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Gleichnisse

Als Börne im Jahre 1830 (noch vor der Julirevolution) den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe gelesen hatte, spottete er in seinem Tagebuch, diese Briefe seien »Wasser in Likörgläschen«. In der Tat, sie sind keineswegs unterhaltend und bedeuten nur für den etwas, der schon vorher beide Männer aus ihren Werken liebgewonnen hat und darum auch dem Geringen, das etwa von ihnen ausging, sein Gefühl entgegenbringt. Börne aber hatte für Schönheit und Kunst, für Harmonie menschlicher Bildung nur geringen Sinn; ihn beherrschte die Leidenschaft radikaler Politik oder die von scharfem Verstande genährte Wut der Zerstörung alles Überkommenen. Wenn er in ästhetischer, nicht geradeaus politischer Kritik sich vernehmen läßt, wozu ihn lange Zeit hindurch die Umstände zwangen, so ergreift er auch diese Gelegenheit, seinem Ingrimm über den Gang der öffentlichen Dinge einen, wenn auch gedämpften Ausdruck zu schaffen. Zu diesem Spiel oder dieser leichten Verschleierung war ihm im Kampfe mit der Zensur und der allgemeinen Meinung vor allem sein Witz behilflich – der ihm allerdings in ganz außerordentlichem Grade zu Gebote stand. Es war dies eine Gabe des Stammes und Blutes, die in ihm, sozusagen, zur Person geworden war. Seine Schriften sind eine ununterbrochene Folge von Witzworten, und er kann fast nicht anders denken und sich ausdrücken. Darum auch ein europäisches Gehirn sich bald der Aufnahme versagt: mit andern Worten, der Leser muß sich Ruhepausen setzen, um dann wiederzukehren und von Satz zu Satz und von Seite zu Seite dem Mummenschanz der Begriffe von neuem sich hinzugeben – allerdings mit immer steigender Bewunderung. Von solchen Aussprüchen Börnes könnte man Tausende und aber Tausende sammeln, alle durch witzige Einkleidung bemerkenswert und sinnreich. Ich führe hier von der großen Menge nur drei an, die mir beim Schreiben gerade gegenwärtig sind, und die diese fremde Geistesart an gegebenen Beispielen veranschauschaulichen mögen, 1. Er lernt E. M. Arndt und Josef Görres kennen und faßt sein Urteil über diese Männer so zusammen: »Gediegene Menschen, aber schwer zu hämmern. – Nichts Griechisches in ihnen: Heiligenschein, Goldgrund, eckige Figuren. – Sie haben nur eine Zentnerwage.« 2. Er hat ein Buch gelesen, das der Verfasser nach Sitte deutscher Gelehrten mit Anmerkungen überladen hat. Diese Geschmack- und Formlosigkeit wird so geschildert: »Die Gedanken, welche der Übervölkerung wegen im Texte keinen Raum finden, wandern aus und bilden Noten-Kolonien, haben aber so ausgedehnte Besitzungen, daß das Mutterland die Zügel der Regierung verliert.« 3. Seine Schwester hat einen Jungen, der die alten Sprachen mit Lust studiert, während der Vater es lieber sähe, wenn er sich durch Französisch und Englisch für das Leben und den Erwerb bildete. Börne soll Rat geben und sagt: »In den Alten ist der wahre Grundbesitz; zu Geld und Münze kann man immer kommen, wenn man Land hat Aus diesem Goldklumpen Börnes könnten in dem Streite zwischen klassischen und Realschulen die Anhänger der ersteren Hunderte von Argumenten für ihre Sache ausprägen..« So vortrefflich diese Vergleiche sind, und so sehr sie den Nagel auf den Kopf treffen, so führt doch der allzeit aufspringende und sich vordrängende Witz auch zum Abgeschmackten, zu bloßem Spaß. Z. B. bei einer Fußreise findet sich, daß dem Wanderer das Schuhwerk geplatzt ist. Dies wird so ausgedrückt: »Damit war die Geduld meiner Stiefel zu Ende, und sie wurden fürchterlich aufgebracht, so daß meine Strümpfe ans Fenster liefen und erschrocken fragten: was der Lärm bedeute?« Dies Läppische ist bei Heine weit häufiger als bei Börne, aber auch Heine ist nicht arm an glänzenden Einfällen der oben bezeichneten kurzen, treffenden Art.

Witzig also waren beide Koryphäen, und der Witz ist es nach ihrer innersten Meinung, der den Wert eines Menschen, einer Schrift bestimmt. In den sechs Bänden des Briefwechsels unserer beiden klassischen Dichter aber fand Börne nur ein einziges witziges Bild: es war die Stelle, wo über Fichtes philosophisches Verfahren gesagt ist: »Die Welt ist ihm nur ein Ball, den das Ich geworfen hat und den es bei der Reflexion wieder fängt« (Schiller, 28. Oktober 1794). Im übrigen war Börne erschrocken über die Dürre des Geistes dieser beiden für groß geltenden Männer. Wenn sie in ihren Werken so witzlos sind, so konnte man denken, sie haben es verschmäht, öffentlich und vor aller Welt Luftsprünge zu machen: nun aber, in diesen vertrauten Mitteilungen, gar keine geistreiche Wendung, nichts Spitzes, Beißendes, Auffallendes, Überraschendes. Und nun folgt bei Börne eine längere Auseinandersetzung über den Witz als höchste Anlage hervorragender Menschen – in einer Bildersprache, die angenehm beschäftigt, aber nichts hinterläßt als etwas Asche und unreine Lust.

