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Naturphantasie

Mit Goethe war im Zeitalter des formalen Verstandes und der mechanischen Weltansicht ein Auserwählter der Phantasie aufgetreten, dieser Gabe, die vor allem den Dichter macht. Goethes Phantasie umfaßte zwar zunächst das Menschenleben, dieses sowohl in der Sphäre seiner objektiven Allgemeinheit als in den Tiefen des subjektiven Gemütes, aber mit gleicher Kraft wandte sie sich den Gestalten und Erscheinungen zu, in deren großem Reiche auch der Mensch begriffen ist. Der Himmel und die Erde, die Elemente in ihrer Größe, der Tag und das Jahr im Laufe ihrer Zeiten und Verwandlungen, alles, was uns in der Natur umgibt und unser Dasein freundlich und feindlich bestimmt – der Dichter weiß es in seinem Wesen zu ergreifen, vor unsern Augen zauberisch zu beleben, dem Stummen, dem Unbewußten Sprache und Gefühl zu leihen. Er war ja nicht, wie die bisherigen Poeten in der Gefangenschaft des Hauses, im Staube des Museums und der Bücher groß geworden und von der Schule genährt; er streifte ruhelos, bald ahnungs-, bald reuevoll, in Wald und Feld, auf weiten Wegen umher, verkehrte mit den Geistern des Gebirges, des Wassers, der Nacht, genoß die Pracht und Gewalt der Sonne und den kühlenden Hauch des Mondes und verwandelte überall die Anschauung in Andacht. Sein Genius hatte ihm die herrliche Natur zum Königreich gegeben, Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht bloß kalt staunenden Besuch erlaubte sie ihm, sie vergönnte ihm, in ihre tiefe Brust wie in den Busen eines Freundes zu schauen, und im Wechseltausch mit ihr öffneten sich seiner eignen Brust geheime, tiefe Wunder. Ihre Einsamkeit heilte, läuterte, stärkte ihn; verstehst du, fragt Faust, d. h. der Dichter selbst,

Verstehst du, was für neue Lebenskraft
Mir dieser Wandel in der Öde schafft?

Noch in Weimar lebte der Novize des Hofes, der leichtsinnige Führer der Gesellschaft, abseits der Stadt, unfern der rieselnden oder rauschenden Ilm, unter Bäumen, die er selbst gepflanzt und gepflegt, in einem Bauernhause, das er selbst ein wenig wohnlich gemacht und auf dessen Altan er, in den Mantel gehüllt, durch ein vorspringendes Dach vor dem Regen notdürftig geschützt, unter Donner und Blitz die Frühlingsnacht schlummernd verbrachte oder ein andermal, wenn er dazwischen erwachte und die Augen aufschlug, immer neue Herrlichkeit des Himmels um sich und über sich hatte. In seinen Dichtungen legt er oft das Naturbild nur an, oft malt er es in reicherer Fülle schildernd aus, oft genügt ihm ein kurzes Wort, eine einzelne Bezeichnung, um wie durch ein Streiflicht die jedesmalige Gestalt mit augenblicklichen, unwiderstehlichen Umrissen vor uns aufzurichten.

Indem wir im folgenden einige Belege dazu sammeln, gehen wir diesmal nicht der Entwickelung des Dichters nach, sondern halten uns an die eigene Ordnung und die großen Züge der Natur selbst, wie sie sich den Sinnen des in sie gestellten Menschen zu erkennen gibt.

Über uns wölbt sich der Himmel, und durch seine Weite zu schweben, in den unendlichen Raum sich zu verlieren, den Vögeln, den Wolken nachzuziehen – dieser Wunsch erfüllt jeden, der aus den Schranken des endlichen, einzelnen Daseins in eine Welt der Freiheit dort oben aufzublicken glaubt. So ruft Faust:

Doch ist es jedem eingeboren,
Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,
Wenn über schroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt –

und ebenso Werther (Teil I, 18. August): »Wie oft hab' ich mich mit Fittichen eines Kranichs, der über mich hinflog, zu dem Ufer des ungemessenen Meeres gesehnt« usw. Dieselbe unbestimmte Sehnsucht trägt Ganymed hinauf, aus dem Reiche der Schwere in das leichte Reich des Äthers, dorthin, wo der ewige Vater wohnt:

Hinauf, hinauf strebt's!
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe!
Mir, mir!
In eurem Schoße
Aufwärts!

»Welche Begierde fühl ich«, schreibt derselbe Werther in den Briefen aus der Schweiz, »mich in den unendlichen Raum zu stürzen, über den schauerlichen Abgründen zu schweben – Mit welchem Verlangen hol' ich tiefer und tiefer Atem, wenn der Adler in dunkler, blauer Tiefe, unter mir, über Felsen und Wäldern schwebt und große Kreise zieht« usw.

Am Himmel wandeln Sonne und Mond, folgen einem innern, unabänderlichen Gesetz, begleiten unser Leben und richten den Lauf seiner Stunden. Was ist die Bestimmung des Menschen? so wurde der Philosoph Anaxagoras gefragt, und er erwiderte: Den Himmel anzuschauen und der ewigen Ordnung sich bewußt zu werden. So betet Iphigenie zu Apollo und Artemis:

Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel
Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf
Den Menschen bringet, rettet uns Geschwister!

Ach aber, beide Gestirne sind ihrem eignen strengen Gebot untertan, und unser Leid, unsre Verzweiflung kümmert sie nicht:

Die Welt, wie sie so leicht
Uns hilflos, einsam läßt und ihren Weg
Wie Sonn und Mond und andre Götter geht! 

(Tasso.)

Besonders aber herrscht droben die Sonne – mens mundi et temperator, über uns und über allem. Schon die alten Dichter, vor allem Homer, wenn sie »leben« sagen wollen, brauchen die Wendung: der Sonne Licht schauen. So ist auch in mittelhochdeutschen Gedichten, z. B. im »Parcival« (Lachmann 247, 26) den sunnen haz soviel als den gotes haz und bei Goethe die Sonne soviel als Glück und Leben überhaupt. Der Gräfin Bernstorff meldet er im letzten seiner Briefe an sie, er sei von einer tödlichen Krankheit genesen, und der Allwaltende gönne ihm noch »das schöne Licht seiner Sonne zu schauen«; denn, wie es in der Achilleis heißt:

Oft begrub schon der Kranke den Arzt, der das Leben ihm kürzlich
Abgesprochen, genesen und froh der beleuchtenden Sonne,

oder wie Iphigenie sagt:

Die Unsterblichen lieben der Menschen
Weit verbreitete gute Geschlechter
Und sie fristen das flüchtige Leben
Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne
Ihres eigenen ewigen Himmels
Mitgenießendes fröhliches Anschau'n
Eine Weile gönnen und lassen.

In der Achilleis muß der Krieger den Tod immer vor Augen haben:

Der von Helios Blick zu scheiden immer bereit ist.

So fragt auch Wilhelm Meister hoffnungslos und entmutigt (8, 7): »Werde ich künftig der Sonne und der Welt, der Gesellschaft oder irgend eines Glücksgutes genießen?«, und Orest spricht zu Iphigenien:

und laß dir raten, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne,
Komm folge mir ins dunkle Reich hinab –

und Antiope zu Elpenor:

So lang ich weiß, du wandelst auf der Erde,
Dein Auge schaut der Sonne teures Licht, – – bist du
Mir gleich entfernt, so fehlt mir nichts zum Glück.

