicht mit einem Beitrag an Geld abfindet, also einer Hilfleistung in abstracto, gleichsam einer Subskription an der Börse: sie sendet den Überfluß der Wirtschaft, Leinwand und Kleider, Bier, Schinken und Brot, und läßt die Notleidenden also unmittelbar teilnehmen an der eigenen Wohlhabenheit. »Denn seht,« sagt auch der Brautvater im »Götz«, »eines Haus und Hof steht gut, aber wo soll bar Geld herkommen?« So entnimmt der echte Bürger auch seine Bedürfnisse nicht gern für Geld dem Laden, er bäckt sein eigen Brot, gewinnt seine Wäsche aus eigenem Flachs und mästet das Schwein selbst, das ihm den Schinken und die Würste liefert. Ist das Erzeugnis der eigenen Arbeit auch nicht immer so vollkommen wie die aus großen Anstalten bezogene Ware, so ist es doch lauter und echt, nicht bloß scheinbar, auch nicht vermengt und gefälscht. Und auch besser schmeckt es und trägt sich besser, denn die Erinnerung an die eigne Mühe, an manche aufgewandte Kunst und Fertigkeit haftet daran.

Alles Bisherige, wie wir es Goethes Werken entnommen haben, ist, mehr oder minder, ein Jahrhundert alt, und seitdem hat sich viel verändert. Die bürgerliche Sittlichkeit, jene enge, aber warme und in sich reine Sphäre, sie besteht fast nur noch in entlegenen Gegenden, an kleinen Orten, in zufällig verschonten Kreisen. Sie ist verdunstet wie ein edler alter Wein, der offen stehengeblieben ist, der Luft und dem Lichte ausgesetzt. Und wie in der Revolution die goldnen und silbernen Gefäße, die kunstreichen Schalen aus altem Familienschatze, die Leuchter und Kelche vom Altar eingeschmolzen wurden, um Geld daraus zu prägen, so lösten sich unter eifrigen Händen auch die mannigfachen Bildungen der Gesellschaft auf, um öde und gleichmäßig zu Zahl und Ziffer, zu Atomismus und Mechanik zu werden. Wen kümmert noch die Nachbarschaft? Schon der Schatzmeister im zweiten Teile des »Faust« klagt darüber:

Wer will jetzt seinem Nachbar helfen?
Ein jeder hat für sich zu tun.

Und wenn die beiden Episteln über das Unheil des vielen Lesens sich verbreiten und der Hausvater am Schlusse ausruft: Hätte ich noch soviel Töchter,

es sollte kein Buch im Laufe des Jahres
Über die Schwelle mir kommen, vom Bücherverleiher gesendet –,

so dringt jetzt nicht das Buch, das wäre noch das geringere Übel, sondern die Zeitung jeden Tag, ja zweimal des Tages, in die ärmste Hütte und ist unermüdlich beflissen, den Samen der Unzufriedenheit auszustreuen und die Ehrerbietung, den Glauben an ein Höheres zu zerstören. Alle Schranken sind gefallen, und so ist alles beweglich geworden, selbst der Grund und Boden, jedes Erbe der Vorfahren. Die Eisenbahn, die Todfeindin heimatlicher und herzlicher Gefühle, versammelt immer mehr Menschen in den großen Mittelpunkten; dort wirbeln die Sandkörner durcheinander, und zuletzt zerfällt alles in den einen großen Gegensatz von arm und reich, abzehrendem Elend und schwelgerischem Übermut. Sich in das Werk seiner Hände zu vertiefen, kann keinem Meister mehr einfallen, denn die Fabrik, die Maschine ist ihm weit voraus, und wenn er nicht Marktschreier und Lügner ist, wird sein Erwerb bald stocken, und er muß es dann mit ansehen, wie andere, die ein leichteres Gewissen haben, in ihrem Geschäft fortkommen und gedeihen. Durch Schulen wird die Bildung bis in die untersten Schichten verbreitet, aber die Bildung ist nur schön, wenn sie vollendet ist, und da sie das für die Menge nicht sein kann, so gibt sie für die verlorene Sicherheit der Natur keinen oder nur trügerischen Ersatz. Jeder glaubt, alles zu verstehen, und je weniger sein Urteil über Menschen und Verhältnisse zulangt, mit um so schnöderem, selbstgefälligerem Dünkel gibt er es ab, am liebsten in der Form höhnischen Witzes, der das Ideal und alles Bestehende zersetzt.

Weniger als die bürgerliche Mittelklasse hat dieser Verlauf der Dinge den Adel und die höhere Gesellschaft betroffen – obgleich auch diese mit jedem Jahre mehr durch die an einen fremden Stamm geknüpfte Plutokratie aus ihrer Stellung gedrängt und durch das Konnubium mit derselben innerlich, bis aus den letzten Blutstropfen und die geheimste Regung des Gemütes und Gewissens, verwandelt wird. Zu Goethes Zeit bildete der Adel noch eine eigne Welt, die seine Hand gleichfalls in sprechenden Lebens- und Sittenbildern vor uns ausbreitet. Wir versuchen auch diese Eigenheiten zu sammeln und sie nach des Dichters Vorgang dem Bürgertum, wie es war und ist, gegenüberzustellen.

Schon in den Jugendwerken finden sich einzelne Züge der Art zerstreut, z. B. in Auerbachs Keller:

Sie sind aus einem hohen Haus,
Sie sehen stolz und unzufrieden aus Man vergleiche damit im Philander von Sittewald (wir brauchen unsere heutige Orthographie): »Mancher Pfeffersack, Blacker (d. h. Schreiber, Tintenkleckser und Bärenhäuter), sobald er in ein fremdes Land kommt, eine wohlgelöste Zunge hat, saur sehn kann, einen sammeten Mutzen (d. h. Rock, Wams) zahlen kann, will mit Don und Senor traktieret werden.« Auch hier also die Unzufriedenheit, das Sauersehen als Kriterium der Vornehmheit. Solcher altpopulären Züge, Meinungen, Vorurteile, Sprachwendungen unzählige bei Goethe. –

oder Mephisto zu Gretchen (um sie als Fräulein zu bezeichnen):

Sie har ein Wesen, einen Blick so scharf, –

oder Gretchen allein:

Er sah gewiß recht wacker aus
Und ist aus einem edlen Haus,
Das konnt' ich ihm an der Stirne lesen –
Er wäre auch sonst nicht so keck gewesen –

oder Gretchen von ihrem Schmuck:

Mit dem könnt' eine Edelfrau
Am höchsten Feiertage gehn.

