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Naturformen des Menschenlebens

Derselbe Dichter, der vor allem berufen schien, in lyrischem Gesänge den Kämpfen des Bewußtseins und Einzeldaseins Ausdruck zu geben, derselbe zeigt uns auch in idealen Umrissen die beharrende Naturgestalt unsers Geschlechtes, die substantiellen Lebensformen, in deren Schoße das Subjekt noch unerschlossen ruht. Diese Formen sind einfach und unmittelbar, ebenso heiter als ernst, weder komisch noch tragisch; sie verbinden das fernste Altertum mit der nächsten Gegenwart, ja, sie sind der höhern Tierwelt mit der Menschenwelt gemeinsam. Alles Besondere, so und auf diesem Grunde betrachtet, geht leicht und ohne Hemmung in das Allgemeine auf, es wird von diesem immer wieder zurückgezogen; die Forderungen der Sitte und geselligen Ordnung erscheinen nur als natürliche Lebensprozesse; ihre Herrschaft ist nicht eingesetzt, sie wird nicht empfunden, sie umfängt alles so ruhig, als könnte es nicht anders sein, und ihr entgegenzustreben wäre sinnlos. Geburt und Tod, die Lebensalter und ihre Eigenheiten, der Ahnherr mit spärlichem, bleichem Haar und das zu seinen Füßen spielende Kind, die aus der Familie werdende Familie, der Zug der Geschlechter zueinander, Vater und Mutter, der Jüngling und das Mädchen, Werbung und die sich knüpfende Ehe, die Flamme des Herdes und der steingefaßte Brunnen, die Urbeschäftigung auf der Weide und dem Acker, auch mit Spindel und Nadel, die begleitenden Tiere, Rind und Schaf, Hund und Roß, Ruder und Schaufel und Pflug, aus der Wiese die Sense, im Walde die Axt, das Netz am Ufer, Arbeit und Muße, Gesang und Tanz, Zorn und Streit und Begier, Warnung und weiser Rat, wurzelnd in Sitte und Stammesgefühl, Weihgeschenk und Spende, Mut und List der Helden, Taten der Vorfahren, Sagen und alte Sprüche – alles dies und was sich sonst noch anfügen lassen mag ist Geist in Notwendigkeit gebunden, so unbewußt tätig und dunkel schaffend, wie das Tier sich gebärdet und die Pflanze treibt und wächst, Naturform, deren Anschauung uns, die wir abgefallen und dadurch zwiespältig und unselig sind, wie die eines verlorenen Paradieses ergreift und unter Lächeln zu Tränen rührt.

Auch der Dichter selbst stellt dieses objektive Dasein gern in Kontrast mit subjektiven Stimmungen, um beide gegenseitig um so heller zu beleuchten. So erblickte der Wanderer, schwermütig und träumerisch durch die im Abendlicht glühende südliche Landschaft irrend, die junge Frau mit ihrem Säugling unter dem Ulmbaum und lächelte zu ihrer Frage, welches Gewerbe ihn hertreibe, und ob er Waren aus der Stadt im Land herumbringe. Daß man an der Natur als solcher, als bloßer Zeuge ihrer Erscheinungen und Verwandlungen, Genuß finden könne, davon hat sie keinen Begriff; daß es ein antiker Tempel ist, an dem sie wohnt, weiß sie nicht; auch nicht, welche Vergangenheit dieser Boden deckt, welche Werke der Kunst sie in diesen Steinen umgeben; sie trinkt den Brunnen, der zur Seite quillt, und erquickt den Wanderer daraus; der Vater hat die Hütte aus dem umliegenden Schutte gebaut, der Schwalbe gleich, die unfühlend ihr Nest an den Zierat des Gesimses klebt; er hat die Tochter dem Ackersmann aus der Nachbarschaft zur Ehe gegeben und ist in ihren Armen gestorben; sie bauen die Erde, wie er sie baute, auf demselben Flecke, nach dem Verfahren, das vormals und immer üblich war; so schließt sich Ring an Ring, ein Geschlecht an das andere, die Frucht streut den Samen aus, dieser keimt und wird zur Blüte, die Blüte zur Frucht, und der Kreislauf beginnt aufs neue. Und der Fremdling scheidet gerührt und wünscht auch für seine eigne Wanderung am Ziele eine gleiche Beschränkung, eine Hütte im Schutze des Wäldchens, ein junges Weib, das ihn abends bei der Heimkehr empfange, den Knaben aus dem Arm Ähnlich ist der Schluß des freundlichen, rhythmisch kräftigen Liedes »An die Erwählte«, das wohl derselben Zeit des Dichters, aber einer mutigen, nicht elegischen Stimmung angehört..

Der »Wanderer« ist vor dem Aufenthalt in Wetzlar (dem Sommer 1772) entstanden; nachher aber deutete der Dichter die junge Frau und ihren Mann auf Albert und Lotte und den Wanderer auf sich selbst, 22s) der auch Abschied nahm und nicht bleiben konnte, oder auf Werther, wie er sich zwei Jahre später nannte. Auch zu Werthers überwallender Empfindung bilden die Szenen primitiven Lebens den steigernden und reizenden Gegensatz. Werther ist ein Freund der Kinder, in denen alles noch ungeteilt, die Knospe noch unentfaltet ist; er pilgert in die Heimat, zu den Stätten seiner ersten Jugend und »kostet jede Erinnerung nach seinem Herzen«; er trägt den Homer mit sich herum, aus den Szenen der Ilias und Odyssee wird sein krankes Gemüt wie von Heilung und Besänftigung angeweht – »es ist nichts,« ruft er, »das mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausfüllte, als die Züge patriarchalischen Lebens«, und ein andermal: »So beschränkt und glücklich waren die herrlichen Altväter, so kindlich ihr Gefühl, ihre Dichtung« usw.; er findet zwei ganz junge Bauernbuben an der Erde liegen, setzt sich auf einen Pflug und zeichnet sie mit allem ländlichen Zubehör, dem Zaune, dem Scheuneutor, gebrochenen Wagenrädern; die Mutter kommt hinzu, auch ein älterer Bruder; er steht sie in ihrem Tun, hört ihre Worte, erfährt ihr Schicksal und schreibt dann: »Wenn meine Sinnen gar nicht mehr halten wollen, so lindert all den Tumult der Anblick eines solchen Geschöpfes, das in glücklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseins hingeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht und nichts dabei denkt, als daß der Winter kommt.«

Und wie Werther, so auch Faust. Auch Fausts friedloser Unruhe liegt dasselbe stille, seiner nicht bewußte, von der Naturordnung getragene Dasein gegenüber; er empfindet es schmerzlich als ein ihm versagtes Glück, das ihn, wenn er es erlangte, doch nicht zu halten vermöchte.

Ach, daß die Einfalt, daß die Unschuld nie
Sich selbst und ihren heil'gen Wert erkennt –

oder:

Bin ich der Flüchtling nicht, der Unbehauste,
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh?
Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste.
Begierig wütend nach dem Abgrund zu.
Und seitwärts sie, mit kindlich dumpfen Sinnen,
Im Hüttchen aus dem kleinen Alpenfeld,
Und all ihr häusliches Beginnen
Umfangen in der kleinen Welt usw.

Ja die ganze Gretchen-Episode, die Szene der Spaziergänger vor dem Tore und noch andre erhalten erst als solche Gegenbilder ihr Recht und ihre Stelle in dem Ausbau des Dramas.

Die soeben genannten Werke gehören der gärenden Jugend des Dichters an. Es folgte die Zeit in Weimar, wo er unter Geschäften und Lustbarkeiten in verborgener Selbstbildung nach Seelenschönheit strebte und endlich den Sieg, das innere Gleichgewicht gewann. Jetzt sinken die Irrungen des gebrochenen Gemütes allmählich zurück, und es taucht das Antlitz des Seienden, die reine Gestalt immer mehr empor. Schon im Jahre 1784 heißt es in einem Briefe (23. Juni an Frau von Stein): »Je älter man wird, desto mehr verschwindet das einzelne, die Seele gewöhnt sich an Resultate« – Resultate, d. h. eben die typischen Formen, die mitten im Flusse der Dinge unvergänglich sich erhalten, und die er ein andermal mit mythischer Personifikation auch wohl Götter nennt:

Was unterscheidet
Götter von Menschen?
Daß viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.
Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette.

Aus Italien schreibt er drei Jahre darauf (1787, 23. August): »Die Gestalt dieser Welt vergeht, ich möchte mich nur mit dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse sind, und so meinem Geiste erst die Ewigkeit verschaffen.« Und wenige Monate später (1788, 5. Januar): »Die Opern unterhalten mich nicht – nur das innig und ewig Wahre kann mich nun erfreuen.« In demselben Sinne sagt Aurelie im »Wilhelm Meister« (4, 15): »O mein Freund, wäre mein Schicksal gemein, ich wollte gern gemeines Übel ertragen.« In den neunziger Jahren war diese Richtung vorwaltend geworden, und nachdem mit »Tasso«, dieser süßschmerzlichen Seelentragödie, die letzte Schuld aus der Epoche innerer Kämpfe abgetragen und zugleich die Verstimmung über den Einbruch roher, revolutionärer Kräfte überwunden war, da entstanden die Dichtungen, in denen jenes Dauernde für sich hingestellt erscheint, in heller Beleuchtung, obwohl nicht ohne herzlichen Anteil, in entzückender Reinheit des Stiles und Wahrheit des Lebendigen. Wir verweilen zunächst bei den letzten Büchern des »Wilhelm Meister« und »Alexis und Dora«, dann in besonderer Beziehung bei »Hermann und Dorothea«.

