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Südwest und Nordost

Als das achtzehnte Jahrhundert herangekommen und bis zu seiner Mitte vorgerückt war, da berieten die alten Götter der Germanen in ihrer Versammlung über den Wolken – Wuotan und Donar und Ziu und Freia und die übrigen; sie kamen aus verschiedenen Richtungen und hatten sich alle lange nicht gesehen – sie berieten, von welcher Gegend Deutschlands der Genius ausgehen solle, durch den nach drittehalb Jahrhunderten, nach so viel Vorbereitungen, nach so langer Verödung, der auf der Nation liegende Bann sich endlich lösen könne. Ein Dichter sollte erstehen, ein wirklicher, schöpferischer Dichter, der, als eine unmittelbare Stimme der Volksseele, eine tiefere Weisheit verkündigen könnte, als die von den bisherigen poetischen Truggestalten und Nachahmern der Fremde ergangen war. Nicht um kritischen Verstand handelte es sich, auch nicht um heldenmütige Tat, sondern um zwei Gaben, die dem deutschen Volke auf immer versagt schienen: um die Naturkraft der Phantasie und den Adel und die Schönheit der Form – um einen Boten des Himmels, der, wie einst Homer in Griechenland und Dante in Italien, so durch den Zauber des Gesanges und die Kraft der Rede und des Denkens um die zerstreuten und verkümmerten Örtlichkeiten und Landschaften ein ideales Band schlänge, das sie zur Nation machte. Dieser Erwählte – von welcher Seite konnte er kommen, von der Nordsee oder der Ostsee, von den Alpen, vom Rhein oder der Donau? Von der Ebene oder den Bergen, aus hochdeutschen oder niederdeutschen, katholischen oder protestantischen Landen?

Deutschland, wie es nach außen keine bestimmten Umrisse hatte, so war es auch geschichtlich ein Übergangsland und bestand nach Boden und Himmel, nach Blut und Art seiner Bewohner aus sehr verschiedenen Teilen. Beide Ufer des Rheines und der ganze Lauf der Donau waren zu der Zeit, wo sie zuerst aus dem Dunkel der Vorzeit auftauchen, ein keltisches Gebiet und weit und breit von Kelten besetzt. Nach seinen keltischen Bewohnern, den Bojern, heißt noch heute das entlegene Königreich Böhmen und von diesem hinwiederum noch heute das deutsche Volk der Bayern (Zeuß, Die Deutschen, S. 364 ff.). Wie die Donau und der Rhein selbst, so sind auch ihre Zuflüsse keltisch benannt: Iller, Lech, Isar, Inn, Traun, Enns, Maas und Mosel, Aare und Neckar und Main; auch die Berge zu ihrer Seite, z. B. Taunus und Melibokus am Rhein, die Tauern in Österreich und die Alpen überhaupt, auch das quer durch Deutschland ziehende herzynische Waldgebirge; und von Städten Mainz ( Moguntiacum) hier und Wien ( Vindobona) dort. So weit der Wohnsitz der keltischen Völker reichte, so weit ungefähr erstreckte sich dann die Herrschaft ihrer Überwinder, der Römer: in dem heutigen Schwaben und Bayern und Österreich, in der Schweiz, in Elsaß und Pfalz, am Mittel- und Niederrhein, in den Ländern der drei geistlichen Kurfürsten lebten römisch gewordene, mit römischer Zunge redende, in Lebensform und Sitte italisch gebildete ehemalige Kelten und errichteten orientalischen Göttern und den für göttlich erachteten Kaisern Altäre und Tempel. Die Römer bahnten Wege, wie überall, so auch hier, bauten Brücken und Festungen, bewachten in stehenden Lagern die überwundene Bevölkerung und die unruhigen Feinde, ja suchten auf kühnen Heerzügen in das Land der Germanen einzudringen und dem ungeheuren Reiche neue Provinzen zu erwerben. Doch gelang ihnen dies nur so, wie die Kelten ihnen vorgearbeitet hatten, oder, was dasselbe sagt, so weit das Berg- oder Hügelland reichte und die dem Südländer nähere, zutraulichere Natur es gestattete. Darüber hinaus begannen die endlosen, mit Wäldern und Sümpfen bedeckten Ebenen, die übermächtigen Ströme mit ungewissen Ufern, der rauhe Himmel, stumpfe Umrisse, graue Farben, ein formloser Anblick aller Dinge. Zwar bis zur Elbe gelang es Drusus einmal, im Jahre 9 vor Christi, vorzudringen: aber dort trat ihm ein gespenstiges Weib von übermenschlicher Größe entgegen und rief ihm zu: »Wohin strebst du, Unersättlicher? Diese Welt hier zu schauen, ist dir nicht beschieden. Kehre um, du hast das Ende deiner Taten und deines Lebens erreicht!« Und Drusus stand von seinem Vorhaben ab, häufte ein Grenz- und Siegeszeichen auf und zog heimwärts: unterwegs aber, zwischen Saale und Rhein, in einem Sommerlager, das seitdem das unheilvolle, scelerata, genannt wurde, starb er infolge eines Sturzes vom Pferde; sein Leichnam ward in feierlichem Zuge nach Rom geleitet, in Mainz aber widmeten ihm seine Krieger ein Ehrengrabmal oder einen Altar, den noch heute sichtbaren ehrwürdigen Eigelstein. Wer aber war jenes schreckhafte Wesen in Riesengestalt, das sich dem Römer in den Weg stellte? Niemand anders als die Wildnis in Person, der Geist der Ferne; bis zur Elbe reichte noch gerade der letzte Dämmerschein römischer Macht und Bildung; dort schloß sich noch in der ersten Hälfte des Mittelalters der Kreis Europas – denn Europa war, was sich einst und jetzt auf Rom bezog und von Rom sein Leben empfing. Auch Tiberius kam bis zur Elbe, und auch damals, im Jahre 5 nach Christi, spielte sich eine Szene ab, von der uns ein Augenzeuge, Vellejus, berichtet – eine Begegnung in umgekehrtem Sinne, als wie sie Drusus erfahren, aber ebenso charakteristisch. Der römische Feldherr, nachdem er die Chauken und Langobarden bezwungen, rückte an den Strom, den seine Flotte von der Nordsee her hinaufgefahren war; ihm gegenüber, am rechten Ufer, hielt der Heerbann der Semnonen und Hermunduren, glänzend im Schmuck der Waffen. Da bestieg ein alter Mann, von hoher Gestalt und angesehen unter den Seinigen, einen ausgehöhlten Baumstamm, ruderte bis in die Mitte des Flusses und fragte herüberrufend, ob es ihm vergönnt wäre, am römischen Ufer auszusteigen und den Cäsar zu sehen. Nachdem ihm die Erlaubnis erteilt worden, landete er seinen Kahn, betrachtete lange schweigend den kaiserlichen Helden und sprach endlich: »Ist unsere Jugend nicht unverständig, daß sie euch, solange ihr fern seid, wie Himmlische verehrt, und wenn ihr da seid, lieber sich vor euren Waffen fürchtet, als euch Gehorsam leistet? Mir aber ist durch deine Gnade heut zuteil worden, die Götter, von denen ich bisher nur gehört, mit Augen zu schauen, und so rechne ich diesen Tag, der mir meinen höchsten Wunsch gewährt hat, zu den glücklichsten meines Lebens.« Dann bat er, den Imperator mit der Hand berühren zu dürfen, und als dies geschehen, trat er wieder in seinen hohlen Baum und ruderte zurück, die Blicke noch immer unverwandt auf den Cäsar gerichtet. Es war die Bewunderung eines naiven Häuptlings – aber in Übereinstimmung damit geschah es, daß die Zimbern, Charuden und Semnonen und noch andere Völker jenes Landstriches eine Gesandtschaft an den Kaiser Augustus schickten und um seine Freundschaft und um Verzeihung des Geschehenen baten (der Kaiser hielt bei Aufzählung seiner Taten dies Ereignis für wichtig genug, um der Nachwelt selbst darüber zu berichten); sie brachten, wie Strabo hinzusetzt, ihr Heiligstes, einen Opferkessel, dem Kaiser zum Geschenke dar und zogen dann, nachdem sie mit ihrer Bitte Gehör gefunden, wieder in die Heimat zu den Ihrigen. Dennoch aber wagte auch Tiberius nicht, die Elbe zu überschreiten, sondern führte seine Legionen in die Winterlager zurück. Beide Teile kannten sich fast nur durch die Sage und erzählten voneinander in gegenseitiger Scheu – die einen eine unbegreifliche Kultur anstaunend, die andern von der elementaren Ursprünglichkeit des Lebens und der Natur zurückgeschreckt. In Westfalen, welches dem Rheine näher lag, war es den Römern fast gelungen, die Barbaren unter die Formen und Formeln ihres Gesetzes und Rechtes zu beugen, auf dem jungfräulichen Boden den geschlossenen Bau römischer Verwaltung und Besteuerung zu gründen und neben den Pflichten des Kriegsdienstes auch durch ihr Handwerk, durch gebildetere Genüsse, durch Spiel und Schmaus und Schmuck die Männer zu gewinnen und die Frauen zu locken – als aus der Tiefe die Volksnatur (denn hier hatten keine Kelten gewohnt) sich empörte und an einem schreckenvollen Tage, in der Teutoburger Schlacht, alles Erreichte verlorenging. Zwar versuchten die Römer in wiederholten Feldzügen Rache zu nehmen, aber nur die kriegerische Ehre ward wiederhergestellt; das Gebiet der Weser, so viel Römisches unbemerkt eingedrungen sein mochte, verblieb im wesentlichen den Germanen und der Sitte der Väter. Des Kaisers vielerwogener und lange genährter Plan, die Elbe zur Grenze des ungeheuren Reiches zu machen, war auf immer gescheitert. Als dann allmählich die Zeiten der großen Bündnisse und Wanderungen gekommen waren und die Völker aus den unbekannten Landschaften jenseits der Elbe nach Südosten an das Schwarze Meer und nach Westen und Südwesten drangen, als die Alemannen und Sueven, die vielleicht nichts anderes waren als die früheren Semnonen und in der Mark Brandenburg oder derselben nahe gewohnt hatten, am oberen Rhein und an den Quellen der Donau, die Bayern auf der Hochebene südlich der Donau und an den Abhängen der Alpen, die Franken am Niederrhein sich nach und nach von Brand und Raub erholten, den Boden als den ihrigen zu fühlen begannen und auf ihn den Fuß fest aufsetzten – da waren diese einst keltischen, dann römischen Lande ein Teil Deutschlands geworden, ja hier lag fast das ganze Mittelalter hindurch das eigentliche Deutschland mit nach Westen gerücktem Schwerpunkt. Deutsch wurde hier geredet, auch wohl empfunden und gedacht, aber rein war das Blut dennoch nicht mehr. Denn daß bei dem Einbruch der Germanen die römische Bevölkerung völlig ausgerottet worden, ist nicht glaublich: es blieben Unterworfene, die das Vieh weideten, das Feld pflügten und dem Hauswesen dienten, es blieben Mädchen und Frauen, deren südliche Schönheit den Sieger reizte, Ammen, die seine Kinder nährten, Sklaven, die manches lehrten und verrichteten, was ihm unbekannt war oder ihm nicht von der Hand ging. Die Villen und Bäder und Theater waren zerstört, aber doch nicht ganz und nicht alle: aus ihren Trümmern, den einzelnen Säulen, Grab- und Votivsteinen, musivischen Fußböden, verwilderten Gärten redete ein fremder Gott, dessen stille Macht erst nur die Oberfläche traf, dann in langsamer Umbildung auch das Innere durchdrang. Zwar wurden auch die Römer unter ihren deutschen Herren im Laufe der Zeiten allmählich Deutsche, aber durch Vererbung, dieses große Gesetz, das alles Völkerleben beherrscht, infolge Aufsteigens der Säfte aus den untersten Schichten, Deutsche anderer Art, ein neues Geschlecht, mit eigenem Gemüt, in dem das doppelte und dreifache Element sich zu individueller Einheit verschmolzen hatte. Als die Franken das römische Kaisertum wiederhergestellt hatten, gehörte West- und Süddeutschland völlig zum Kreise romanischer Sinnesart und Sitte. Hier war das Christentum schon ein längerer Besitz, hier ruhten die Gebeine der Heiligen, ein bischöflicher Sprengel grenzte an den andern, steinerne Burgen krönten die rebenumpflanzten Hügel; hier hielten die Kaiser ihre Reichstage ab und wurden hier gekrönt, zogen von hier nach Rom und weiter über das Meer zum Grabe des Herrn; hier blühte nach provenzalischem und französischem Vorbild das Rittertum und der Gesang in verfeinerter hochdeutscher Mundart, und in den Städten, wie Straßburg und Köln, Ulm und Wien, erhoben sich langsam mächtige Kathedralen in dem neuen Baustil, der in Frankreich erfunden war, und der später in der Zeit der Klassik zum Ausdruck der Verachtung als der gotische bezeichnet wurde. Der Norden war noch lange heidnisch: die Friesen erschlugen den heiligen Bonifatius, und die Sachsen überwältigte und bekehrte erst Karl der Große, der Erbe des Drusus und des Germanikus, in langem, hartnäckigem Kampfe und fügte sie und ihr Land, was dem Kaiser Augustus nicht gelungen war, der Sphäre römischen Geistes hinzu. Seitdem gab es ein zu Europa gehörendes Nord- oder Niederdeutschland, das sich auch wohl geltend machte, wie unter den sächsischen Kaisern, oder hindernd und störend zur Zeit der Hohenstaufen, oder während der Blüte der Hansa, dennoch aber jahrhundertelang für das Ganze ohne wesentliche Bedeutung blieb – bis auch seine Zeit kam, die Reformation. Mit der Reformation trat ein junges, noch unversuchtes und unberührtes Volkselement auf, eine neue Weltgegend mit ganz anderen natürlichen Voraussetzungen. Die Reformation predigte eine Lehre ohne Romanismus; sie streifte ab, was an und in der Religion römische Idee und Form war; sie war eine Erhebung sächsischen Wesens gegen die ihm nicht gemäße italisch-gallische Gestalt derselben. Wo eine Gegend nie von den Römern betreten war, da gewann der lutherische Glaube eine unbestrittene Herrschaft und behauptete sich, wie in Skandinavien, bis auf den heutigen Tag. Wo der Boden kein ursprünglich germanischer war, da schien, wie in Belgien und Österreich, der Abfall von Rom eine Weile vollzogen, aber die römische Grundlage regte sich, eine blutige und erbitterte Gegenreformation tilgte das Werk der ersten Überraschung, und so wurden gerade diese Länder im Widerstreit gegen das Neue oft katholischer als selbst Italien. Auch in Westfalen erhielt sich die alte Kirche zum Beweise, wie tief dieser Landstrich seit den Tagen der Cäsaren und Karls des Großen von der nahen gallisch-belgischen Kultur durchdrungen war: der Rhein blieb die Pfaffengasse und Köln ein Sitz der Dunkelmänner – es hatte ja einst Colonia Claudia Agrippina geheißen, wie Koblenz Confluentes, und in Trier, der ehemaligen Hauptstadt Galliens, stand noch die Porta nigra und in der Nähe die Igeler Säule. Doch war auf dem rechten Ufer des Rheines der Wechsel groß und die Mischung bunt, und ebenso im ehemaligen Zehntlande innerhalb des Walles: da kämpften Luthertum und Jesuitismus, und so kam dies Übergangsland ohne Entscheidung und sicheres Ergebnis in die neue Zeit hinüber. Der Kalvinismus und die reformierte Kirche aber, die von der Schweiz bis Heidelberg und Holland sich ausbreitete, verriet den römischen Gedanken, dessen sie sich auf ihrem Boden nicht hatte erwehren können, in der verständigen Strenge und dem mehr politischen Charakter ihres Bekenntnisses und ihrer Verfassung.