Welchen Begriff sich der junge Dichter von der adlig-diplomatischen Gesellschaft machte, geht aus dem zweiten Teil von »Werthers Leiden« besonders deutlich hervor. Dort gilt die äußere Schicklichkeit alles, das Herz, der innere Mensch nichts. Werther findet »unter dem garstigen Volke« nur »glänzendes Elend, lange Weile«; es herrschen »die elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften, am meisten die Rangsucht«; »sie passen nur auf, wie sie einander ein Schrittchen abgewinnen können«; da ist ein Weib, die unterhält jedermann von ihrem Adel, eine andere hat »keine Stütze, als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm, als den Stand, in dem sie sich verpalissadiert, kein Ergötzen, als von ihrem Stockwerk herab über die bürgerlichen Häupter hinwegzusehen«. Werther hat sich eines Abends nach Tische zu lange im Hause des Grafen aufgehalten; da kommt allmählich die »noble Gesellschaft«, in die er nicht hineingehört, und sie machen, da sie ihn erblicken, »ihre hochadeligen Augen und Naslöcher«, und es kommt soweit, daß der Graf den bürgerlichen Eindringling bitten muß, sich zu entfernen. Werther tut das gern und fährt aus einen Hügel, die Sonne untergehen zu sehen und dabei im Homer zu lesen – wiederum die Unendlichkeit des Gemütes im Gegensatz zu den Schranken der Konvention. Nachher hört er, daß die Geschichte von Mund zu Mund geht und schadenfroh weitererzählt wird, und daß man ihm, dem Übermütigen, der, weil er geistreich ist, sich über alles glaubt hinwegsetzen zu können, die empfangene Züchtigung gönnt, und dies Gerede kränkt ihn ernstlich und ist ein Grund mehr, seinen Abschied zu fordern. Hier haben wir auch bei Goethe den Freiheitskampf des achtzehnten Jahrhunderts, die Erbitterung gegen die überlieferten Stufen und Stände, jene Gesinnung, die in soviel Dramen, in denen alle Höhergestellten als ebensoviel Bösewichter erschienen, zum Ausdruck kam, am grellsten und glühendsten, unvergänglich bis auf den heutigen Tag, in »Kabale und Liebe«. Doch Goethe blieb dabei nicht; bald sollte sich ihm in Weimar das Leben der Vornehmen auch von der positiven Seite zeigen, als eine gleichfalls inhaltsvolle Form des Menschlichen; und Werther selbst sagt dazwischen auch: »Zwar weiß ich so gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wieviel Vorteile er mir selber schafft, nur soll er mir nicht gerade im Wege stehen« usw.