Wilhelm betrat den Saal der Vergangenheit, den man ebensowohl den Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen konnte, sah sich von Bildern des Menschenloses überhaupt umgeben und rief aus: »So war alles und so wird alles sein! Nichts ist vergänglich als der Eine, der genießt und zuschaut. Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen glücklicher Mütter überleben. Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und sich mit seinem Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen und bei ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hineintreten darf.« Hier war es die Kunst, die das, was im Reiche der Wirklichkeit wie eine Welle zerrinnt, festhielt und aufbewahrte, denn die Kunst ist der Zeit nicht untertan, da sie sich am Scheine genügt; aber auch im Naturlaufe selbst stellt sich das Flüchtigste, die Liebe und die Schönheit, durch ewige Wiederkehr als ein ewig Bleibendes dar, wie im siebenten Buche Lotharios anmutiges Abenteuer lehrt. Lothario, ein reicher junger Edelmann, hatte einst Magarete, die schöne Pachterstochter in der Nachbarschaft, geliebt; drauf war sie weit weg verheiratet worden und kam nun mit ihren sechs Kindern, den Vater zu besuchen. Und wieder war es Frühling, wie damals zur Zeit ihrer Liebe, denn auch der Frühling, der so bald scheidet, kehrt ja immer wieder Weder der Tag, schreibt der Dichter am 6. März 1781, noch der Frühling, noch die Liebe werden immer wiederkehrend alt.: wilde Rosen blühten an den Hecken, und die Knaben schüttelten Maikäfer von den Bäumen. Und von einer Krankheit eben genesen und dadurch weich gestimmt, ritt Lothario den alten, wohlbekannten Weg dahin, glaubte eine Mutter zu begrüßen und fand statt ihrer ein blühendes Mädchen, ganz mit den Zügen und in der Gestalt wie Margarete ehemals: es war die Muhme, und er wußte nicht, was er denken sollte, und wie ihm geschah. Dann sah er sie auch selbst wieder, und sie führte ihn in die Stube, wo beinahe alles noch auf demselben Platze stand. »Die schöne Muhme«, erzählt er, »saß auf eben dem Schemel hinter dem Spinnrocken, wo ich meine Geliebte in eben der Gestalt so oft gefunden hatte. Ein kleines Mädchen, das seiner Mutter vollkommen glich, war uns nachgefolgt, und so stand ich in der sonderbarsten Gegenwart, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Blüten und Früchte stufenweise nebeneinander leben.« Margarete sagte ihm, da sie einen Augenblick allein gelassen waren: »Auch ich kann Ihnen versichern, daß ich eine unaussprechliche Freude habe. Wie oft habe ich mir gewünscht, Sie nur noch einmal im Leben wiederzusehen; ich habe es in Augenblicken gewünscht, die ich für meine letzten hielt.« Diese Worte waren wie aus dem Munde Friederikens von Sesenheim gesprochen, die der Dichter nach acht Jahren wiedersah: die Freude war auch damals von beiden Seiten groß, der Schmerz der Trennung geheilt und die Gemüter versöhnt. Friederike war noch unvermählt, aber Lili, da er sie tags darauf in Straßburg besuchte, hatte wie Margarete ein Kind auf dem Arme; und so glichen auch diese Augenblicke denen, die dem Dichter nach so langer Zeit vorschwebten. »Es ist nichts reizender,« sagt Lothario bei dieser Gelegenheit, »als eine Mutter zu sehen mit einem Kinde auf dem Arme, und nichts ehrwürdiger, als eine Mutter unter vielen Kindern.« Seine Erzählung von dieser Wiederbegegnung, die drei weiblichen Lebensalter nebeneinander, diese ganze Novelle, die mit einer ruhenden Szene, wie auf einem idealen Theater, schließt, hätte verdient, statt in einen Roman eingeschoben zu werden, ein eigenes Gedicht zu bilden. In der Verflechtung mit den Personen und Gesprächen des Romans erhält sie ein mehr weltliches oder unheiliges Kolorit, und so schön sie auch in dieser milden, durchsichtigen, sanft hingleitenden Prosa ist, es fehlt ihr doch die Göttersprache des Verses und Rhythmus, in der »Alexis und Dora« zu uns redet.

Auch »Alexis und Dora«, in der Reihe der kleineren Goethischen Dichtungen eine der köstlichsten, die man nicht müde wird, sich immer wieder herzusagen, entstanden nicht lange vor »Hermann und Dorothea«, aber ätherischer, gleichsam verklärter als dies bürgerliche Epos, bringt uns jene Urgestalt menschlichen Lebens in lauterer Einfalt zur Anschauung. Das Haus und der unendliche Schatz von Gefühl und Sitte, den es birgt, der von den Eltern scheidende Sohn:

da drückte der wackere Vater
Würdig die segnende Hand mir auf das lockige Haupt;
Sorglich reichte die Mutter ein nachbereitetes Bündel:
Glücklich kehre zurück, riefen sie, glücklich und reich –,

die Mutter und ihr zur Seite die erblühte Tochter, der Knabe, der trotzig des Mädchens nicht achtet und sie ansieht:

Wie man die Sterne sieht, wie man den Mond sich beschaut,
Sich an ihnen erfreut und innen im ruhigen Busen
Nicht der entfernteste Wunsch, sie zu besitzen, sich regt –,

bis plötzlich der Strahl der Liebe in sein Herz fällt und ihn allgewaltig verwandelt, der Bräutigam und die Braut, die Nachbarn nebeneinander, der Brunnen und die wasserschöpfenden Mädchen, auf dem Markt die Körbe, gefüllt mit Früchten, der Garten und sein Pförtchen, der Kaufmann mit seinem Handel und Wandel, das Meer und der Bootsmann und das Segel, die Furche, die das Schiff zieht, überhaupt das uralte, poetische Gewerbe des Schiffers, das so heilig ist wie das des Hirten oder Ackermannes oder Fischers – dies alles zieht in der Erinnerung eines bewegten Herzens an uns vorüber, unruhig wie vom Spiegel eines Wellenflusses aufgefangen, bald andeutend, bald verweilend, von so tiefer Rührung durchdrungen, daß der Dichter selbst es aufgibt, ihren Grund zu erschöpfen und innehaltend mit dem Anruf an die Göttinnen des Gesanges schließt:

Nun, ihr Musen, genug – vergebens strebt ihr zu schildern.
Wie sich Jammer und Glück wechseln in liebender Brust –

ganz wie Lothario seine Erzählung abbricht: »Und ich überlasse euch zu denken, mit welchem Herzen ich blieb und mit welchem ich mich entfernte.« Der Schauplatz, aus dem wir uns in »Alexis und Dora« befinden, ist ein ideal unbestimmter. Es ist ein südliches Land, ein Hafenstädtchen, von dem niemand sagen kann, wo es liegt. Die Orange wächst dort, die »schwer ruht als ein goldener Ball«, auch die »weichliche Feige, die jeder Druck schon entstellet«, und blühende Myrten biegen sich um und bilden eine Laube im Garten. Delphine umschwärmen das Schiff, wie im Tyrrhenischen oder Ionischen oder Ägäischen Meer, und blaue Uferberge folgen noch lange dem Blick des Schiffenden. Wie der Raum, schwebt auch die Zeit, in die der Dichter uns versetzt, in unbestimmter Allgemeinheit; es könnte wohl das Altertum sein, wohl auch ein neues Jahrhundert. Die griechischen Götter sind noch lebendig: Zeus donnert vom Himmel, Amor und die Grazien bekräftigen den Liebesbund, der Liebende ruft den Sonnengott Phöbus an. Alexis ist ein griechischer Name, Dora ist es auch – geht das Erzählte also in der alten Griechenzeit vor sich? Wir glauben es nicht, denn jedes Wort dieser Idylle atmet Innigkeit und Seele, klingt mit süßem Nachhall, zittert im Nervenreiz, und dies war im Altertum so nicht, und der Leser oder Hörer fragt danach nicht. Wenn Dora geschmückt und gesittet zum Tempel geht und die Mutter feierlich neben ihr her, so kann sie wohl eine dorische oder attische Jungfrau sein, die an einem Götterfeste zu den Säulen des Heiligtums aufsteigt, ebensowohl aber auch ein deutsches Mädchen in irgendeiner Reichsstadt, das im Sonntagsschmuck, an der Seite der gravitätischen Mutter, das schwarze Buch und darüber das weiße zusammengelegte Taschentuch in der Hand, beim Klang der Glocken zur Kirche geht. Ebenso, wenn sie am Brunnen das Wassergefäß mit leichtem Schwunge hebt und es dann schreitend auf dem Ringel des Hauptes weiterträgt; wir denken dabei wohl an eine griechische Jungfrau, den edelgeschweiften Krug mit beiden Armen über sich haltend, selbst wie eine wandelnde zweihenklige Vase, oder an Wasserträgerinnen des Orients, z. B. Rebekka, die abends um die Zeit, da die Weiber pflegen herauszukommen und Wasser zu schöpfen, den Krug auf ihre Achsel nahm und dem Wasserbrunnen vor Nahor zuschritt und dem Elieser zu trinken gab und seine Kamele tränkte, ebenso leicht aber auch an ein heutiges Mädchen in Dörfern und Städtchen, das am fließenden Brunnen ihr tönernes oder metallenes Gefäß füllt und auf dem Heimweg den Gruß der zu gleichem Geschäft ihr entgegenkommenden Freundin nicht durch Nicken, nur mit dem Blick oder durch ein Lächeln erwidern kann. Auch eine Schürze trägt Dora ja, wie heutige Mädchen, denn sie muß schaffen und die Wirtschaft versehen, und in die Schürze sammelt sie die Früchte für den Jüngling, der vergebens bittet, es sei nun genug. So spricht aus jedem Zuge des Gedichtes die Erfahrung der ältesten wie die der jüngsten Geschlechter.