Jenseits der Elbe aber, an der Oder und Weichsel, von wo die Goten und Vandalen und Gepiden, die Lugier, die Semnonen ausgezogen waren – was war aus diesem germanischen Ursitz, dem weiten Flachlande zwischen der Ostsee und den Karpathen geworden? Lange Zeit liegen diese Gegenden in tiefem Dunkel, und kein Zeuge berichtet über sie; dann, wo das Licht der Geschichte sie wieder trifft, finden wir sie von Massen slawischer Völker und Völkchen besetzt, deren Sitten sich nur wenig von denen ihrer Vorgänger, der Germanen, unterschieden. Wie sie gekommen, wissen wir nicht; sei's, daß sie nach Abzug der Germanen sich still über die verlassene Öde verbreiteten, sei es, daß sie mit gewaffneter Hand die germanischen Überreste vertilgten oder sie aufsogen und in letzterem Falle ihr Blut dadurch im Sinne der Kultur veredelten. Selbst die Elbe und Saale hatten sie nicht aufgehalten: in kleinen und großen Haufen waren sie nach Leipzig, der Lindenstadt, nach Altenburg und Lüneburg gelangt, ja den Main hinab bis Bamberg und noch weiter vorgedrungen. Dann aber begann die Rückströmung von Deutschland her: die slawischen Gebiete wurden in unablässigen Kämpfen unterworfen, geschwächt, verwüstet, fränkische und sächsische Ansiedler herbeigezogen, Burgen und Städte gegründet, der Christenglaube mit Gewalt und Überredung gepflanzt und längs der Ostsee ein neues Deutschland geschaffen, auf anderem Grunde ruhend als das römische und römisch-deutsche Europa, erst noch in rohen Zügen, langsam werdend, nach unglücklichen Tagen scheinbar dem Untergang verfallen, dennoch in unmerklicher Arbeit wachsend und erstarkend. Die Reformation fand hier nach einiger Zögerung Aufnahme und eine bleibende Stätte; sie wurde der günstige Boden, auf dem ein Staat mit eigener Physiognomie, konstruiert wie bisher noch kein anderer, unbeachtet und vielverkannt sich aufbaute. Die brandenburgischen Markgrafen wurden Kurfürsten des Deutschen Reiches, das Kurfürstentum Brandenburg wurde mit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ein Königreich Preußen, dieses nach dem Siebenjährigen Kriege eine große europäische Macht, endlich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Vormacht eines deutschen Kaisertums und seine Hauptstadt das Zentrum des Weltteiles. In demselben Maße, wie Sachsen sank, vergrößerte es sich nach allen Seiten, zog den Niederrhein an sich, das halb süddeutsche Land Schlesien, große Stücke der Republik Polen, die von den alten Welfenherzögen beherrschten Gebiete und dehnt sich jetzt vom Memelstrome im Nordosten bis zur Ems und der oberen Mosel im Westen, an beiden Seen, der Ost- und Nordsee, über die große Tiefebene aus, die, einst der Boden eines verweltlichen Meeres, nie ganz und sicher in römischen Händen gewesen war. Die Sprache der Bildung war hier die hochdeutsche, denn aus Hochdeutschland war alle Kultur gekommen und in dieser Gestalt auch der neue Wittenberger Glaube ausgetreten – das Volk und das Haus und die Familie sprachen niederdeutsch, das Idiom der Welfen, das sich nur langsam vor der Schule, der Predigt und den Büchern zurückzog. So war Deutschland in den Tagen Friedrichs des Großen in zwei Hälften zerfallen: zu dem Gegensatz des Katholizismus und Protestantismus kam der der Mundart, der natürlichen Bedingungen, der historischen Ursprünge, der Staats- und Sittenform hinzu. Deutschland glich und gleicht bis auf den heutigen Tag einem Achatstein, der zwar ein und derselbe Stein ist, aber zwei Schichten hat, eine weiße oben und eine graue unten oder umgekehrt. Selbst in der äußeren Politik, so rationalistisch, d. h. naturlos sie damals und noch später war, tat sich die Zweiheit von Nord und Süd zu wiederholten Malen kund. Die Demarkationslinie nach dem Baseler Frieden 1795 lief längs des Niederrheins, von da quer durch Mitteldeutschland, und während jenseits der Krieg wütete, erfreute sich der Norden des Friedens. Darauf, im Jahre 1805, ließ Österreich im Laufe der geheimen Verhandlungen alles Ernstes in Berlin eine Neugestaltung der deutschen Verfassung vorschlagen, so, daß der Norden unter Preußens, der Süden unter Österreichs Oberhoheit käme (v. Treitschke, Deutsche Geschichte, I, 219). Daß Bismarck kurz vor Ausbruch des Krieges 1866 durch Gablenz der Wiener Regierung ganz denselben Antrag machte, ist jetzt jedermann bekannt. Auch in der Frankfurter Paulskirche hatte die sogenannte großdeutsche Partei ihre Wurzeln in Süddeutschland, die des preußischen Kaisertums im Norden. Und nach dem Kriege von 1866, vor dem französischen, war der Norddeutsche Bund im wesentlichen doch nur die Zusammenfassung der ursprünglich plattdeutsch redenden Landschaften.

Diese Spaltung in der Anlage und Bildung der Menschen ging zwar nicht so tief wie einst der Gegensatz der Spanier und Niederländer, aber einigermaßen glich sie dem letzteren doch. Berlin und Hamburg waren das Widerspiel von Wien, wie Leipzig von Frankfurt a. M. und Straßburg, Wittenberg und Königsberg von Ingolstadt und Landshut. Während Maria Theresia, die fromme Landesmutter, bei allen Regierungstaten ihren Beichtvater zu Rate zog, saßen Voltaire und Friedrich in Potsdam bei Tische, nannten sich Philosophen und bestärkten sich im Hasse gegen die infâme, d. h. die Kirche. Norddeutschland fand seinen Dichter in Klopstock, Süddeutschland in Wieland. Von Wieland sagt Goethe (Annalen, 1794: »Das südliche Deutschland, besonders Wien, sind ihm ihre poetische und prosaische Kultur schuldig«, und in dem Gemüte des niedersächsischen Stammes lagen alle die Züge, die Klopstocks persönlichen und poetischen Charakter bilden. Die Ehrbarkeit und die theologische Dogmatik, das gestalt- und inhaltslose Kraftgefühl, der Schwung in die Lehre des Erhabenen, die Spannung zwischen Geist und Sinn, die Versenkung in dunkle Zusammenklänge, die grübelnde Gewaltsamkeit gegen die Sprache, die Tränen der Schwermut um nichts, der persönliche Ernst statt der offenen Hingabe an Welt und Leben – dies waren die Eigenschaften, die das sächsische Deutschland an dem Sänger des Messias und der Oden entzückten und ihm begeisterte Jünger zuführten. Und daß diese in Göttingen Wielands Werke im eigentlichen Sinne mit Füßen traten und sein Bildnis verbrannten – was war natürlicher? War er doch das geschwätzige, liebenswürdige Weltkind, das nichts zu schwer nahm, am Spiele des Reimes, an Horaz und Lucian und Ariosto und Shaftesbury Gefallen fand, die Franzosen nicht haßte, sondern es ihrer schalkhaften Grazie gern nachtat, und wenn er in Romanen Sittenlehre vortrug, den Lesern nicht altlutherische Zucht und Strenge predigte, sondern lieber gegenseitige Nachsicht, gegründet auf Ironie und Psychologie, sokratisch anempfahl. Auch in Lessing war, wie in Klopstock, nordischer Geist verkörpert, doch von einer anderen Seite her, d. h. mehr obersächsisch-preußischer, und ebenso der Geist der Aufklärung, der mit dem jüdischen in innerer Verwandtschaft stand. Lessing, ob auch mit etwas veralteter Gelehrsamkeit beladen, sprang von einem Gebiet auf das andere, auf keinem lange verweilend, auf jedem in dialektischer und polemischer Kunst des Sieges über die Gegner sicher. Er bedurfte solcher Gegner, um seine Kraft zu zeigen, und gewährte sich gern in paradoxer Sophistik den Genuß seiner Überlegenheit. Welches seine eigentliche Überzeugung war, und ob er sich eine solche gebildet hatte, ist oft schwer zu erkennen: wer seine Äußerungen dogmatisch nimmt, könnte sich leicht täuschen, da sie vielleicht nur gymnastisch gemeint, d. h. nichts als Fechterstreiche waren. Wenn er sich gegen Jacobi als Spinozisten bekannte, so war auch dies wohl nur Geistesspiel – denn sonst wäre sein langer Umgang mit Moses Mendelssohn und den andern Freunden nur eine fortgesetzte Heuchelei gewesen. Wie alle Aufklärung, bewegte sich auch Lessing in natur- und geschichtslosen Begriffen. Die Natur ging ihn nichts an, der Frühling hätte ihn ergötzt, wenn er einmal rot statt grün gefärbt gewesen wäre, durch Italien reiste er halb als Buchgelehrter, halb als Gesellschafter, ohne tiefere Eindrücke zu erfahren; in der Geschichte fand er nicht eine immanente Selbstentwicklung oder Selbstoffenbarung der Idee, sondern eine Erziehung des Menschengeschlechts, also bewußte Absicht, das Tun eines außerhalb stehenden Pädagogen, der die Schritte des Kindes am Gängelbande leitet. Auch in der Emilia herrscht ein unhistorischer Sinn und Geist: Der Verfasser hat sich nicht gescheut, einen harten altrömischen Stoff an einen modernen Hof zu versetzen, also die Zeitalter, die Völker als wesentlich gleich zu behandeln: die Handlung erwächst nicht aus dem Boden, der sie trägt, ist also nicht historisch angeschaut und dient daneben noch den Zwecken des damaligen politischen Liberalismus; die Personen mit ihrem epigrammatischen, lakonischen, präzisen Dialog beschäftigen Zug um Zug unsern Verstand, erzwingen aber nicht durch unmittelbare Beseelung den Glauben an ihr Dasein. Und wie zwar nicht der schaffende Genius, wohl aber der Rechner, und wäre es der scharfsinnigste, über die vielen Zahlen einen Posten vergißt, dessen Weglassung alle seine Ansätze umwirft, so auch Lessing in der Emilia; er hat die Liebe Emiliens zum Prinzen nicht ausgeführt, ja kaum angedeutet, und so der letzten schrecklichen, unnatürlichen Tat (daß ein Vater seine eigene Tochter ermordet), die vor allem motiviert werden mußte, ihren eigentlichen Grund genommen – wie schon Goethe gerügt hat. Auch in Nathan dem Weisen öffnet sich uns nicht das Bild des Orients und der Kreuzzüge, der verschiedenen Rassen und Religionen mit ihren Farben, sondern der Deismus kämpft gegen den Kirchenglauben, die Toleranz gegen den Fanatismus: die Personen sind Vertreter eng- und weitherziger Ansichten des 18. Jahrhunderts, und die ersteren werden in Zwiegesprächen widerlegt; daß die letzteren gerade einem Juden in den Mund gelegt sind, lag im Thema und in den Verhältnissen der damaligen Zeit. Auch die Verse, in denen das Stück diesmal abgefaßt ist, können es nicht in eine poetische Sphäre heben: sie sind spröde, ohne rhythmischen Fluß, um nichts bemüht als um treffenden Beweis, scharfe Unterscheidung und feine Rede und Widerrede. Nicht als Dichter also hat Lessing reformatorisch gewirkt, sein unsterbliches Verdienst erwarb er sich durch die gewandte Kühnheit, mit der er in Leben und Schriften den Pedantismus der Gelehrtenwelt brach oder doch erschütterte. In der eigentlichen kritischen Theorie gelangte er, anders als seine Berliner und Leipziger Genossen, oft bis an die Grenze, wo das Reich der Natur und der Phantasie beginnt, aber nur in leichten Streifzügen, gelegentlich, nicht bleibend (daß alle Kunst und Poesie auf Besserung und Belehrung hinarbeiten soll, von dieser Vorstellung hat er sich nie ganz befreit), und als es leibhaftig vor seinen Augen aufzusteigen begann, da wandte er sein Antlitz widerwillig, ja erbittert ab. Um manchen Schritt näher trat Herder dieser neuen Welt, ja er half mit, sie zu entdecken, aber ganz in ihr zu wohnen, war auch diesem Sohn des äußersten Nordens nicht gegeben. Auch Herder war keine harmonische Natur, sondern eigenwillig und ungleich, bald weich und freundlich, bald herzlos und ungerecht, von mehr dialektischem als konstruktivem Geiste, wie Goethe von ihm sagt; aus seinen kleinen Dichtungen spricht oft ein edler Gedanke, aber die Phantasie bringt es nur bis zu allegorischer Einkleidung, und den harten Versen geht alle musikalische Melodik ab (»mir fehlt das schöne Runde«, bekennt er selbst gegen Merck). Daß er Goethes Jugendlehrer gewesen, wollen wir ihm nicht vergessen, aber der Zögling hat ihm das Empfangene später reichlich wiedererstattet. Wenn aus dem Theologus in Bückeburg ein Humanus in Weimar wurde und dieser sich in Werken wie die »Ideen« und die »Gespräche über Gott« aussprach, so geschah beides, wie wir überzeugt sind, nicht ohne Goethes Einfluß – der denn auch diese Schriften, in denen er sich selbst wiederfand, mit Entzücken aufnahm. Ja, Herder selbst äußerte sich ähnlich gegen Schiller (im Juli 1787, da Goethe in Italien war), und dieser meldet seinem Freunde Körner, Herder hänge mit Leidenschaft, mit einer Art Vergötterung an Goethe und gestehe, daß dieser viel auf seine Bildung gewirkt habe. Aber im letzten Dezennium seines Lebens war er wieder ein anderer geworden: da setzte er schmälernd alles herab, was von Schiller und Goethe kam, sah das goldene Alter der deutschen Literatur als vergangen an und hielt sich wieder zu Klopstocks Oden, als dem Höchsten, was deutsche Poesie hervorgebracht. – Derselbe Gegensatz der Stammes- und Landesart, wie in der Literatur überhaupt, zeigte sich später in der Philosophie. Herders nächster Landsmann, Immanuel Kant, wandte die Untersuchung auf das erkennende Subjekt selbst, und diese Kritik ergab, daß alle Form der Wahrheit von eben dem Subjekte zur Erfahrung hinzugebracht werde, das Ding an sich aber, als undurchdringlich, auf ewig sich verberge; den Verlust der Welt ersetzte er durch schroffe ethische Abstraktion, das kategorische Gebot, die praktische Vernunft. Dies Prinzip der Freiheit führte sein Nachfolger Fichte, der tapfere, auf sich selbst gegründete Mann, zur äußersten Konsequenz. Das Ich schafft sich ewig eine Welt toter Objekte, um in absoluter Aktuosität diese selbstgesetzten Schranken ewig zu überwinden und so sich selbst zu besitzen und zu behaupten. Beide Philosophen ergriffen das Wesen in dem Kampf und in der Tat; wenn sie bisweilen, ohne es recht zu wollen oder zu wissen, in die Nähe des Landes gerieten, wo die Versöhnung der Gegensätze gelingt (der eine in der Kritik der Urteilskraft, der andere in den späteren Werken), so blieben sie doch bald bedenklich stehen: denn freilich – ohne sich selbst aufzugeben, konnten sie keinen Schritt hinübertun. Erst als zwei Denker aus dem Süden kamen, Schilling und Hegel, und eine objektive Vernunft, die Einheit des Idealen und Realen oder des Denkens und Seins verkündigten, da öffnete sich ein unermeßlicher Reichtum vor den trunkenen Blicken, die wiedergewonnene Heimat des Geistes – und vor der Wärme dieses neuaufgegangenen Frühlings schmolzen die starren, hartnäckigen Trennungen des abstrahierenden Verstandes und der dualistischen Moral.