Iphigenie:

nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
Zuerst den Himmel vor ihm aufschloß –

d. h. wo er sich zuerst seines Lebens bewußt wurde. Nausikaa, da sie am Meeresgestade ihre Gewänder getrocknet sieht, preist »die hohe Sonne, die allen hilft«. Den Schiffer ruft die Sonne zur Fahrt ins Meer hinaus (Seefahrt):

Und die Segel blühen in dem Hauche
Und die Sonne lockt mit Feuerliebe –

und dieselbe Liebe hat Prometheus erfahren:

Was der Sonne Liebe jemals Frühlingswonne,
Des Meeres laue Welle
Jemals Zärtlichkeit an meinen Busen angeschmiegt.

Die Sonne, wenn sie aufgeht und untergeht oder am Himmel glüht, bringt die Tageszeiten, den Morgen und den Abend und den Mittag. Der Morgen erfüllt mit Hoffnung, Kraft, Lebensmut; die Mutter in »Hermann und Dorothea«:

Da war beklemmt mein Herz, allein die Sonne ging wieder
Herrlicher auf als je und flößte mir Mut in die Seele.

An Frau von Stein (24. März 1776): »Hinter Naumburg ging mir die Sonne entgegen auf! Liebe Frau, ein Blick voll Hoffnung, Erfüllung und Verheißung – die Morgenluft so erquickend, der Duft zwischen den Felsen so schauerlich, die Sonne so golden blickend als je! nicht diesen Augen nur, auch diesem Herzen! Nein, es ist der Born, der nie versiegt, das Feuer, das nie verlischt, keine Ewigkeit nicht! Beste Frau, auch in Dir nicht, die Du manchmal wähnst, der heilige Geist des Lebens habe Dich verlassen.« Ähnlich an den Herzog tags darauf: »Ich habe die Nacht durch manches Knäulchen Gedankenzwirn aus- und abgewickelt; diesen Morgen ging mir die göttliche Sonne hinter Naumburg auf.« Der Morgen im Frühling vom Berge, wenn der Nebel noch im Tale liegt und die Nachtigall noch nicht verstummt ist, leuchtet und blüht im »Ganymed«:

Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind –

»Mir war's frei in der Seele, rein wie ein Frühlingsmorgen« (Stella), »Süßer Morgenlüfte Kinderstammeln (Elpenor) –

Mit dem tausendfarbigen Morgen
Lachst du ins Herz ihm.

(Harzreise im Winter.)

Früh am Novembertage rollen am Steine der Geliebten die Tautropfen nieder, »die schönen Tränen des Himmels« (an Frau von Stein, 17. November 1782) Noch in »Wahrheit und Dichtung« (Buch 7) derselbe poetische Ausdruck: »Die unschuldigen Pflanzentränen«: sie benetzen dort den in die Rinde des Baumes geschnittenen Namen der Geliebten. So ist auch der Fels am Sipylusgebirge, in den die Niobe verwandelt worden, feucht von den Tränen der Unglücklichen, die ewig ihre Kinder beweint.. Wie die aufgehende Sonne uns mit der Kraft und Freude des Lebens erfüllt, so ist die untergehende ein Bild jähen Abschiedes, frühen Todes:

Trunken vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich geblendeten Taumelnden,
In der Hölle nächtliches Tor.

(An Schwager Kronos.)

Auch wenn die Dunkelheit eingebrochen, brennt das Licht der Sonne noch in der Seele, und bald kündigt sich der neue Tag im Osten wieder an:

Wie der süße Dämmerschein
Der weggeschiednen Sonne
Dort heraufschwimmt
Vom finstern Kaukasus
Und meine Seele umgibt mit Wonneruh,
Abwesend auch mir immer gegenwärtig.

(Prometheus.)

Anders ist die Stimmung in dem Liede »Bergschloß«: der Dichter steht mit der Geliebten oben in den Trümmern der alten Burg, denkt sich als Knappen des Schloßherrn, sie als Kellnerin:

Und als sich gegen den Abend
Im Stillen alles verlor,
Da blickte die glühende Sonne
Zum schroffen Gipfel empor.
Und Knapp und Kellnerin glänzen
Als Herren weit und breit.

Die eigentlich klassische Stelle aber für die Abendempfindung bleibt für immer Fausts Nachruf an die scheidende Sonne:

Betrachte, wie in Abendsonnenglut
Die grünumgebnen Hütten schimmern usw.

Er möchte schwebend die Sonne begleiten und so einen immerwährenden Abend genießen, sähe ewig die Höhen entzündet, die Täler beruhigt, die Silberbäche in den goldnen Strom sich ergießend; flöge über das rauhe Gebirge weg, das Meer mit erwärmten Buchten täte sich vor seinen Blicken auf; so eilt er der Sonne nach, vor sich den Tag und hinter sich die Nacht. Doch da wir an die Erde, den Boden, auf dem wir stehen, gebunden sind, so senkt sich die Nacht, die Finsternis auf uns herab, und wir können uns ihrer nicht erwehren.

Die Nacht ist dem Naturmenschen, wie dem Kinde, die Mutter der Schrecken, in ihrem Dunkel streifen die bösen Geister umher, und sie leiht ihnen ihren Schutz zu schadenfrohem Tun. Da werden die Nebelstreifen an den grauen Weiden zu Gestalten und der in dürren Blättern raschelnde Wind zu verderblicher Rede. Dem Kinde in des heimeilenden Vaters Arme flüstert der Elfenkönig verlockende Worte zu und erstickt es, da es nicht folgen will. Wenn »der Abend die Erde wiegt« und »an den Bergen schon die Nacht hängt« (Willkommen und Abschied), dann reitet der Dichter über Land, hinaus zu der Geliebten: die Winde sausen schauerlich, die Nacht schafft tausend Ungeheuer, wie ein aufgetürmter Riese steht im Nebelkleide der Eichbaum da, und aus dem Gesträuche blickt die Finsternis mit hundert schwarzen Augen. »Wenn ich abends auf dem Altan, der zwischen den Giebeln des Hauses angebracht ist, spazierte, über die Gegend hinsah und von der herabgewichenen Sonne ein zitternder Schein heraufdämmerte, die Sterne hervortraten, aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang« usw. (Wilhelm Meister 1, 7). In den Zigeunerszenen des »Götz« (erster Bearbeitung) fehlt nichts, was die Winternacht fürchterlich macht: die Werwölfe, der wilde Jäger, die krächzenden Gespenster, das Geheul der Hunde und der Wölfe, die Irrlichter im Sumpfgebüsch, der Schneesturm in der Schlucht, der dem kletternden Buben um die Beine schießt usw. Untaten jeder Art verbergen sich im Schoße der Nacht (Iphigenie 1, 3):

Und viel unseliges Geschick der Männer,
Viel Taten des verworrnen Sinnes deckt
Die Nacht mit schweren Fittichen und läßt
Uns nur die grauenvolle Dämmrung sehn.

Die Nacht ist endlos, denn der Blick durchdringt sie nicht: »Den der Fluch wie eine breite Nacht verfolgt und deckt« (Iphigenie 2, I) –, »Nicht die Nacht, die breit sich bedeckt mit sinkenden Wolken« (Hermann und Dorothea). Wenn Erwin unter Elmirens Fenster sang und seine Zither rührte, dann »wölbte die Nacht sich hoch und höher über seine Klagen«; in der Nacht, mitten im Hochgebirge, erscheint dem Dichter der Schatten Euphrosynens und redet zu ihm: nachdem die Lichterscheinung zergangen, ist das Dunkel nur noch tiefer, das Herz nur noch trostloser:

Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stürzenden Wasser
Brausen gewaltiger nun neben dem schlüpfrigen Pfad. –
Wehmut reißt durch die Saiten der Brust: die nächtlichen Tränen
Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen sich an.