Lassen wir Schiller beiseite, so besaß Goethe diese Art Witz freilich nicht, aber dafür ist er in Schrift und Rede so reich an Gleichnissen wie Feld und Wiese im Frühling an Blumen – da sprießt es in reicher Fülle von allen Seiten. Unter den Gaben, die er von den Eltern ererbt hatte, nennt er selbst »das Bedürfnis, sich figürlich und gleichnisweise auszudrücken« (Wahrheit und Dichtung, Ende des Buches 10), ja, die Mundart der Gegenden am Main und Rhein überhaupt neigte zu solcher Redeform: »Der Oberdeutsche und vielleicht vorzüglich derjenige, welcher dem Rhein und Main anwohnt (denn große Flüsse haben, wie das Meeresufer, immer etwas Belebendes), drückt sich viel in Gleichnissen und Anspielungen aus, und bei einer innern, menschenverständigen Tüchtigkeit bedient er sich sprichwörtlicher Redensarten« (ebenda, Buch 6). Gleichnisse, sagt ein Verspaar in den Invektiven,

Gleichnisse dürft ihr mir nicht verwehren,
Ich wüßte mich sonst nicht zu erklären.

Ähnliche Bekenntnisse in den Briefen an Frau von Stein: »In Gleichnissen lauf ich mit Sanchos Sprichwörtern um die Wette« (14. September 1780), »Ich dank Ihnen tausendmal für die Nähe Ihrer Liebe –, dafür hab ich Ihnen auch ein paar schöne Gleichnisse erfunden« (7. März 1781), »Da ich der ewige Gleichnismacher bin« (8. Mai 1781) usw. Und wirklich, in allem, was von Goethe ausgegangen ist, dürfen wir nicht lange suchen, und wir stoßen auf Gleichnisse, darunter einzelne Prachtexemplare: sie finden sich in Vers und Prosa, aus frühen und späten Jahren, in Briefen und Dichtungen. Die Farbenlehre z. B. beginnt gleich in der Vorrede mit einer umständlichen, liebevoll verweilenden Schilderung der Newtonschen Lehre als eines winkeligen alten Schlosses: wir würden die Stelle, wenn sie nicht so lang wäre, gern hersetzen – denn wer liest noch die Farbenlehre, so geistvoll, so musterhaft für gelehrte Werke in Form und Stil sie ist? Gewiß niemand, auch fehlt sie in den gangbaren Ausgaben; sie würde ja deren Umfang nur vergrößern und den geforderten Kaufpreis erhöhen. (In der »Christlichen Glaubenslehre« von David Friedrich Strauß ist dieses Gleichnis auf den Unterschied der kirchlichen, durch die Jahrhunderte geschaffenen Dogmatik und der ohne sichern Grund und nur leicht für den Augenblick gebauten Schleiermacherschen Christologie angewandt – wir lassen dahingestellt, ob Strauß bewußt oder unbewußt sein glänzendes Bild der Farbenlehre entlehnt hat.) Herrlich ist ein anderes Gleichnis in dem schönen Briefe an Jacobi vom 17. November 1782: »Laß mich ein Gleichnis brauchen. Wenn du eine glühende Masse Eisen auf dem Herde siehst, so denkst du nicht, daß soviel Schlacken drin stecken, als sich erst offenbaren, wenn es unter den großen Hammer kommt. Da scheidet sich der Unrat, den das Feuer selbst nicht absonderte, und fließt und stiebt in glühenden Tropfen und Funken davon, und das gediegene Erz bleibt dem Arbeiter in der Zange. Es scheint, als wenn es eines so gewaltigen Hammers bedurft habe, um meine Natur von den vielen Schlacken zu befreien und mein Herz gediegen zu machen. Und wie viel, wie viel Unrat weiß sich auch noch da zu verstecken!« (Ähnlich in dem Briefe Wilhelm Meisters an Werner, 5, 3: Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Inneres voller Schlacken ist?) Da, wo er in seiner Selbstbiographie auf das Kammergericht in Wetzlar zu reden kommt (im Buch 12), drückt er das Interesse der Stände an dieser ganz verrotteten Reichsanstalt mit den bildlichen Worten aus: »Es konnte ihnen eigentlich nur um Stillung des Blutes zu tun sein; ob die Wunde geheilt würde, lag ihnen nicht so nahe.« Versetzen wir uns hier mit einem Sprung zu den Römischen Elegien, so endigen zwei von diesen, die sechste und die neunte, mit lieblich-zarten Gleichnissen, die nie ein Jude bei all seinem Witz erfunden hätte:

6. Und wie saß ich beschämt, daß Reden feindlicher Menschen
Dieses liebliche Bild mir zu beflecken vermocht!
Dunkel brennt das Feuer nur augenblicklich und dampfet,
Wenn das Wasser die Glut stürzend und jählings verhüllt;
Aber sie reinigt sich schnell, verjagt die trübenden Dämpfe,
Neuer und mächtiger dringt leuchtende Flamme hinauf.