Goethe kam als Natursohn nach Weimar, voll jugendlicher Lebenskraft, geplagt von einer rastlosen Phantasie und darum von unnennbaren Stimmungen nachlässig in der Haltung, zutraulich in der Rede, voll Hingabe und offenen Herzens, bald hingeschmolzen, mädchenhaft weich, bald brausend und wild – und nun sollte er lernen, im Verkehr edler Menschen der höhern Macht der Sitte sich beugen und mit behutsamer Mäßigung sein Inneres halb darstellen, halb verhüllen. In einem langen Unterricht weihte ihn Charlotte von Stein, die Besänftigerin, die Beichtigerin, die Seelenführerin, wie er sie nennt, zu dem neuen Berufe ein; seine tiefe sittliche Anlage kam dem Werke der Umwandlung helfend entgegen. Die Aristokratie befeindete den Emporkömmling mit allen Kräften, heimlich und öffentlich, so der Minister Freiherr von Fritsch, der ehemalige Erzieher des Herzogs Graf von Görz, auch Dalberg, ja selbst die Herzogin Luise – und hatten sie nicht recht? War er doch bloß ein Bürgerssohn aus Frankfurt, ohne Vermögen, denn der sparsame Vater gab nicht gern etwas her, jung und in Staatsgeschäften völlig unerfahren, dazu, was schlimmer als alles war, ein Dichter, ein sogenanntes Genie! Gab er sich nicht wirklich Blößen genug durch Unvorsichtigkeit, durch Ausschweifung in Worten und Werken? Die übertriebensten Nachrichten gingen darüber in Deutschland um und wurden von dem Adel, der alle Vorzimmer der kleinen Höfe erfüllte und bewachte, weiterverbreitet Eine Stelle am Anfang des 8. Buches von »Wilhelm Meisters Lehrjahren« scheint eine Erinnerung daran zu enthalten. Werner, der seinen Freund Wilhelm nach langer Zeit wiedersieht, schüttelt den Kopf und sagt: »Man sollte doch auch nichts glauben, als was man mit Augen sieht! Mehr als ein dienstfertiger Freund hat mir versichert, du lebtest mit einem liederlichen jungen Edelmann, führtest ihm Schauspielerinnen zu, hälfest ihm sein Geld durchbringen und seiest schuld, daß er mit seinen sämtlichen Anverwandten gespannt sei.« Was Wilhelm darauf erwidert, paßt auf des Dichters eigenes Leben und seine Beurteiler.. Doch es war das Zeitalter des Absolutismus, und so hielt ihn die Gunst des Herzogs, der selbst den Knabenjahren eben erst entwachsen war und darum des Herkommens nicht achtete. »Es ist wahr,« schrieb Merck im Jahre 1777, »die Vertraulichkeit zwischen dem Herrn und Diener geht weit, allein was schadet das? Wär's ein Edelmann, so wär's in der Regel.« Ein halbes Jahr nach seiner Ankunft schon wurde der neue Günstling Geheimer Legationsrat mit 1200 Taler Gehalt (damals mehr als jetzt) und Sitz und Stimme im geheimen Konseil, dann im Jahre 1779 Geheimderat (über diesen Titel schrieb er seiner Freundin die bezeichnenden Worte: »Es kommt mir wunderbar vor, daß ich so wie im Traum die höchste Ehrenstufe, die ein Bürger in Deutschland erreichen kann, betrete«), endlich 1782 durch Diplom des Kaisers Joseph II. förmlich in den Adelsstand erhoben. Letzteres enthielt schon eine Nachgiebigkeit gegen die herrschende Meinung, denn damit war das Ärgernis gehoben, einen Bürger bei Hofe und in nahen Beziehungen zu dem Fürsten und der fürstlichen Familie zu sehen. Unterdes aber war er selbst ein anderer geworden: von der Rundreise, die er 1782 unter feierlichen Ehren als Abgesandter des Herzogs an die thüringischen Höfe machte, schrieb er: »Ich versuche alles, was wir zuletzt über Betragen, Lebensart, Anstand und Vornehmlichkeit abgehandelt haben, lasse mich gehen und bin mir immer bewußt,« und im Jahre 1784 sagte Frau von Lichtenstein in Gotha von ihm aus, er könne jetzt in guter Gesellschaft nicht bloß empfangen werden, sondern nehme diese auch durch Liebenswürdigkeit für sich ein (Brief vom 20. Juni). Und es war nicht bloß eine äußere Übung oder ein übergeworfenes Gewand; die Anmut und Milde des Benehmens war nur der Widerschein der inneren Reinheit und Güte, die er in langen Seelenkämpfen erstrebt und erreicht hatte – worüber das Tagebuch und der Briefwechsel die rührendsten Zeugnisse enthalten. Glücklicher, stärker als sein Tasso hatte er die Herrschaft über sich gewonnen; er war Edelmann geworden – durch Adel der Gesinnung, Hofmann – durch Höflichkeit des Herzens (aus Ottiliens Tagebuch: »Es gibt eine Höflichkeit des Herzens, sie ist der Liebe verwandt; aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens,« und kurz vorher: »Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte«; an Frau von Stein, 12. März 1781: »Ich bitte die Grazien, daß sie meiner Leidenschaft die innere Güte geben und erhalten mögen, aus der allein die Schönheit entspringt«), zurückhaltend, oft schweigsam, denn in der Welt traten ihm in wechselnder Mischung Bosheit und Gewöhnlichkeit entgegen, und er hatte viel Schätze zu hüten. Anfangs mochten die Freunde, sie, die am Ufer geblieben waren, mit Besorgnis auf ihn blicken, wie er sich auf einem neuen Element eingeschifft hatte und mit Sturm und Wellen kämpfte; die Mutter lud ihn zur Rückkehr ins elterliche Haus ein, aber das ging nicht mehr an: »das Unverhältnis des engen und langsam bewegten bürgerlichen Kreises zu der Weite und Geschwindigkeit seines Wesens hätte ihn rasend gemacht« (Brief an die Frau Rat, 11. August 1781), und er mußte das »Notdürftige und Angenehme« des väterlichen Hauses und die darin herrschende »unbedingte Ruhe« verschmähen (ebenda). Eben aus jenen kleinen bürgerlichen Verhältnissen hatte er sich ja emporgearbeitet, sich von Schlacken gereinigt und dabei unsäglich ausgestanden (an Jacobi, 17. November 1782). »Wilhelm Meister« ist das Werk, in dem diese Erhebung schrittweise dargelegt wird; es ist die Fortsetzung von »Wahrheit und Dichtung« und zeigt uns, um es kurz und bündig zu sagen, wie der Bürgersmann zum Edelmanne wird. Tiefer und schärfer läßt sich der Unterschied beider Stände nicht aussprechen, als es Wilhelm in seinem Briefe an Werner getan hat (Buch 5, Kap. 3). Was hier in sinnvollen, aber allgemeinen Formeln niedergelegt ist, entfaltet der ganze Roman, wie später die »Wahlverwandtschaften«, in einer Reihe lebendiger Szenen und individueller Figuren. Was kann feiner dem Leben abgelauscht sein als die Ankunft der Schauspielertruppe auf dem Schlosse des Grafen, die Verwirrung dort, die nicht gehaltenen Versprechungen, Wilhelms und Philinens Rolle bei den Lustbarkeiten und geheimen Liebeshändeln, das gereimte Pasquill, die einbrechende Roheit bei den Prügeln, die der Pedant erhält, das Protegieren und Beschenken, die Ankunft des Prinzen, das Geld, das Wilhelm annimmt (auch Werther trug 25 Dukaten mit nach Hause), die mehr französische als deutsche Bildung, die improvisierte Bühne und auf ihr die Huldigung durch Emblematik und Allegorie, das Spiel mit idealen Mächten als Mittel gegen die Langeweile, die Leichtigkeit und der Leichtsinn bei ernsten Geschäften, die allmächtige Herrschaft eines schönen und liebenswürdigen, aber trüglichen Anstandes (»Wilhelm sah das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen und Großen in der Nähe und verwunderte sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wußten«), Lothario, der, wie es sich für den Baron schickt, wegen eines Frauenzimmers ein Duell hat und darin verwundet wird, der die Tochter eines seiner Pächter liebt und sie dann anderswohin verheiratet, während er die Schauspielerin Aurelie, deren Gunst er auch genossen hat, dem bittern Gram überläßt, Jarno, in dem Wilhelm einen beobachtenden, herzlosen Weltmann findet (»der Edelmann sei kalt, aber verständig, verstellt, aber klug«) und der ihm dennoch, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab (er trägt in manchen Zügen das Antlitz Herders, wie seine spätere Gattin Lydie das der Karoline Flachsland, der Elektra), vor allem ihn mit Shakespeare bekannt macht (der Dichter hätte, wenn dies angegangen wäre, statt Shakespeares auch seine eigenen Werke nennen können, die auch die damalige Nichtigkeit wie ein Feuer verzehrten), usw. Gegen Ende des Romans steigen wir allmählich in eine höhere, edlere Bildungs- und Gesinnungssphäre auf; durch furchtbare Schicksale, durch Krankheit und Tod vertieft sich die Betrachtung, läutert sich die Ansicht des Lebens, die trübe, verworrene Leidenschaft löst sich in weise Humanität auf. Wilhelm, der anfangs auf soviel falschen Wegen irrte, hat sich zurechtgefunden; er hat im Umgang mit edeln Frauen und äußerlich reichen und vornehmen, innerlich gehaltvollen Männern die Harmonie von Geist und Körper erreicht, die die Idee des Adels bildet, er hat sich z. B. fleißig im Fechten und Tanzen geübt; und um des Gegensatzes willen kommt noch zuletzt Werner, der erwerbsame prosaische Bürgersmann, hinzu mit der spitzen Nase, dem Kahlkopf und der hellen, schreienden Stimme und findet seinen Freund »größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter und in seinem Betragen angenehmer geworden« – »seht nur einmal,« rief er, »wie er steht, wie das alles paßt und zusammenhängt!« – und was er sonst noch Ähnliches hinzusetzt. Eben dahin gehört die schöne Verteidigung des weiblichen Putzes in einer Zeit, deren Prophet Jean-Jacques, deren Fahne rohe oder sentimentale Natürlichkeit war. »Wie töricht lehnen sich doch so viele Dichter und sogenannte gefühlvolle Menschen gegen Putz und Pracht auf und verlangen, nur in einfachen, der Natur angemessenen Kleidern die Frauen alles Standes zu sehen« usw., und zum Schlusse: »Wenn Minerva ganz gerüstet aus dem Haupte des Jupiter entsprang, so scheint diese Göttin (die Gräfin) in ihrem vollen Putze aus irgendeiner Blume mit leichtem Fuße hervorgetreten zu sein!«