Aber die Nacht ist vielgestaltig, sie ist nicht immer schauervoll und düster, sondern auch heimlich und den Liebenden günstig. Philine widmet ihr ein Lied, und Scapine singt:

Nacht, o holde, halbes Leben,
Jedes Tages schöne Freundin Ein Vers in »Hermann und Dorothea«, der dem Dichter oft übelgenommen worden, wiederholt nur denselben Gedanken. Der Tag gehört dem Kampfe, der Arbeit, dem Verdruß und jeder Art Anstrengung: das gemeinsame Lager bei Nacht bringt Austausch des Erlebten, das Gefühl unauflöslichen Bundes, Mitteilung und Sammlung und süße Ruhe (Röm. Eleg. 5):
Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen,
Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Zu dem trauernden Achilleus in der Ilias spricht seine Mutter Thetis (also gleichfalls die Mutter): Wie lange willst du der Nahrung dich enthalten, wie lange des Lagers? Ist es doch schön, des Weibes in Liebe zu genießen!
!
Laß den Schleier mich umgeben,
Der von deinen Schultern fällt.

Stella spricht mit sich: »Fülle der Nacht, umgib mich, fasse mich, leite mich!« Wilhelm schreibt an seine Marianne: »Unter der lieben Hülle der Nacht, die ihn sonst in ihren Armen bedeckte«; der Liebende, auf dem Lager liegend und die Geliebte erwartend, segnet die nächtlichen Finsternisse, »die so ruhig alles überdeckten« (Morgenklagen). Und auch helle, durchsichtige, kristallene, ambrosische Nächte gibt es, in denen der Mond leuchtet und die Sterne schimmern.

Wie die Sonne, der der Dichter in der ersten Weimarer Zeit einen fast begeisterten Kultus widmete Ja noch im höchsten Alter sagte er zu Eckermann (Band 3): »Die Sonne ist eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind, und alle Pflanzen und Tiere mit uns.« Und in der Trilogie der Leidenschaft heißt sie »die hocherlauchte«., ist auch der Mond, das andre große Himmelslicht, in seinen Gedichten und Bekenntnissen Gegenstand schwärmerischer Verehrung. Schon in einem Jugendliede, »Die schöne Nacht«, heißt es:

Wandle mit verhülltem Schritte
Durch den öden finstern Wald:
Luna bricht durch Busch und Eichen,
Zephyr meldet ihren Lauf,
Und die Birken streu'n mit Neigen
Ihr den süßten Weihrauch auf.

An Frau von Stein schreibt er 1771:

Tauche mich in die Sonne früh,
Bad ab im Monde des Tages Müh –

und an die Gräfin Auguste Stolberg vom Juli desselben Jahres:

»Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz –

so sang ich neulich, als ich tief in einer herrlichen Mondnacht aus dem Flusse stieg, der vor meinem Garten durch die Wiesen fließt.« An Frau von Stein, 15. Oktober 1780: »Der Mond ist unendlich schön, ich bin durch die neuen Wege gelaufen, da sieht die Nacht himmlisch drein. Die Elfen sangen« usw. Bei der Harzreise im Winter hatte er den heißen Wunsch nach dem Vollmond, und er dankt den Göttern, die sein Gebet erhörten; Friederike und Lili besuchte er beide zur Zeit des Vollmondes, wie er nicht unterläßt anzumerken; aus Rom schreibt er, 2. Februar 1787: »Und so haben Sonne und Mond, eben wie der Menschengeist, hier ein ganz anderes Geschäft als andrer Orten, hier wo ihrem Blick ungeheure und doch gebildete Massen entgegenstehen«; sein Abschied von der geweihten Stätte, wo er so lange geweilt hatte, ward besonders feierlich durch den Mond, der am Himmel stand, und der ja auch dem verbannten, in die Wildnis ausgestoßenen Dichter Ovid in der letzten Nacht in Rom geleuchtet hatte: »Ein Zauber, der sich dadurch über die ungeheure Stadt verbreitet, sooft empfunden, ward nun aufs eindringlichste fühlbar. Die großen Lichtmassen, klar wie von einem milden Tage beleuchtet, mit ihren Gegensätzen von tiefen Schatten, durch Reflexe manchmal erhellt, zur Ahnung des Einzelnen, setzen uns in einen Zustand wie von einer andern, einfachern, größern Welt.« Diese Eigenschaft des Mondlichtes, die im Raum zerstreuten Dinge zu großen Massen zu sammeln, die auch Schiller empfunden hatte:

Der Mond erhebt sein strahlend Angesicht,
Die Welt zerschmilzt in ruhig großen Massen –

bewährte sich auch an jenem Abend, als Hermann und Dorothea unter dem Birnbaum rasteten:

Herrlich glänzte der Mond, der volle, vom Himmel herunter,
Nacht war's, völlig bedeckt der letzte Schimmer der Sonne;
Und so lagen vor ihnen in Massen gegeneinander
Lichter, hell wie der Tag, und Schatten dunkeler Nächte.

In andern Momenten erscheint das Licht des Mondes als ein der bewegten Seele verwandtes, gleichgestimmtes Element, wie die sichtbar gewordene, träumerische Empfindung selbst. Es wird bald als das traurige, verschleierte angeschaut, wie ein verweintes Menschenangesicht:

Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor –

(Willkommen und Abschied)

Dann über Büchern und Papier,
Trübselger Freund, erschienst du mir –

(Faust),

bald als silberner Nebelglanz, der auf Wiesen, am Saume des Waldes dämmert und vor dem Blicke des Einsamen in Geister der Vergangenheit sich verwandelt:

Ach könnt ich doch auf Bergeshöhn
In deinem lieben Lichte gehn,
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben.
Von allem Wissenqualm entladen
In deinem Tau gesund mich baden –

(Faust.)

Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber, schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf
Und lindern der Betrachtung strenge Lust – 

(Ebda.),

bald als reiner, ruhiger Herrscherblick:

Wie dein Licht, das Leben der Nächte,
Über der Erde ruhet und waltet –

(Iphigenie),

der die Dinge in ihren harten, verworrenen Umrissen so klar sondert, so milde vereinigt, wie das kühlere Urteil des besonnenen Freundes unsre Schicksale und Leidenschaften entwirrt und erkennt:

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick –

und so kommt von ihm eine sanfte Beruhigung über die stürmende Seele, über das in Sehnsucht vergehende Herz:

Mir ist es, denk ich nur an dich,
Als in den Mond zu sehn,
Ein stiller Friede kommt auf mich,
Weiß nicht, wie mir geschehn –

(Jägers Abendlied);

daher ihm auch der Anruf »heilig« zusteht: »Wo du, heiliger Mond, auf den Wipfeln meiner Bäume dämmerst« (Stella). –

Dich ehr ich, heilges Licht,
Reiner, hoher Gefühle Freund!

(Triumph der Empfindsamkeit.)

»In heilger Mondnacht« –

(Geweihter Platz.)