Daß nun diese Allgemeinheit der Lebensgestalt mehr die Sphäre einer andern Kunst bildet, der Skulptur, erhellt von selbst. Die Skulptur hat nur geringe Mittel, schmalen Raum; aus der mannigfach verschlungenen Menschenwelt wählt sie das Einfachste und verschmäht alles Zufällige; die unmittelbare Einheit von Leib und Seele, daß in der letzteren nichts sei, was nicht in dem ersteren erschiene, ist die Bedingung und Forderung, ohne die sie nichts in ihren idealen Kreis aufnehmen mag. Und da die griechische Dichtung unter dem Prinzip der Plastik steht, so herrscht auch dort, am meisten im homerischen Epos, dem Grundbuche aller Humanität, und in der hesiodeischen naiven Ökonomik dasselbe, alle Willkür ausschließende, allgemeine Gesetz der Natur. Daher die Einstimmung der in Rede stehenden Goethischen Schilderungen mit den Bildnissen des Epos und der Skulptur, daher die Anklänge, die bei Genuß derselben wie ein fernes, leises Echo aus dem Altertum zu uns herüberkommen. Von den Personen und Sitten eines eben vollendeten epischen Gedichtes schreibt er selbst an Schiller (8. April 1797): »Diejenigen Vorteile, deren ich mich in meinem Gedicht bediente, habe ich alle von der bildenden Kunst gelernt«, und an Meyer (28. April 1797): »Die höchste Instanz, vor der mein Gedicht gerichtet werden kann, ist die, vor welche der Menschenmaler seine Kompositionen bringt, und es ist die Frage, ob sie unter dem modernen Kostüm die wahre, echte Menschenproportion und Gliederformen anerkennen werden«, und an denselben (5. August desselben Jahres) fast mit denselben Worten: »Der Menschenmaler ist eigentlich der kompetenteste Richter der epischen Arbeit.« Er schrieb an einen Maler, sonst hätte er noch besser gesagt: der Menschenbildner, und der hätte in »Hermann und Dorothea« viel gefunden, Ähnliches als wie der griechische Künstler in seinem Homer. Der Vater z. B., den der Unwille oft hinreißt, er gleicht, obwohl nur ein Gastwirt, dem götterberatenen, leicht zürnenden Sohne des Kronos, den seine Umgebung durch List und Überredung beherrscht; er wünscht, wie Hektor in der Ilias und wie jeder Vater, daß ihm der Sohn nicht gleich sei, sondern ein besserer; der Pfarrer, der in Hermanns Liebe die Stimme des Schicksals vernimmt und dieser zu folgen für Weisheit hält, er erscheint wie der Seher, der wußte, was ist und war und sein wird, oder wie einer der Götter in fremder Gestalt, die den Helden beraten und ihm seinen Entschluß eingeben; aus dem ehrwürdigen Richter spricht der Geist der Völkerführer, die, Maß und Frieden gebietend, die verzagende, immer unbillige und unbedachte Menge durch die Wüste leiten; Hermann selbst, er ist der Jüngling überhaupt, der zum Manne heranreift, und ganz wie Telemachos wohnt er im obern Stock (δϑς οξ ϑάλαμος ύψηλὸς δέμητο), und wie dieser ist er auf mit der frühgeborenen, rosenfingrigen Eos, ja gegen den Schluß erhebt sich seine Gestalt zur Würde des Heros, der »mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes trägt«, und den sein Weib zur Schlacht wappnet:

und drohen diesmal die Feinde,
Oder künftig, so rüste mich selbst und reiche die Waffen.

Dorothea, auf der Landstraße mit langem Stabe neben den Ochsen schreitend und sie antreibend oder zurückhaltend, gewährt ein Bild von ganz epischer Einfalt: seit den ersten Zeiten der erwachten Kultur dienen die Rinder dem Menschen bei seinen Geschäften; die Dichter, wenn sie die Werke und Tage schildern, vergessen auch die gehörnten und schwerwandelnden Gehilfen nicht (εὶλίποδας ἕλιϰας βοῦς), und gern stellt sie auch die bildende Kunst mit dem Menschen zusammen, bald, wie sie durch das fette Erdreich den Pflug ziehen, vom Stachel getrieben, bald, wie sie wiederkäuend sich gelagert haben oder ruhig und würdig am Altare dastehen, dem Gotte zum Opfer geweiht und den tödlichen Streich erwartend, auch wohl, wie der wilde Stier von Jünglingen gebändigt wird usw. Und wie der Stier, so auch das Roß: Hermann vertraut seine Hengste keinem andern, er schirrt sie selbst vor den Wagen, donnert mit ihnen durch den Torweg (αἵϑονσα ἐρίδονπος),und wenn sie dann des Weges dahinrennen, quillt der Staub unter den mächtigen Hufen (ϰονσα, τὴν ὦρσαν ἐργδονποι πόδες ἵππων), und er selbst erscheint als Automedon oder Pisistratus oder einer der andern epischen Wagenlenker. Dorothea ist auch herbe wie Antigone und jede ungezähmte Jungfrau (ἀδμής), sie ist auch tapfer und streitbar, gleich der kämpfenden Amazone, und schlägt den rohen Feind nieder (ἀντιάνιρα); in friedlichem, schönem Geschäft aber kommt sie zu dem Quell, den die Linden umstehen, schöpft und füllt ihre Krüge, beugt sich über, und der Wasserspiegel gibt ihr Antlitz zurück, wie das ihres jungen Freundes – eine Brunuenszene, uralt und von heitern, reinen Linien, ein Brunnen, lieblich wie der auf Ithaka (ϰρήνη ϰαλλίροος, ἀμφὶ δ' ἄρ αίγερων ὑδατοτρεφέων ἦν ἄλσος); dann wandeln beide, die Jungfrau und der Jüngling (παρϑένος ἠΐϑεός τε), den Gang durch den Weinberg, bei sinkender Sonne, im Scheine des Vollmondes, unter drohenden Gewitterwolken, ruhen eine Weile unter dem Dache des Birnbaums, und Dorothea, durch den dunkelnden Pfad(δύσετο τ' ἠέλιος σϰιόωντό τε πᾶσαι ἀγυιαί) die Schritte verdoppelnd, strauchelt auf den ungleichen Stufen, und Hermann fängt sie in den Armen auf, wie der römische Jüngling die Sabinerin, die sich sträubt und windet und sich doch gern rauben läßt, und der Dichter ruft selbst aus:

so stand er
Starr wir ein Marmorbild, vom ernsten Willen gebändigt.

So verschmilzt auch in diesem Gedicht die plastische Anschauung und die griechische Sitte mit dem heutigen Dorfleben zu reiner Form der Menschlichkeit. Schon die Romantiker empfanden dies, z. B. A. W. Schlegel in der Elegie an Goethe:

Leih den Gestalten dein bildendes Wort, aus verbrüdertem Geiste
Freundlich zurückgestrahlt spiegle sich Kunst in der Kunst –

und Schelling meinte im Jahre 1797, also wohl unter dem Eindruck, den er von »Alexis und Dora« und »Hermann und Dorothea« empfangen, die Odyssee sei Goethes Mutterboden, der Kommentar für ihn (s. Novalis' Briefwechsel mit Fr. und A. W. Schlegel, S. 44 und 48). Ja, die Personen des Gedichtes scheinen selbst ein dunkles Bewußtsein ihrer typischen Art zu haben, so wenn die Mutter ausruft: So sind die Männer! oder der Vater: Sind doch ein wunderlich Volk die Weiber! oder wenn er klagt:

Muß ich doch heut erfahren, was jedem Vater gedroht ist –

Hermann, von seiner Liebe sprechend, äußert:

Ja, es löset die Liebe, das fühl' ich, jegliche Bande,
Wenn sie die ihrigen knüpft –

und auch Dorothea stellt ihren Schritt, als Magd dienen zu wollen, als allgemein weibliche Bestimmung hin, denn, sagt sie, das Leben des Weibes ist ein ewiges Gehen und Kommen oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen für andre.

Die neunziger Jahre waren, wie schon oben bemerkt, die epische Zeit in Goethes Leben und Dichtung, die denn auch in eignen, selbständigen Werken ihren Ausdruck fand. Überschaut man aber seine ganze dichterische Laufbahn, so senden sich überall unter der großen Mannigfaltigkeit der Stoffe und Richtungen einzelne Gestalten und Umrisse, in denen dieselbe Betrachtungsweise, der Mensch als in der Allgemeinheit der Gattung begriffen, sein Leben als Naturform erscheint. Wir sammeln im folgenden solche Züge, zur Ergänzung dessen, was schon oben angeführt worden, und halten uns dabei am Faden der sich ablösenden menschlichen Altersstufen – wie der Dichter selbst in der bekannten Grabschrift: »Als Knabe verschlossen und trutzig« usw. Eine andere Grabschrift schickte er der Gräfin Auguste von Stolberg im März des Jahres 1776, also da er noch nicht neunundzwanzig Jahre alt war:
Ich war ein Knabe warm und gut,
Als Jüngling hatt' ich frisches Blut,
Versprach einst einen Mann.
Gelitten hab' ich und geliebt
Und liege nieder unbetrübt,
Da ich nicht weiter kann.
Es sind Worte, die er sich selbst nachrief, wenn er jetzt etwa abberufen würde. Im Januar desselben Jahres hatte sich das Fräulein von Laßberg aus unglücklicher Liebe ins Wasser gestürzt, was Goethe tief ergriff und ihm das Bild des Todes nahe brachte; damals entstand das Lied: »Füllest wieder Busch und Tal« (in seiner ersten Gestalt) und auch »Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll«.

Das unendliche Glück der Mutter, die den Knaben an der Brust hält, den unendlichen Schmerz, ihn zu verlieren, malt in ergreifenden Tönen Antiope, Elpenors Mutter. Sie drückte ihn an sich –

Wo schien der Knabe sicherer, als da,
Wo ihn die Götter selber hingelegt?

Und als die Räuber ihn ihr zu entreißen kamen, da umschlang sie ihn

Mit unauflösbaren Banden mütterlicher Arme

und ließ ihn nur zugleich mit dem Bewußtsein von ihrem Busen. – Den Vater der Götter und Menschen ruft Proserpina an:

Ruhst du noch oben auf deinem goldnen Stuhle,
Zu dem du mich Kleine
So oft mit Freundlichkeit aufhobst,
In deinen Händen mich scherzend
Gegen den endlosen Himmel schwenktest,
Daß ich kindisch droben zu verschweben bebte?

Gretchen hat, wie Faust in ihrem Zimmer phantasiert, als Kleine mit vollen Kinderwangen und

– dankbar für den heil'gen Christ
Dem Ahnherrn fromm die welke Hand geküßt:

da Dorothea fort will und von den Ihrigen Abschied genommen hat, da fallen die Kinder schreiend und weinend

Ihr in die Kleider und wollen die zweite Mutter nicht lassen –

und die Weiber müssen ihnen Zuckerbrot versprechen, das Dorothea aus der Stadt bringen wird, und sie so beruhigen; – Stella, im zweiten Akt, fühlt sich wie ein großes Kind: »eben wie die Kinder sich hinter ihr Schürzchen verstecken und rufen Pip, daß man sie suchen soll«; – wenn die Mutter in der Küche das Feuer schürt, dann kommt der Knabe gesprungen und wirft auch sein Reis hinzu (Proömium zu »Hermann und Dorothea«):

Schüre die Gattin das Feuer auf reinlichem Herde zu kochen,
Werfe der Knabe das Reis, spielend, geschäftig dazu;

Felix im »Wilhelm Meister«, der sonst so liebliche Knabe, zeigt doch auch die Unarten seines Alters, er gesteht nicht, was er getan, aus Furcht vor Strafe, er trinkt lieber aus der Flasche als aus dem Glase, und dies gerade rettet ihn für diesmal; in greifbarer Deutlichkeit aber tritt uns das Söhnchen Karl in ausgeführten Szenen des »Götz von Berlichingen« entgegen – einer Episode, die von überklugen Kritikern verworfen und sogar auf die Basedowsche philanthropische Pädagogik damaliger Zeit zurückgeführt worden ist, ohne die aber dennoch die Tragik des Dramas nicht vollendet wäre; denn wie Götz an der Freiheit, wie er sie versteht, und an dem Staate, in dem die Bösen Gewalt haben, verzweifelnd stirbt, so wird auch sein eigenes Heldengeschlecht sich nicht fortsetzen: sein Sohn wird kein Ritter werden, er ist friedlicher, ängstlicher Art, Mönche unterrichten ihn im Kloster, er wird ein Jurist und Schreiber werden, schreiben aber ist geschäftiger Müßiggang.