9. Morgen frühe geschäftig verläßt sie das Lager der Liebe,
Weckt aus der Asche behend Flammen aufs neue hervor.
Denn vor andern verlieh der Schmeichlerin Amor die Gabe,
Freude zu wecken, die kaum still wie zu Asche versank.

Dies sind einzelne Beispiele, hie und da aufgerafft. Wir verweilen etwas länger bei dem Lebensabschnitt, wo der Dichter sich den ewigen Gleichnismacher nennt, und durchlaufen, um ihn als solchen kennenzulernen, die Briefe an Frau von Stein und die etwa gleichzeitigen Anfänge des Wilhelm Meister. An dem, was schon in andern Kapiteln zu andern Zwecken angeführt worden, gehen wir vorüber, obgleich es vielleicht das Beste ist, ebenso an den bloß oder halb metaphorischen Wendungen, z. B. »Wenn mein Wesen an Deines falsch anschlägt« (4. August 1781) – denn sonst wäre kein Ende. Das Gesammelte aber teilt sich nach den drei Gesichtspunkten, 1. seiner Liebe, 2. seines innern Schicksals und Werdens, 3. der politischen Hoffnungen, Erfahrungen und Zweifel.

Liebe. An Frau von Stein, 24. Mai 1776: »Die Gegenwart im Augenblick des Bedürfnisses entscheidet alles, lindert alles, kräftiget alles. Der Abwesende kommt mit seiner Spritze, wenn das Feuer nieder ist.«

Etwa einen Monat später: »Die Gegenwart ist's allein, die wirkt, tröstet und erbaut – wenn sie auch wohl manchmal plagt – und das Plagen ist der Sonnenregen der Liebe.«

7. Oktober 1776: »Sie kommen mir eine Zeit her vor wie Madonna, die gen Himmel fährt: vergebens, daß ein Rückbleibender seine Arme nach ihr ausstreckt, vergebens, daß sein scheidender, tränenvoller Blick den ihrigen noch einmal niederwünscht: sie ist nur in den Glanz versunken, der sie umgibt, nur voll Sehnsucht nach der Krone, die ihr überm Haupt schwebt.«

8. November 1777: »Ob ich Sie auch wirklich liebe, oder ob mich Ihre Nähe nur wie die Nähe eines so reinen Glases freut, darin sich so gut bespiegeln läßt« (8. Januar 1781: »Schwer enthalt ich mich, noch einmal in meinen liebsten Spiegel zu sehen«).

12. Mai 1779: »Von Ihnen kann ich doch nicht wegbleiben. Vergebens, daß ich denke, das Wasser soll einen Fall irgendwohin nehmen, werd ich immer wie ein Klotz auf dem See auf einem Fleck herumgespült.«

18. August 1779: »Seit Sie weg sind, bin ich überall herumgezogen – es ist wie mit einer Erbschaft, die nach dem Abgang des einigen Besitzers an viele zerfällt.«

14. Juni 1780 (sie war aufs Land gezogen, er hat ihren Mann kaum, ihren jüngsten Sohn gar nicht gesehen): »Wenn der Stamm fällt, fallen die Äste.«

21. September 1780: »Gute Nacht, lauteres Gold, ich möchte im dreifachen Feuer geläutert werden, um Ihrer Liebe wert zu sein. Doch nehmen Sie die Statue aus korinthischem Erz, wie der Engel Ithuriel, um der Form willen an.« (Anspielung auf einen Roman von Voltaire, s. Fielitz zu der Stelle.)

29. Oktober 1780: »Ich denke, der Baum unserer Freundschaft ist lange genug gepflanzt und fest genug gewurzelt, daß er von den Unbilden der Jahreszeit und der Witterung nichts mehr zu besorgen hat.«

7. November 1780: »Ihrer Liebe wieder ganz gewiß, ist mir ganz anders. Es muß mit uns wie mit dem Rheinwein alle Jahr besser werden.«

16. Dezember 1780: »Sagen Sie mir, daß Sie wohl sind und daß Sie mir das Kapital noch lange stunden wollen, das ich in meinem weitläufigen und gefährlichen Handel so notwendig brauche.«

8. März 1781: »Ich habe mein Herz einem Raubschlosse verglichen, das Sie nun in Besitz genommen haben; das Gesindel ist draus vertrieben, nun halten Sie es auch der Wache wert; nur durch Eifersucht auf den Besitz erhält man die Besitztümer. – Sie haben es weder durch Gewalt noch List: mit dem freiwillig sich Übergebenden muß man aufs edelste handeln und sein Zutrauen belohnen.«

Desselben Tages: »Ich erzählte mir auch gestern, Sie seien mir, was eine Kaiserliche Kommission den Reichsfürsten ist. Sie lehren mein überall verschuldetes Herz haushälterischer werden und in einer reinen Einnahme und Ausgabe sein Glück finden. Nur unterscheiden Sie sich von allen Debit-Kommissarien, daß Sie mir eine reichlichere Kompetenz geben, als ich vorher im Vermögen gehabt. Setzen Sie Ihr gutes Werk fort und lassen Sie jedes Band der Liebe, Freundschaft, Notwendigkeit, Leidenschaft und Gewohnheit mich täglich fester an Sie binden.«

13. März 1781: »Heute früh fang ich zum ersten Male an, einige Unruhe zu spüren und ein Verlangen, wieder bald bei Ihnen zu sein. Der Fluß läuft sanft und sachte; je näher er ans Wehr kommt, je geschwinder zieht's.«

8. Juli 1781: »Wir sind wohl verheiratet, das heißt durch ein Band verbunden, wovon der Zettel aus Liebe und Freude, der Eintrag aus Kreuz, Kummer und Elend besteht.«

9. Oktober 1781 (die Gestalt der Geliebten leuchtet ihm):

wie durch des Nordlichts bewegliche Strahlen
Ewige Sterne schimmern.