Zwei lyrische Gedichte sind ganz eigens an den Mond gerichtet; in dem ersten, »An Luna«, verschmilzt die Mondhelle mit zärtlicher, ja wollüstiger Liebesphantasie: der schwimmende Nebel, der Silberschauer um das Antlitz des Mondes, Lunas leiser Lauf, der die Nachtvögel und die Geister der Abgeschiedenen aus ihren Höhlen weckt, der weite Blick, mit dem der Mond über alle Fernen sieht und durch das Fenstergitter bis zu den unverhüllten Gliedern des geliebten Mädchens in die Kammer dringt – diese ganze Malerei ist mit leichter Kunst in lyrischen Sang und Klang verwandelt. Fehlt es gleichwohl diesem frühen Jugendliede noch an tieferer Resonanz, so ist das zweite, »An den Mond« (vom Jahre 1778, nachher wesentlich umgestaltet und erhöht), ganz eine weiche, dunkle Musik der Seele: die Mondnacht hat des Dichters Gemüt bis in seine Tiefen gelöst, so daß Vergangenheit und Umgebung, Wonn' und Weh des Lebens, verlornes Glück und stille Entsagung, alle Eindrücke früherer Tage, alle Bilder der gegenwärtigen Stunde in eine wehmütige Stimmung zusammenfließen, die dann in schmelzendem Zauber der Melodie und des Rhythmus ausströmt.

Goethes Phantasie war eine zu echte und wirkliche, als daß sie sich in der anschauungslosen Unendlichkeit des astronomischen Himmels oder wie Klopstock unter den altjüdischen Cherubim und Seraphim hätte ergehen können – nur einmal, im Prolog zum »Faust«, läßt er die drei Erzengel singen, den ersten von der Sonne, den andern von dem Umschwung der Erde, den dritten von Sturm, Ungewitter und sanften Lüften – aber zu den freundlichen Sternen über unsern Häuptern blickt er gern auf, redet sie an und verfolgt den Weg, den sie langsam wandeln. An den Herzog (24. Dezember 1775): »Der herrliche Morgenstern, den ich mir von nun an zum Wappen nehme, steht hoch am Himmel.« Er nahm ihn sich zum Wappen, denn er war um jene Zeit immer früh auf und erwartete im Freien die allbelebende Sonne. Noch dreizehn oder fünfzehn Jahre später bestätigt dies das schöne venezianische Epigramm (97):

In der Dämmrung des Morgens den höchsten Gipfel erklimmen,
Frühe den Boten des Tages grüßen, dich, freundlichen Stern,
Ungeduldig die Blicke der Himmelfürstin erwarten,
Wonne des Jünglings, wie oft locktest du nachts mich heraus!
Nun erscheint ihr mir, Boten des Tags, ihr himmlischen Augen
Meiner Geliebten, und stets kommt mir die Sonne zu früh.

An Frau von Stein (19. Januar 1778): »Orion stand so schön am Himmel, als wir von Tiefurt fröhlich heraufritten«, und (8. Juli 1781): »Jeden Abend grüß' ich das rötliche Gestirn des Mars, das über die Fichtenberge vor meinem Fenster aufgeht.« In dem herzlichen, betrachtenden Gedicht »Ilmenau 1783« freut er sich des frischen Balsams der Nadelwaldung und hat in deren Finsternis »beim Liebesblick der Sterne« den Pfad verloren und sagt dann von sich selbst:

Indessen ich hier still und atmend kaum
Die Augen zu den freien Sternen kehrte.

»Wilhelm Meister« 1, 17: »Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein Dasein wie ein goldner Traum.« Die Sterne dienen dem Dichter, um seine ideale Liebe wie mit einer Strahlenkrone zu umgeben, dann um der nächsten Wirkung der Liebe durch die Vorstellung der kalten Himmelsweiten sich noch wärmer zu versichern, endlich auch zum Bilde eines Jenseitigen und ewig Fernen und Versagten. »Meine Liebe ist mir wie der Morgen- und Abendstern, er geht nach der Sonne unter und vor der Sonne wieder auf, ja wie ein Gestirn des Pols, das nie untergehend über unserm Haupte einen ewig lebendigen Kranz flicht. Ich bete, daß es mir auf der Bahn des Lebens die Götter nie verdunkeln mögen.« (An Frau von Stein, 22. März 1781.) Mitten in der gemeinen Bewegung des Lebens sieht er überall wie durch einen Flor die Gestalt der Geliebten; sie leuchtet ihm

freundlich und treu,
Wie durch des Nordlichts bewegliche Strahlen
Ewige Sterne schimmern.

(An Lida.)

Aber wie in der zehnten Römischen Elegie die Erinnerung an den finstern Todesschlaf der Helden im Grabe das Glück der »liebeerwärmeten Stätte« erhöht, so in den »Nachtgedanken« der Gegensatz der Sterne, die nach strengem Gesetz durch die unermeßliche Leere geführt werden:

Euch bedaur ich, unglückselge Sterne,
Die ihr schön seid und so herrlich scheinet,
Dem bedrängten Schiffer gerne leuchtet,
Unbelohnt von Göttern und von Menschen,
Denn ihr liebt nicht, kanntet nie die Liebe!
Unaufhaltsam führen ew'ge Stunden
Eure Reihen durch den weiten Himmel.
Welche Reise habt ihr schon vollendet,
Seit ich weilend in dem Arm der Liebsten
Euer und der Mitternacht vergessen!

Derselben Geliebten hatte er einige Jahre vorher, als sie seiner Glut immer wieder ausgewichen war, entsagend schreiben müssen (Schöll 1, S. 23, Fielitz, Nr. 89): »Ich sehe dich eben künftig, wie man Sterne sieht! Denke das durch!« Ich kann es nie erwerben, klagt der Liebende in »Trost in Tränen«:

– es steht mir gar zu fern,
Es weilt so hoch, es blinkt so schön,
Wie droben jener Stern –

worauf die Freunde erwidern:

Die Sterne, die begehrt man nicht,
Man freut sich ihrer Pracht,
Und mit Entzücken blickt man auf
In jeder heitern Nacht –

ganz wie Alexis sich selbst anklagt, nicht früher von Doras Schönheit betroffen worden zu sein, sondern sie angesehen zu haben, wie man Mond und Sterne sieht, ohne an ihren Besitz zu denken. Aber in dem Liede »Sehnsucht« geht das Mädchen sinnend am Bache hin, die Wiesen entlang, der Abend dämmert, die Nacht bricht ein; plötzlich blitzt ein schöner Stern auf und verwandelt sich in den wirklichen Geliebten zu ihren Füßen:

Auf einmal erschein ich,
Ein blinkender Stern,
Was glänzet da droben
So nah und so fern?
Und hast du mit Staunen
Das Leuchten erblickt –
Ich lieg' dir zu Füßen,
Da bin ich beglückt!