Der Knabe wächst heran und muß erzogen, geleitet werden, muß in Gymnastik des Leibes und der Seele sich üben, muß lernen, der Warnung, dem Rate des erfahrenen Mannes zu folgen. Elpenor:

Der Frauen Liebe nährt das Kind,
Den Knaben ziehn am besten Männer.

Goethe war selbst ein Kinderfreund, ein Erzieher, er bildete sein eigenes Selbst an der kindlichen Natur, und wie der Dichter wird auch Wilhelm durch das Geschenk seines Felix aus der nichtigen Schattenwelt idealer Betrachtungen zu lebendiger Existenz, zum Naturgrunde zurückgeführt, und Lothario sagt (7, 7): »Was sogar die Frauen an uns ungebildet zurücklassen, das bilden die Kinder aus, wenn wir uns mit ihnen abgeben Gleich schön, aber in einem etwas andern Sinne schrieb Knebel der Frau von Stein: »In unseren Alter (er war 78 Jahre alt, sie um zwei Jahre älter) sollte man immer Kinder und wo möglich seine eigenen, um sich haben. Man überliefert ihnen auf diese Weise gleichsam sein eigenes Leben. So hat es die Natur geordnet, die uns in unsern Kindern unsre Fortdauer sichtbar macht.« Der Geliebten schreibt der Dichter am 22. September 1781: »Christus hat recht, uns auf die Kinder zu weisen: von ihnen kann man leben lernen und selig werden«, und so nahm er den jüngsten Sohn derselben, Fritz von Stein, zu sich, erzog und belehrte ihn in Spiel und Ernst, auf Reisen, mitten unter seinen Arbeiten, und entließ ihn endlich in die Fremde, auch dann noch in Briefen und Ratschlägen um ihn besorgt, und so zeichnete er im Elpenor den aus dem Knaben werdenden Jüngling mit sicherer und dennoch künstlerisch milder, ausgleichender Hand. Elpenor steht eben auf dem Punkte, wo das Kraftgefühl sich regt, das bisherige Kind den Armen der Pflegerin und Mutter, der weiblichen Obhut sich entwindet. Er begehrt nach der Waffe, dem Roß, er betritt voll Erwartung und Selbstgefühl den Weg des Lebens, noch sind seine Wünsche kindisch, mancher gute Spruch soll ihn wie ein sittlicher Talisman geleiten und behüten, z. B.

Die Götter geben dir Gelegenheit
Und hohen Sinn, das Rühmliche
Von dem Gerühmten rein zu unterscheiden –

oder:

Beleid'ge nie das Glück durch Torheit, Übermut,
Der Jugend Fehler wohl begünstigt es,
Doch mit den Jahren fordert's mehr –

oder:

Der beste Rat ist, folge gutem Rat
Und laß das Alter dir ehrwürdig sein.

Da die Tragödie nicht vollendet ist, so wissen wir nicht, welches Geschick ihm bevorstand; vielleicht war es so traurig, wie das des Elpenor bei Homer, der in demselben Alter stand, in dessen Namen schon die Hoffnung, die sich erfüllen und nicht erfüllen kann, d. h. nach antiker Weise die Besorgnis ausgedrückt ist, und der dem Dichter vielleicht vorschwebte:

Έλπήνωρ δέ τις ἔσκε νεώτατος, οὐδέ τι λίην
ἄλκιμοο ἐν πολέμῳ, οὔτε φρεσὶν ἀρηρώς

(Aber es war ein Elpenor, noch jugendlich, noch nicht bei Kräften,
Standzuhalten im Kampf, noch nicht selbständig im Geiste.)

Ein ähnliches Bild des aufstrebenden Jünglings gewährt der Reiterjunge Georg im »Götz von Berlichingen«: er legt heimlich die Rüstung des Erwachsenen an, nach der er Sehnsucht trägt, wie der Knabe Elpenor nach dem Bogen und Köcher, die an dem hohen Pfeiler hingen; er steht neben Götz wie im griechischen Altertum der ungeduldige jüngere Held neben dem erprobten; er muß zurückgehalten werden, er blickt voll Verehrung zu seinem ritterlichen Herrn empor, dessen Freude an dem Knappen mit jedem Tage steigt; aber ehe noch seine ganze Kraft entwickelt ist, fällt er in einem blutigen Gemetzel, in das ihn ein unseliger Zufall geführt, und es ist gut so, denn was hätte ihm die Welt, wie sie geworden war, bieten können, ihm, dessen Schutzpatron der Ritter Georg, der Drachentöter, war?

Knaben und Mädchen halten noch zusammen, und die letzteren müssen oft von der Wildheit der ersteren leiden: dann aber trennen sich die Geschlechter:

es bleiben die wachsenden Mädchen
Endlich billig zu Haus und fliehen die wilderen Spiele.

Bald aber kommt der Moment, wo das eben erblühende Mädchen mitten unter ihren kindischen Gedanken von einer träumerischen Sehnsucht, der sie keinen Namen zu geben weiß, beschlichen wird (bei Schöll, Briese und Aussätze, am Ende):

das Mädchen pflückt
Die Veilchen aus dem jungen Gras und bückend sieht
Sie heimlich nach dem Busen, sieht mit Seelenfreude
Entfalteter und reizender ihn heute,
Als er vorm Jahr am Maienfest geblüht
Und fühlt und hofft.

Zu Pandora, dem von der Hand der Natur unmittelbar gebildeten, unberührten Mädchen, hat Prometheus gesprochen:

Du fühlst an deinem Herzen,
Daß noch der Freuden viele sind,
Der Schmerzen viele,
Die du nicht kennst –

und sie erwidert:

Wohl, wohl! Dies Herze sehnt sich oft
Ach nirgend hin und überall doch hin!

Ähnlich in »Hans Sachsens poetischer Sendung«:

– sitzt unter einem Apfelbaum
Und spürt die Welt rings um sich kaum,
Hat Rosen in ihren Schoß gepflückt
Und bindet ein Kränzlein sehr geschickt,
Mit hellen Knospen und Blätter drein;
Für wen mag wohl das Kränzel sein?
So sitzt sie in sich selbst geneigt.
In Hoffnungsfülle ihr Busen steigt,
Ihr Wesen ist so ahndevoll.
Weiß nicht, was sie sich wünschen soll,
Und unter vieler Grillen Lauf
Steigt wohl manchmal ein Seufzer auf –

und da sie den Geliebten gefunden:

Und dir kehrt neues Jugendglück,
Deine Schalkheit kehret dir zurück;
Mit Necken und manchen Schelmereien
Wirst ihn bald nagen, bald erfreuen usw.

So schildert auch Proserpina die frohe Mädchenluft:

Gespielinnen,
Als jene blumenreichen Täler
Für uns gesamt noch blühten,
Als an dem himmelklaren Strom des Alpheus
Wir plätschernd noch im Abendstrahle scherzten.
Einander Kränze wanden
Und heimlich an den Jüngling dachten,
Dessen Haupte unser Herz sie widmete –
Da war uns keine Nacht zu tief zum Schwätzen,
Keine Zeit zu lang,
Um freundliche Geschichten zu wiederholen,
Und die Sonne
Riß leichter nicht aus ihrem Silberbette
Sich auf, als wir voll Lust zu leben früh
Im Tau die Rosenfüße badeten.

Auch Mignon war wild und ungestüm gewesen und trug Knabenkleider, dann wird sie allmählich weicher, weiblicher, sie sieht, wie ihr Vater und Meister von andern, Glücklicheren geliebt wird, muß ihm und allem Glück entsagen und scheidet bald wie ein verklärter Engel. Über sie und ihren Tod schreibt Schiller (an Goethe, Nr. 179): »Dieses Wesen in seiner isolierten Gestalt, seiner geheimnisvollen Existenz, seiner Reinheit und Unschuld repräsentiert die Stufe des Alters, auf der es steht, so rein, es kann zu der reinsten Wehmut und zu einer wahren menschlichen Trauer bewegen, weil sich nichts als die Menschheit in ihm darstellte.«

Wie die Jungfrau zur Mutter, zur Herrin des Hauses, so wird der weitgreifende, von abstrakten Vorstellungen getriebene, erfahrungslose Jüngling zum reiferen Manne, der sich selbst die Schranke setzt und innerhalb ihrer tätig schafft und nützlich wirkt, bis ihn das steigende Greisenalter entkräftet und endlich niederwirft. So spricht Orest von jener ersten Zeit:

Wenn wir zusammen oft dem Wilde nach
Durch Berg' und Täler rannten und dereinst,
An Brust und Faust dem hohen Ahnherrn gleich,
Mit Keul und Schwert dem Ungeheuer so,
Dem Räuber auf der Spur zu jagen hofften,
Und dann wir abends an der weiten See
Uns aneinander lehnend ruhig saßen,
Die Wellen bis an unsere Füße spielten,
Die Welt so weit, so offen vor uns lag –
Da fuhr wohl einer manchmal nach dem Schwert,
Und künftge Taten drangen wie die Sterne
Rings um uns her unzählig aus der Nacht –

aber Pylades, der heiter-verständige, dessen Blick mehr der Wirklichkeit des Lebens zugewandt und besten Vorbild Odysseus ist, erwidert seinem Freunde:

Unendlich ist das Werk, das zu vollführen
Die Seele dringt. Wir möchten jede Tat
So groß gleich tun, als wie sie wächst und wird,
Wenn Jahre lang durch Länder und Geschlechter
Der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt.
Es klingt so schön, was unsre Väter taten,
Wenn es, in stillen Abendschatten ruhend,
Der Jüngling mit dem Ton der Harfe schlürft,
Und, was wir tun, ist, wie es ihnen war,
Voll Müh und eitel Stückwerk!