Schon ein Menschenalter zuvor war zwar auch Winckelmann, ein antiker, von der Idee, nicht vom Verstande beherrschter Geist, aus dem Norden hervorgegangen, aber, sozusagen, durch die Macht des Gegensatzes, der ja auch fruchtbar sein kann und uns auch sonst wohl in der Geschichte überrascht. Wie Tycho, der Beobachter der Sterne, in dem Nebellande Dänemark geboren war, wie uns die Insel Island, auf der in Pelz gehüllte Menschen ohne Form und Umriß umhergehen, den großen Bildner Thorwaldsen sandte – so war Winckelmann ein Sohn der Mark. Unablässig ringend streifte er endlich die Bande ab, in die er durch seine Geburt geschlagen worden: gerade die trostlose Umgebung preßte das innere Feuer zusammen und machte es unwiderstehlich; hätte es nach außen mehr Nahrung gefunden, es wäre vielleicht allmählich in sich erloschen. Aber die Mark Brandenburg war kein Land der selbstlosen Anschauung oder des träumerischen Genusses. Der karge Boden verführte nicht zur Üppigkeit, aber er stählte den Willen und richtete den Sinn auf das Wesentliche. Die Form war dürftig, sie auszubilden keine Zeit. Diese enthaltsamen, in Entbehrung und Gehorsam aufgewachsenen Menschen durften einander nicht gewähren lassen oder in schönem Schein ihren Geist verbrauchen; wo kein Überfluß war, da war Wachsamkeit geboten und jede Versäumnis verderblich. So herrschte die gleiche Regel und der richtige Verstand, die strenge Manneszucht, die unerbittliche Pflicht. Besonders in zwei organischen Gebilden tat sich die Eigenschaft dieses Staates kund, in dem Heere und in der Verwaltung. Organisch nennen wir diese beiden Mechanismen, weil sie aus der besonderen physischen Natur des Landes und der besonderen, durch den geschichtlichen Verlauf genährten Sinnesart seiner Bewohner hervorgegangen waren. Sie wurden erst bespöttelt und verachtet, hin und wieder angestaunt, zuletzt und bis aus die Gegenwart bitter gehaßt, dennoch wiederum nachgeahmt, so in der Zeit Friedrichs des Großen, nach dem Siebenjährigen Kriege, und abermals in der allerneuesten Zeit – ließen sich aber nirgends verpflanzen und verkümmerten auf jedem andern Boden, etwa wie der Parlamentarismus außerhalb Englands nirgends gedeihen wollte und die Völker, die ihn annahmen, nur zerrüttete. Die kluge und harte Verwaltung war das Gegen- und Ebenbild des Heeres und ergänzte sich vielfach aus diesem, das Heer selbst aber stellte die auf den Krieg übertragenen ländlichen Verhältnisse dar: was dort der Edelmann, der Schulze und die Bauern gewesen, wurde hier der Offizier, der Feldwebel und die Mannschaft, und die Tüchtigkeit der Zietenschen Husaren stammte aus der Leidenschaft für die Jagd, mit der der Junker zu Pferde, begleitet von seinen Leuten und Hunden, durch Moore und Wälder das Wild verfolgt hatte. Der märkische Adel gab gern in Schlachten sein Blut hin, Reichtum konnte er dabei nicht sammeln, es weit und hoch bringen in den allermeisten Fällen auch nicht; dennoch erzog und bestimmte er seine Söhne wiederum für das Königliche Heer, und die dort gewonnene gebieterische, verläßliche, gediegene Haltung bewährte er auch in bürgerlichen Ämtern. Über allem aber, übergreifend und doch nahe, schwebte des Königs Majestät und hielt alle Stufen und Unterschiede zu einem einigen Individuum zusammen. Einst hatte der werdende Absolutismus den trotzigen Adel der Mark und die widerspenstigen Städte mit eiserner Strenge bändigen müssen, jetzt gelobte der Kleine wie der Große dem, der nicht bloß der Kriegsherr, sondern das Vaterland in Person war, im innersten Herzen unverbrüchliche Treue. Alle diese kernhaften Eigenschaften verbürgten dem Staate, in dem sie heimisch waren, Dauer und Größe – einen Dichtergenius, ein geistig und sinnlich allseitig ausgestattetes, in sich vollendetes Menschenbild konnten die Marken nicht hervorbringen – und auch Pommern und Preußen konnten es nicht und ebensowenig Bremen und Verden oder die mecklenburgischen Lande oder Holstein oder die übrige nähere und fernere Umgebung. Im Süden war auch das schöne Österreich als unfruchtbar ausgeschlossen, so wie das Hochstift Salzburg und das Kurland Bayern – nicht wegen der ursprünglichen Anlage der Bewohner, sondern weil ein blutig und fanatisch restauriertes Priestertum und die Erziehung des Jesuitismus ihre einst reiche Kraft ertötet und sie der öden Glaubenseinheit und damit einer gedankenlosen Sinnlichkeit preisgegeben hatten.

Im sogenannten Reich aber herrschte Individualität. Hatte der preußische Staat über die nordische Ebene seine uniformen Linien gezogen, die keiner überschreiten durfte, so wechselten dort Berg und Tal, Weizen und Wein, kleine und große Herrschaften, weltliche Gebiete und geistliche Stifter, reichsunmittelbare Ritter und Städte, Münzen von verschiedenem Korn und Gepräge, neue und alte Rechte und Gewohnheiten in bunter Mannigfaltigkeit. Nirgends gemessene Absicht, überall verschlungenes und verworrenes Wachstum. Die schöne Zeit des ausgehenden Mittelalters und beginnenden sechzehnten Jahrhunderts war hier noch in zahlreichen Denkmälern, wohlerhaltenen und halbzerstörten, in Fresken und Teppichen und kunstreichem Silbergerät, in vielen Einrichtungen, in Sitten und Sprichwörtern lebendig. Dazwischen machte sich auch die neue Geistesfreiheit geltend, aber harmlos und unbefangen, bald mehr, bald minder, in den verschiedensten Stufen, und wer etwa Verfolgung zu fürchten hatte, der fand bald in einem Nachbarländchen auf einem Adels- oder Grafenschlosse, wo Candide und die Pücelle gelesen wurde, ja selbst am Hofe eines aufgeklärten Kirchenfürsten willkommene Zuflucht und sympathischen Empfang. Auch der Landstreicher entzog sich so den Behörden und ihren wohlweisen Geboten und Verboten, ebenso der Abenteurer und Schauspieler und lustige Musikant, der Jäger auf fremdem Grunde, der Quacksalber mit Tränken und Kräutern, der die Welt suchende Jüngling; die Grenze war überall nahe und die Polizei ungeschickt und ebenso gemütlich wie die übrigen Menschen – man lese in Buch I, Kapitel 13 des Wilhelm Meister die treffende Schilderung ihrer Organe, des Amtmanns, Aktuarius usw., sowie des mehr lächerlichen als fürchterlichen Soldatenwesens. Der Beamtenstand lebte in lässiger Fröhlichkeit dahin, und unter den Ämtern gab es manche Sinekuren, deren Inhaber der Not überhoben waren und Muße hatten, sich persönlich und menschlich auszubilden. Der Bürgersmann war nur halb bei der Arbeit und viel im Wirtshause, und auch der Fleißige nahm sich Zeit und schaffte gemächlich an dem aufgegebenen Werk, Bauer und Pfaffe tanzten und schmauchten, schrien und stampften an Kirmeßfesten; der Wein und seine heitere, mitunter auch wohl tragische Torheit beherrschte das Leben. Verglichen mit dem schweigsamen, despotisch regierten Staate Friedrichs des Großen, wohnte hier eine lachende, plaudernde, gesellige Bevölkerung, in deren Haltung und Benehmen für den, der einen weiten Blick hatte, noch immer die altkeltische und altrömische Herkunft sich verriet. Denn Art läßt nicht von Art, wie das Sprichwort sagt, und das Erbe der Ahnen geht ohne unser Wissen und Zutun, eine Weile verborgen, dann wieder hervortretend, durch viele Geschlechter. Flachsköpfe fanden sich hier selten, braunes, ja dunkles Haar war das Gewöhnliche, aus den Augen sprach mehr die leicht erregte Einbildung, als der abwägende Verstand. Das Kinder- und Familienfest des Christbaumes war wenig bekannt, die Kartoffel nicht die Lieblingsfrucht, der Tee nur eine Art Arzenei bei Krankheiten, das Haus nicht so blank gescheuert, Frauen und Mädchen nicht so ängstlich ehrbar und züchtig, sondern leichter geschürzt; niemand dachte mit Stolz an Hermann den Cherusker und den Teutoburger Wald und an die angeblichen Barden und die angebliche Keuschheit jener Zeiten, wohl aber fand jeder seine Freude an dem fröhlichen Herbst, an Feuerwerk, in katholischen Landen an Umgängen mit Fahnen und Lichtern, an Vermummung und bei dieser an den mitunterlaufenden Neckereien und losen Streichen. Das erfuhr der nachmalige Theaterdirektor Serlo, da er als umherstreifender Possenspieler ins nördliche Deutschland verschlagen wurde, Wilhelm Meister 4, 18: »Er kam in den gebildeten, aber auch bildlosen Teil von Deutschland, wo es zur Verehrung des Guten und Schönen zwar nicht an Wahrheit, aber oft an Geist gebricht: er konnte mit seinen Masken nichts mehr ausrichten; er mußte suchen, auf Herz und Gemüt zu wirken.« Bildung und Wissen war in der Tat hier geringer als im Norden, die literarischen Streitigkeiten, die drei Einheiten des Dramas keine Angelegenheit des Publikums; die junge Welt wurde nicht nach der Mechanik philologischer Methode in Gymnasien und Fürstenschulen erzogen; es gab keinen Unterricht im Deutschen, und so schwätzte alt und jung in einer Sprache, deren konkreten Reichtum der Gelehrte beneiden mußte, meist in oberdeutscher Mundart, in Worten und Wendungen, wie sie von den Vätern überkommen und vom Gefühl unmittelbar eingegeben waren. Neugierig und redselig liefen die Leute gern einander in die Häuser, um zu erzählen und zu erfahren, was vorgefallen, und Spazierengehen war die allgemeine Leidenschaft; so hatte der Pfarrer in Hermann und Dorothea auf den Wegen um Straßburg den Wagen gelenkt