8. Dezember 1781: »Deine Gestalt und Deine Liebe glänzt immer um mich, und wie in eine glückliche Heimat trag ich alles in Gedanken zu Dir.«

12. Dezember 1781: »Vor allen Dingen, wie man vor einem Opfer alles Unheilige wegzuwenden sucht, vor allen Dingen liebe, geliebte Lotte« usw.

12. April 1782: »Wer kann der Liebe vorschreiben? dem einfachsten und dem grilligsten Dinge in der grillenhaften Zusammensetzung, die man Mensch nennt? dem Kinde, das bald mit elendem Spielzeuge zu führen ist, bald mit allen Schätzen nicht angelockt werden kann? dem Gestirn, dessen Weg man bald wie die Bahn der Sonne auf den Punkt auszurechnen imstande ist, und das oft schlimmer als Komet und Irrlicht den Beobachter trügt?«

25. August 1782: »Wie eine süße Melodie uns in die Höhe hebt, unseren Sorgen und Schmerzen eine weiche Wolke unterbaut, so ist mir Dein Wesen und Deine Liebe.«

28. Juni 1784: »All' meine Schwächen habe ich an Dich angelehnt, meine weichen Seiten durch Dich beschützt, meine Lücken durch Dich ausgefüllt. Wenn ich nun entfernt von Dir bin, so wird mein Zustand höchst seltsam. Auf einer Seite bin ich gewaffnet und gestählt, auf der andern wie ein rohes Ei, weil ich da versäumt habe mich zu harnischen, wo Du mir Schild und Schirm bist.«

Innere Entwickelung. (Er zeichnet in der ersten Zeit viel und verdirbt viel Zeit damit.) 14. September 1777: »Mir ist's, als wenn das Zeichnen mir ein Saugläppchen wäre, dem Kind in Mund gegeben, daß es schweige und in eingebildeter Nahrung ruhe.« (8. März 1781: »Im Zeichnen war ich heut wieder recht unzufrieden mit mir, es wird eben nichts draus und kann nichts werden. Ich bin immer so nah und so weit, wie einer, der vor einer verschlossenen Tür steht.«)

9. Dezember 1777: (Die Harzreise und der Umgang mit einfachen Menschen wirkt auf ihn) »wie ein kaltes Bad, das einen aus einer bürgerlichen-wollüstigen Abspannung wieder zu einem neuen kräftigen Leben zusammenzieht«.

Desselben Tages: »Die Menschen streichen sich recht auf mir auf, wie auf einem Probierstein.«

2. Juni 1778: »Gestern Abend dacht ich, daß mich die Götter wohl für ein schön Gemäld halten mögen, weil sie so einen überkostbaren Rahm drum machen wollten.«

30. November 1779: »Die Wahrheit ist doch immer neu, und wenn man wieder einmal so einen ganz wahren Menschen sieht, meint man, man käme erst auf die Welt. Aber auch ist's im Moralischen wie mit einer Brunnenkur: alle Übel im Menschen, tiefe und flache, kommen in Bewegung, und das ganze Eingeweide arbeitet durcheinander.«

5. Mai 1780: »Die paar Wechsel in Menschen und Sachen bekommen mir wohl. Ich komme mir vor wie der Steinfresser, der, um satt zu werden, nach der reichlichsten Mahlzeit noch Kiesel verschlucken muß.« (4. September 1783: »Ich habe mich recht mit Steinen angefüttert; sie sollen mir, denke ich, wie die Kiesel dem Auerhahn zur Verdauung meiner übrigen schweren Winterspeise helfen.«)

30. Juni 1780: »Tausend und tausend Gedanken steigen in mir auf und ab. Meine Seele ist wie ein ewiges Feuerwerk ohne Rast.«

14. September 1780: »In meinem Kopf ist's wie in einer Mühle mit viel Gängen, wo zugleich geschroten, gemahlen, gewalkt und Öl gestoßen wird.«

Desselben Tages: »Ich preise den Marc Antonin glücklich, wie er auch selbst den Göttern dafür dankte, daß er sich in die Dichtkunst und Beredsamkeit nicht eingelassen. Ich entziehe diesen Springwerken und Kaskaden so viel möglich die Wasser und schlage sie auf Mühlen und in die Wässerungen, aber ehe ich's mich versehe, zieht ein böser Genius die Zapfen und alles springt und sprudelt. Und wenn ich denke, ich sitze auf meinem Klepper und reite meine pflichtmäßige Station ab, auf einmal kriegt die Mähre unter mir eine herrliche Gestalt, unbezwingliche Lust und Flügel und geht mit mir davon.«