Es ist tragisch, daß Achilleus, der stählerne Jüngling, sich nicht vollenden konnte, daß ihn der greise Nestor, dessen Geist rückwärts gewandt war, überleben mußte! Und doch wäre ein Mann so nötig aus Erden, wie Pallas Athene in der »Achilleïs« klagt,

Daß die jüngere Wut, des wilden Zerstörens Begierde
Sich als mächtiger Sinn, als schaffender, endlich beweise,
Der die Ordnung bestimmt, nach welcher sich Tausende richten.
Nicht mehr gleicht der Vollendete dann dem stürmenden Ares,
Dem die Schlacht nur genügt, die männertötende! Nein, er
Gleicht dem Kroniden selbst, von dem ausgehet die Wohlfahrt.
Städte zerstört er nicht mehr, er baut sie; fernem Gestade
Führt er den Überfluß der Bürger zu; Küsten und Syrten
Wimmeln von neuem Volk, des Raums und der Nahrung begierig.

Auch das Alter hat noch seine schöne, milde Seite, wie der Abend, wenn nach heißem Tage die Sonne sich dem Untergange zuneigt (Elpenor):

Der Jüngling kämpft, damit der Greis genieße.

Und der letztere kommt dem ersteren zu Hilfe, durch Rat und Maß und Weisheit. Zwar laufen die Jahre im Alter rascher als beim Eintritt ins Leben, wo jeder Tag eine neue Entwicklung bringt (Elpenor):

wie eine Flamme, die
Nun erst den Holzstoß recht ergriffen,
Verzehrt die Zeit das Alter schneller, als
Die Jugend,

aber wirken, schaffen kann auch der Greis, indem er jüngere Kräfte in seinen Dienst nimmt und sie mit weitblickender Einsicht leitet. Was dem großen Peliden vom Schicksal versagt war, Städte zu gründen, Dämme gegen die Flut zu bauen, die Wasser zu- und abzulenken, die Sümpfe am Fuße des Gebirges in ein grünes, fruchtbares Gefilde zu verwandeln und so »die Erde mit sich selbst zu versöhnen«, den Arbeitern zu gebieten und Raum zu schaffen für ein neues Volk auf neuem Boden, das erreichte der hochbetagte Faust, der schuldbeladene, in strebender Tätigkeit stets entsühnte Mann, bis er endlich erblindet zurücksank, dorthin, woher er gekommen, im Vorgefühl der Nachwirkung seines Schaffens noch im letzten Augenblicke befriedigt und glücklich.

So reihen sich in unserm Leben die Jahre unaufhaltsam aneinander (Schweizeralpe, 1797):

Jugend ach ist dem Alter so nah, durchs Leben verbunden,
Wie ein beweglicher Traum Gestern und Heute verband –,

aber der Blick aufwärts und abwärts stimmt uns andächtig, wie vor der Gegenwart des Ewigen, erfüllt uns mitten in der Vergänglichkeit mit dem Gefühle nie versiegenden Lebens (der Pfarrer in »Hermann und Dorothea«):

Zeige man doch dem Jüngling des edel reifenden Alters
Wert und dem Alter die Jugend, daß beide des ewigen Kreises
Sich erfreuen und so sich Leben im Leben vollende –

eine Lehre, die auch das Festspiel »Paläophron und Neoterpe« in heiter-liebenswürdigen Bildern verkündigt, und wenn wir verblendet widereinander streben, hält uns doch das gleiche Naturgesetz zusammen, zu Milde und Versöhnung mahnend, wie das schöne Xenion sagt (das Schiller in seine Gedichtsammlung aufgenommen hat):

Siehe wir hassen, wir streiten, es trennt uns Neigung und Meinung,
Aber es bleichet indes dir sich die Locke, wie mir.

Und hier stehe zum Schlusse noch die alles zusammenfassende und in milder Religiosität beschließende Maxime (sechste Abteilung): »Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie; das Kind erscheint als Realist, denn es findet sich so überzeugt von dem Dasein der Birnen und Äpfel, als von dem seinigen. Der Jüngling, von inneren Leidenschaften bestürmt, muß auf sich merken, sich vorfühlen, er wird zum Idealisten umgewandelt. Dagegen ein Skeptiker zu werden, hat der Mann alle Ursache; er tut wohl, zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke gewählt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln, im Handeln hat er alle Ursache, den Verstand beweglich zu erhalten, damit er nicht nachher sich über eine falsche Wahl zu betrüben habe. Der Greis jedoch wird sich immer zum Mystizismus bekennen; er sieht, daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint, das Unvernünftige gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich unerwartet ins Gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist, der da war und der da sein wird.«

Diese Grundzüge des Lebens, haben wir gesagt, sind bei dem ältesten wie bei dem jüngsten Dichter dieselben, denn dieselbe Notwendigkeit hat sie hervorgebracht. Und dennoch – durchlaufen wir die Geschichte, so finden wir sie in langsamem Wechsel begriffen: gleich der Präzision der Nachtgleichen oder der säkularen Hebung und Senkung ganzer Kontinente zeigen sich einzelne Teile versunken, andere emporgestiegen. Zwar Nausikaa in der Odyssee ist in Wesen und Benehmen ein Abbild der goethischen Mädchen und aller Mädchen, und uns entzückt diese ewig gegenwärtige Wahrheit: wie der weibliche Körper im Gegensatz zum männlichen sich nicht verändern kann, sowenig kann das Weib seine Bestimmung, der Erhaltung der Gattung zu dienen, sich zu schmücken und den Mann anzulocken, das Kind zu nähren, alle Tugenden der Pflege und Sitte zu üben, jemals ablegen. Dennoch sehen wir das Weib von der ältesten Kultur des Morgenlandes bis auf unsere Tage oder von Asien bis Amerika in andrer Stellung, auf verschiedener Höhe gleichsam: bei rohen Völkern ist es das Arbeitstier, im Orient diente es der sinnlichen Lust; wie anders war die dorische Jungfrau, die attische Hetäre, wie anders war die römische Matrone, dann im Mittelalter das Weib als Himmelskönigin oder als Burgfräulein und Gegenstand phantastischer Galanterie! Und auch die Attribute der Frau, die Technik ihrer Arbeiten – wie haben sie sich im Laufe der Jahrhunderte umgestaltet!

So war es ein bedeutungsvoller Fortschritt – um aus vielen Beispielen nur dies eine hervorzuheben –, als in der Urzeit die Spindel erfunden worden war, die Begleiterin des Weibes, die ihm half, den Faden zu drehen und aufzuwinden – ein anmutiges Werkzeug, eine leichte Arbeit, die die Gedanken frei ließ und den schönen Leib in der natürlichen Grazie seiner Bewegungen nicht hinderte. So gehört bei Homer die ἠλαϰάτη zu den ἔργα γυναιϰός, z. B. der Penelope; die Göttinnen, wie Artemis und Leto, tragen bei den Dichtern die goldene Spindel (χρυσηλάϰατος); und auch die Königin Helena, die Gattin des Menelaos in Lakedämon, tritt ins Gemach, und eine der Mägde trägt ihr den silbernen Korb nach und die mit veilchenfarbener Wolle umwundene goldene Spindel; unter Theokrits Idyllen ist eines an die elfenbeinerne ἠλαϰότη gerichtet: sie ist häuslichen Frauen lieb, die Kunstreiches damit schaffen und nicht gern müßig sind, und der Dichter will sie der Theogemis, der Gattin seines Freundes, schenken. Charakteristisch und schön ist auch die Szene, die Herodot (5, 12) schildert: das päonische Mädchen, schlank und wohlgebildet, geht mit der Spindel in der Hand und dem Wassergefäß auf dem Haupte und ein Roß am Zügel führend zum Flusse hinab, sie füllt ihren Krug und tränkt das Roß und wandelt so zurück, immer neben den andern Geschäften ihre Spindel drehend, und König Darius schaut ihr verwundert nach und gebietet, sie vor sein Angesicht zu führen. So sieht man auch jetzt noch in den Ländern am Mittelmeer die Frauen aus dem Volke nicht leicht ohne die Spindel in der Hand: sie fehlt fast bei keiner Arbeit, sowohl im Hause als auf dem Felde und bei der Hut der Tiere, und das schalkhafte Mädchen, hoch auf der Mauer der Gartenterrasse sitzend, senkt ihre Spindel bis auf den Weg hinab, zu dem vorübergehenden Wanderer; er greift danach – schnell aber hat sie ihren Pfeil zurück in die Höhe gezogen, er faßt in die leere Luft, und sie lacht ihn spottend aus. Aber in dem größten Teile des gebildeten Europas ist die Spindel jetzt völlig unbekannt, die meisten Frauen haben sie kaum je mit Augen gesehen: sie ist durch die Mechanik des Spinnrades verdrängt, einer Maschine, die nicht mitgetragen werden kann, die den Menschen fesselt, ihn an sich und in die Stube bannt und das freie Spiel der Glieder hemmt. Doch hat auch das Spinnrad noch seine poetische Seite; sein Schnurren erlaubt noch das Nachdenken, den Gesang, die Unterhaltung; spinnend singt Gretchen ihr Lied von der Zerrüttung durch Liebe:

Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer –

und zu der »Spinnerin« tritt der junge Mann, und der Faden reißt, und

Was sie in dem Kämmerlein
Still und fein gesponnen,
Kommt, wie könnt' es anders sein.
Endlich an die Sonnen.

Wie bei Vergil in dem kristallenen Gemach tief unten im Grunde der Wasser um die Clymene die andern Nymphen sitzen, mit weiblicher Arbeit beschäftigt, und sie ihnen erzählt von den süßen Liebeshändeln der Götter, z. B. wie Mars den Eheherrn Vulkan hintergangen, und alle gespannt horchen, indes in ihren Händen die Spindeln sich drehen und die weiche Wolle sich abwindet (Georgica 4, 348):

carmine quo captae dum fusis mollia pensa
devolvunt –,

ganz so versammelt in der »Spinnstube«, wie sie uns Justus Möser in einer seiner »Patriotischen Phantasien« beschreibt, die Hausfrau die Mägde um sich, die Räder drehen sich, und ebenso munter gehen die Geschichten, die Scherze von Mund zu Mund. Auch dies ist jetzt vergangen: welches Mädchen sitzt noch am Spinnrocken? Eine noch abstraktere Mechanik, die Fabrik, durch Dampf getrieben, hat das Geschäft übernommen. So ist mit dem Weibe und seiner Spindel bei Homer kein Zusammenhang mehr. Auch die Gitarre mit der seidenen Schleife hängt dem Mädchen nicht mehr anmutig im Arm und begleitet sie in den Garten, in den Wald; sie sitzt am Klavier, einem häßlichen, unförmlichen Kasten, und kehrt uns den Rücken.