»mitten durch Scharen des Volks, das von Spazieren den Tag lebt«,

und so heißt es auch in Wahrheit und Dichtung, Buch 9: »Die Straßburger sind leidenschaftliche Spaziergänger, und sie haben wohl Recht, es zu sein. Man mag seine Schritte hinwenden, wohin man will, so findet man teils natürliche, teils in alten und neuern Zeiten künstlich angelegte Lustörter, einen wie den andern besucht und von einem heitern, lustigen Völkchen genossen«, und in der Rezension von Arnolds Pfingstmontag wird den Menschen dort »das grenzenlose Spazierengehen, das Durcheinanderrennen der Familienglieder aus einem Hause ins andere und die dadurch bewirkte augenblickliche Teilnahme in Freud und Leid« halb tadelnd, halb lobend vorgehalten. Dem Kaiser, obgleich man ihn selten sah, trug alles ein warmes Herz voll Ehrfurcht entgegen; Friedrich der Große wurde von vielen bewundert; jedoch nur als einzelner, als Held; sein Land Preußen war zu fern und zu fremd, und die Art, wie es dort herging, erregte seit Friedrich Wilhelm des Ersten Regimente nur Schauder, der dann durch fabelhafte Erzählungen noch verstärkt wurde. Nicht verhaßt, sondern eher beliebt waren dagegen die französischen Nachbaren, und der Spruch des lustigen Gesellen in Auerbachs Keller: »Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden« – galt nicht für diese Gegenden. Paris war dort im Gegenteil der Zentralkörper, von dem das Licht ausging, und dessen Anziehung fühlbar war: wer die Sitten einer Stadt loben wollte, der sagte, es ist ein »Klein-Paris«, und noch der Richter in Hermann und Dorothea nennt Paris »die Hauptstadt der Welt«,

die es schon so lange gewesen,
Und jetzt mehr als je den herrlichen Namen verdiente.

Der Verkehr mit Frankreich hatte sich hier immer lebhaft erhalten; »Kleidung und Betragen der Einwohner (von Zweibrücken), besonders der Frauen und Mädchen, deutete auf ein Verhältnis in die Ferne und machte den Bezug auf Paris anschaulich, dem alles Überrheinische seit geraumer Zeit sich nicht entziehen konnte« (Wahrheit und Dichtung, Buch 10). Die Häuser in den Städten zeigten französische Bauart (»Alles was Gutes dieser Art [in Frankfurt] sich befindet, ist aus Frankreich hergenommen«, aus einer Reise in die Schweiz, 18. August 1797), und die französische Revolution fand lauten Widerhall, ja Nachahmung (ebenda, 19. August). Die darauffolgende Herrschaft Napoleons ward nicht als unerträgliches Joch empfunden: die Untertanen der Fürsten des Rheinbundes klagten wohl im stillen über die ewigen Kriege und die vielen Opfer an Gut und Blut, freuten sich aber der neuen Gesetze und des leichteren Verkehrs und Erwerbes und hätten noch lange so fortgelebt und sich mit der herrschenden Nation, deren joviales Temperament dem ihrigen glich, in Zufriedenheit abgefunden – wenn nicht, ehe die neue Gestalt der Dinge sich befestigen konnte, die Empörung von Nordosten das Reich des Fremden umgeworfen und auch ihnen ein anderes Schicksal bereitet hätte.

Daß nun Menschen dieser Art, in diesem Zustande, das sichtlich dem Untergange geweihte deutsche Volk nicht retten konnten, erhellt von selbst: die Auflösung Deutschlands als solches zu verhüten, konnte allein dem härteren Geschlechte gelingen, das von der Elbe bis jenseits der Weichsel wohnte. Aber es wußte nur die Form, das Dasein zu bringen: der ersteren den humanen, idealen Inhalt zu geben, das letztere zu einem der ganzen Menschheit teuren, der Erhaltung würdigen zu machen – dies war die Bestimmung des Südens und Westens. Beides aber, abwechselnd und zusammenwirkend, hat in trüben und heitern Tagen die deutsche Nation weitergeführt; wenn sie, wie in den Jahren 1806 bis 1813, dem sichern Tode verfallen schien, dann erhielt sie sich als Ganzes durch den gemeinsamen Besitz ihrer hochdeutschen Sprache, ihrer unvergleichlichen Dichtung und der aus dieser hervorgegangenen Wissenschaft; und wenn diese allein ein zu flüchtiges Wesen war, sie dauernd zusammenzuhalten, dann trat der Krieger und Vogt des Nordens ein und gab ihr Bestand und Wirklichkeit. Preußen hat nach einem oft wiederholten Worte das Schicksal Polens von Deutschland abgewandt, die deutsche Literatur aber hat das deutsche Österreich zurückerobert und es wieder zu einem wesentlichen Gliede des geistigen und nationalen Organismus gemacht.

Goethe selbst – um endlich auf den Mann zu kommen, den wir bei allem Obigen im Sinne gehabt – fühlte sich immer als Kind seiner Heimat, als fremd im Norden. Wie fror es ihn in Thüringen, wie preist er den milden Himmel am Main und Rhein, die Fülle der Gaben, die Früchte, die Trauben! Zwar in der ersten Zeit seines Aufenthalts in Weimar, wo er sich aus der Enge bürgerlicher Begriffe und des Vaterhauses in eine freiere Welt, an den Hof, in Staatsgeschäfte versetzt sah, auch das Werk sittlicher Selbsterziehung schon begonnen hatte – da äußert sich das Unbehagen an dem rauheren, ärmeren Lande noch nicht alsogleich: der Jüngling spürt Wetter und Jahreszeit um sich nicht –

In meinen Adern welches Feuer,
In meinem Herzen welche Glut!