Noch spät, als die betrachtende Zeit schon gekommen war, findet sich in der Novelle »Der Mann von fünfzig Jahren« (vom Jahre 1807) die prächtige Schilderung des auf der blanken gefrorenen Fläche sich spiegelnden Mond- und Sternenhimmels und der dadurch erregten Winterlust der Menschen – weit phantasievoller, obgleich in Prosa, als Klopstocks rhetorisch figurierte, aber dem Gehalte nach prosaische und dürftige Schlittschuh-Ode »Der Eislauf«. Einige Bruchstücke mögen hier stehen: »Die schöne Kunst, welche die ersten raschen Wintertage zu verherrlichen und neues Leben in das Erstarrte zu bringen im hohen Norden erfunden worden.« – »Das hat die Eislust vor allen andern körperlichen Bewegungen voraus, daß die Anstrengung nicht erhitzt und die Dauer nicht ermüdet.« – »Der volle Mond stieg zu dem glühenden Sternhimmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung.« – »Die Sterne flammten, die Kälte war gewachsen, sie fühlten nichts davon und fuhren dem lang daher glitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar dem himmlischen Gestirn selbst entgegen.« Ein ähnlicher Ausdruck noch im »Sankt Rochusfest zu Bingen«: Der Dichter und seine Freunde, nachdem die heitere Abendtafel im Gasthof zur Krone in Rüdesheim aufgehoben worden, traten hinaus »unter den brennend gestirnten Himmel« und verweilten lange daselbst – und die Gläser und der Rüdesheimer selbst werden wohl auch mit hinausgetragen worden sein.

Näher und vertrauter als der Himmel, in dem die Götter wohnen, sind uns Erde und Wasser, die beiden Elemente, auf und an denen wir leben. Der Erdboden ist zunächst der nach allen Seiten grenzenlos sich ausdehnende, auf dem alles ruht, aus dem alles hervorgeht. Der Gaben alle, ruft Prometheus,

die ergötzlich sind
Unter dem weiten Himmel
Auf der unendlichen Erde –,

uns trägt (Iphigenie)

der gottbesäten Erde schöner Boden –,

der Mensch

Von der Erde sich nährend, die weit und breit sich auftut –

(Hermann und Dorothea) Man bemerke die drei Spondeen am Schlusse des Hexameters, die das Ungeheure, die tragende Kraft des Erdbodens malen.,
die breit und weit am Gemeinen sich freuet –

(Achilleïs) Falsch, statt: weit und breit. Vielleicht Druckfehler?

besitzt die Gabe der Phantasie vor allen andern Geschlechtern

der kinderreichen
Lebendigen Erde,

die zugleich »die wohlgegründete, dauernde« ist (Grenzen der Menschheit) – Prädikate, von denen manche an griechische anklingen: ψυσίζοος αἶα, βιόδωρος αἶα, ἄσπετον οὖδας, πελώρη γαἶα, γαἶα ἀπείριτος, χϑὼν εὐρεία, εὐρυοδείη, πουλυβότειρα usw. Die Erde ist angebaut und dem Menschen freundlich, sie kann auch öde sein: Egmont sehnt sich aus dem Kerker hinaus »ins Feld, wo aus der Erde dampfend jede nächste Wohltat der Natur und durch die Himmel wehend alle Segen der Gestirne uns umwittern«, – aber auf der »Harzreise im Winter« kann das Bild der Wildnis, der Verlassenheit sich nicht mächtiger, unmittelbarer uns eindrücken als durch die Zeilen:

Aber abseits wer ist's?
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.

Die Erde trägt Wälder und Berge, ihre Oberfläche liegt stumm und erstarrt vor uns da, aber im Zuge ihrer Umrisse, in der Lagerung ihrer Schichten offenbart sie uns dennoch die ungeheure Geschichte, durch die sie geworden. »Wir sind auf die hohen Gipfel gestiegen«, schreibt der Dichter am 7. September 1780 seiner Freundin, »und in die Tiefen der Erde eingekrochen und möchten gar zu gern der großen formenden Hand nächste Spuren entdecken.« Auf derselben Reise küßt er die Wand der Hermannsteiner Höhle, in der er früher den Namen der Geliebten eingegraben – so daß »der Porphyr«, setzt er hinzu, »seinen ganzen Erdgeruch atmete, um mir, auf seine Art wenigstens, zu antworten.« »Es ist ein erhabenes, wundervolles Schauspiel«, heißt es in dem Briefe vom 12. April 1782, »wenn ich nun über Berge und Felder reite, da mir die Entstehung und Bildung der Oberfläche unserer Erde und die Nahrung, welche Menschen draus ziehen, zu gleicher Zeit deutlich und anschaulich wird. Erlaube, wenn ich zurückkomme, daß ich Dich nach meiner Art auf den Gipfel des Felsens führe und Dir die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeige.« Er habe Freundschaft mit der Erde geschlossen, sagt er von sich aus und wünscht, die Geliebte möge dies Gefühl mit ihm teilen (12. September 1780): »Sie müssen noch eine Erdfreundin werden, es ist gar zu schön – Sie haben sich ja schon mir zu Gefallen über mehreres gefreut.« In jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter streift er durch das Thüringer Waldgebirge, im dichten Dunkel der Fichten hängt er seinen Träumen nach, durchwühlt »der Erde Mark mit Ahnungsdrang« und schlürft seine Nahrung »aus dumpfem Moos und triefendem Gestein«. An Frau v. Stein, aus Ilmenau (22. Juli 1776): »Hoch auf einem weitrings sehenden Berge. Im Regen sitz' ich hinter einem Schirm von Tannenreisen. Die Täler dampfen alle an den Fichtenwänden herauf.« An Herder von demselben Orte zu derselben Zeit: »Ich führe mein Leben in Klüften, Höhlen, Wäldern, in Teichen, unter Wasserfällen, bei den Unterirdischen, und weide mich aus in Gottes Welt.« Wiederum aus Ilmenau (September 1780): »Auf den höchsten Berg des Reviers – hab' ich mich gebettet, um dem Wuste des Städtchens, den Klagen, den Verlangen, der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen«, und im Oktober 1784: »Wenn wir schön Wetter behalten sollten, da will ich meine Freunde, die Berge, noch recht durchsinnen und durchsuchen, damit ich im Glauben gestärkt werde.«

Gewaltiger als Brocken und Gickelhahn sind die Eispaläste des Berner Oberlandes und die Gletscher des Chamonix-Tales, und auch über diese enthält die Schweizerreise von 1779 flüchtige Aufzeichnungen voll dichterischer Erhabenheit. Wir begnügen uns, aus dem Bericht vom 27. Oktober zwei die Kette der Berner Alpen betreffende Stellen wiederzugeben: »Ihre ganze reine Reihe stieg ostwärts auf, ohne Unterschied der Namen, der Völker und Fürsten, die sie zu besitzen glauben, nur einem großen Herrn und dem Blick der Sonne unterworfen, der sie schön rötete«, und: »sie sind wie eine heilige Reihe von Jungfrauen, die der Geist des Himmels in unzugänglichen Gegenden, vor unsern Augen, für sich allein, in ewiger Reinheit aufbewahrt.«