Oft ändert sich nur der Name, und der reale Inhalt besteht fort. Aristoteles rechnete den Sklaven als wesentliches Glied mit zu menschlicher Niederlassung und Haushaltung; der Gegensatz von Freien und Sklaven erschien ihm so notwendig wie der von Kultur und Barbarei oder von Hellenen und Asiaten (in den ersten Kapiteln seiner Politik). Und in unsern Häusern ist die Scheide zwischen Herrschaft und Dienerschaft immer unmerklicher geworden, und der Dienst stellt sich fast nur als eine durch Vertrag festgesetzte Hilfsleistung dar. Dennoch wirkt auch heute der Unterschied der Rasse noch ungeschwächt fort, und so kann das, was der griechische Denker aus dem natürlichen Bestande, den er vorfand, als Gebot ableitete, nicht ungültig geworden sein: wenn der Amerikaner zwei Schwarze mietet, die Arbeit des Hauses zu verrichten, so achtet er sie nicht als Genossen, und jene haben das Gefühl, daß sie einer tiefer stehenden Rasse angehören, sich nicht selbst bestimmen, sich nicht selbst helfen können, und erwarten den Willen und die Einsicht von dem geistig und sittlich höher organisierten Herrn. So will es die Ordnung der Natur, und auf diese, als den Grund und Boden aller Politik, richtete Aristoteles seinen Blick. Wenn Solon, der vielerfahrene, darum düstere Gesetzgeber und Menschenkenner, in einer uns bei Stobäus erhaltenen wunderbaren Elegie die primären Berufszweige aufzählt, in denen die menschliche Gesellschaft ihre Momente auseinanderlegt, so erkennen wir nach drittehalb Jahrtausenden leicht die Umrisse unsers heutigen vielgestaltigen Lebens, aber auch, wie manches seitdem anders geordnet, leise verschoben ist. Das Geschäft der Menschen, sagt er, ist verschieden, der eine greift nach diesem, der andre nach jenem: der eine wird Schiffer, durchstreift das Meer, des Gewinnes begierig, und achtet nicht der Stürme, die sein Leben bedrohen (43):

σπεύδει δ'ἄλλοθεν ἄλλος· ὁ μὲν κατὰ πόντον ἀλᾶται
ἐν νηυσὶν χρῄζων οἴκαδε κέρδος ἄγειν
ἰχθυόεντ', ἀνέμοισι φορεύμενος ἀργαλέοισιν,
φειδωλήν ῳυχῆς οὐδεμίαν θέμενος –

der andere verdingt sich als Ackersmann auf ein Jahr und durchschneidet mit gekrümmtem Pfluge die baumreiche Erde:

ἄλλος γῆν τέμνων πολυδένδρεον εἰς ἐνιαυτόν
λατρεύει· τοἶσιν καμπύλ' ἄροτρα μέλει –

ein dritter nährt sich vom Werke seiner Hände, als Weber oder Schmied, im Dienste der Athene oder des kunstreichen Hephästos:

ἄλλος Αθηναὶης τε καὶ Ἡφαίστου πολυτέχνεω
ἔργα δαεὶς χειροῖν ξυλλέγεται βίοντον –

einen vierten erwählt sich Apollo zu seinem Seher, und er schaut das kommende Geschick; er schaut es, doch kein vorbedeutendes Zeichen, keine Opfergabe kann es wenden:

ἄλλον μάντιν ἔθηκεν ἄναξ ἑκάεργος Ἀπόλλων,
ἔγνω δ᾿ ἀνδρὶ κακὸν τηλόθεν ἐρχόμενον,
ᾧ συνομαρτήσωσι θεοί· τὰ δὲ μόρσιμα πάντως
οὔτε τις οἰωνὸς ῥύσεται οὔθ᾿ ἱερά·–

noch andre werden Ärzte und mühen sich im Gefolge des kräuterreichen Päon: doch auch sie verfehlen den Zweck: oft wird aus kleinem Schmerz ein großes Übel, nicht immer hilft das lindernde Mittel, oft wiederum geschieht es, daß der schwer Leidende, mit zugreifender Hand angefaßt, plötzlich genesen dasteht: denn die Moira teilt uns allen das Wohl und das Wehe zu, und den Schickungen der Götter entzieht sich niemand:

ἄλλοι Παιῶνος πολυφαρμάκου ἔργον ἔχοντες,
ἰητροί· καὶ τοῖς οὐδὲν ἔπεστι τέλος
πολλάκι δ᾽ ἐξ ὀλίγης ὀδύνης μέγα γίγνεται ἄλγος,
κούκ ἄν τις λύσαιτ᾽ ἤπια φάρμακα δούς,
τὸν δὲ κακαῖς νούσοισι κυκούμενον ἀργαλέαις τε
ἁψάμενος χειροῖν αἶψα τίθησ᾽ ὑγιῆ.
Μοῖρα δέ τοι θνητοῖσι κακὸν φέρει ἠδὲ καὶ ἐσθλόν,
δῶρα δ᾽ ἄφυκτα θεῶν γίγνεται ἀθανάτων.

So schildert Solon das Leben, und wenn wir unser eignes dagegen halten, so erkennen wir leicht die Identität der Grundlage: so treibt es noch jetzt der Schiffer, der Bauer, der Handwerker; der Arzt verzweifelt noch jetzt an seiner Kunst; der Geistliche ist kein Opferschauer mehr, aber er predigt doch auch Ergebung und deutet die Zeichen des Himmels; wir würden von dem unsrigen vielleicht den Lehrer, den Richter, den Krieger hinzufügen, die aber damals noch nicht als besondere Art des Erwerbes oder der Nahrung hervorgetreten waren. So ist in Hesiods »Werken und Tagen« zwar unser heutiges Landleben und unsere ländliche Wirtschaft in kindlicher Urgestalt vorgebildet, aber bei manchem Zuge stutzen wir doch und mögen ihm keine Geltung mehr zugestehen. Wenn der Dichter sagt, um das dreißigste Lebensjahr sei für den Mann die beste Zeit zum Heiraten, für das Mädchen im fünften Jahr nach der Mannbarkeit; wenn Platon an zwei Stellen dieselbe Zeit ansetzt (Vom Staate 5 und Von den Gesetzen 6) und Aristoteles den Mann gar bis zum siebenunddreißigsten Jahre warten lassen will (Politik 7, 14), so mag in dem Jahrhundert, welchem beide Philosophen ihre Erfahrungen entnahmen, die Auflösung der Sitten solchen Verzug rätlich gemacht haben; aber zu der Zeit, aus der die Hesiodischen Gedichte stammen, waren frühere Eheverbindungen gewiß die Regel, und wir erkennen hier, daß mitten in der Herrschaft substantieller Einfalt und Notwendigkeit doch schon die Spuren der Klugheit auftauchen, die sich mit der Natur in Widerstreit setzt. Indes, auch bei den Germanen galt lange bewahrte Enthaltsamkeit für das höchste Lob, ja als gebotene Sitte (Cäsar 6, 21): qui diutissime impuberes permanserunt, maximam inter suos ferunt laudem. Intra annum vicesimum feminae notitiam habuisse in turpissimis habent rebus. (Tacitus, Germania 20): sera juvenum venus – nec virgines festinantur. Die in sich gehaltene und gesammelte Art des Nordens, die dem Ausbruch der Sinnlichkeit mißtraut, vielleicht auch die kriegerische Stimmung der damaligen germanischen Stämme, mag unter ihnen dieser Einrichtung Bestand und Wert gegeben haben. Aber als Luther dem aszetischen Mönchtum des Mittelalters und der Herrschaft eines ehelosen Priestertums über den unheiligen Laienstand entgegentrat, sah er sich gedrängt, im Punkte der Eheschließung dem Gebote der Natur in vollem Maße, ja fast im Übermaße gerecht zu werden (Vom ehelichen Leben): »Ein Knab aufs längest, wenn er zwanzig, ein Mägdlein, wenns funfzehn oder achtzehn Jahr ist, so sind sie noch gesund und geschickt, und lasse Gott sorgen, wie sie mit ihren Kindern ernähret werden Gleich am Anfang der genannten, aus dem Jahre 1522 stammenden Schrift stehen die naiven Worte: »Wiewohl mir grauet und nicht gern vom ehelichen Leben predige.«