– ja es freut ihn, den Schauern der Nacht, dem Sturm, dem Regen zu begegnen (Wanderers Sturmlied, Rastlose Liebe) und in Entbehrungen und Mühsalen den Überdrang der Kräfte hinzugeben. Bald aber stört ihn das Mißverhältnis der Umgebung und seines Innern; er leidet unter der bleicheren Sonne, der grauen Aussicht, dem dürftigen Wachstum, und seine Klagen darüber werden immer häufiger, immer bitterer. Er fühlt sich in der Verbannung, und das Bild seines Vaterlandes, wie er es nennt, trägt fast idealische Farben. Als er, schon an der Schwelle des Greisenalters stehend, Wahrheit und Dichtung schrieb, nimmt seine Darstellung jedesmal, wenn er auf den Boden, auf dem er geboren und erzogen war, zu reden kommt, eine fühlbare Wärme an. Schon in den ersten Jugendjahren – berichtet er –, da er noch eingehüllt und halb ein Knabe in dem altklugen Leipzig wegen der unmittelbaren Naturfülle, die aus ihm sprach, verspottet wurde, ergriff ihn bei einem Besuch in Dresden ein Bild von Schwanefeld am meisten, »denn«, heißt es, »Landschaften, die mich an den schönen heitern Himmel, unter welchem ich herangewachsen, wieder erinnerten, die Pflanzenfülle jener Gegenden und was sonst für Gunst ein wärmeres Klima den Menschen gewährt, rührten mich in der Nachbildung am meisten, indem sie eine sehnsüchtige Erinnerung in mir aufregten«. Und weiter, da er erzählt, wie er aus Sachsen in das Elsaß versetzt worden – wie preist er »das herrliche Land, immer dasselbe und immer neu«! Er überschaut es gleich nach seiner Ankunft in Straßburg von der Plattform des Münsterturmes, er sieht es vom Odilienberge vor sich liegen, und das Gefühl, das ihn bei diesem Anblick bewegte, teilt noch der bejahrte Biograph nach so langer Zeit und sucht es in gelassenen Worten wiederzugeben. Und als nun die Liebe das junge Herz ergriff – wie empfand es doppelt die Gegenwart des Naturparadieses, das für die leichte Bemühung glücklicher Menschen wie bestimmt und vorbereitet schien! Er war erst einmal in Sesenheim gewesen, und schon meldet er unmittelbar darauf einer Freundin (D. j. G. I, 24): »Die Gesellschaft der liebenswürdigen Töchter vom Hause, die schöne Gegend und der freundlichste Himmel weckten in meinem Herzen jede schlafende Empfindung.« »Man durfte sich nur«, so führt dies Wahrheit und Dichtung weiter aus, »der Gegenwart hingeben, um diese Klarheit des reinen Himmels, diesen Glanz der reichen Erde, diese lauen Abende, diese warmen Nächte an der Seite der Geliebten oder in ihrer Nähe zu genießen. Monatelang beglückten uns reine ätherische Morgen, wo der Himmel sich in seiner ganzen Pracht wies, indem er die Erde mit überflüssigem Tau getränkt hatte; und damit dieses Schauspiel nicht zu einfach werde, türmten sich oft Wolken über die entfernten Berge, bald in dieser, bald in jener Gegend. Sie standen tage-, ja wochenlang, ohne den reinen Himmel zu trüben, und selbst die vorübergehenden Gewitter erquickten das Land und verherrlichten das Grün, das schon wieder im Sonnenschein glänzte, ehe es noch abtrocknen konnte. Der doppelte Regenbogen, zweifarbige Säume eines dunkelgrauen, beinahe schwarzen, himmlischen Bandstreifens waren herrlicher, farbiger, entschiedener, aber auch flüchtiger, als ich sie irgend beobachtet. Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust zu dichten, die ich lange nicht gefühlt hatte, wieder hervor.« Zu dieser Natur gesellte sich dann die reiche Geschichte des Landes, die überall aufsteigenden silbernen Gestalten der Vorwelt, zum Himmel strebende Türme, steinernes Bildwerk, halb im Boden verborgenes Gemäuer, bemooste Grabsteine, erloschene Inschriften, die bis zu den Jahrhunderten deutscher Macht und Herrlichkeit, von da bis zur römischen, ja bis zur keltischen Zeit hinaufgingen – worüber wir nur die eine von Schöpflin, dem Verfasser der Alsatia illustrata, handelnde Stelle anführen: »Er gehörte zu den glücklichen Menschen, welche Vergangenheit und Gegenwart zu vereinigen geneigt sind, die dem Lebensinteresse das historische Wissen anzuknüpfen verstehen. Im Badenschen geboren, in Basel und Straßburg erzogen, gehörte er dem paradiesischen Rheintal ganz eigentlich an, als einem ausgebreiteten, wohlgelegenen Vaterlande.« Wie Schöpflin, so war auch dem Dichter Johann Peter Hebel die gleiche Gunst zuteil geworden, Rezension der alemannischen Gedichte: »Er hält sich besonders in dem Landwinkel auf, den der bei Basel gegen Norden sich wendende Rhein macht. Heiterkeit des Himmels, Fruchtbarkeit der Erde, Mannigfaltigkeit der Gegend, Lebendigkeit des Wassers, Behaglichkeit der Menschen, Geschwätzigkeit und Darstellungsgabe, zudringliche Gesprächsformen, neckische Sprachweise, so viel steht ihm zu Gebot, um das, was ihm sein Talent eingibt, auszuführen.« Dichterischer aber und seelenvoller als alle obigen Aussagen, weil in frühere Zeit fallend, ist der Bericht von Frau v. Stein über ihres Freundes Wanderung unter der »väterlichen Sonne« und sein sich daran knüpfendes inneres Schicksal, 25. September 1779: »Eine glückliche Gegend, noch alles grün, kaum hie und da ein Buchen- oder Eichblatt gelb. Die Weiden noch in ihrer silbernen Schönheit, ein milder, willkommener Atem durchs ganze Land, Trauben mit jedem Schritt und Tage besser. Jedes Bauernhaus mit Reben bis unters Dach, jeder Hof mit einer großen vollhangenden Laube. Himmelsluft weich, warm, feuchtlich: man wird auch wie die Trauben reif und süß in der Seele. Wollte Gott, wir wohnten hier zusammen: mancher würde nicht so schnell im Winter einfrieren und im Sommer austrocknen. Der Rhein und die klaren Gebirge in der Nähe, die abwechselnden Wälder, Wiesen und gartenmäßigen Felder machen dem Menschen wohl und geben mir eine Art Behagens, das ich lange entbehre.« Den 28. September: »Ich kann nur zuerst die himmlischen Wolken preisen und verherrlichen, die bisher noch, wie ein Baldachin am Feiertage, über uns schwebten und sich als Freunde und Führer unseres Unternehmens bekannten.« »Da ich jetzt so rein und still bin wie die Luft, so ist mir der Atem guter und stiller Menschen sehr willkommen.« Zwei Jahre vorher, im November 1777, war ihm die Äußerung entschlüpft (in Weimar, nach zweijährigem Aufenthalt daselbst, an Frau v. Stein): »Hernach fand ich, daß es das Schicksal, da es mich hierher pflanzte, vollkommen gemacht hat, wie man's den Linden tut: man schneidet ihnen den Gipfel weg und alle schönen Äste, daß sie neuen Trieb kriegen, sonst sterben sie von oben herein. Freilich stehen sie die ersten Jahre wie Stangen da.« Und in der Tat, Faust und Egmont und die andern Zweige verdorrten und mit ihnen die Unbefangenheit der offenen Seele, die unbedachte Rede, die sorglose Torheit fröhlicher Jugend. Der neue Trieb brachte Iphigenie und die Hymnen und Elpenor und die Anfänge von Wilhelm Meister und von Tasso: der Dichter streift durch die rauhen Bergwälder, sitzt unter dem Schirm von Tannenreisern oder an der Felswand in tiefer Höhle, indes der Regen niederrieselt und die Täler dampfen, ersteigt den Brocken auf grundlosen Wegen, schwärmt auf der Wartburg im Nebel des Mondes und in der Frische der bewegten Lüfte – aber allmählich wendet er sich ab, und ihn überkommt immer tiefer die Sehnsucht nach der Gunst eines sommerlichen Himmels und einer weicheren Landschaft. Schon im April des Jahres 1780 schreibt er in sein Tagebuch: »Auch leid ich viel vom bösen Klima«, und das Jahr darauf an Merck: »Ich lebe in meinem Wesen fort, behelfe mich oft, und dann geht's wieder einmal. Das Klima ist abscheulich, und ich bin ein bestimmtes Barometer« Merck selbst dachte ebenso und forderte Wieland auf, er möge doch aus Weimar lieber nach Mannheim ziehen und dieses rauhe Land verlassen, »wo kein Wein wächst, das Wasser nichts taugt und Eurus und Boreas sich acht Monate vom Jahr so unnütz machen als möglich«., und ganz ähnlich an Frau v. Stein am 18. Januar 1781: »Da ich mit dem Wetter stimme und traurig bin, nehme ich alles von der ominösen Seite«, und am 28. März: »Wenn wir in einem besseren Klima wohnten, so wäre viel anders: ich bin das decidierteste Barometer, das existiert.« » Je me plains amèrement du climat tristement pauvre«, heißt es in einem seiner französischen Briefe vom Jahre 1784 aus Braunschweig. Im November des folgenden Jahres reitet er nach Gotha, um ein Bild zu sehen, das Tischbein in Rom gemalt hat, und fügt hinzu: »Der Anblick dieses jenseits der Alpen gefertigten Werkes wird mich auch auf den thüringischen Winter stärken helfen.« Er bedauert im Januar 1786 seine Operette Scherz, List und Rache, »wie man ein Kind bedauern kann, das von einem Negerweib in der Sklaverei geboren werden soll. Unter diesem ehernen Himmel!« Dafür, als er noch im Herbst desselben Jahres dem Süden zueilt, welch tiefempfundene Seligkeit verbirgt sich unter den zurückhaltenden Worten seiner Aufzeichnungen und Briefe! Kaum von Karlsbad fort, erinnert er sich in Eger, daß dieser Ort dieselbe Polhöhe habe wie seine Vaterstadt, und es freut ihn, wieder einmal bei klarem Himmel unter dem fünfzigsten Grade zu Mittag zu essen. Dann in Tirol bekennt er, seine Reise sei nur eine Flucht gewesen vor allen den Unbilden, die er unter dem einundfünfzigsten Grade erlitten. Noch ist er nicht über die italienische Grenze, und schon ruft er: »Alles hat hier schon mehr Kraft und Leben, die Sonne scheint heiß, und man glaubt wieder einmal an einen Gott.« »Und nun, wenn es Abend wird, bei der milden Luft wenige Wolken an den Bergen ruhen, am Himmel mehr stehen als ziehen und gleich nach Sonnenuntergang das Geschrille der Heuschrecken laut zu werden anfängt, da fühlt man sich doch einmal in der Welt zu Hause und nicht wie geborgt oder im Exil. Ich lasse mir's gefallen, als wenn ich hier geboren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandsfahrt, von einem Walfischfange zurückkäme. Auch der vaterländische Staub, der manchmal den Wagen umwirbelt, von dem ich so lange nichts erfahren habe, wird begrüßt« W. O. D. Allleben.
Staub, den hab' ich längst entbehret
In dem stets umhüllten Norden,
Aber in dem heißen Süden
Ist er mir genugsam worden.
. »Wenn mein Entzücken hierüber jemand vernähme, der im Süden wohnte, vom Süden herkäme, er würde mich für sehr kindisch halten. Ach, was ich hier ausdrücke, habe ich lange gewußt, so lange, als ich unter einem bösen Himmel dulde! Und jetzt mag ich gern diese Freude als Ausnahme fühlen, die wir als eine ewige Naturnotwendigkeit immerfort genießen sollten.« Auf dem Verdeck des Schiffes zwischen Venedig und Ferrara, 16. Oktober 1786: »Ich bin nun in den fünfundvierzigsten Grad wirklich eingetreten und wiederhole mein altes Lied: dem Landesbewohner wollt ich alles lassen, wenn ich nur, wie Dido, so viel Klima mit Riemen umspannen könnte, um unsere Wohnungen damit einzufassen. Es ist denn doch ein ander Sein!« Auch Faust und Mephistopheles zogen in den Süden, und vielleicht bezieht sich der schöne Vers in den Paralipomenen auf diese Reise des Dichters selbst, denn jung war er noch, viel jünger als zur Zeit der klassischen Walpurgisnacht:

Warmes Lüftchen, weh' heran,
Wehe uns entgegen,
Denn du hast uns wohlgetan
Auf den Jugendwegen –

und aus Rom selbst schreibt er ähnlich, den 6. September 1787: »Alles geht mir leicht von der Hand und manchmal kommt ein Hauch der Jugendzeit mich anzuwehen.« Nach der Rückkehr aus Italien beginnt sogleich das alte Wehe von neuem. »Der trübe Himmel verschlingt alle Farben«, äußert er schon im Juli, und bald darauf im August: »Ich fürchte mich dergestalt für Himmel und Erde, daß ich schwerlich zu dir kommen kann. Die Witterung macht mich ganz unglücklich.« Zu derselben Zeit schreibt er an Herder nach Italien: »Das Wetter ist immer sehr betrübt und ertötet meinen Geist; wenn das Barometer tief steht und die Landschaft keine Farben hat – wie kann man leben?«, und gleich darauf: »Übrigens drücken wir uns unter dem cimmerischen Himmel, der unglaublich auf mich lastet. Alles wollte ich gern übertragen, wenn es nur immer heiter wäre Auch Schiller, der in dem Stolze des Denkers sich der Natur mehr gegenüberhielt, als sich ihr hingab, schreibt doch an Lotte: »Daß wir doch auf diesen schlechten Teil des Globus verbannt sind, wenn andere, die es nicht wert sind, unter einem schönen lachenden Himmel leben! Es tut mir oft so wehe, daß mir und meinen Freunden, deren schöne Seele sich unter einem lieblicheren Klima so viel reicher und schöner entfaltet haben würde, ein so schlechtes Los gefallen ist. Man kommt nur einmal auf die Erde und soll gerade mit dem dürftigsten Platz auf ihr vorliebnehmen! Und später: »In Mannheim würde ich Euch auch recht gern sehen, es ist ein lieblicher Himmel und eine freundlichere Erde – die ich alsdann erst mit Freuden betreten würde.« Anders empfanden die Nordländer Klopstock und Claudius: der erstere spürte nichts von der Anziehungskraft Karlsruhes und Rastatts und kehrte dem gütigen Markgrafen Karl Friedrich von Baden-Durlach ohne Abschied den Rücken, der andere war glücklich, da er Darmstadt und die dortige zu »feine Luft« wieder verlassen und sich in Wandsbeck mit seinem Bauernmädchen in der gewohnten kleinen Umgebung einrichten und, wenn es Sommer war, unter Stachelbeersträuchern im Grase wälzen oder im Winter Schlittschuh laufen konnte..« Noch im folgenden Sommer, wo in seinem Hause schon die antik-heitere Stimmung herrschte, die in den Römischen Elegien ihren Ausdruck fand, kann er in dem letzten seiner Briefe an die frühere Geliebte die alte Klage nicht unterdrücken: »Ich hoffe in meiner hiesigen Lage auszuhalten, obgleich das Klima schon wieder mich angreift und mich früher oder später zu manchem Guten untüchtig machen wird.« Allbekannt ist die Stelle aus den eben genannten Römischen Elegien:

Oh, wie fühl ich in Rom mich so froh, gedenk ich der Zeiten
Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
Trübe der Himmel und schwer auf meine Scheitel sich senkte,
Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag usw.,

weniger die ähnliche aus der Metamorphose der Pflanzen, Schicksal der Handschrift: »Aus Italien, dem formreichen, war ich in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heitern Himmel mit einem düstern zu vertauschen; die Freunde, statt mich zu trösten und wieder an sich zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung« (statt Freunde lies: Frau v. Stein, und statt Deutschland: Herzogtum Weimar-Eisenach). Noch viel weniger konnte es ihn locken, noch weiter nach Norden, in die Gegend von Eutin, zu ziehen, unter »einen Himmelsstrich, wo die Alten kaum noch Lebendes vermuten« (Rezension der Gedichte von Voß), oder die »Scheu vor den Sumpf- und Wassernestern« bei Hamburg zu überwinden (an Jacobi, 12. Juni 1796) und seine menschliche und dichterische Freiheit von konventioneller Sittlichkeit beschränken zu lassen (Annalen 1795), oder das Harzgebirge dem schönen Heidelberg vorzuziehen (aus einer Reise in die Schweiz, 26. August 1797: »Doch ich kehre vom rauhen Harz in diese heitere Gegend – nach Heidelberg – gern und geschwind zurück«), oder endlich die sandige Mark zu betreten, wo alles, was vegetieret, schon getrocknet aufkeimt. Zwar auf der zweiten italienischen Reise 1790 sieht er mit Mißmut auf alles Italienische und sehnt sich von da weg, nach Hause – aber der Grund ist leicht zu erraten: er hat der einzigen Freude des Lebens den Rücken gewandt, die Geliebte ist daheim geblieben, sein Geist ruht ihr im Schoß, und nur der Körper ist auf Reisen (s. das dritte und vierte venetianische Epigramm). Und an den Herzog schrieb er damals, 3. April 1790: »Übrigens muß ich im Vertrauen gestehen, daß meiner Liebe für Italien durch diese Reise ein tödlicher Stoß versetzt wird. Nicht, daß mir's in irgendeinem Sinne übel ergangen wäre, wie wollt es auch? Aber die erste Blüte der Neigung und Neugierde ist abgefallen, und ich bin doch auf oder ab ein wenig Schmelfungischer geworden Smelfungus und Mundungus sind die beiden alles tadelnden, mit allem unzufriedenen Touristen in Yoricks Empfindsamer Reise..« Einige Jahre später aber plante er eine dritte Reise nach Italien, die durch den Krieg verhindert wurde, und schrieb bald darauf nach Betrachtung eines Bildes von Angelika Kauffmann der Künstlerin nach Rom: »Wie sonderbar erschienen diese lebendigen himmlischen Gestalten (Amor und Psyche) in den formlosen nordischen Schneeflächen«, und noch 1803 mit derbem Ausdruck an Schiller, 17. November: »Wenn ich mit Fernow spreche, so ist mir's immer, als käme ich erst von Rom und fühle mich zu eigener Beschämung vornehmer als in der so viele Jahre nun geduldeten Niedertracht nordischer Umgebung, der man sich auch mehr oder weniger assimiliert«. Besonders aber, daß die Traube in Thüringen und nordwärts davon nicht mehr reift, stimmt ihn von jeher mißmutig. » Que de raisins ne t'enverrais-je pas si nous étions sur les bords du Mein«, schreibt er im September 1784 aus Braunschweig. Im Oktober 1792 aus den Unbilden des französischen Feldzuges heimkehrend, freut er sich, bei dem alten Trier, dem Sitz des gesegneten Erzstiftes, und sonst im Tal der Mosel wieder Weinberge zu sehen: sie erweckten in ihm ein »Gefühl von Wohlfahrt und Behagen, welches in den Weinländern in der Luft zu schweben scheint«. Noch im Jahre 1814 brachte der bereits 65jährige Greis aus dem Rheingau den anmutigen Aufsatz Sankt-Rochusfest in Bingen mit, wo das Lob des Weines nicht vergessen ist. Und dann das Fest der Traubenlese im Herbst, das schon die alten Dichter und Künstler sooft geschildert haben, unter ihnen der Vater Homerus, der es, zugleich ein Sänger und ein Bildner, auf dem Schilde des Achilleus dargestellt schaute – der bacchische Taumel, die stampfende Lust, Messer und Körbe, Knaben und Mädchen, die Zither und der Kranz – auch die den antiken Chören und Masken, dem Thyrsos und der Pauke von den Neuern hinzugefügten Spiele für Aug' und Ohr, das Feuerwerk die dunklen späten Abende hindurch, die gen Himmel fahrenden Garben, die dröhnenden Mörser und knallenden Büchsen in Nähe und Ferne – dies schönste aller Feste blieb dem Dichter auch im vorgerückten Alter immer gegenwärtig. So schwebt es der Mutter in Hermann und Dorothea vor:

Also schritt sie hinauf, sich schon des Herbstes erfreuend,
Und des festlichen Tags, an dem die Gegend in Jubel
Trauben lieset und tritt und den Most in die Fässer versammelt,
Feuerwerke des Abends von allen Orten und Enden
Leuchten und knallen und so der Ernten schönste geehrt wird –

und so auch in Wahrheit und Dichtung (gegen Ende des 4. Buches): »Nach mancherlei Früchten des Sommers und Herbstes war aber doch zuletzt die Weinlese das Lustigste und am meisten Erwünschte; ja es ist keine Frage, daß, wie der Wein selbst den Orten und Gegenden, wo er wächst und getrunken wird, einen freieren Charakter gibt, so auch diese Tage der Weinlese, indem sie den Sommer schließen und zugleich den Winter eröffnen, eine unglaubliche Heiterkeit verbreiten. Lust und Jubel erstreckt sich über eine ganze Gegend. Des Tages hört man von allen Ecken und Enden Jauchzen und Schießen, und des Nachts verkünden bald da, bald dort Raketen und Leuchtkugeln, daß man noch überall wach und munter diese Feier gern so lange als möglich ausdehnen möchte.« Auch Erntefeste mit ihrem goldenen Segen sind poetisch und auch durch den Mythus geheiligt, aber sie verhalten sich zur Traubenlese wie das Brot, das sättigt, zu dem Wein, der begeistert. Wenn sich Johann Heinrich Voß durch die nützliche Frucht der Kartoffel, aus der ein starker Spiritus gebrannt wird, und die auch zur Mast der Schweine dient, zu einem Ernteliede und andern gemütlichen Reimen begeistern ließ, so erkennen wir darin seine Heimat und die Art Poesie, die auf diesem Boden und unter der Hand dieser treuen, kräftigen und verständigen Menschen möglich ist und gedeiht.

Wie die Rebenzucht an die Mosel und in die Pfalz durch die Römer, in den Rheingau wohl erst aus dem Frankenreiche gekommen war, so ist auch dem Dichter, dem Kinde jener Gegend und dankbaren Empfänger ihrer Gaben, eine nachsichtige Vorliebe für die romanischen Nachbarn angeboren. Der Haß gegen welsche alamodische Zierlichkeit und gallische Friseure und Tanzmeister, wie er von alters her bei den Niedersachsen herrschte, der Abscheu vor italienischem Schmutz und Ungeziefer, wie ihn der Amsterdamer oder Hamburger Handelsherr empfand, wenn ihn sein Schiff nach Genua oder Livorno brachte – beides ist ihm unbekannt. Er ertrug die napoleonische Herrschaft nicht unwilliger als seine Landsleute von Köln bis Basel, die dem Kaiser zujubelten, und das Befreiungsjahr 1813 erregte ihn nicht lebhafter als die Deutschen im Süden vom Inn bis zur Isar und von da bis zum Neckar, die sich erst verwunderten, dann wirklich ins Feld rückten, aber weniger aus Herzenstrieb als um des Vorteils willen. Den Truppen des Rheinbundes, also Deutschen aus Süd und West, kostete es nichts, im Jahre 1813 Lützows Freischar verräterisch zu überfallen und sie fast aufzureiben. »Wie hätte ich,« sagte Goethe zu Eckermann, »ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation (die französische) hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört, und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte.« Ganz ähnlich hatte schon Wilhelm Meister, 5, 16, ausgerufen: »Wie kann man der französischen Sprache feind sein, der man den größten Teil seiner Bildung schuldig ist, und der wir noch viel schuldig werden müssen, ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann.« Als A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Literatur das Werk Lessings fortsetzte und auch Molière bei der Messung zu klein fand, da verdroß es Goethe lebhaft, und er äußert sich wiederholt mit Unwillen über den seinem Lieblingsdichter widerfahrenen Unglimpf. Und wie läßt er seinen Wilhelm Meister (Buch 3, Kapitel 8) Racines große Eigenschaften und würdige Umgebung preisen! Auch in Voltaire sah er nicht die Verkörperung des Bösen oder den Erbfeind alles Edlen und Heiligen: er genoß ihn und staunte ihn an, wenn er auch sein eigenes Dichtergemüt in ihm nicht wiederfand. Ebensowenig erschien ihm der Papismus so hassenswürdig, wie er in lutherischen Landen, sowohl den orthodoxen als den aufgeklärten, dem Volksgefühl sich darstellte. Ob der Pfarrer in Hermann und Dorothea ein katholischer oder ein protestantischer Geistlicher ist, und ob er Messe liest oder eine Predigt hält, das bleibt bei der hohen und freien Religiösität, die ihn in Tun und Reden leitet, unentschieden: doch könnte die Erwähnung des Tedeums, wo zur Orgel die Glocke tönt, und der Umstand, daß nirgends seiner Familie gedacht ist, mehr für das erstere sprechen; hinwiederum ist er aber auch Mentor eines jungen Barons in Straßburg gewesen, also wie Lenz und Herder, und mit solchem Amt pflegt der lutherische Kandidat seine Laufbahn zu beginnen. In den Bildern deutschen Bürgerlebens im Faust herrschen katholische Kultusformen; Gretchen kniet vor dem Marienbilde, und im Dome erschallt der erschütternde lateinische Hymnus: Dies irae, dies illa, den einst ein italienischer Franziskaner im 13. Jahrhundert gedichtet. War doch auch zur Zeit Maximilians, deren Anklänge wie die eines fernen Jugendalters das ganze Gedicht durchziehen, der theologische Eifer noch nicht erwacht und statt seiner vielmehr die Wiedergeburt des Altertums und die Wunder der spanischen Entdeckungen die beiden allgemeinen Anliegenheiten der Gelehrten und des Volkes. Erst im 19. Jahrhundert, um die Zeit, wo die romantischen Poeten, Friedrich Schlegel und Zacharias Werner, auch wohl Tieck, dann die Maler in Rom, wie Veit, Overbeck und die Söhne Schadows, in den katholischen Mysterien Stärkung und Inhalt für ihr Unvermögen suchten, da verspottete er in einer Parabel die »neupoetischen Katholiken« und wollte im Jahre 1817, beim Jubelfeste der Reformation, in Kunst und Wissenschaft wie immer protestieren, besonders gegen die »neudeutsche religiös-patriotische Kunst«.

Während seines zehnjährigen Aufenthalts in Weimar war Goethe nur einmal, auf der mit dem Herzog unternommenen Schweizerreise, nach Frankfurt und an den Rhein gekommen; er streifte viel in Thüringen umher, hatte den Harz zweimal besucht, war in Braunschweig und Kassel gewesen – aber niemals hatten ihn diese Ausflüge und Aufträge in die Stadt geführt, wo seine Mutter noch lebte. Auch auf der Rückreise aus Italien eilte er, den kleinen Umweg über Frankfurt meidend, geradeswegs nach Weimar, nachdem er der Mutter noch von Rom aus die Hoffnung des Wiedersehens benommen (an den Herzog, Rom, 17. März 1788) – es lag dies an der zerrissenen Stimmung, dem Unfrieden, in den der Abschied von Rom sein Inneres versetzt hatte. Und auch nach dem Feldzug in der Champagne suchte er die Ruhe seines Hauses, bis ihn ein Geheiß des Herzogs nach Mainz berief. Seit dem Jahre 1785 pflegte er zur Kur nach Karlsbad zu gehen, zuweilen auch in eines der andern böhmischen Bäder: dort fand er den Weimarer Hof und die Hofgesellschaft wieder, mit all ihren ziemlich geistlosen Ergötzungen, auch reiche Wiener Jüdinnen, polnischen und österreichischen Adel mit feinen Umgangsformen und lockenden Frauen, die ihn schmeichelnd in ihre Mitte zogen, ja sich in ihn verliebten, wie er sich in sie; er las ihnen Bruchstücke aus seinen Werken vor: sie verstanden wohl wenig davon, äußerten aber Beifall, wie es die Sitte verlangt; im übrigen belud er sich mit Steinen aus den böhmischen Gebirgen. Schade, daß die Ärzte es nicht angezeigt fanden, den alternden Mann alljährlich statt nach Karlsbad in eins der Taunusbäder, nach Wiesbaden oder Homburg, oder auch nach Baden im Schwarzwald zu schicken: die Berührung mit der Mutter Erde hätte vielleicht die dichterische Kraft länger in ihm erhalten, und was der Weltmann in dem Umgang mit lustigen Wirten und schalkhaften Schenkmädchen verloren hätte, das wäre der gestaltenden Phantasie und der reicheren, natürlicheren Rede zugute gekommen. Im Jahre 1792, als sein Oheim, der Schöff Textor, gestorben war, erhielt er die Anfrage, ob er in seiner Vaterstadt Ratsherr werden und also sich daselbst niederlassen wolle (s. Campagne in Frankreich, Trier, 29. Oktober); er lehnte den Antrag ab (in einem höflichen, zum Vorzeigen eingerichteten Brief an die Mutter, bei Riemer, Mitteilungen, 2, 332) – wie anders, wenn vielleicht ein Umschwung in den Weimarer Verhältnissen und Gesinnungen ihn gezwungen hätte, der Aussicht zu folgen! Goethe als Ratsherr und danach vielleicht als Bürgermeister in Frankfurt – diese Vorstellung hat für uns allerdings etwas Lächerliches, wie wenn wir uns Bismarck als Professor der Staatswissenschaften in Altdorf oder in Helmstädt denken sollten. Erst im Jahre 1814 finden wir den Dichter wieder am Rhein: es war eine für ihn ganz neu gewordene Welt, wie er an Knebel schreibt (Nr. 453). Er hatte eben in den beinahe vierzig Jahren, die er in Sachsen verbrachte, den Zusammenhang mit seinem eigentlichen Vaterlande verloren. Darum er ein Jahr drauf in einem Brief an Meyer aus Wiesbaden äußert: »Manchmal kommt es mir denn doch wunderbar vor, daß ich meine Freunde und mich selbst hinter dem Thüringer Wald suchen muß, da man hier nur eine Viertelstunde Steigens bedarf, um in die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten zu sehen.« Er befand sich ja unter Landsleuten, unter Menschen gleichen Blutes und Sinnes, die ihn beim halben Wort verstanden und er sie, in einer Natur, in der und für die er geboren war. In den Annalen zum Jahre 1811 bemerkt er: »Hebels alemannische Gedichte gaben mir den angenehmen Eindruck, den wir bei Annäherung von Stammverwandten immer empfinden.« Als Sulpiz Boisserée im Jahre 1816 nach Berlin gezogen werden sollte, schrieb ihm Goethe: »Wer unter dem fünfzigsten Grade leben kann, verläßt seine Stelle nur leichtsinnig oder aus Not!« Und an denselben am 17. April 1817: »Daß ich mich am liebsten südwestwärts bewegte, davon sind Sie überzeugt. Auch bin ich in böhmischen Bädern, wohin mich die Ärzte haben wollen, außer aller Verbindung.« Wenn ihm die altdeutsche Sammlung der Gebrüder Boisserée so große Freude bereitete, so wird an dieser Bekehrung die nieder- und oberrheinische Heimat jener Bilder wohl auch ihren Anteil gehabt haben. Im Jahre 1831 hatte er eine Zeichnung von dem alten holländischen Meister Sachtleben erworben, eine Rheinlandschaft darstellend; der Anblick erhielt ihn aufrecht, obgleich er sich wirklich unwürdig fühlte, das Bild anzusehen; der Künstler, fügt er hinzu, konnte den kümmerlich Beschauenden, inmitten der tristen Thüringischen Hügelberge, kaum erdulden. »Wischt' ich mir aber die Augen und richtete mich auf, so war es dann freilich heiterer Tag wie vorher« (an Zelter, Nr. 796). So ging dem 82jährigen Greis das Gefühl der Kindheit und Jugend, das Gefühl des mütterlichen Bodens wieder auf, das der Tag und das Leben dem Manne sooft zurückgedrängt oder übertönt hatte, und er weinte wie ein Kind, und die Rührung übermannte ihn.