Auch in den »Wahlverwandtschaften« sind wir ganz auf dem adligen Schlosse und nehmen teil an den Liebhabereien, Gesinnungen, Beschäftigungen des Adels; da werden Bau- und Parkanlagen gemacht, lebende Bilder aufgeführt, Klavier und Flöte gespielt, Luftfahrten unternommen, Pferde nach Tische besehen (wie im »Wilhelm Meister« 3, 8, auch Hunde, die wohl aus England gekommen waren, und – Schauspieler); da geht der Baron, weil zu Hause die Dinge sich verwickelt haben, wieder ins Regiment, vermutlich in kaiserliche Dienste, und verdient sich militärische Orden. Auch die Liebe untergeordneter Personen zu adligen Fräulein ist nicht vergessen, aber sie muß ein Geheimnis bleiben und erregt nur Lächeln, wenn sie sich verrät. Die Ehe in ihrer Zerrüttung wirkt um so ergreifender, als die Naturgewalt der Leidenschaft mitten in einem Reiche der Selbstbeherrschung und geselliger Formen nicht roh ausbrechen darf und nur wie unter einer Hülle lodert und das Herz verzehrt. Arbeitsame Bürgersleute haben gleichsam nicht Zeit, in der Ehe unglücklich zu sein; in dem schönen Müßiggang vornehmer, von der Notdurft nicht gedrückter Menschen schweifen die Gedanken leicht aus dem gezogenen Kreise, der Umgang der Geschlechter, das Spiel der Liebe wird zur Unterhaltung, zum Geschäft des Lebens und führt oft zu tiefem Fall und tragischem Verderben. So heißt es schon in den »Bekenntnissen einer schönen Seele«: »Er sagte mit einem tiefen Seufzer: Als ich die Schwester sah die Hand hingeben, war mir's, als ob man mich mit siedheißem Wasser begossen hätte. Warum, fragte ich. Es ist mir allzeit so, wenn ich eine Kopulation ansehe, versetzte er. Ich lachte über ihn und habe hernach oft genug an seine Worte zu denken gehabt.« Auch die junge schöne Gräfin im »Wilhelm Meister« lebt in unglücklicher Ehe mit ihrem wunderlichen Manne; ihre Liebe zu Wilhelm und die seinige zu ihr vergleicht der Dichter mit zwei feindlichen Vorposten, die von den beiden Ufern eines Stromes, der sie trennt, friedliche Grüße wechseln, ohne des Krieges zu gedenken. Später suchte sie, wie sooft Frauen höhern Standes, ihr Leid durch Wohltätigkeit zu mildern; als Wilhelm dies hörte, machte es ihn äußerst traurig: er »fühlte, daß es bei ihr nur eine Notwendigkeit war, sich zu zerstreuen und an die Stelle eines frohen Lebensgenusses die Hoffnung fremder Glückseligkeit zu setzen« (Buch 7, Kap. 6). Daß dem Dichter, obgleich er seinen Wilhelm den höhern Ständen, als einem weiteren und edleren Dasein zuführte, doch die Schwächen derselben wohl zum Bewußtsein kamen, geht schon aus den oben angeführten Zügen hervor, und so spielt auch hier, wie bei Schilderung des Bürgertums, ein unmerkliches Lächeln um den Mund des Erzählers; er scheint ganz in der Sache zu stehen, und doch schwebt sein Blick darüber. Schon die Parallele, in die hier das Theater und die höfischen Sitten gestellt sind, enthält eine leise satirische Andeutung. Da der Weltmann sich nicht geben kann, wie er wirklich ist und fühlt, lebt er nicht auch im Reiche des Scheines, als eine Art Schauspieler? Und muß umgekehrt der Schauspieler nicht auch sein Äußeres bilden, die Befangenheit ablegen, in Gang und Gebärde, im Blick der Augen und im Klang der Stimme jene vollendete Persönlichkeit zu gewinnen suchen, die Wilhelm als Vorzug derjenigen, die auf den Höhen des Lebens geboren sind, bewundert? Doch bei diesem parodischen Abbild des Adels, bei den Zigeunern, wie sie Jarno nennt, konnte Wilhelm nicht bleiben; er erhält die Warnung: flieh, Jüngling, flieh!, und später kann er nicht Übles genug von seinen frühern Kunstgenossen sagen und merkt nicht, daß er, indem er sich gegen ihr niedriges Treiben ereifert, die Welt selbst, wie sie ist, geschildert hat – wie ihm gleichfalls Jarno unter Lachen vorhält. Und auch gelernt hat er vieles unter den Schauspielern; hat ihn z. B. nicht Philine durch ihr Necken und Locken von dem Ungeschick befreit, mit dem er zuerst als verliebter Dichter unter die Menschen trat?

Dem Adel dient als Fußgestell das Leben und die Arbeit der Bauersleute; an das Schloß und den Park schließt sich das Dorf, der Wald, das Feld; den Junker, wenn er auf die Jagd reitet, grüßte ehrfurchtsvoll der Ackerer am Pfluge, der Schäfer an der Spitze seiner Tiere, und er scherzt vom Pferde herab mit den Mädchen, die die Garben binden oder das Heu mit dem Rechen zusammenraffen. Auch bis zu diesem untersten Stande hat der Dichter bisweilen gegriffen und zeichnet auch dann Bilder von unvergleichlicher Wahrheit. Was kann lebendiger, sprechender sein als der Bauerntanz unter der Linde in dem Liede: »Der Schäfer putzte sich zum Tanz«? Das Schreien und Jauchzen, das Stoßen und Stampfen, das Gekreisch des Fiedelbogens, der wütende Tanz, die fliegenden Röcke, die Erhitzung und die derbe Röte auf den Gesichtern, die sich sträubende Dirne und der Bursche, der sie dennoch beiseiteschmeichelt – dies alles schwingt sich mit schlagendem Takt, in kurzen Worten und kräftigen Reimen, ebenso scharf als flüchtig an uns vorüber. Dem Dichter selbst muß dies Lied Um sich die ganze Meisterschaft desselben fühlbar zu machen, halte man die ländlichen Freuden der vielen horazischen und anakreontischen Dichter dagegen, z. B. in Hagedorns »Der Mai«:
Nun stellt sich die Dorfschaft in Reihen,
Nun rufen euch eure Schalmeien,
Ihr stampfenden Tänzer, hervor.
Ihr springet auf grünender Wiese,
Der Bauernknecht hebet die Liese
In hurtiger Wendung empor.
besonders im Sinne gelegen und gefallen haben, denn im zweiten Buch von »Wilhelm Meister« (Kap. 11) erinnert er daran und läßt es von Philinen singen, obgleich die Szene, zu der es gehörte (die Szene vor dem Tor im »Faust«), noch nicht ganz fertig war und darum mitsamt dem Liede in dem Faust-Fragment von 1790 noch fehlte. Auch im »Götz von Berlichingen« tut sich mehr als ein Stück Dorfsitte und Bauernart vor uns auf, so im zweiten Akt bei der Hochzeit, an der Götz und Selbitz teilnehmen, die eigensinnige Prozeßsucht, die vorherrschende Naturalwirtschaft usw., dann im dritten Akt die Erzählung vom Landgrafen von Hanau, wie er mit seinen Gästen im Freien speiste und das Landvolk herbeilief, sie zu sehen: »Die vollen runden Köpfe der Burschen und Mädel, die roten Backen alle, und die wohlhäbigen Männer und stattlichen Greise, und alles fröhliche Gesichter, und wie sie teilnahmen an der Herrlichkeit ihres Herrn, der aus Gottes Boden unter ihnen sich ergötzte«, dann in den letzten Szenen die andre Seite des friedlichen Lebens an der Erde, der gequälte, ausgesogene, endlich gegen seinen Herrn in wilder Grausamkeit aufstehende Fröner. Sehr charakteristisch ist es auch, wie sich im »Faust« der alte Bauer zum Herrn Doktor wendet und die Herablassung rühmt, mit der ein so Hochgelehrter sich unter das Volk mengt, denn dieser Respekt ist Bauernmanier:

Herr Doktor, das ist schön von Euch,
Daß Ihr uns heute nicht verschmäht
Und unter dieses Volksgedräng'
Als ein so Hochgelehrter geht.