Auch bei Goethe ist frühe Ehe die natürliche, unreflektierte Form. Hermanns Mutter war, wie sie selbst sagt, als vor zwanzig Jahren das große Feuer ausbrach, fast noch ein Kind, und auf den Trümmern geschah ihre Verlobung; Hermann selbst kann, da der Bund der Eltern erst vor zwanzig Jahren geschlossen war, nicht älter als neunzehn Jahre sein, und doch hat er sich in seiner Kammer einsam gefühlt und entbehrte des Weibes, und in einem Nachmittage hat er die Braut gewählt und heimgeführt, und die Hochzeit wird, da ihr nichts entgegensteht, bald gefeiert werden. Dasselbe ergibt sich aus dem schönen Gedicht: »Die glücklichen Gatten«, einem ländlichen Familiengemälde. Es entstand einige Jahre nach »Hermann und Dorothea«, mit dem es, obwohl in gereimten Strophen verfaßt, Stimmung und Sphäre teilt. Der Gatte, die soeben von einem Frühlingsregen erfrischte Gegend überschattend, spricht zu seinem Weibe: »Hier war es, wo wir uns fanden, wo wir den Ehebund eingingen, das erste Glück genossen; wir glaubten uns zu zwei, da waren wir bald drei und nachher sechs, und die Kinder wuchsen und sind uns jetzt fast alle über den Kopf; dort am Wäldchen wohnt unser Sohn mit seiner Liebsten, dort in der Mühle im Felsengrunde die schöne Müllerin ist unsere Tochter; da kommt nach geschlossenem Frieden an der Spitze der Heeressäule unser zweiter Sohn gezogen, ihn schmückt das Ehrenzeichen, ihn erwartet die Braut, am Friedensfeste ist die Hochzeit, da gibst du auch den drei jüngsten Kindern Kränze zu tragen, da erneut sich die Zeit, wo wir ein junges Paar gewesen, und schon ahnt mir's, das nächste Jahr schenkt uns nicht bloß einen Enkel, sondern auch einen Sohn, und beide werden an demselben Tage getauft.« So spricht der wohlhabende Pächter, oder was er sonst ist, zu seinem Weibe, sie schalkhaft anblickend, in behaglicher Lebensfreude, mit Jugendmut, und erwartet noch weitern Kindersegen, und so wird er damals, wo er mit seiner Braut am Altare vor dem Pfarrer stand, gewiß nicht älter gewesen sein als Hermann und sie nicht älter als Hermanns Mutter am Tage des großen Brandes. Diesem Bilde eines dauernden Glückes steht in den »Wahlverwandtschaften« das tragische Unheil gegenüber, das auch im Schoße der Ehe schlummern und ausbrechen kann – eine Betrachtung, welche aber für uns hier außer dem Zusammenhang liegt. Nur daran mag erinnert werden, daß Eduard in dem Romane schon vorher mit einer ältern Frau vermählt war und ebenso Charlotte mit einem Manne, den sie bloß geachtet hatte; daß beide in reifern Jahren ihre Verbindung schlossen, mehr aus Eigensinn gegen die Welt und im Andenken vergangener Tage als aus innerm Triebe; daß Charlotte schon eine fast erwachsene Tochter, eine schöne Nichte besaß usw. So scheint auch hier die frühe Ehe als organisch, die Ehe als Jugendglück, das sich im Laufe der Jahre läutert und beruhigt, aber den Reichtum seines Inhalts nicht verliert, eine wenigstens negative Bestätigung zu erhalten.

Das Menschenleben als gesetzmäßig und unveränderlich, als durch natürliche Kräfte bewirkt zu betrachten, mußte dem Dichter naheliegen, der auch Naturforscher war und die Natur selbst und ihr unbewußtes Schaffen zu ergründen, ihrer durch geistige Teilnahme würdig zu werden sein Leben lang sich bestrebte. Auch in der Natur sah er mehr das Allgemeine, das Ganze, die Gattung und leitete mit genialer Anschauung die Art, die besondere Gestalt aus jenem umfassenden Lebensgrunde ab. »Hatte ich doch«, sagt er selbst, »erst unbewußt und aus inneren Trieb, auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen!« Wie wir aber nach den Erdepochen, in den Schichten des Bodens, in Höhlen und Bergen die tierischen und pflanzlichen Musterformen in langsamen Übergängen und Zusammenhängen sich verwandeln sehen, so bildet sich auch die menschliche Gesellschaft geschichtlich zu immer neuer Verschiedenheit aus, ohne daß, hier wie dort, eine unverbrüchliche Schranke, die alles umschließt, je überschritten werden könnte. Und so bleibt sie für den, der das Erste und Allgemeine, die göttliche Idee schaut, immer ähnlich, gleichartig, ja dieselbe.

Auf einem andern Wege gelangen wir zu der nämlichen Aussicht und offenbart sich uns die gleiche Sinnesart des Dichters. Er findet in dem menschlichen Körper das höchste, nie genug anzustaunende Werk der Natur und läßt seine Ottilie schreiben: »Das Menschengebilde trägt am vorzüglichsten und einzigsten das Gleichnis der Gottheit an sich.« Und im Winckelmann: »Das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch.« Nun kann zwar die Natur nur Individuen schaffen, aber was ihr im einzelnen nie gelingt, übernimmt statt ihrer die ideale Kunst der Skulptur. Die Skulptur, die ärmste und reichste, die sinnlichste, im Raum wohnende, und doch reinste und kühlste Kunst, zeigt uns den Menschen, wie ihn die Natur oder die Gottheit sich gedacht. Aus Rom, den 6. September 1787, über die griechischen Götterbilder: »Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.« Alles nun, worin der wirkliche Mensch im Mißbrauch seiner Freiheit dieses Urbild verleugnet, regt den heftigen Widerstand des Dichters aus. Der Tabak ist ihm zuwider, wie Gift und Schlange, noch mehr jede unreine Krankheit; wenn Mörder und Diebe vorgeführt werden, dann möchte er davonbleiben, »denn«, schreibt er an Frau von Stein, 9. September 1780, »ich fliehe das Unreine«; er hilft dem Armen gern, geht aber an Gebrechlichen mit abgewendetem Gesicht vorüber (der deutsche Gilblas); er beneidet niemand, außer den Jüngling, der eine schöne Reihe Zähne besitzt (Zahme Xenien 4); Bemalung und Punktierung des Körpers scheint ihm eine Rückkehr zur Tierheit (Maximen 2); jede Karikatur stößt ihn ab, folglich auch die Fratze des Menschen, der Affe, er nennt ihn ein »abscheuliches Geschöpf« (Wahlverwandtschaften 2, 4); die indischen und ägyptischen Götzen, die vielköpfigen und hundsköpfigen Idole empören ihn, er will die Bestien im Göttersaal nicht dulden (Zahme Xenien 2); er hat einen Abscheu gegen die mumienhaften Gesichter der byzantinischen Kunst, wo Christus und die Mutter Gottes wie Mohren erscheinen (Kunstschätze am Rhein); trägt jemand eine Brille, die dem Antlitz, dem Blick des Auges seine natürliche Gestalt und Richtung nimmt, so verschließt er ihm sein Herz: »Es käme niemand«, schreibt Ottilie, »mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten« – und in seinem eigenen Namen sagt er:

Kommt jener nun mit Gläsern dort,
So bin ich stille, stille.
Ich rede kein vernünftig Wort
Mit einem durch die Brille (Epigrammatisch) S. auch die schönen Erklärungen Goethes bei Eckermann, Gespräche mit Goethe, 5. April 1830, und schon früher in den Wanderjahren 1, 10..

Und so will er sich auch die unmittelbare Anschauung der Naturdinge, die Natur selbst, wie sie sich im Menschengeist spiegelt, durch Instrumente, durch Mathematik nicht rauben lassen. »Mikroskope«, sagt er, »und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn« (Maximen 1), und die Mathematik rechnet er zu der Art Künste, wie die Beredsamkeit; welcher letzteren nämlich der Gehalt ebenfalls gleichgültig ist und nichts Werk hat als die Form. Die Mathematiker sind ihm eine Art Franzosen, sie müssen, wie diese, alles erst in ihre Sprache umsetzen, d. h. es zu einem andern machen, wenn sie es begreifen sollen (Naturphilosophie 3 und 5) Als er im Jahre 1786 sich in der Algebra unterrichten ließ und die vier Spezies glücklich hinter sich hatte, fügt er doch hinzu: »So viel merke ich, es wird historische Kenntnis bleiben, und ich werde es zu meinem Wesen nicht brauchen können« (an Frau von Stein, 25. Mai 1786, aus Jena).. »Es wird mir immer deutlicher,« schreibt er an Zelter, »was ich schon lange im stillen weiß, daß diejenige Kultur, welche die Mathematik dem Geiste gibt, äußerst einseitig und beschränkt ist. Ja Voltaire erkühnt sich, irgendwo zu sagen: J'ai toujours remarqué que la géometrie laisse l'esprit où elle le trouve. Auch hat schon Franklin eine besondere Aversion gegen die Mathematiker, in Absicht auf geselligen Umgang, klar und deutlich ausgedrückt, wo er ihren Kleinigkeits- und Widerspruchsgeist unerträglich findet.« Er selbst aber glaubt an die ursprüngliche Einheit des Wesens und der Erscheinung; wie die Natur ist, so stellt sie sich der ungetrübten Anschauung dar; der letztern mag die Meßkunst folgen und bleibt doch stets ein anderes (Katzenpastete); »noch hatte mich«, bekennt er, »die zwar höchst löbliche, aber doch den Eindruck der schönen Erdoberfläche vor dem Anschauen des Geistes zerstückelnde Geognosie nicht angelockt« (Wahrheit und Dichtung, Buch 18); in der Natur ist nichts Schale oder Kern, sondern immer beides zugleich: er lehnt alles ab, was das ruhige Dasein, mit dem sie ihm gegenübersteht, durch Menschenwitz und Menschenlist stört und verzerrt, und wie er nicht müde wird, die Zerlegung des Lichtstrahls in das Farbenspektrum zu bekämpfen, so überzeugt ihn auch die Lehre von der Entstehung der Tonskala durch Teilung der schwingenden Seite keineswegs (in einem höchst merkwürdigen Briefe an Zelter, Karlsbad, 22. Juni 1808). Daß nun diese ganze Auffassung jener andern analog ist, mittels welcher er auch im Menschenleben nicht das Kranke, das Verwickelte und Seltsame, das Entstellte und Abweichende, sondern die einfache Naturform, die stillen Taten und Werke der ewigen Weberin und Meisterin im Spiegel der Dichtung auffing und wiedergab – dies bedarf für den, der den Umfang und das Ganze dieses Dichtergenius im Auge behält, keiner weitern Ausführung.