Es war ein merkwürdiger, damals noch allen verborgener Moment in der politischen und Geistesgeschichte Deutschlands, als der Herzog im Mai des Jahres 1778 mit seinem Freunde und Führer Goethe in Berlin und Potsdam am Hofe Friedrichs des Großen erschien. Der Wunsch, Berlin zu sehen, den der Dichter vor zwei bis drei Jahren in einem Briefe an die Karschin hatte laut werden lassen, und in welchem sich zugleich die Sehnsucht nach größeren Verhältnissen ausdrückte: »Vielleicht peitscht mich bald die unsichtbare Geißel der Eumeniden wieder aus meinem Vaterland, wahrscheinlich nicht nordwärts, ob ich gleich gern Lot und seine Hausgenossen mit Eurem Sodom wohl einmal grüßen möchte« – dieser Wunsch war jetzt in Erfüllung gegangen. Der König beachtete das junge Genie nicht, auch die Generale, Staatsmänner und Hofleute ahnten kaum, was in ihm verborgen lag. Ihm seinerseits zeigte sich diese Welt als das Gegenteil dessen, was er für sich erstrebte: sein Individuum zu einem schönen Ganzen zu bilden und es harmonisch in sich zu vollenden. Er sah in dem Staate Friedrichs des Großen ein gewaltig arbeitendes Uhrwerk vor sich, dem jeder einzelne bloß als Stift oder Rad an bestimmter Stelle, in bestimmter Vorrichtung diente, ohne mehr sein zu können noch sein zu wollen; gerade indem die Tausende sich opferten, wurden die großen Wirkungen hervorgebracht, die die Welt in Erstaunen setzten. Da konnte der Dichter sich nicht geltend machen: der Schätze seines Innern hätte niemand geachtet, sie hätten nirgends Verwendung gefunden. So trieb es ihn in sein Gemüt zurück: »Die eisernen Reifen,« klagt er in einem damaligen Briefe aus Berlin, »mit denen mein Herz eingefaßt wird, treiben sich täglich fester an, daß endlich gar nichts mehr durchrinnen wird«, und zwei Tage vorher von demselben Orte: »Sonst war meine Seele wie eine Stadt mit geringen Mauern, die hinter sich eine Zitadelle auf dem Berge hat. Das Schloß bewacht' ich, und die Stadt ließ ich in Krieg und Frieden wehrlos: nun fang ich auch an, die zu befestigen, wär's nur indes gegen die leichten Truppen.« Der achtundzwanzigjährige Natursohn aus dem Reiche, der schon die Iphigenie im Herzen trug, an der Tafel des Prinzen Heinrich, den klugen Praktikern und ihrem mathematischen Verstande gegenüber – welch ein Bild für einen Maler, der auf den Gesichtern den Grund der Seele zu spiegeln wüßte! König Friedrich schrieb nicht lange danach in französischer Sprache seinen Aufsatz über die deutsche Literatur, worin er sich wegwerfend über Götz von Berlichingen äußert – wie hätte der Brandenburger, dem der Gehorsam über alles ging, ein Drama schätzen können, dessen Idee gerade die Freiheit der Persönlichkeit gegen die feste Staatsordnung war, ein Drama zudem, das an der römischen, sozusagen katholischen, deshalb auf immer unverbrüchlichen dramatischen Form, an dem aus einer langen Kultur hervorgegangenen Kanon ein barbarisches Sakrilegium beging. Goethe ließ sich herab, die Schrift des Königs zu widerlegen (Januar 1781) – leider ist diese Gegenrede nie ans Licht getreten. So waren beide Männer auch hierin Widersacher. Sie arbeiteten an demselben Werke, aber von entgegengesetzten Seiten, jeder mit den seinem Stamm eigenen Kräften und Mitteln. Das neue Deutschland konnten beide nur vereint schaffen: was wäre die Einheit ohne die Seele, diese ohne das Gefäß gewesen? Mit Recht verachtete der König die als Soldaten verkleideten Reichstruppen, die bei Roßbach beim ersten Schusse wie Spreu zerstoben, und mit demselben Rechte belächelte Goethe die Musen und Grazien in der Mark und das Urteil der Berliner Rationalisten und Pragmatisten, die an seine Werke den Maßstab ihres Alltagsverstandes legten.

Im Elsaß war es gewesen, wo der junge Genius zuerst seine Flügel entfaltete: dort ging ihm die wahre Ansicht der Welt auf, dort erklangen die ersten wirklich empfundenen Lieder von seinen Lippen, und dort empfing er die ersten Keime nachmaliger großer Schöpfungen, bis auf die Gestalt der Ottilie herab, diese lieblichste Blüte des Herbstes seiner Dichtung. Vom Elsaß aus begann er das Werk, durch ein Band höchster humaner Bildung die seit der Reformation zerfallene Nation zu vereinigen – genau hundert Jahre vorher, ehe ein Nachkomme Friedrichs des Großen diese eminent deutsche Landschaft mit Heeresmacht dem Reiche wieder zuführte. Als Friedrich im Jahre 1786 starb, da fragte ein Bauer in Schwaben: »Wer soll nun die Welt regieren?« In der Tat dauerte es achtzig Jahre, ehe wieder einer da war, der die Welt zu regieren verstand und dann auch das Elsaß wieder heimbrachte. Und als Goethe am 22. März 1832 starb, da datierte Börne von diesem Tage die Freiheit Deutschlands. Wirklich war damit eine Epoche geschlossen, und es begann das jüdische Zeitalter, in dem wir jetzt leben. Wenn es auch achtzig Jahre dauert, dann würde es im Jahre 1912 seine Endschaft erreichen. Soll dann wieder ein Dichter auftreten, der sich zu Goethe verhielte etwa wie in der Staatskunst Bismarck zu Friedrich dem Großen, dann wird er, wie wir glauben, kein geborener Märker oder Pommer, wohl aber vielleicht ein Elsässer sein.

Ein Blick auf Goethes späteres Verhältnis zu Berlin mag diese Betrachtungen beschließen. Daß dem jungen Rheinländer in seiner Sinnen- und Phantasiefülle die ganze Art dieser Stadt nicht gefiel, war natürlich und geht schon aus dem Obigen hervor – die Menschen dort waren alle so absprechend, unliebenswürdig, aufklärerisch, bloßer Verstand! Wenn der Herzog, statt sein Ländchen durch humane Kultur aus seiner Niedrigkeit zu heben, eine preußisch-militärische Rolle spielen wollte und sich auf hohe Politik verlegte, überkam den Dichter tiefer Mißmut, und er versagte seinem Herrn mehr als einmal die geforderte Begleitung. Zwar in Braunschweig, wo nach Winken aus Potsdam am Fürstenbund gearbeitet werden sollte, stand er ihm als Berater zur Seite, aber als der Aufenthalt an diesem langweiligsten der Höfe überstanden war, ließ er den durchlauchtigen Abgesandten allein seinen Weg verfolgen und flüchtete sich in die Berge und von da nach Weimar. Auch nach der Rückkehr aus Italien nimmt er an des Herzogs Reisen nach Berlin keinen Teil, gewinnt aber erst in Schlesien, dann auf dem Feldzuge in Frankreich und vor Mainz eine nähere Anschauung des preußischen Heeres, wie es durch Friedrich den Großen und nach dessen Tode in der langen Friedenszeit geworden war. In den letzten Jahren des Jahrhunderts, als das Doppelgestirn Schiller und Goethe mit unerhörtem Glanze am poetischen Himmel strahlte, verhielt sich Berlin noch immer stumpfsinnig und ablehnend, der dortige praktisch-moralische Empirismus wußte alles besser, und beide Dichter mußten die Berliner Kritik bald höhnisch, bald grob zurückweisen und züchtigen (Henriette Herz, ihr Leben und ihre Erinnerungen, von Fürst, Berlin 1850, Seite 133 ff.). Eher noch fand Schiller, wegen des mehr rhetorischen und prächtigen Charakters seiner Dichtungen, Anerkennung in Berlin; ihm selbst und seiner Jungfrau von Orleans ward ein glänzender Triumph zuteil, während Goethes »Natürliche Tochter« ebendaselbst mit Zischen und Pochen empfangen und entlassen wurde. Auch in der bildenden Kunst stieß Goethes idealistische Klassik bei Schadow und in dessen ehrenfestem Kreise nur auf Gegnerschaft und Widerstand. So schien die Spannung zwischen Poesie und Prosa, Idealität und Rationalismus, Denken und Tat nur zuzunehmen, aber schon mit dem neuen Jahrhundert tauchen hie und da Symptome einer Umkehr auf. Hatten nicht einzelne Berliner Jüdinnen, mit feinerer Witterung begabt als die grobe Menge, in Goethe ihren Abgott, ihr Höchstes gefunden? War nicht Ludwig Tieck, der in seinem Zerbino von den vier heiligen Meistern, Shakespeare, Cervantes, Dante und Goethe, gesungen hatte, auch ein Berliner? Auch an Zelter hatte Goethe allmählich, besonders nach Schillers Tode, einen Freund gefunden, der, ein offener Kopf, treu und derb, von handwerksmäßig gesundem Urteil, die bessern Seiten der Berliner Volksnatur in sich verkörperte und den Einsamen in Weimar durch häufige Schilderung des bewegteren Lebens in der nordischen Hauptstadt erquickte. Zwar der Zusammensturz des preußischen Staates im Jahre 1806, der wie ein hohler Baum dem ersten Windstoß erlag, mußte den Prozeß der Annäherung für eine Reihe Jahre unterbrechen; der Widerwille gegen Preußen, dessen Größe, wie das genannte Jahr ergab, nur eine scheinbare gewesen war, befestigte sich in demselben Maße, wie die Bewunderung für Napoleons Genie und Taten stieg. Im Oktober 1809 schrieb der Dichter seinem Berliner Freunde: »Ich treibe mein Wesen noch immer in Weimar und Jena, ein paar Örtchen, die Gott immer noch erhalten hat, ob sie gleich die edlen Preußen auf mehr als eine Weise vorlängst gerne zerstört hätten« – und im Jahre 1813 glaubte er nicht an Preußens Auferstehung und konnte seine heftige Entrüstung nicht bergen, wenn feurige Patrioten in Siegeshoffnungen schwelgten. Als nun aber das Unglaubliche geschehen, der Heros niedergeworfen und gefangen, Preußen kräftiger als vormals wiederhergestellt war – da knüpften sich die abgerissenen Fäden leise wieder an, und alles, was von Jahr zu Jahr in Berlin vorging, war geeignet, die Abstoßung in Anziehung zu verwandeln. Die Frivolität und gemeine Gescheitheit der berüchtigten Berliner schien in Ehrfurcht vor der Größe des Dichters, in Begeisterung für seine Schöpfungen übergegangen, die Theater feierten ihn, ein mit dem Hofe verwandter Fürst hatte den Faust komponiert, und das Drama selbst sollte von den königlichen Prinzen in erlesenem Kreise aufgeführt werden. Auch die Kunst in allen ihren Zweigen wandelte jetzt in Goethes Bahnen. Der alte Schadow hatte sich zu ihm bekehrt, in Schinkel war ein Hellene aufgetreten, der den Nazarenern den Rücken kehrte und sich zu Goethes »geläuterter Sinnlichkeit« bekannte, Rauch modellierte des Dichters Brustbild, mit dem dieser »sehr zufrieden« war. Schon im Jahre 1806 hatte er mit Schinkel, dem Landsmann Winckelmanns, »angenehme und lehrreiche Stunden zugebracht« (an Zelter, Nr. 251), dann wiederum in Jena 1820 und bei der Rückkehr aus Italien 1824, wo »ein Mann wie Schinkel, der in der Kunst so hoch steht«, ihm einen hellen Blick über das neue Italien gewährte (an Zelter, Nr. 436). Auch zu Rauch fand sich der Dichter mit den Jahren immer mehr hingezogen. An Zelter, 2. Juli 1829: »Rauch hat uns einen gar glücklichen Tag geschenkt und uns durch seine Mitteilungen in die Berliner Trunkenheit mit fortgerissen«, und vom 19. desselben Monats: »Professor Rauch war einen Tag bei uns und nach seiner alten Weise anmutig, heiter und tätig.« Nicht so einfach lag Goethes Verhältnis zu Hegel und dessen sich immer mehr, erst in Berlin, dann in ganz Deutschland ausbreitenden Anhängerschaft. Daß die Schule seiner Farbenlehre geneigt war, mußte den Dichter, der auf diese Theorie mehr hielt als auf alles, was er sonst geleistet hatte, günstig stimmen. Dazu kam, daß Schellings und Hegels Philosophie eigentlich eine und dieselbe und nur in der Methode verschieden war, Goethe aber schon seit dem Anfang des Jahrhunderts offen und ohne Vorbehalt Schellings Lehre beipflichtete. Aber als Hegel berühmt wurde, war der Dichter ein hochbetagter Greis und konnte sich unmöglich der neuen schwierigen Terminologie mehr bemächtigen und die rauhe scholastische Schale, unter welcher der spekulative Gedankengehalt verborgen lag, durchbrechen. Indes, auch Hegel war ein Schwabe, nach Gemüt und Geistesform ein Süddeutscher, wie Goethe auch, und wenn beide Männer zusammenkamen und Hegel ihm seine Ideen mündlich vortrug, leuchteten diese dem greisen Jünger wohl ein, und er rühmte, wie er dadurch bereichert worden sei. Schon im Mai 1824 hatte er dem Philosophen geschrieben: »Möge alles, was ich noch zu leisten fähig bin, sich immer an dasjenige anschließen, was Sie gegründet haben und auferbauen. Erhalten Sie mir eine so schöne, längst herkömmliche Neigung und bleiben überzeugt, daß ich mich derselben als einer der schönsten Blüten meines immer mehr und mehr sich entwickelnden Seelenfrühlings zu erfreuen durchaus Ursache finde.« Als ein junger Maler eine Galerie von Porträts der berühmtesten Männer der Zeit anlegen und mit Goethe den Anfang machen wollte, soll dieser geantwortet haben: »Ehre, dem Ehre gebührt, malen Sie erst den Hegel in Berlin!« (Goethe-Jahrbuch 5, 426). Ja, wie er einst zur Zeit Schillers hin und wieder kantische Formeln gebraucht und z. B. Vernunft und Verstand hatte unterscheiden lernen, so hielt er jetzt in Weise Hegels die beiden Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit auseinander: »seine Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit« (10. April 1829, wenn Eckermann seine Worte genau wiedergegeben hat). Zu Kant war er nur durch eine Art Anbequemung gelangt, aber mit Hegel verband ihn im Grunde eine tiefe Sympathie, und wenn er das Leben im ganzen überblickte und von sich aussagte (an Schiller, 17. Mai 1797): »Die Fratze des Parteigeistes ist mir mehr zuwider als irgendeine andere Karikatur«, so sah auch die neue Philosophie in dem Abstrakten und Einseitigen, in jenem Denken, das sich immer nur an ein Moment hält und nur verstandesmäßig zu trennen weiß, den durch alle Paragraphen zu verfolgenden logischen Feind.