Zu derselben Zeit: »Heute in dem Wesen und Treiben verglich ich mich einem Vogel, der sich aus einem guten Endzweck ins Wasser gestürzt hat, und dem, da er am Ersaufen ist, die Götter seine Flügel in Floßfedern nach und nach verwandeln. Die Fische, die sich um ihn bemühen, begreifen nicht, warum es ihm in ihrem Elemente nicht sogleich wohl wird.«

20. September 1780: »Das schöne Wetter ist mit Wolken und Nebeln auf einmal überzogen worden, die Berge brauen, und es ist kein Heil mehr. Meine Natur schließt sich wie eine Blume, wenn die Sonne sich wegwendet.«

7. November 1780: »Ich rekapituliere in der Stille mein Leben seit diesen fünf Jahren und finde wunderbare Geschichten. Der Mensch ist doch wie ein Nachtgänger, er steigt die gefährlichsten Kanten im Schlafe.«

10. März 1781: »Die Ruhe, die Entfernung von aller gewohnten Plage tut gar sehr wohl; ich fühle, daß ich noch immer bei mir selbst zu Hause bin, und daß ich von dem Grundstock meines Vermögens nichts zugesetzt habe.«

9. Oktober 1781: »Was für Häute muß man abstreifen! Wie wohl ist mir's, daß sie nach und nach weiter werden! Doch fühle ich, daß ich noch in manchen stecke.«

10. Dezember 1781: »Ich bitte Gott, daß er mich täglich haushälterischer werden lasse, um freigebig sein zu können, es sei mit Geld oder Gut, Leben oder Tod.«

31. März 1782: »Wie die Muscheln schwimmen, wenn sie ihren Körper aus der Schale entfalten, so lerne ich leben, indem ich das in mir Verschlossene sachte auseinanderlege.«

13. Mai 1782: »Die Seele aber wird immer tiefer in sich selbst zurückgeführt, je mehr man die Menschen nach ihrer und nicht nach seiner Art behandelt; man verhält sich zu ihnen wie der Musikus zum Instrument.«

Staatsgeschäfte, hoffnungsreich begonnen, mit Mißstimmung fortgeführt.

8. Oktober 1777 (Tagebuch): »Der Herzog wird mir immer näher und näher, und Regen und rauher Wind rückt die Schafe zusammen.«

4. März 1779: »Wie anders sieht auf dem Platze aus, was geschieht, als wenn es durch die Filtriertrichter der Expeditionen eine Weile läuft.«

Tags darauf: »Mir ist's auf dieser ganzen Wanderung wie einem, der aus einer Stadt kommt, wo er aus einem Springbrunnen auf dem Markte lang getrunken, in den alle Quellen der Gegend geleitet werden, und er kommt spazierend einmal an eine von diesen Quellen an ihrem Ursprung – er kann dem ewig rieselnden Wesen nicht genug zusehen und ergötzt sich an den Kräutern und Kieseln.«

21. August 1779: »Diese Woche hat die Last, die ich trage, wieder stärker gedrückt. An Orten, wo die Weiber Viktualien und andres in Körben auf dem Kopfe tragen, haben sie Kringen, wie sie's nennen, von Tuch mit Pferdehaar ausgestopft, daß der harte Korb nicht auf den Scheitel drückt: manchmal wird mir's, als wenn mir eins das Kissen wegnähme und manchmal wieder unterschöbe.«

5. Mai 1780: »Da Sie von der Welt so weit entfernt sind, werden wir Ihnen Kinder scheinen, die das Wasser aus dem Fluß ins Meer tragen: es liefe wohl geschwinder von selbst.«

21. September 1780: »In bürgerlichen Dingen, wo alles in einer gemessenen Ordnung geht, läßt sich weder das Gute sonderlich beschleunigen, noch ein oder das andere Übel herausheben; sie müssen zusammen wie schwarze und weiße Schafe einer Herde untereinander zum Stalle herein und hinaus.«

An demselben Tage abends: »Das Volk jauchzt über seines Landesherrn Gegenwart, und alle alte Übel werden, wie die Schmerzen eines Gichtischen nach einer Debauche, in unzähligen Suppliken lebendig.«

25. Oktober 1780: »Hier (in Weimar) leben die Menschen miteinander wie Erbsen in einem Sacke; sie reiben und drücken sich, es kommt aber nichts weiter dabei heraus, am wenigsten eine Verbindung.«

10. Dezember 1781: »Gott weiß, ob er (der Herzog) lernen wird, daß ein Feuerwerk um Mittag keinen Effekt tut.« (Er wollte eben den Speck spicken, wie Goethe bei anderer Gelegenheit sagte.)