Es kann belehrend sein, mit den obigen Darstellungen Goethes die ähnlichen Schillers zu vergleichen, die ebenfalls dem letzten Dezennium des Jahrhunderts angehören, die »Elegie«, das »Eleusische Fest«, das »Lied von der Glocke«. Dort, bei Goethe, ein jedes in lebendiger Gegenwart, von der Phantasie eingegeben, poetisch vergeistigt, bedeutsam und auf eine unendliche Ferne weisend und doch an seinem Punkte bestimmt und beseelt, hier denkende Betrachtung des Gegensatzes von Natur und Kultur, Konstruktion der Folge und des Zusammenhanges menschlicher Bildungsstufen, weite Umrisse der allgemeinen Gruppen des Lebens, alles metaphorisch geschmückt, in rhetorischem Glanz, in reicher Fülle der Worte, hin und wieder durch einen treffenden konkreten Zug individualisiert. So zeigt uns der »Spaziergang« (oder die »Elegie« vom Jahre 1795), wie der Mensch als Naturwesen beginnt, wie er dann zum Bewußtsein erwacht und die Freiheit mißbraucht, wie Verrat und Lüge, Laster und Irrtum die Welt beherrschen, wie es endlich aus diesem Elend für den Edleren nur eine Zuflucht gibt, die Rückkehr zur Natur, die immer dieselbe liebevolle Mutter ist, eine Hingabe, die aber nun nicht mehr die blinde des Anfangs, sondern eine freie und bewußte ist. Daß das Gemälde des Naturfriedens, dann der sich selbst zerstörenden Bildung an einen Spaziergang des Dichters geknüpft ist, gab Gelegenheit zu Beschreibungen und Schilderungen, also zu sinnlicher Belebung der abstrakten Grundlage. Allein die vielen musivischen Stifte wollen in ihrem Nebeneinander doch nicht recht zur Einheit zusammenfließen; der Stil, mehr prächtig als sachlich, reich an Tropen, Antithesen und schmückenden Adjektiven, erinnert an den der lateinischen Dichter, und das elegische Versmaß kam diesem Charakter begünstigend entgegen. Daß Wilhelm von Humboldt das Gedicht mit Begeisterung aufnahm und in ihm »ein unbegreiflich schön organisiertes Ganzes« fand, lag an Humboldts nahe verwandter Anlage, die als Adel der Gesinnung und Idealität, aber auch als Eleganz und Kälte bezeichnet werden kann. Auch das »Eleusische Fest« (oder das »Bürgerlied«, 1798) behandelt einen Abschnitt der Kulturgeschichte, und zwar die Stiftung des Ackerbaues und die aus diesem Grunde sich ordnende bürgerliche Gesellschaft als Werk und Unterricht der olympischen Götter. Diese Götter lebten einst als wirkliche Wesen im Glauben der Menschen, und die natürlichen Vorgänge und sittlichen Mächte, die in ihnen verkörpert waren, kamen für sich und abgetrennt nicht zum Bewußtsein. Dem Dichter aber sind seine Gedanken das erste, und die göttlichen Personen, die er herabruft und Hand anlegen läßt, nur ein poetisches Gewand, ein rednerischer Ausdruck, ein Hauch Wärme in der strengen Luft der Abstraktion. Dem griechischen Mythus wohnt eine unversiegliche Jugend inne, und so ist uns diese Art Umschreibung immerhin willkommener als jede andre. Die Verse fließen leicht und in natürlicher Schönheit dahin, die Sprache ist weniger als sonst von der Last der Metaphorik gedrückt, und will man einmal die seltsame Kategorie der konstruierenden Lyrik gelten lassen, so mag unter den Gedichten dieser Gattung das »Eleusische Fest« leicht das beste sein. Populärer als die beiden genannten Gedichte ist das »Lied von der Glocke«, das sogar von der zeichnenden Kunst nachgebildet und umrankt und von der Musik in Töne umgesetzt worden ist. Wie der Kanzelredner ein Bibelwort durch Vergleichung und sinnbildliche Deutung über seinen Kreis erweitert und es dadurch zu sittlicher Lehre und religiöser Erbauung fruchtbar macht, so verwendet der Dichter hier die Technik des Glockengusses und die einzelnen Verrichtungen und Abschnitte desselben nach derselben symmetrischen Formel, im ernsten Spiel der Allegorik, zu Bildern des Menschenlebens überhaupt und sinnenden Betrachtungen allgemeiner Art. Die Übergänge sind mehr oder minder glücklich, die Schilderungen nicht alle von gleichem Wert. In einigen, wie der des Jünglings und der Jungfrau und der erwachenden ersten Liebe oder der Anrufung der Ordnung und des Friedens, kehrt das abstrakt Idealische und Rednerische wieder, das Schiller nie ganz ablegen konnte; in andern, wie denen, wo des Waltens der Mutter im Hause oder der Ruhe des Abends gedacht wird, erfreut uns eine schöne, maßvolle Annäherung an die Wirklichkeit; in noch andern, wie der der Feuersbrunst, scheint das Streben nach greifbarer Wiedergabe der Dinge fast über die Grenze des Poetischen, wo der gemeine Boden beginnt, hinauszugehen; in allen verrät der Überfluß in der Ausführung die Hand des beschreibenden Darstellers, dem es schwer wird, in Worten und Zeichen sich genug zu tun. Die Strophen aber, die dem Werke des Gusses selbst gewidmet sind, beweisen wieder, wie Schiller, wenn er durchaus keinen Raum fand, seinem sentimentalen und rhetorischen Hange nachzugeben, auch den sprödesten Stoff zu bewältigen und energisch und plastisch in körnigem Ausdruck zu gestalten wußte. Darin gleicht das »Lied von der Glocke« dem »Wallenstein«, dem es auch der Zeit nach naheliegt. Auch im »Wallenstein« sind die realistischen Partien, wie die Tafelszenen im vierten Akt der »Pikkolomini«, die Unterredung Wallensteins mit Wrangel usw., bewundernswerte Meisterwerke, während andre, wie die Gestalten der beiden Liebenden, als blutlose Schatten, aus schönem Redeschaum gebildet, wirkungslos an uns vorübergehen.

Noch andere Werke anderer Verfasser ließen sich zur Vergleichung heranziehen, so vor allem Voß mit der einst vielberühmten »Luise« und einigen der kleineren Idyllen. Voß malt die einfachen Lebensumstände eines beschränkten Kreises unverdorbener Menschen mit demselben Geschick für das Kleine wie manche Meister der niederländischen Schule, aber wie diesen fehlt auch seinen Bildern der poetische Hauch, die leichte Behandlung, die milde Betrachtung, die von selbst zur Ironie wird, also alle die Eigenschaften, durch welche Hebels Gedichte so liebenswürdig werden. Die »Luise« wurde sowohl von Schiller als von Goethe bei weitem überschätzt; der erstere meint in einer Anmerkung zu dem Aufsatz »Über naive und sentimentalische Dichtung«, sie könne nur mit griechischen Mustern verglichen werden; der andere entstellte sein rührendes Gedicht »Proömium zu Hermann und Dorothea« durch zwei Zeilen zum Preise seines Vorgängers. Dürften wir mit Goethe verfahren wie die kritischen Philologen mit dem überlieferten Wortlaut antiker Dichter, wir würden dies Distichon für spätere Zutat eines Berliner oder Leipziger Interpolators erklären und als solche aus dem Text entfernen. Auch in den Xenien war eines, wir wissen nicht von welchem der beiden Verfasser, das der »Luise« mit besonderer Wärme gedenkt:

Wahrlich, es füllt mit Wonne das Herz, dem Gesange zu lauschen,
Ahmt ein Sänger wieder Töne des Altertums nach.

Damals schien dies Verspaar, neben so vielem Zuchtlosen und Frechen, nur eine verdiente Huldigung; uns geht es jetzt umgekehrt: jene apollinischen Pfeile trafen das kriechende Gewürm, zu diesem Preisgesange zucken wir die Achseln. Schiller war zu seinem Urteil, wie wir glauben, durch Goethe verführt worden, und was Goethe selbst betrifft, so hatte in der Zeit, wo ihm das Vossische Gedicht bekannt wurde, sein Blick und Geist eine Richtung genommen, die gerade auf die »Luise« hinführte: sie enthielt, was in ihm aufgegangen war, und was er selbst bald reiner und tiefer zur Darstellung bringen sollte. So schaute er mehr hinein, in produktiver Weise, als in dem Gedichte selbst vorlag. In diesem ist die Erfindung dürftig, die Personen sind aus Zügen zusammengesetzt, welche die Rücksicht auf ihren Stand, ihr Alter usw. und das Nachdenken darüber geliefert hat, und aus Sprache und Vers drängt sich eine grobe und doch anspruchsvolle Technik vor. Kühler und richtiger schrieb damals Knebel, nachdem er Schillers obenerwähnten Aufsatz gelesen, an Goethe (13. Januar 1796): »Vossens Luise ist nach meinem Urteile auf einen viel zu hohen Gipfel gesetzt – – und was Dichtertalent betrifft, so möchte ich in der Tat einige von Zachariäs heroisch-komischen Gedichten lieber geschrieben haben.« Später erwarben sich die Romantiker das Verdienst, den Dichter Voß auf sein natürliches Maß zurückzusetzen und z. B. zu verhindern, daß die »Luise« dem Goethischen Epos gleichgestellt oder gar, wozu die Zeitgenossen alle Anstalt machten, ihm vorgezogen wurde. Wenn A. W. Schlegel im »Athenäum« (Urteile, Gedanken und Einfälle, 1798) äußerte: »Bei der Nachwelt wird es Luisen empfehlen können, daß sie Dorothea zur Taufe gehalten hat«, so sagte er eher zuwenig als zuviel. Indes, ein glücklicher Fund und ein Verdienst war es immer, wenn Voß auf das Leben einer Landpredigerfamilie, wo Unschuld und Bildung noch beisammen sind, ein volles Licht fallen ließ. Wie reich an Menschlichkeit diese Quelle ist, hat niemand schöner dargelegt als Goethe selbst am Ende des zweiten Teils seiner Selbstbiographie, da, wo er auf den Landprediger von Wakefield zu reden kommt und dieses Werk nach Gebühr erhebt und würdigt. Er hatte es schon in jungen Jahren in Straßburg durch Herder kennengelernt, und als er bald darauf in das Haus des Pfarrers von Sessenheim eingeführt wurde, schien ihm alles, was er dort sah und hörte, wie die ins Leben getretene Familie Primrose, so sehr, daß er nach soviel Jahren bei Beschreibung jener Menschen und jener glücklichen Zeit fast unwillkürlich die Namen dem englischen Roman entlehnte. Auch Lavater war ein Prediger, und auch in dessen Haus ergriff ihn die Stille und Reinheit des Pfarrerlebens (an Knebel, 30. November 1779): »Hier bin ich bei Lavater, im reinsten Zusammengenuß des Lebens. In dem Kreise seiner Freunde ist eine Engelsstille und Ruh, bei allem Drange der Welt nur ein anhaltendes Mitgenießen von Freud und Schmerz. Doch hab ich deutlich gesehen, daß es vorzüglich darin liegt, daß jeder sein Haus, Frau, Kinder und eine rein menschliche Existenz in der nächsten Notdurft hat. Das schließt aneinander und speit, was feindlich ist, sogleich aus.« Später wandte er sich zwar von dem Züricher Propheten gänzlich ab, aber in der Gestalt des Pfarrers von Grünau und in denen seiner Angehörigen schienen die alten Bilder und Eindrücke wieder aufzuleben, und so hielt er sie nicht für unwert, mit ihnen in eigenen Geisteswerken zu wetteifern und dies sogar öffentlich zu bekennen.


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