Auch die Unarten und Leidenschaften, die sich in der Landgemeinde regen, sehen wir unter den Flüchtlingen in »Hermann und Dorothea« ausbrechen, ebenso wie dann der Richter oder Schulze, der Dorfweise, der zugleich der wohlhabendste zu sein pflegt und unter den Dorfgenossen viel Verwandte hat, auftritt und Ruh' und Frieden gebietet. Der Dichter selbst erging sich ohne Scheu bei Schützenfesten, in Wirtshäusern, auf seinen Wanderungen unter dem niedern Volke; wie oft hat er mit den Bauernmädchen die halbe, ja die ganze Nacht getanzt – er berichtet darüber selbst in seinen Briefen –, und auf der Harzreise ist er glücklich, den Masken des Hofes entflohen zu sein und Menschen zu treffen, »die ein bestimmtes, einfaches, dauerndes, wichtiges Geschäft haben« (7. Dezember 1777). Drei Tage vorher hatte er geschrieben: »Wie sehr ich wieder auf diesem dunkeln Zug Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber für Gott die höchste ist! Da sind doch alle Tugenden beisammen: Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden, Ausharren –!« Zwei Jahre darauf spricht er im Tagebuch zu sich selbst (14. Juli 1797): »Will's Gott, daß mir Acker und Wiese noch werden und ich für diesen simpelsten Erwerb der Menschen Sinn kriege« – und aus der Schweiz schreibt er im November desselben Jahres: »Eins glaub ich überall zu bemerken: je weiter man von der Landstraße und dem größern Gewerbe der Menschen abkommt, je mehr in den Gebirgen die Menschen beschränkt, abgeschnitten und auf die allerersten Bedürfnisse des Lebens zurückgewiesen sind, je mehr sie sich von einem einfachen, langsamen, unveränderlichen Erwerbe nähren, desto besser, willfähriger, freundlicher, uneigennütziger, gastfreier bei ihrer Armut hab ich sie gefunden.« Und am 11. Oktober 1781 will er zu Fuß von Gotha über die Gleichen nach Kochberg wandern (er, der Geheimrat, der die letzten Tage im herzoglichen Schlosse auf dem Friedenstein als gern gesehener Gast geweilt und mit dem Pariser Weltmann, dem Baron von Grimm, dem Korrespondenten gekrönter Häupter, verkehrt hatte!) und meldet dies dem Herzog mit den Worten: »Vom hohen Friedenstein durch das flache Land, aus dem zusammengefaßten Leben der obern Menschen zum einzelnen und einfacheren der niederen Landesbewohner.« Es ist, als hätte er sich, als er diese Worte schrieb, nach der Gefangenschaft am Gothaer Hof zurück zu sich selbst, zu der einsamen Natur gesehnt und in ländlichen Herbergen, unter einfältigen, beschränkten, unschuldigen Menschen Erholung von den Fesseln der Gesellschaft gesucht. Bitterer und mehr politischer Art ist die Äußerung, die er ein halbes Jahr später gegen Knebel fallen ließ (17. April 1782): »So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe den Bauersmann der Erde das Notdürftige abfordern, das doch auch ein behaglich Auskommen wäre, wenn er nur für sich selbst schwitzte. Du weißt aber, wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrierten Saft aus den Leibern. Und so geht's weiter und wir haben's soweit gebracht, daß oben immer in einem Tag mehr verzehrt wird, als unten in einem beigebracht werden kann.« Einige Tage vorher hatte er seiner Geliebten von Meiningen aus geschrieben: »Ich habe mich dieser Tage her recht bemüht, meine Gedanken auf die Erdschollen zu konzentrieren, und bin nur überzeugter, daß ein Mensch, der seine Lebzeit am Spieltisch zugebracht hat, nicht ein Bauer werden kann. Man muß ganz nah an der Erde geboren und erzogen sein, um ihr etwas abzugewinnen.« Wie wahr ist diese Bemerkung! Statt Spieltisch ließen sich noch viele andere Wörter setzen!

Die Stände fassen sich zu einer Nation zusammen, und so stehen sich die Völker einander gegenüber, jedes mit bestimmtem Charakter, in eigener Art und Weise. Auch auf diese nationalen Besonderheiten fällt in Goethes Werken hin und wieder ein kurzes, helles Licht. Wir meinen damit nicht den allgemeinen Hintergrund, der je nach dem Lande, in das uns die Dichtung versetzt, ein andrer ist, wie z. B. italienische Luft im »Tasso« weht, niederländische im »Egmont« usw., sondern die mehr direkten Urteile und Bezeichnungen, wie sie in Glimpf und Unglimpf die Nachbarvölker gegeneinander anwenden. Im »Götz« sind der alte und der junge Bauer oder der Brautvater und der Bräutigam beide in ihrem Prozeß von dem aus Bologna gekommenen Juristen ausgeplündert worden, und der erste ruft: »Der Teufel hol den Assessor Sapupi, es ist ein verfluchter schwarzer Italiener.« Ebenso im »Wilhelm Meister« 2, 4: »Der schwarzbärtige heftige Italiener.« Götz träumt von einer bessern Zeit im Deutschen Reiche und sagt: »Wir wollten uns mit unsern Brüdern, wie Cherubim mit flammenden Schwertern, vor die Grenzen des Reichs gegen die Wölfe die Türken, gegen die Füchse die Franzosen lagern und zugleich unsers teuern Kaisers sehr ausgesetzte Länder und die Ruhe des Reichs beschützen. Das wäre ein Leben!« Jetzt würden die Wölfe wohl anders benannt werden, die Füchse aber sind geblieben, und auch Brander in Auerbachs Keller sagt:

Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden –

und Aurelie über die französische Sprache (5, 16): »Wie ich sie von ganzem Herzen hasse! Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es eine treffliche Sprache! Sie ist eine perfide Sprache! Ich finde, Gott sei Dank, kein deutsches Wort, um perfid in seinem ganzen Umfange auszudrücken. Unser armseliges ›treulos‹ ist ein unschuldiges Kind dagegen. Perfid ist treulos mit Genuß, mit Übermut und Schadenfreude. Französisch ist recht die Sprache der Welt, wert, die allgemeine Sprache zu sein, damit sie sich nur alle untereinander recht betrügen und belügen können« usw. Den französischen Hang zur Buhlschaft drückt Mephistopheles aus:

Ihr sprecht schon fast wie ein Franzos,
Doch bitt' ich, laßt's Euch nicht verdrießen:
Was hilft's, nur grade zu genießen?
Die Freud' ist lange nicht so groß,
Als wenn Ihr erst herauf, herum,
Durch allerlei Brimborium,
Das Püppchen geknetet und zugericht,
Wie's lehrt manche welsche Geschicht.

Dasselbe Wort »welsch« als Ausdruck der Verachtung in der »Dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe«: »So sei es denn mein Schicksal, wie es dein Schicksal ist, himmelanstrebender Turm, und deines, weitverbreitete Welt Gottes, angegafft und läppchenweise in den Gehirnchen der Welschen aller Völker auftapeziert zu werden.« Auch im »Egmont« in der ersten Szene: »Brannten und sengten die welschen Hunde nicht durch ganz Flandern?« »Mußte doch die welsche Majestät gleich das Pfötchen reichen und Friede machen!« So auch im »Ewigen Juden«:

Und wie sein Bruder welscht und sprach,
Durft er auch welschen eins darnach.