In den Gebirgslandschaften sind die Nebel häufig, sie wallen auf und ab, gestaltlos, die Ferne wie die Nähe verhüllend, darum aber der Dichterphantasie nicht unerwünscht; sie erbaut sich hinter diesem Vorhang eine andere wunderbare Welt. Der Nebel gleicht der »Dumpfheit«, d. h. der ahnungsvollen Dämmerung, in welcher das Gemüt seine tiefsten Eingebungen erfährt; zerreißt der Nebelschleier, dann werden die realen Dinge sichtbar, deren Bestimmtheit dem Glücke wie der Angst des Traumes ein Ende macht. An Frau von Stein (3. Mai 1781): »Empfange mich mit deiner Liebe und hilf mir auch über den dürren Boden der Klarheit, da du mich durch das Land der Nebel begleitet hast.« In Schaffhausen, in der Nähe des Rheinfalls, dessen Dampf sich mit dem Nebel vermischte, gedenkt der Dichter Ossians und fügt die bedeutsamen Worte hinzu: »Liebe zum Nebel bei heftigen innern Empfindungen« – welche letzteren dann durch die festgestalteten Naturdinge nicht gehindert werden, ihrem eignen Zuge zu folgen, sich selbst anzugehören. In »Amor als Landschaftsmaler« sitzt der Dichter auf einer Felsenspitze, und der Nebel ist wie ein graugrundiertes Tuch vor ihm ausgespannt; der schöne Knabe Amor tritt ihm zur Seite und malt die herrlichste Landschaft und in diese das reizendste Mädchen hinein, und da der Nebel mit den Gestalten, die er trug, sich ihm wogend entgegenbewegte, hätte er wohl auf seinem Felsen steinern sitzenbleiben können? – eine ähnliche Phantasie wie in der Zueignung, aber mit den Farben einer ganz andern Stimmung: das Gedicht entstand in Italien; es ist, als wäre selbst der Nebel dort ein anderer als in Thüringen. Als er im September 1777  einsame Tage auf der Wartburg verlebte, kommt unter den warmen Naturschilderungen, die er in seinen Briefen niederlegte, und die wie eine Erinnerung an Werther klingen, auch die Stelle vor: »Es lagen unten alle Täler im gleichen Nebel, und er war völlig See, wo die vielen Gebirge als Ufer hervorsahen« – und um dies Schauspiel zu sehen, hatte ihn sein Diener Philipp, der seinen Herrn kannte, frühmorgens aus dem Schlafe geweckt und ans Fenster geführt! Auf der soeben erwähnten Schweizerreise, die er mit dem Herzog unternahm, sahen beide von dem höchsten Gipfel des Jura, der Dole, in dem ungeheuren Umkreise, den der Blick von dorther beherrscht, das Licht mit dem Nebel kämpfen: die Städte und Berge rundum versanken bald, bald blitzten sie empor – es war, wie der Dichter sagt, »eine taumelnde Erkenntnis« – und als nun die Sonne sich zum Untergang neigte und der Nebel über den Genfer See seinen Abendhauch breitete, da schienen die entfernteren Eisgebirge »in einen leichten Feuerdampf aufzuschmelzen«, und »wie ein gewaltiger Körper von außen gegen das Herz zu abstirbt, so verblaßten alle langsam gegen den Montblanc zu, dessen weiter Busen noch immer rot herüberglänzte« (Bericht aus Genf vom 27. Oktober). Die Nebel steigen auf und werden Wolken, die Wolken senken sich zur Erde und liegen dann »dem Geiste schwer auf« (13. November 1780), Ilmenau:

Die Wolke sinkt, der Nebel drückt ins Tal –

aber die »Töchter des Himmels, die weitschweifenden Wolken« (Schöll 1, S. 330, Fielitz Nr. 598) können auch wie ein Thronhimmel droben schweben und die Wanderung zum Fest machen (aus Emmendingen, 28. September 1779).

Aber der Nebel und seine Schwester, die Wolke, sind ja nur Gestalten des Wassers, und so kommen wir zu diesem Element, das in seinen tausend Wandlungen und Übergängen dem Gemüt und der Anschauung des Dichters, wie das Licht des Mondes, immer nahe und innig befreundet war. Es gleicht ja des Menschen Seele, ist beweglich und zum Himmel aufstrebend und zur Erde niedergezogen wie diese und, wie das Mondlicht, ein Sinnbild des Geistes, gleichsam sinnlich und sichtbar gewordener Geist. Es offenbart sich bald als »allreinigende Welle« (Elpenor), bald als unaufhörlicher Sturz aus bewölkter Kluft:

Felsen stehen gegründet, es stürzt sich das ewige Wasser

(Euphrosyne – wo das einzelne Adjektiv »ewig« ein ganzes Gedicht und eine lange Schilderung aufwiegt), bald als Quell aus der Höhe in Absätzen niederspringend (Iphigenie):

es quillet heller
Nicht vom Parnaß die ew'ge Quelle sprudelnd
Von Fels zu Fels ins goldne Tal hinab –

oder in den »Geheimnissen«:

– daß eine Quelle
Vor seinem Schwert aus trocknem Felsen sprang,
Stark wie ein Bach sich mit bewegter Welle
Den Berg hinab bis in die Tiefe schlang;
Noch quillt sie fort, so rasch, so silberhelle,
Als sie zuerst sich ihm entgegendrang –

bald als zischender Strahl die glatte Felswand hinab oder als spiegelklarer See (Gesang der Geister über den Wassern):

Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne –

oder als laue Meereswelle dem Badenden sich zärtlich anschmiegend (Prometheus), oder als Fläche der unendlichen See, über der der Sturm leise wandelnd naht, bis er in furchtbarer Wut die Wellen aufregt und mit dem angsterfüllten Schiff wie mit einem Ball spielt (Seefahrt) usw. Der Dichter, in klingender Wehmut durch die Mondnacht wandelnd, ruft das Flüßchen an, seiner Stimmung zu begegnen:

Wenn du in der Winternacht
Wütend überschwillst,
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.

Aber auf dem Züricher See am Morgen saugt der von träumerischer Erinnerung, von widersprechenden Gefühlen bewegte junge Dichter aus der herrlichen Welt ringsum neues Leben, neuen Mut:

Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne;
Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See spiegelt
Sich die reifende Frucht.

Eine andere phantasievolle Schilderung des Sees und der Fahrt auf demselben enthalten die Wanderjahre, also eine Altersdichtung, Buch 3, Kapitel 13: »Es ist ein erfreuliches schönes Schauspiel um die Fahrt auf dem See, wenn der Spiegel desselben mit den anliegenden Gebirgen vom Abendrot erleuchtet sich warm und allmählich tiefer und tiefer schattiert, die Sterne sichtbar werden, die Abend-Betglocken sich hören lassen, in den Dörfern am Ufer sich Lichter entzünden, im Wasser widerscheinend, dann der Mond aufgeht und seinen Schimmer über die kaum bewegte Fläche streut. Das reiche Gelände fliegt vorüber, Dorf um Dorf, Gehöft um Gehöft bleiben zurück, endlich in die Nähe der Heimat gekommen, wird in ein Horn gestoßen, und sogleich sieht man im Berg hier und dort Lichter erscheinen, die sich nach dem Ufer herabbewegen, ein jedes Haus, das einen Angehörigen im Schiffe hat, sendet jemanden, um das Gepäck tragen zu helfen.« Die herrliche Ode »Mahomets Gesang« begleitet den Lebenslauf eines orientalischen Stromes, der im hohen Gebirge geboren, dann immer anschwellend durch Paradiese und Wüsten zum Ozean fortrollt – ein Bruchstück physikalischer Geographie in gewaltigen dichterischen Gesichten, ein Wunderwerk der Phantasie, zugleich Symbol der wachsenden Bedeutung eines großen Menschen oder der Phasen einer weltgeschichtlichen Begebenheit. In der Romanze »Der Fischer« dagegen (Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll) sollte »das Gefühl des Wassers« überhaupt ausgedrückt werden, »das Anmutige, was uns im Sommer lockt zu baden« – wie der Dichter selbst gegen Eckermann äußerte. Das Rinnen und Murmeln, das Herankommen und Zurücksinken des feuchtverklärten Elementes umschmeichelt die Seele: sie ahnt in den verborgenen Tiefen, über denen der Himmel, das eigne Angesicht widerscheinend, schwimmt, eine unbekannte Herrlichkeit, Kühlung jeder brennenden Wunde; der dunkle Zug danach wird zur Person, zur Nixe, die nun mit süßer, bestrickender Rede den Fischer hinabzieht. An Frau von Stein (19. Januar 1778): »Diese einladende Trauer hat was gefährlich Anziehendes, wie das Wasser selbst, und der Abglanz der Sterne des Himmels, der aus beiden leuchtet, lockt uns«, und in »Wahrheit und Dichtung« (19. Buch) von der Schweizer Reise: »Beim Anblick und Feuchtgefühl des rinnenden, laufenden, stürzenden, in der Fläche sich sammelnden, nach und nach zum See sich ausbreitenden Gewässers war der Versuchung (des Badens) nicht zu widerstehen.«