7. April 1782: »Wehe dem, der sich von großer Herren Gunst ins Freie locken läßt, ohne sich den Rücken gedeckt zu haben.«

11. April 1782: »Die Hofmeister junger Fürsten, die ich kenne, vergleiche ich Leuten, denen der Lauf eines Baches in ein Tal anvertraut wäre; es ist ihnen nur darum zu tun, daß in dem Raum, den sie zu verantworten haben, alles fein still zugehe; sie ziehen Dämme quer vor und stemmen das Wasser zurück zu einem feinen Teiche; wird der Knabe majorenn erklärt, so gibt's einen Durchbruch, und das Wasser schießt mit Gewalt und Schaden seinen Weg weiter und führt Steine und Schlamm mit fort. Man sollte Wunder denken, was es für ein Strom wäre, bis zuletzt der Vorrat ausfließt und ein jeder zum Bache wird, groß oder klein, hell oder trüb, wie ihn die Natur hat werden lassen, und er seines gemeinen Weges fortfließt.«

9. Juni 1784: »Unsere Geschäfte gehen einen leidlichen Gang, nur leider, aus nichts wird nichts. – Indessen begießt man einen Garten, da man dem Lande keinen Regen verschaffen kann.«

Zu den politischen auch ein paar religiös-moralische, gleichfalls bildlich eingekleidete Urteile.

Lavaters Pontius Pilatus erscheint ihm, wie alles, was dieser Prophet bis dahin verfaßt hatte, als tief gedacht und geistvoll, dabei aber durch krassen Aberglauben entstellt, und er drückt dies so aus, 6. April 1782: »Lavater kommt mir vor, wie ein Mensch, der mir weitläufig erklärte, die Erde sei keine akkurate Kugel, vielmehr an beiden Polen eingedrückt, bewiese das aufs bündigste und überzeugte mich, daß er die neuesten, ausführlichsten, richtigsten Begriffe von Astronomie und Weltbau habe – was würden wir nun sagen, wenn solch ein Mann endigte: schließlich muß ich noch der Hauptsache erwähnen, nämlich daß diese Welt, deren Gestalt wir aufs genaueste dargetan, auf dem Rücken einer Schildkröte ruht, sonst sie in Abgrund versinken würde.«

Über Voltaire und seine Witzprodukte 7. Juni 1784: »Man kann ihn einem Luftballon vergleichen, der sich durch eine eigene Luftart über alles wegschwingt und da Flächen unter sich sieht, wo wir Berge sehn.«

Indem wir zu Wilhelm Meister übergehen, finden wir in den Teilen dieses Romans, die aus derselben Zeit stammen, den ewigen Gleichnismacher mit »dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrats« (2,10) wieder. »An Wilhelm fahr ich langsam fort«, schreibt er selbst mit einem Bilde (22. September 1785), »und röste das Holz: endlich soll es, hoff' ich, in Flammen schlagen.« Einige Beispiele aus dem ersten und zweiten Buch:

1, 8: Wilhelm hat schon in früher Jugend ein Gedicht gemacht, in dem die Poesie und das Gewerbe als zwei Frauen einander gegenübergestellt waren. Die erstere war so gekleidet, daß »die reichlichen Falten des Stoffes, wie ein tausendfaches Echo, die reizenden Bewegungen der Göttlichen wiederholten.« »Enterbt und nackt übergab sich Wilhelm der Muse, die ihm ihren goldenen Schleier zuwarf und seine Blöße bedeckte.« (Erinnert an die gleiche Vision in der Zueignung.)

1, 12: Die Alte sucht die Poesie ihrer Freundin ins Gebiet des gemeinen Lebens herunterzulocken und »bediente sich dabei der guten Art, welche Vogelstellern zu gelingen pflegt, indem sie durch ein Pfeifchen die Töne derjenigen nachzuahmen suchen, welche sie bald und häufig in ihrem Garne zu sehen wünschen«.

1, 13: Der Stadtschreiber und der Aktuarius tauschten an der Grenze Komplimente aus, »mit großer Gewissenhaftigkeit und wunderlichen Geberden, wie es etwa Geist und Zauberer, der eine inner-, der andere außerhalb des Kreises, bei gefährlichen nächtlichen Operationen tun mögen«.

1, 14: Das Theater aufzusuchen schien Wilhelm »ebenso natürlich und notwendig, als daß der Frosch das Wasser sucht«.

1, 15: Der Liebende ist »wie ein Kind, das sich am Echo stundenlang ergötzt«; Wilhelm trug den ganzen Reichtum seines Gefühls auf Mariannen hinüber und sah sich dabei »als einen Bettler an, der von ihren Almosen lebte«; alles, was sie umgab, was sie berührte, war in seinen Augen verschönert und verherrlicht, »wie uns eine Gegend reizender, ja allein reizend vorkommt, wenn sie von der Sonne beschienen wird«; die Liebe ist »eine so starke Würze, daß selbst schale und ekle Brühen davon schmackhaft werden«; Wilhelm dachte sich das häusliche Leben eines Schauspielers als eine Reihe würdiger Handlungen, deren Krone die Erscheinung auf dem Theater sei, etwa »wie ein Silber, das vom Läuterfeuer lange herumgetrieben worden, endlich farbig schön vor den Augen des Arbeiters erscheint«; in Mariannens Behausung lagen die Trümmer eines augenblicklichen, leichten und falschen Putzes zerstreut durcheinander, »wie das glänzende Kleid eines abgeschuppten Fisches«; Wilhelm entfernte sich von seinem Freunde Werner verdrießlich und erschüttert, »wie einer, dem ein ungeschickter Zahnarzt einen schadhaften festsitzenden Zahn gefaßt und vergebens dran geruckt hat«.