Als Wortemacher und geschickt in wohlgesetzter Schmeichelei erscheint der Franzose in den »Vögeln«: Treufreund hat vor den versammelten Vögeln eine Rede gehalten, und der erste sagt: er spricht gut, der zweite: ganz allerliebst, der dritte: ich wollte, ihr hörtet die Sache, nicht die Worte, und Hoffegut setzt hinzu: es ist, als wenn ein Franzos unter die Deutschen kommt. Und der Dichter selbst schreibt, nachdem er die Korrespondenz des Barons von Grimm aus Paris gelesen, an Knebel (17.Oktober 1812): »Die nordischen Heroen, Katharina, Friedrich, Gustav, der Erbprinz von Braunschweig und andre erscheinen als erbärmliche Tributärs des französischen Sprach- und Schwatzübergewichts.«

Auch die andern Nachbarn, die Fläminge, erhalten ihr Teil: ein flämisch Gesicht machen, heißt soviel, als ein mürrisches, verdrossenes. Der Ausdruck kehrt bei Goethe mehr als einmal wieder, wir begnügen uns, die eine Stelle aus »Wilhelm Meister« 4, 19 anzuführen: »Sie machten unserm Freunde nicht bloß durch ihre Gegenwart, sondern auch oft durch flämische Gesichter und bittere Reden einen verdrießlichen Augenblick.« Als ausgeputzter, jähzorniger Mann erscheint der Polacke im »Götz«: »Wißt Ihr noch, wie ich mit dem Polacken Händel kriegte, dem ich sein gepicht und gekräuselt Haar von ungefähr mit dem Ärmel verwischte? Es war bei Tische, und er stach nach Euch mit dem Messer. Den schlug ich wacker aus dazumal.« Die polnischen Edelleute überfallen in Schwärmen gegenseitig ihre Schlösser und ziehen erst weiter, wenn alles aufgezehrt und ausgeleert ist, ja mancher arme Graf lebt nur als solcher Krippenreiter (»Wahlverwandtschaften«, Teil 2, Kap. 5): Charlottens Wintervorräte waren zu Ende, und einer in der Gesellschaft rief: »So lassen Sie es uns auf polnische Art halten! Kommen Sie nun und zehren mich auch auf, und so gehet es dann weiter in der Runde herum!«

Auch die Deutschen selbst werden nach ihren Eigenschaften von Goethe oft übel behandelt, und Schiller tat desgleichen – es war der ungeheure Abstand, der beide Dichter von der platten, urteilslosen Menge trennte, und die Verkennung, die sie erfuhren, was sie oft zu bitterem Hohn gegen »Vetter Michel in seiner wohlbekannten Deutschheit« hinriß. Doch gehen wir an dieser Stelle nicht darauf ein und gedenken nur der Art, wie Aurelie im »Wilhelm Meister« das deutsche Wesen zeichnet (4, 20): »Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine Deutsche bin; es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer werden, daß alles über ihnen schwer wird« (3, 16): »Die deutsche Nation kam mir im Ganzen so linkisch vor, so übel erzogen, so leer von gefälligem Wesen, so geschmacklos. Oft rief ich aus: Es kann doch kein Deutscher einen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat.« Ähnlich war ohne Zweifel Goethes Stimmung in manchen Augenblicken, wie es auch das Urteil der Fremden zu sein pflegt, doch fühlte er wohl, daß damit nur die eine Seite getroffen war, und versäumte nicht, Aurelie sogleich den Zusatz in den Mund zu legen: »Sie sehen, wie verblendet, wie hypochondrisch ungerecht ich war.« Das darauffolgende Limitation des Urteils läuft übrigens nur auf den Satz hinaus, daß die Deutschen tapfer und brav sind, wenn sie recht geführt werden.

Was nun noch einen Bestandteil der europäischen Bevölkerung betrifft, der jetzt dem Beobachter auf allen Wegen als herrschend begegnet, wir meinen die Judenschaft, so war dieser zu Goethes Zeit noch in allen Landen als ein Fremdes, gänzlich Heterogenes in Schranken und zur Seite gehalten, und so tritt nirgends in Goethes Dramen und Romanen ein Jude als Gestalt für sich auf – außer wenn man die possenhafte Figur des Mardochai im »Jahrmarktsfest von Plundersweilern« als solche gelten lassen will. Aber am 28. Oktober 1782 schreibt er der Frau von Stein: »Einen guten Morgen zu sagen, hat mich der Jude Ephraim abgehalten. Von ihm zu erzählen, wird mir ein Spaß sein. Bald hab ich das Bedeutende der Judenheit zusammen. Und habe große Lust, in meinem Roman auch einen Juden anzubringen.« Leider kam dieser Plan nicht zur Ausführung; die Charakteristik wäre ohne Zweifel eine lebendige, nicht, wie bei Lessing, von einem bloßen abstrakten Grundsatz, dem des gleichen Menschenrechtes und der religiösen Duldung, eingegebene gewesen – zumal da schon der Knabe Goethe in seiner Vaterstadt auch sonst Gelegenheit gefunden hatte, die jüdische Art und Unart frühzeitig kennenzulernen. Vielleicht entstand bald, nachdem jene Briefstelle geschrieben worden, das spätere Zwischenspiel im Jahrmarktsfest, wo Haman in Alexandrinern, halb ernsthaft, halb närrisch, den König Ahasverus mit dem »Bedeutenden der Judenheit« zu schrecken sucht, z. B.:

Der Jude liebt das Geld und fürchtet die Gefahr;
Er weiß mit leichter Müh und ohne viel zu wagen.
Durch Handel und durch Zins Geld aus dem Land zu tragen –

oder:

Sie wissen jedermann durch Borg und Tausch zu fassen;
Der kommt nie los, der sich nur einmal eingelassen –

oder:

Es ist ein jeglicher in deinem ganzen Land
Auf ein' und andre Art mit Israel verwandt,
Und dieses schlaue Volk sieht einen Weg nur offen,
So lang die Ordnung steht, so lang hat's nichts zu hoffen.

Goethes Verehrung für Spinoza hatte mit dem Judentum und dessen Verhältnis zur Gesellschaft nichts zu schaffen; der Dichter bezog sich auf ihn, wie er auch Worte des Psalmisten, der Propheten usw. anzuführen liebte. Über Moses Mendelssohn aber, den Vorboten der kommenden Zeit, äußert er sich ziemlich geringschätzig; als dessen »Morgenstunden« oder Vorlesungen über das Dasein Gottes 1785 erschienen waren, schrieb Goethe am 1. Dezember an Jacobi: »Was hast du zu den Morgenstunden gesagt? und zu den jüdischen Pfiffen, mit denen der neue Sokrates zu Werke geht? Wie klug er Spinoza und Lessing eingeführt hat! O du armer Christe, wie schlimm wird dir es ergehen, wenn er deine schnurrenden Flüglein nach und nach umsponnen haben wird usw.« In Wilhelm Meisters Wanderjahren, Buch 3, Kapitel 11, wird nach einer Schilderung des Einflusses der christlichen Religion hinzugefügt: »In diesem Sinne dulden wir keinen Juden unter uns; denn wie sollten wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet?« Auch sonst streift in den Dichtungen und Betrachtungen der Judaismus wie ein Schatten hin und wieder durch die heitern Abbilder der Wirklichkeit, z. B. Faust:

Das ist ein allgemeiner Brauch,
Ein Jud und König kann es auch.

Ist der Vater ein Geizhals gewesen, dann vergeudet der Sohn das Geld (»Politica«):

Juden und Huren, die werden's fressen.