Wie die Achsendrehung der Erde in den Werken des Dichters als Morgen und Abend, als Tag und Nacht erscheint, so konnte auch ihr jährlicher Umlauf um die Sonne oder der Wechsel der Jahreszeiten in den Schöpfungen seiner Phantasie nicht fehlen. Er war, wie wir alle, mit seinem ganzen Dasein an das Schicksal des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an wie alle übrigen Organismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im Herbst fortziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt abwerfen. Zunächst der Frühling – er ist ja die Jahreszeit der Dichter und lebt, wie die Liebe, in der Poesie aller Völker, besonders der nordischen. Kann die Wiederkehr der Sonne, das erste Nahen und Erwachen des neuen Lebens, der Vorfrühling, noch ohne Blumen, noch im Kampfe mit dem Winter, doch schon mit hoffnungsvollem Grün im Grunde der Täler, die Zeit um das Osterfest – kann sie in ergreifenderen Tönen verkündigt werden als am Anfang der Spaziergängerszene im Faust:

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche –?

Vergleicht man mit dieser Frühlingsszene Schillers Klage der Ceres:

Ist der holde Lenz erschienen?
Hat die Erde sich verjüngt –

so wird man recht inne, wie sehr sich eine aus allgemeinen, hergebrachten Zügen zusammengesetzte Rhetorik von lebensvoller, konkreter Wirklichkeit unterscheidet Eine wahrere Schilderung des ersten Frühlings im hohen Norden enthält das Fragment »Demetrius« zu Anfang des zweiten Aktes.. In voller Pracht aber umgibt uns der Frühling in der Ode »Ganymed«, auf die wir uns schon im obigen bezogen haben: er wird als der »Geliebte« angerufen und lacht und klingt in dem Gedicht mit all seiner Sehnsuchtswonne, seinem unergründlichen Himmelsblau, dem allseitigen Glanz seiner Blumen, Gräser, und Lichter ( ver rubens, candidum ver, λευκὸν ἔαρ, πολιὸν ἔαρ bei den antiken Dichtern). Wie schön sind auch die Worte in dem Brief an Lavater vom April 1781: »Die nächsten Wochen des Frühlings sind mir sehr gesegnet, jeden Morgen empfängt mich eine neue Blume und Knospe. Die stille, reine, immer wiederkehrende, leidenlose Vegetation tröstet mich oft über der Menschen Not, ihre moralischen, noch mehr physischen Übel.« Ach, aber der Frühling vergeht so bald, er ist so flüchtig (19. April 1779):

Bleib, ruf ich oft, Frühling, man küsset dich kaum,
Engel, so fliehst du, wie ein schwankender Traum!

Er neigt sich dem Sommer zu, das erste Gewitter zieht auf (Wilhelm Meister, Anfang des 7. Buches): »Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen; ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedroht hatte, ging stürmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. »Ach,« sagte er zu sich selbst, »erscheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde? und müssen Tropfen fallen, wenn wir entzückt werden sollen?« usw. Ein Jugendgedicht, das »Mailied« (Wie herrlich leuchtet mir die Natur) übergehen wir, weil es nur aus den seit Hagedorn geläufigen Ausrufen besteht und auch von Gleim, Uz oder J. G. Jacobi hätte gedichtet sein können, ebenso das nicht bedeutende Lied »Frühzeitiger Frühling« (vom Anfang des neuen Jahrhunderts), und wenden uns zu dem von einer sommerlichen, lichtvollen Phantasie eingegebenen Weltbilde, das sich »Hermann und Dorothea« nennt. Wie Faust am Osterfest sich mit der ganzen Natur wieder einverstanden fühlt und »der Frühlingsfeier freies Glück« genießt, wie Werther mit einer Art Maitrunkenheit beginnt, dann gegen den Schluß, unmittelbar vor der schrecklichen Tat, durch die finstere, feuchte Winternacht irrt: »es stiebte zwischen Regen und Schnee«, und naß und verstört und ohne Hut nach Hause kehrt, wie es Herbst geworden war, als in den Wahlverwandtschaften die beiden Liebenden, für die auf Erden kein Bleiben mehr war, zur ewigen Ruhe eingingen und auf Ottiliens Haupt ein Kreuz von Astern gesetzt wurde, »die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten«, so waltet in dem griechisch gedachten Epos der Hochsommer, die Zeit, wo für eine Weile auch im Norden, wie unter dem Himmel Ioniens, das Leben der Menschen an die freie Natur tritt, die Hüllen fallen, die Farben sich hervorwagen und unter Bäumen, auf Wegen, in Gärten, vor den Türen der Häuser Gestalten und Gruppen sich bilden. Wir durchleben in »Hermann und Dorothea« einen Sommertag vom Mittag bis zum Abend. Glühend brennt die Sonne, der Wind weht sanft von Osten, kein Wölkchen schwebt am Himmel, das Heu ist schon herein, auch das Korn ist reif, die Ernte steht für morgen, Montag, bevor. Die Fliegen umsummen die Gläser, und wer kann, zieht sich ins Innere des Hauses, in das kühlere Gemach, zurück. Draußen quillt der Staub unter den Hufen der Pferde, und Hermann ersieht sich, um mit ihnen zu halten, den schattigen Platz unter den Linden. Alles begehrt nach Wasser, nach einem frischen Trunk, und so kommt Dorothea mit ihren Krügen zum Brunnen und findet ihren jungen Freund daselbst. Gegen Abend steigt der klare Vollmond auf, mit ihm ein schweres Gewitter; schon die Sonne hat beim Untergehen mit getürmten Wolken gekämpft und, bald hier, bald dort hervorbrechend, ein glühendes Streiflicht über die Gegend geworfen: später, als es völlig Nacht geworden, blickt der Mond mit schwankenden Lichtern durch das Laub des Weinbergs, durch den die Liebenden schreiten, bis ihn die schwarzen Wetterwolken gänzlich umhüllen. Und während im Hause das reinste Glück sich vollendet, hat sich die Nacht immer tiefer gesenkt, der Sturm saust, der Donner grollt, und Regengüsse schlagen gewaltsam herab. Hoffen wir, daß, wenn die Hausgenossen am nächsten Morgen sich aufs Feld begeben, das Unwetter nichts verdorben hat und das Geschäft fröhlich vollbracht werde. Dann werden am heißen Mittag die Schnitter sich des Mahles unter dem Birnbaum erfreuen, und das junge Paar wird ihnen in dem eigenen Weine fröhlich Bescheid tun müssen.