1, 16: Wilhelm schreibt in der Nacht einen Brief an Marianne, meldet ihr seinen Entschluß, sie zu heiraten und seine Eltern heimlich zu verlassen, und kommt sich dabei vor »wie ein Gefangener, der in einem Kerker lauschend seine Fesseln abfeilt«.

1, 17: »Zwei liebende Herzen, sie sind wie zwei Magnetuhren: was in der einen sich regt, muß auch die andere mitbewegen, denn es ist nur eins, was in beiden wirkt, eine Kraft, die sie durchgeht.«

Das erste Buch schließt mit zwei vergleichenden Phantasiegemälden, dem von dem Blitz, der eine Gegend plötzlich erhellt und die Augen blendet, so daß sie gleich darauf nichts sehen, dem andern von dem Gespenst der Mitternacht, das ungeheure Schrecken erzeugt: das zweite beginnt mit der glänzenden Schilderung des inneren Umsturzes einer soeben noch glücklichen Seele: »wie wenn (ὡς ὅτε bei Homer) von ungefähr unter der Zurüstung ein Feuerwerk in Brand gerät und die künstlich gebohrten und gefüllten Hülsen, die, nach einem gewissen Plane geordnet und abgebrannt, prächtig abwechselnde Feuerbilder in die Luft zeichnen sollten, nunmehr unordentlich und gefährlich durcheinander zischen und sausen« – so gingen auch jetzt in seinem Busen Glück und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Geträumtes auf einmal scheiternd durcheinander. Gleich darauf folgt ein anderes Bild, hergenommen von dem Körper eines Gestorbenen, der nach dem langen Prozeß der Zerstörung sich endlich »in gleichgültigen Staub zerlegt« und in uns »das erbärmliche leere Gefühl des Todes« erweckt, »nur durch den Atem des Ewiglebenden zu erquicken« – dann noch ein drittes: »Wilhelm sah mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines dürren Elends hinab, wie man in den ausgebrannten hohlen Becher eines Vulkans hinunterblickt.« Dann im zweiten Kapitel: »Ach wer mir vorausgesagt hätte, daß die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff!« – »O mein Bruder, ich leugne nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschlägen der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist; gefährlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht und er liegt zerschmettert am Fuße seiner Wünsche.«

Wir schließen diese kleine Sammlung mit Wilhelms Bezeichnung des Dichters als eines Vogels, die an die Worte des Sängers:

Ich singe wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet –

erinnert. »Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Wie willst du, daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe heruntersteige? Er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich an eine Fährte gewöhnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?«

Auch die einige Jahre später als die Anfänge des großen Romans geschriebenen Briefe aus Italien sind noch immer reich an bildlichen Vergleichungen. Seine innere Umwandlung in Rom erscheint ihm wie ein Neubau, 20. Dezember 1786: »Ich bin wie ein Baumeister, der einen Turm aufführen wollte und ein schlechtes Fundament gelegt hatte; er wird es noch beizeiten gewahr und bricht gern wieder ab, was er schon aus der Erde gebracht hat; seinen Grundriß sucht er zu erweitern, zu veredeln, sich seines Grundes mehr zu versichern, und freut sich schon im voraus der gewissen Festigkeit des künftigen Baues.« – Er hat Herders neue Schrift »Gott« erhalten und knüpft daran eine oder mehrere »Allegorien«, Castel Gandolfo, 8. Oktober 1787: »Man nimmt das Büchlein wie andere für Speise, da es eigentlich die Schüssel ist; wer nichts hineinzulegen hat, findet sie leer.« Folgt ein zweites ausgeführtes Gleichnis (Hebel und Walzen usw.) mit Bezug auf Lavater, Jacobi und Claudius und deren religiöse Vorstellungen. – Über sich selbst schreibt er 25. Dezember 1787: »Da, auf dem Punkte der Wirkung meines Wesens, fühl ich die Gesundheit meiner Natur und ihre Ausbreitung; meine Füße werden nur krank in engen Schuhen, und ich sehe nichts, wenn man mich vor eine Mauer stellt.«

Genug der Beispiele, deren Zahl sich noch ins Hundertfache vermehren ließe. Wir fügen nur noch zwei hinzu, die uns aus besonderen Gründen dazu reizen.

Im ersten Akt des Götz von Berlichingen sagt Götz zu Weislingen, der gegen die unruhigen, fehdelustigen Ritter gesprochen hat: »Ruh' und Frieden! ich glaub's wohl! den wünscht jeder Raubvogel, die Beute nach Bequemlichkeit zu verzehren.« Ein Glück, daß die Franzosen von deutscher Literatur sowenig wissen, sie könnten sonst diesen Spruch auf des Fürsten Bismarck Bemühungen, den Frieden zu erhalten, anwenden wollen.