Schah Abbas thront in Ispahan, und Gesandte kommen aus allen Weltgegenden; Geschenke werden gebracht, großer Prunk damit getrieben, und doch werden sie bald hochfahrend verschmäht, bald darum jüdisch gemarktet (»Westöstlicher Divan«, Pietro della Valle).Ähnliche kurze Andeutungen auch in den Lehrjahren: der Aktuarius (1, 13) ritt auf einem Pferde, das er gestern vom Juden getauscht; (2, 11) die übrigen stritten, ob der Harfenspieler ein Pfaffe oder ein Jude sei; zur Kriegszeit, bei häufigen Durchmärschen, hatte Wilhelm (4, 11) einen Boten ausgesendet, aber dieser mußte schleunigst umkehren, um nicht für einen jüdischen Spion angesehen zu werden; Werner bittet seinen Freund, er möge sein Haar anders tragen, »sonst«,
sagt er (8, 1), »hält man dich denn doch einmal unterwegs als einen Juden an und fordert Zoll und Geleite von dir.« Auch im »Reineke Fuchs« (10. Gesang):

Und auf Kräuter und Steine versteht sich der Jude besonders –

und im 11. Gesange sagt Lampe:

Hüsterlo nennen die Leute
Jenen Busch, wo Simonet lange, der Krumme, sich aufhielt,
Falsche Münzen zu schlagen mit seinen verweg'nen Gesellen.

An Fritz von Stein, 23. Oktober 1794: (es schickt sich nicht, an wohlbesetzter Tafel die Marseillaise zu singen): »Es kommt mir das ebenso vor, wie die Devise eines Reichen, pain bis et liberté, oder eines Erzjuden: Wenig, aber mit Recht.« Im »Westöstlichen Divan«, Buch der Betrachtungen, folgt auf den Spruch:

Da dacht ich: ehrlich sein
Ist doch das Beste;
War es nur kümmerlich,
So steht es feste –

gleich der andre:

Zu genießen weiß im Prachern
Abrahams geweihtes Blut,
Seh ich sie im Bazar schachern,
Kaufen wohlfeil, kaufen gut.

Setzt man sich diese und andre zerstreute Züge zusammen, so erhält man ungefähr ein Bild dessen, was die Juden in der Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts waren, oder wofür sie galten, oder wie der Dichter sie sich dachte.

Wir werfen zum Schlusse noch einen Blick auf die Anredeformen, wie sie bei Goethe im geselligen Verkehr der Individuen und der Stände untereinander herrschen, Formen, die uns noch immer eigentümlich ansprechen, wenn wir sie auch nicht mehr brauchen. Schon bei den mittelhochdeutschen Dichtern gilt neben dem natürlichen und vertraulichen Du ein aus dem Romanischen eingedrungenes höfliches Ihr und Euch. Der Geringere nennt den Höheren Ihr (nach dem Spruche: nobiles vocitantur) und erhält von ihm Du; in der Kaiserchronik duzt der Papst den Kaiser, der Kaiser gibt dem Papst Ihr. Frauen und Geistliche werden mit Ihr angeredet; zwischen Freunden gilt Du, zwischen Fremden Ihr. Auch Eheleute reden sich mit Ihr an: der Vater empfängt von den Kindern Ihr, die Mutter vom Sohne gleichfalls Ihr, von der Tochter wegen größerer Vertraulichkeit Du. Gerät der Sprechende in Leidenschaft oder Zorn, so verwandelt er das nähere Du in das fremdere Ihr oder umgekehrt das höfliche Ihr in das gemeinere Du. Dies blieb so bis etwa zu der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Da entsprang aus der dem französischen Monsieur und Madame nachgeahmten Anrede Herr und Frau der Gebrauch der dritten Person Singularis, und dies Er und Sie bezeichnete nun eine noch tiefere Ehrfurcht und Unterordnung des Redenden als das Ihr. In der zweiten Hälfte des unglücklichen siebzehnten Jahrhunderts und mit dem Beginn des achtzehnten, als überall kriechende Not herrschte und die persönliche Selbstachtung erloschen war, wurde das Er und Sie noch weiter überboten: der Untertänige, der Furchtsame und Schmeichler, der die Kluft zwischen dem Redenden und dem Angeredeten, den Abstand, der die Stände schied, nicht groß genug machen konnte, verwandelte es in das Sie und Ihnen des Plurals, und dieser unsinnige Gebrauch hatte um die Zeit von Goethes Jugend schon weiten Raum gewonnen. So gab es nun vier Stufen der Höflichkeit, die eine immer feiner, demütiger als die andre: das Ihr stand dem Du nicht sehr fern, das Er dauerte neben dem Plural, doch immer mehr sinkend, während des Jahrhunderts fort. Der junge Student Goethe in Leipzig hatte im Jahre 1765 seinem Freunde Riese mit Ihr und Euer geschrieben, jener antwortet mit Sie und Ihnen, und Goethe zürnt darüber (»Sie, Sie – das lautet meinen Ohren so unerträglich«). In Straßburg schreibt er 1770 einem andern Freunde Limprecht mit Er und Ihm, fällt aber gleich darauf und in demselben Briefe in das Sie des Plurals. In den Briefen an die Mutter vor der Schweizer Reise 1779, in denen er ihr seinen und des Herzogs Besuch in Frankfurt ankündigt, redet er sie in der dritten Person des Singulars an: »Sie möchte ich recht fröhlich sehen und Ihr einen guten Tag bieten, wie noch keinen«; »antworte Sie mir sogleich«; »wenn Sie mir erst Ihre Ideen geschrieben hat«; »so eine Antwort wünscht' ich von Ihr, liebe Mutter«; »was Ihr noch einkommt, schreibe Sie mir« usw.; wo beide Eltern gemeint sind, braucht der Schreibende Ihr und Euch. Aber drei Jahre später, in dem für sein inneres Leben bedeutungsvollen Schreiben an die Mutter vom 11. August 1781, herrscht schon durchgängig das Sie und Ihre und Ihnen, ganz wie heutzutage. Wenden wir uns zu den Dichtungen jener Jahre, so findet sich im »Faust« noch gar kein Sie Mit Ausnahme einer Stelle:
Herr Doktor wurden da katechisiert,
Hoff', es soll Ihnen wohlbekommen.
Diese Verse finden sich in dem Anhang zu einer der wundervollsten Szenen des Dramas, dem Religionsgespräch zwischen Faust und Gretchen. Auch aus andern Anzeichen läßt sich schließen, daß dieser Anhang einer späteren Zeit angehört, worüber ich mich hier nicht auslassen kann. Er steht schon im Fragment von 1790, das nicht überall ursprünglich ist.
, es wechselt darin Er, Ihr und Du, zuweilen ohne viele Wahl, wie ein lebhaftes Gespräch es mit sich bringt, meistens aber in der Unterscheidung, die das Verhältnis der Stände forderte. Faust bei der ersten Begegnung auf der Straße redet Gretchen mit der feinsten Höflichkeit in der dritten Person des Singulars an:

Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?

In der darauffolgenden Gartenszene sagt Gretchen immer Ihr, Faust gibt ihr in der Sprache der Liebe das feurige, innige Du, bis auch sie am Schlusse in den Ruf ausbricht:

Bester Mann, von Herzen lieb ich dich!