Auf die Ernte der Halmfrucht folgt die der andern Früchte, aus dem Garten und von den Bäumen, bis zur Weinlese, es folgt der reichliche Herbst (Euphrosyne). Auch für diese Zeit besitzen wir in dem Gedicht »Herbstgefühl« einen wundervollen, auf immer klassischen Ausdruck. Das strotzende Fruchtleben, die schwellende Reife, der sich drängende Reichtum, die letzte Wärme der scheidenden Mutter Sonne, der zauberische Hauch des Mondes, das süße Wehen des milden Himmels – diese Gesamtempfindung hat in den wenigen Zeilen des kurzen Gedichts, wie die Seele sich den Leib baut, ein unmittelbares Dasein gewonnen Man staunt beim Genusse des kleinen Liedes über den sinnlichen Reichtum der gealterten, welken, abstrakt verblasenen deutschen Sprache in dem trocken verständigen achtzehnten Jahrhundert und über die Macht des Genius, der diese Schätze zu finden und zu verwenden wußte! Drängen, quellen, schwellen, grünen, reifen, glänzen, brüten, scheiden, säuseln, fruchten, kühlen, tauen – diese schönen, wirklichen, nicht zusammengesetzten Verba innerhalb des kurzen, wie ein Seufzer der Brust sich entwindenden Gedichtchens! Dazu die Substantiva: Sonne, Mond, Laub, Himmel, Mutter, Hauch, Blick, Zauber, Träne, Fülle, Rebe, Auge, Liebe – und die Adjektiva: hold, voll, fett, freundlich, schnell, ewig! Ebenso im »Ganymed« – nur daß in diesem von dem Frühling überstrahlten Gedicht das Gold und die Juwelen der Sprache gleichsam unter einem andern Sterne aus der Tiefe gehoben sind: glühen, rufen, brennen, schmachten, fassen, streben, sehnen, Nebel, Morgen, Gras und Blumen, Busen und Herz usw. – Im Grimmschen Wörterbuch, wo eine Menge Zusammensetzungen mit Herbst angeführt sind, fehlt das Goethische »Herbstgefühl«. Goethe, sollten wir meinen, müßte in einem deutschen Wörterbuche die erste und hauptsächlichste Quelle sein, und für ihn würden wir die Zitate aus Heine, Scheffel usw. gern entbehren. Wenn die deutsche Nation bis auf den letzten Mann unterginge und ebenso alles in deutscher Sprache Gedruckte und nur Luthers und Goethes Werke hätten sich erhalten – aus ihnen könnte die Sprache in aller Fülle wiederhergestellt werden, und auch aus dem Gegensatz der Weltansicht des einen und des andern (bei gleicher Wurzel in der Tiefe) ließe sich die Entwickelung der dazwischenliegenden drei bis vier Jahrhunderte erraten und in großen Zügen verzeichnen..

Ist die Weinlese vorüber, dann stellt sich mit blendendem Schnee und blinkendem Eis der Winter ein, die Bäume haben sich entlaubt, auf die Tenne fallen die Schläge der Drescher, und es häuft sich das Korn, der eingesammelte Segen. Aus Ottiliens Tagebuch (II, 3): »Das Jahr klingt ab; der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die roten Beeren jener schlanken Bäume scheinen uns noch an etwas Munteres erinnern zu wollen; so wie uns der Taktschlag des Dreschers den Gedanken erweckt, daß in der abgesichelten Ähre soviel Nährendes und Lebendiges verborgen liegt.« Und (II, 9): »Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen. Sie sind nichts, aber sie decken auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und der Baum sich als eine Gestalt uns entgegendrängt.« Ein ähnlicher Gedanke schon 1781, an Frau von Stein (15. November): »Das abgefallene Laub gewährt mir nichts Gutes, – als daß ich deine Wohnung sehen kann«, und ganz spät, in den »Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten«, aus dem Jahre 1827, vom Sommer:

Auch mir hat er das leichte Laub
An jenem Baum verdichtet,
Durch das ich sonst zu schönstem Raub
Den Liebesblick gerichtet.

Aber es gibt Länder, wo die Bäume im Herbst ihr Laub nicht abwerfen; es sind die hesperischen Gegenden der immergrünen Flora, in denen der Winter nicht kahl ist. Auch diesen Süden jenseit des Alpengebirges hat der Dichter in der Jugend geahnt, dann dichterisch erraten, dann in der Gegenwart mit allen Sinnen in sich aufgenommen. Dort leuchtet ein andrer Himmel:

Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer,
Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken.

Der Luftton färbt die Uferfelsen blau, und so sieht sie der Schiffer aus der Ferne:

Sieht die Berge schon blau, die scheidenden – (Alexis und Dora),
Des väterlichen Hafens blaue Berge

(Iphigenie),

der Tag ist dort farbiger, die Nacht durchsichtiger:

Nun umleuchtet der Glanz des helleren Äthers die Stirne,
Phöbus rufet, der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gesängen
Und mir leuchtet der Mond heller als nordischer Tag.

Eine südliche Ruinenszene in Abendstimmung malt uns der »Wanderer«, die Gärten in Italien die erste Strophe von Mignons berühmten Lied und das schöne Fragment der Nausikaa, die Villa des Reichen im Frühling mit den Bildern der epischen Dichter die erste Szene des Tasso:

schwankend wiegen
Im Morgenwinde sich die jungen Zweige;
Die Blumen von den Beeten schauen uns
Mit ihren Kinderaugen freundlich an;
Der Gärtner deckt getrost das Winterhaus
Schon der Zitronen und Orangen ab,
Der blaue Himmel ruhet über uns,
Und an dem Horizonte löst der Schnee
Der fernen Berge sich in leisen Duft.

Zwar wurde in Rom nur der »gebildete« Stein, nicht der natürliche, angesehen: »die Form hatte allen Anteil an der Materie verdrängt« (an Knebel, aus Mailand 24. Mai 1788); dennoch aber ist die »Italienische Reise« reich an Blicken auch auf die Landschaft und deren wechselnde Gestalt; wir begnügen uns, eine Stelle herzusetzen, die in allgemeinen Zügen zusammengefaßt, wie sie ihm erschienen (Rom, 24. November 1787): »Es ist ein Glanz und zugleich eine Harmonie, eine Abstufung im Ganzen, wovon man nordwärts gar keinen Begriff hat: bei euch ist alles entweder hart oder trüb, bunt oder eintönig.« Und doch mochte er, der fleißige Zeichner, der mit seiner Mappe soviel Aussichtspunkte gesucht, der Geolog und Mineralog, der mit seinem Hammer soviel Klüfte durchklettert, der jahrelang in Wäldern und Bergen, auf Wanderungen und in seinem Garten, in den öden Flächen des nordwestlichen Deutschlands wie in der Schweiz und am Rhein und Main, mit Himmel und Erde gelebt hatte – er mochte wohl wissen, was er sagte, und sich ohne Überhebung ein vergleichendes Urteil erlauben. Von Jugend auf war ihm ja, um seine eignen Worte zu brauchen, »die Natur in ihrer Herrlichkeit erschienen«, und »er gehörte ihr an, wie sie ihm«, und seine Abhängigkeit vom Wetter, vom Boden, von der Jahreszeit, sein Anschluß an das Leben der allgemeinen Natur war nur, wie Adolf Schöll so schön und richtig sagt, die »physische Seite seiner Genialität«.


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