Eine andere Gleichnisrede ist darum merkwürdig, weil sie schon aus dem Munde des achtzehnjährigen Jünglings kam und mit den übrigen Briefen an Behrisch erst jetzt der Welt bekanntgeworden ist, Leipzig, 2. November 1767: »Liebe ist Jammer, aber jeder Jammer wird Wollust, wenn wir seine klemmende, stechende Empfindung, die unser Herz ängstigt, durch Klagen lindern und zu einem sanften Kitzel verwandeln. Ach da geht keine Wollust über den Jammer der Liebe, wenn ein Freund unser Elend hört, unsere Tränen sieht, und das, was wir davon zuviel haben, gottgleich wegnimmt und durch Mitleid unsere Wunde heilt; es ist auch Wollust das Jücken einer erst zugeheilten Wunde. Aber kein Kranker kann durch eines unempfindlichen Arztes grausames: ›Es hat nicht viel zu sagen‹ mehr geängstigt werden, als ein Seelenkranker durch einen gefühllosen Freund. Ein zurücktretendes Übel ist das gefährlichste, und es muß zurücktreten, für Schrecken zurücktreten, wenn der Kranke eine warme, sanfte Hand zu fassen hofft und eine kalte, kalte zu fassen kriegt. Oh, das sind Allegorien! Die Einbildungskraft gefällt sich, in dem weiten geheimnisvollen Felde der Bilder herumzuschweifen und da Ausdrücke zu suchen, wenn Wahrheit den nächsten Weg nicht gehen darf oder nicht gerne gehen möchte.« – »Wer einem kalten Herzen warmes Elend vertraut, ist ein Tor, wie ein Liebhaber, der am Bache ins Schilf klagt, das ihn, statt ihn zu bedauern, auszischt.« (Also auch hier die Bezeichnung Allegorien, wie zwanzig Jahre später in dem Briefe von Castel Gandolfo, siehe oben.)

Schon von andern ist bemerkt worden (z. B. von Riemer, Mitteilungen, 2, 51), daß Goethes Gleichnisse gewöhnlich dem, was ihn gerade umgab oder beschäftigte, entnommen sind. Wenn den Dichter eine Stimmung ganz umfängt, wenn er in eine Empfindung, sei es nun eine beengende und quälende oder eine süße, wollüstige, ganz getaucht ist und vergeblich versucht, sich seines Innern zu entäußern, dann kommt ihm die Phantasie zu Hilfe: mitten in der gegenständlichen Realität, in der gemeinen Ordnung der Dinge, in der Gewöhnlichkeit des Tages erheben sich Anklänge, tauchen Abbilder auf, die gefangenen Geister erwachen und geben Zeugnis für die Regungen der Seele oder das Reich dunkler, aus dem Gemüte aufgestiegener Vorstellungen.

So offenbart sich der innige Zusammenhang oder vielmehr die ewige Identität des Gedankens und des äußern unmittelbaren Daseins. Die Welt wird zu einer unermeßlichen Reihe von Sinnbildern; die Natur ist erstarrter Geist, der Geist bewußt und frei gewordene Natur; so entstand die Mythologie, so die Sprache in ihrer Entwickelung aus dem Einzelnen, Sinnlichen zum Allgemeinen. Diese Fähigkeit, überall außer sich Gleichartiges und Verwandtes zu schauen, sie ist es, was in der Ode: »Welcher Unsterblichen soll der höchste Preis sein?« unter dem Namen der Phantasie gefeiert wird. Goethe als genialer Dichter besaß diese Phantasie im höchsten Grade, und kein geringes Anzeichen davon ist seine Gabe der Gleichnisse, die sich mühelos einstellten und dem Gefühl und dem suchenden Blick schnell die begehrte Lösung brachten. Will man sie als Witz bezeichnen – der ja allerdings ein profaner Grenznachbar der dichtenden, das eine in dem andern erfassenden oder ahnenden Phantasie ist –, so ist er doch von dem, was Börne mit diesem Worte meinte, ganz verschieden: der Scharfsinn der Zersetzung und Verbindung, der von den ältesten Teilen des Alten Testaments bis zum Talmud, von diesem bis in unsere jüngste Zeit reicht, und die weiche, formende Symbolik des Dichters und Künstlers sind nicht aneinander meßbar, bezeichnen vielmehr in ihrem Unterschiede die ganze Tiefe des Gegensatzes beider Rassen, der semitischen und der arischen.

Zum Schlusse möchten wir noch auf den Zusammenhang aufmerksam machen, der diese bildliche, sprichwörtliche Ausdrucksweise mit dem nationalen Altertum verknüpft. Unter Altertum verstehen wir hier die Zeit von Luthers Auftreten, die Zeit des Kaisers Maximilian, Sickingens und des Götz von Berlichingen, des Erasmus und Reuchlins. Da war die Welt fröhlich und phantastisch, und aus diesem Erdreich ging mit tausend Wurzeln Goethes Sprache hervor. Und weil in Süddeutschland jene Vorzeit immer noch nicht ganz untergegangen war, so ist auch Goethes Gleichnisrede eine muntere, temperamentvolle, süddeutsche, dichterische, trotz allem verständige, dennoch kein wie ein chirurgisches Messer schneidender oder wie Schwefelsäure die Hüllen des Lebens wegfressender Witz. Goethes Gleichnisse sind wie neugeschaffene Sprichwörter; ob diese je eine weitere Herrschaft gewinnen werden, hängt von dem auf- oder niedersteigenden Bildungsgange der Nation ab, und wer wollte hierin eine Vorherverkündigung wagen?


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