Zwischen Faust und Wagner herrscht, wie es bei Professor und Student oder Famulus sich ziemt, das althergebrachte Ihr, das nur am Ende des Spazierganges bei lebhafterer Aktion in das ungezwungene Du übergeht. In der Szene, wo Mephistopheles im Doktorkleide den Schüler empfängt, wird von beiden Seiten, wie billig, das Ihr angewandt; in der, wo Mephisto sich zuerst der Frau Marthe Schwerdtlein vorstellt, sagt er ehrerbietig im Singular:

Ich kenne Sie ( eam) jetzt, mir ist das genug:
Sie hat da gar vornehmen Besuch –

und zu Gretchen:

Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf,
Wie freut mich's, daß ich bleiben darf –

und Frau Marthe fragt:

Was bringt Er denn? Verlange sehr –

worauf Mephistopheles:

Ich wollt', ich hätt eine frohere Mähr!
Ich hoffe, Sie läßt mich's drum nicht büßen:
Ihr ( ejus) Mann ist tot und läßt Sie ( eam) grüßen.

Im Verfolg dieser Szene geht dann bei näherer Bekanntschaft das vornehmere Er und Sie in das bequemere Ihr des Plurals über. In Auerbachs Keller dagegen dient das Er gegen den Schluß zum Ausdruck des Zornes, es ist schon herabsetzend:

Laß Er uns das zum zweiten Male bleiben!
Was, Herr? Er will sich unterstehen
Und hier sein Hokuspokus treiben?

Wie in dieser Szene, steht auch sonst das Er nicht leicht anders als mit Hilfe eines Substantivs der Anrede, wie Herr, Schwager, Gevatter, Freund, guter Freund, Meister, mein Kind usw. Der Kaufmann spricht höhnend zu Hermann:

Nicht wahr, mein Freund, Er kennt nur Adam und Eva?

Im »Wilhelm Meister«, in einer ganz andern Welt, wird in der dritten Person des Plurals gesprochen, Wilhelm z. B. sagt zu Philinen, da, wo er ihre Pantoffeln vor seinem Bette findet und sie selbst hinter den Vorhängen vermutet: »Stehen Sie auf, Philine«, usw. Dennoch geschieht es auch hier, bei der Fülle und Mischung der verschiedensten Standes- und Lebenssphären, daß die gesellige Stellung der Personen in der Form der Anrede ihren Widerschein findet. So gleich in den ersten Kapiteln: die alte Barbara redet zu Wilhelm mit dem Sie des Plurals, er zu ihr mit dem des Singulars, Barbara zu Marianne mit Ihr und Euch, diese zu jener mit Du. Der Graf spricht zu dem Schauspieldirektor Melina, gleichsam von der Standeshöhe herab: »Ruf Er seine Leute zusammen und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist.« Und bald darauf: »Ich will einen Freund zu Euch schicken, und wenn Ihr billige Bedingungen macht und Euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt« usw. Und die Gräfin sagt zu Philine: »Sieht Sie, Kleine, sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir« usw., und ebenso die Baronin: »Endige Sie doch das angefangene Liedchen«. Hermann redet zu seinen Eltern mit Ihr, die ihn dagegen duzen, und so sagt auch Wilhelm zur Mutter: »Schelten Sie das Puppenspiel nicht«, und sie zu ihm: »Mach es nur mäßig« – ein Zug der Unterwürfigkeit der Kinder, wie er sich aus alter Zeit vererbt hatte. Dem Apotheker und Pfarrer gibt Hermann das Ihr, sie sind ja Fremde, ältere Personen; umgekehrt duzt der Pfarrer bisweilen Hermann, denn er ist sein Zögling und jüngerer Freund. So sagt auch Egmont zu seinem Sekretär Du, dieser zu jenem Ihr. Zwischen Hermann und Dorothea schwankt die Anrede: er duzt sie in der idealen Sprache der Poesie, sie, das bescheidene, niedrigere Mädchen sagt Ihr, und nur in der schönen Szene, wo beide am Brunnen sitzen, und in jener andern, wo sie auf dem Heimweg eben zum Birnbaum gelangen, bedient sie sich des homerischen und antiken Du und Dir. Der Vater nennt seine Frau Mutter (er spricht gleichsam im Namen der Kinder):

wahr ist auch die Geschichte,
Mütterchen, die du erzählst –

und sie ihn dagegen Vater:

Immer bist du doch, Vater, so ungerecht gegen den Sohn!

Auch zu dem würdigen Richter tritt der Pfarrer mit der Anrede Vater, die in manchen Mundarten alter Zeit dem erfahrenen Greise, besonders dem Richter, von selbst zukam; nennt doch auch Telemach den göttlichen Sauhirten wiederholt ἄττα, d. h. Vater. Das Bürgermädchen bekommt noch nicht den Titel Fräulein:

Bin weder Fräulein, weder schön –

und Frau Marthe sagt:

Denk, Kind, um alles in der Welt,
Der Herr dich für ein Fräulein hält.

Später sagt Mephisto bloß Jungfrau:

Und hier die Jungfrau ist auch da?

wie auch Werther zu dem Dienstmädchen am Brunnen: »Soll ich Ihr helfen, Jungfer?« Der Ehemann wird mit Schatz, Wirt, Herr bezeichnet. So sagt Frau Marthe:

Ich möchte gern ein Zeugnis haben,
Wo, wie und wann mein Schatz gestorben und begraben –

und Mephistopheles rät ihr an:

Wär ich nun jetzt an Eurem Platze,
Betraurt' ich ihn ein züchtig Jahr,
Visiert dann unterweil nach einem neuen Schatze.

Elisabeth im »Götz« sagt: »Ich kann nicht begreifen, wo mein Herr bleibt«, und so redet auch Gertrud in Schillers »Tell« ihren Mann an: »Mein lieber Herr und Ehewirt«, und Stauffacher sagt: »Bleibt doch, bis meine Wirtin kommt.« In der mehr modernen Sphäre des »Wilhelm Meister« aber spricht der Graf zur Gräfin: »Mein Kind, betrachte mir diesen Mann genau«.

Überblickt man diesen mannigfachen Redegebrauch und vergleicht ihn mit dem jetzigen, so ist nicht zu leugnen, daß sich darin vieles zum Bessern gewandt hat. Wie wir unsern Briefen keine französische Aufschrift mehr geben, was doch im vorigen Jahrhundert ganz allgemeine Sitte war, so betiteln wir die Frau und das Fräulein nicht mehr mit Madam und Mamsell – wie z. B. in der »Stella« geschieht, und wie auch Mephisto sagt:

Madam, es tut mir herzlich leid.

Das Ihr und Er ist ganz verschwunden, das Sie des Plurals ist alleinherrschend geworden und geht bis tief in die untersten Schichten hinab. Es ist dies ein Zeichen der um sich greifenden demokratischen Gleichheit, an sich aber eine häßliche, die Sprache und ihren Bau entstellende Wendung. Die Italiener sind unter spanischem Einfluß zu einer gleichen Unnatur verführt worden: sie sagen mit dem Femininum der dritten Person des Singulars ella, lei, la, le – in beiden Sprachen gleichsam eine Narbe aus vergangenen unglücklichen Zeiten und auch hierin, wie in größeren Dingen, ein Parallelismus der Geschicke beider Völker.


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