Da nun solchergestalt die Beziehungen zu der sichtlich werdenden und wachsenden, immer mehr die Zügel der geistigen Herrschaft über Deutschland ergreifenden Hauptstadt vielfältiger wurden – und wir haben im obigen nur eine Auswahl getroffen –, so mußte oft der Wunsch aufsteigen, den Dichter selbst in Berlin zu sehen und ihn dort nach Gebühr zu feiern und zu ehren. Im Jahre 1816 hatte ihm der Fürst Radziwill eine Einladung zukommen lassen, und er erwidert (an Zelter, Nr. 246): »Dergleichen Expeditionen werden mir immer unmöglicher. Ich würde nur mir selbst und andern zur Last fallen. Mein Befinden verlangt die größte Gleichheit im Leben und Genießen.« Das Jahr darauf aber schreibt er etwas weniger kategorisch (an Zelter, Nr. 297): »Manchmal kommt es mir vor, daß eine solche Reise (nach Berlin) rätlich und tunlich sei, dann aber verändert sich auf einmal die Ansicht, und ich sehe doch nicht recht, wo am Ende der Entschluß herkommen soll. Am besten ist's, darüber gar nicht zu denken, sondern die Karwoche herankommen zu lassen und abzuwarten, ob das Graunsche Oratorium zuletzt die Wagschale niederzieht.« Im Mai des Jahres 1820 war der Faust endlich bei Hofe aufgeführt worden, zur höchsten Zufriedenheit aller und auch des Königs, und Zelter hatte geschrieben: »Hier ist anjetzt von nichts weiter die Rede, als wie es zu machen, Dich nach Berlin zu zaubern« usw. Darauf erwidert der Dichter: »Soll ich nun aber nach Berlin denken, so macht mir's eine traurige Empfindung, daß ich des Guten, was mir dort zuteil werden sollte, mich nicht erfreuen darf.« Er hatte das siebzigste Jahr überschritten, war der Ruhe, der Stille bedürftig. Das Gewühl und Geräusch der Hauptstadt, der Weihrauch der Anbeter und Anbeterinnen, die Ehren bei Hofe, der Zudrang künstlerischer, theatralischer, literarischer Eindrücke, das Bewußtsein, der Zielpunkt aller Blicke zu sein, und die immerwährende Nötigung, sich demgemäß zu halten und darzustellen – dies alles bildete eine Kette von Anstrengungen, denen er sich nicht mehr gewachsen fühlte. Konnte es ihm nicht gehen wie einst Voltaire, der auch vielleicht noch manches Jahr in Ferney gelebt hätte, wenn er nicht in Paris unter Rosen erstickt worden wäre? Auf einer Badereise, wie er sie diesen Sommer gewagt und unternommen hatte, war ihm alles geglückt, weil jeder Augenblick von ihm abhing: »Ich konnte bis ans Ende meiner Kräfte gehen und zuletzt rechts, links wenden oder auch umkehren. Wie ist dies in einem so großen komplizierten Zustande (in Berlin) denkbar?« (an Zelter, Nr. 347). Auch die Entfernung, die Weimar von Berlin trennte, mußte in Anschlag kommen. Im Jahre 1803, wo der Dichter noch beweglicher war, schreibt er (an Zelter, 10. März): »Die Wichtigkeit des alten sprichwörtlichen Rates: gehe vor die rechte Schmiede, ist mir früh einleuchtend gewesen, aber was hilft die Einsicht, wenn die Schmiede (Berlin) so weit liegt, daß man mit seinem Geschirr sie nicht erreichen kann?« Wir fahren jetzt mit dem Schnellzug in fünf Stunden von Weimar nach Berlin und umgekehrt, damals aber gingen die Briefe zwischen beiden Orten zwei bis drei Tage, je nach der Jahreszeit und dem Zustand der Landstraßen (Zelters letzter Brief war an Goethes Sterbetage, dem 22. März, geschrieben und lief am 26. März, an dessen Begräbnistage, ein), und der Reisende, wenn er die Nacht ruhen wollte und nicht gerade Eile hatte, brauchte wohl das Doppelte an Zeit. Wir machen jetzt ebenso leicht oder noch leichter einen Ausflug nach Petersburg als vor der Epoche der Chausseen und Eilposten von Weimar nach Berlin. Und wir sitzen bequem auf Polstern, in einem Wagen, dessen sanftes Rollen wir kaum spüren, ein Buch lesend oder nach Belieben schlummernd; für Essen und Trinken und jedes Naturbedürfnis ist gesorgt; die Ordnung und technische Voraussicht überhebt uns bei Abfahrt und Ankunft aller kleinen und großen Mühen. Wie leicht hätte der Dichter, wenn er fünfzig Jahre später geboren worden wäre, auf telegraphische Einladung einem Berliner Feste, der Aufführung eines seiner Dramen beiwohnen und nach einigen Stunden oder auch tags darauf die Rückfahrt antreten und bald wieder sein gewohntes Arbeitszimmer beziehen können! So blieben die beiden Mächte, der Südwesten mit einem Dichter und seiner Naturkraft, der Nordosten mit seiner immer gewaltigeren Hauptstadt, seiner Staatsordnung und Bildung voneinander getrennt, wie an zwei einander gegenüberliegenden Ufern gelagert. Bei den zahlreichen Besuchen aus Berlin, die der Frankfurter in Weimar empfing, hatte er doch, wenn es sich um Dichterlinge oder junge Gelehrte mit der Brille auf der Nase handelte, eine gewisse Stammesabneigung zu überwinden – es waren eben auch schon getrocknet aufgekeimte Menschen, durch Erziehung um ihre Jugend gebracht, ohne Freude am Sinnlichen (zu Eckermann, 12. März 1828). Wie wäre ihm zumute geworden, wenn er hätte voraussehen können, daß nach weniger als einem halben Jahrhundert seine Vaterstadt am Mainfluß eine preußische Landstadt werden würde! Und daß diese Stadt unter das harte Joch der Judenschaft geraten und dieses stumm ertragen würde! Welche dieser beiden Vorstellungen würde ihm widerwärtiger gewesen sein? Wir glauben die letztere.

Schon im Jahre 1778 galt Berlin bei denen, die aus dem Reiche kamen, für eine große Stadt, obgleich es damals schwerlich mehr als hunderttausend Einwohner zählte. Deutschland war eben das Land der kleinen Örtchen; Wien lag abseits, außerhalb, fast ganz so wie Paris. Goethe rühmte in seinem Briefe auch die Pracht der Königsstadt: wir würden das damalige Berlin wohl nur dürftig und armselig finden. Es hatte sich wohl in der langen Friedenszeit gehoben, dann aber kamen die furchtbaren Tage der napoleonischen Herrschaft, die denen des Dreißigjährigen und Siebenjährigen Krieges glichen. Aber in der neuen Friedensepoche, zu der Zeit, in deren wechselnde Vorkommnisse die Briefe Zelters an Goethe uns wöchentlich und fast täglich zu blicken erlauben, wurde Berlin, wenn auch anfangs langsam und in notgedrungener Sparsamkeit, doch mit jedem Jahre nicht bloß reicher, belebter, sondern auch aus einer kleinbürgerlichen und Kasernenstadt eine literarische, künstlerische, philosophische. Schinkel und Rauch schmückten Straßen und Plätze mit Gebäuden und Denkmälern, die Hochschule strahlte in allen Fächern von dem Glanze der ersten Meister der Wissenschaft, das Theater blühte, ästhetischer Humanismus war die allgemeine Losung. Auch dies ging vorüber: allmählich stieg ein neues Zeitalter auf, das wie ein Wolkenhimmel von Westen heranzog – das politische, das der Eisenbahnen, der Demagogie, der Juden und der Zeitungen. Besonders die letzteren wurden die Herrscher des unterdes zu riesenhafter Größe angewachsenen Zentrums, und ihre Schuld ist es nicht, wenn nicht (nach Goethes Worten) jeder und alle in ewiger Erneuung und Zerstreuung sich selbst zerstören. Indes, im Laufe der Jahre, in einer wechselvollen Geschichte, zergingen auch die politischen Phantome, und die abstrakten Formeln verloren ihren Wert. Von der häßlichen demokratischen Realität fanden sich tiefer gestimmte Gemüter nur angewidert, und so bildete sich, abseits von dem Lärm des Tages, eine kleine Gemeinde, eine stille Gemeinschaft der Heiligen, die langsam anwuchs. Doch erst im Frühling des Jahres 1880 gelang es, des Dichters Standbild in Berlin zu enthüllen – es gehörte gewiß in diese Stadt, ebensowohl oder noch mehr als in irgendeine andere, wo er vielleicht leiblich gewandelt. Er steht hier, aus weißem Marmor, auf dem grünen Hintergrunde eines schönen Parkes, in jugendlichem Mannesalter, fern von ihm der alte König, zu Rosse, in prachtvoller architektonischer Umgebung, aus dunklem Erz – in welchem allen ein nachdenklicher Geist wohl Sinn und Beziehung finden könnte. Den König umgeben die Erz- und Marmorstatuen der Helden aus späterer Zeit, unter ihnen auch Blücher, und der Dichter hat ja gesagt:

Ihr könnt mir immer ungescheut,
Wie Blüchern, Denkmal setzen;
Von Franzen hat er euch befreit.
Ich von Philister-Netzen.

Wie aber die alten Völker eine Eroberung erst dann für sicher hielten, wenn sie den Gott oder die Göttin des unterworfenen Landes entführt und ihnen, z. B. in Rom, neben der Viktoria oder der ewigen Roma selbst eine Wohnstätte gegeben hatten, so ist auch Berlin erst wahre Reichshauptstadt, seit in dieser neben den Stiftern des Reiches auch das Bild des größten Mannes, den die langen Jahrhunderte auf idealem und sittlichem Gebiet hervorgebracht haben, angeschaut wird – von der Menge mit Neugier, von den Geweihten mit Ehrfurcht und Liebe. »Märkische Rübchen«, sagt der Dichter selbst, dem es nie ein anderer an Gleichnissen aus allen Gebieten des Lebens zuvortat, »schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien – und diese beiden edlen Früchte wachsen weit auseinander.« Und wie er selbst am Ende des Lebens über Berlin dachte, lehre die Stelle eines Briefes an Rauch, die wir uns zum Schlusse aufgespart haben, geschrieben vier Wochen vor seinem Tode, am 20. Februar 1832: »Nun sei auch mit Freudigkeit versichert, daß es mir in mehr als einem Sinne zur Beruhigung und zum Troste gereichte, Sie wieder in Berlin zu wissen. Ich lebe dort mehr als ich sagen kann, und vergegenwärtige mir möglichst das mannigfache Große, was für die Königsstadt, für Preußen und für den ganzen Umfang der Kunst und Technik, der Wissenschaft und Geschäftsordnung geleistet und gegründet wird.«


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