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Am nächsten Nachmittag saß Lydia im Salon ihrer Schwester und betrachtete die Blumen auf dem Blumentisch, Azaleen, Zyklamen und Hyazinthen. Topf an Topf standen sie gedrängt, ein ganzer Wald von frischen, leuchtenden Blumen, in solcher Pracht, als wenn ein Verehrer sie gespendet hätte … Ob Alexander dieser Verehrer war?

Als die Tür sich öffnete, erhob sich Lydia. »Guten Tag, Anna.«

»Guten Tag!«

Sie reichte ihrer Schwester freimütig die Hand und sagte dann, auf das nebenan liegende Arbeitszimmer ihres Schwagers weisend: »Weißt du, ich an Alex' Stelle hätte doch lieber moderne Möbel genommen. So auf den ersten Eindruck macht sich diese Renaissance ja sehr dekorativ. Aber für alle Tage … Kommt er sich nicht selbst ein bißchen komisch drin vor?«

»Aber Lydia, du hast doch gerade die Sachen für ihn ausgesucht.«

»Erlaube, ein Museumsdirektor kann sich seine Sachen doch selbst aussuchen.«

»Zum mindesten hast du ihm dazu geraten.«

»Hab ich? Na, wenn sie ihm nur gefallen! – Wie geht's Walpurga?«

»Danke, sehr gut. Sie tollt gerade im Garten mit ihrem Busenfreund Fritz, dem Sohn vom Krämer in deiner Straße.«

»Eigentlich 'ne komische Freundschaft. Mich wundert, daß du sie damit gewähren läßt.«

»Die Freundschaft stammt noch aus der Zeit, wo sie bei dir war. Soll ich sie übrigens rufen?«

»Laß nur, nachher. – Ich bin nämlich gekommen – wie lange denkst du eigentlich, daß Walpurga bei dir bleiben soll?«

»So lange du's erlaubst.«

»Das ist es eben. Nämlich – ich möchte doch auch was von ihr haben. Und – offen gestanden, habe ich die Absicht, sie mir wiederzuholen.«

»Jetzt – auf der Stelle?« fragte Anna erblassend.

»Nicht gleich. Es hat ja Zeit – bis morgen.«

»Lydia, warum? Warum tust du mir das noch an?«

»Wieso?« fragte diese arglos. »Du kannst sie doch nicht immer behalten. Was sollte Walpurga denn von mir denken?«

»Was sie von dir denkt? Gewiß weniger Schlimmes, wenn sie hier ist, als wenn sie bei dir alles mit ansieht. Noch ist sie ganz unbefangen. Aber –«

»Aber?«

Dies Aber klang so aufrichtig, erfüllt von gänzlicher Unschuld und Ahnungslosigkeit, daß Anna unter einem fast unpersönlichen Grauen erschauerte. Nicht die Schwester, die plötzliche Empfindung von der Furchtbarkeit des Lebens selbst war es, die sie so tief erschreckte. Da saß vor ihr am Fenster Lydia so blühend und taufrisch wie die eben aus dem Gewächshaus gekommenen Blumen und richtete den Kinderblick des guten Gewissens groß auf sie. Anna dagegen fühlte sich so zermürbt, so durchwühlt von widerstreitenden Empfindungen, so außerhalb aller Harmonie mit sich!

»Lydia,« – vor unterdrückter Erregung war ihr Sprechen fast ein Flüstern – »hast du denn keinen Funken von menschlichem Gefühl in dir, oder hältst du mich für so total blind, daß ich nicht weiß – – Ich weiß alles!« schrie sie plötzlich auf. »Ich weiß, wer bei dir ein- und ausgeht. Er hat's mir ja selbst gestanden. Und das soll nun auch noch das Kind mitansehen!«

Lydia strich rasch mit ihrer behandschuhten Rechten über ihren Muff, während auf ihrem Gesicht eine feine Röte mit einer leisen Blässe abwechselte. Obwohl sie nicht gefühllos gegen diesen Ausbruch ihrer Schwester war, empfand sie doch zugleich ein leises Mißbehagen darüber, daß Anna sich so gehen ließ, sich fast wie auf dem Theater benahm. Immer wieder strich sie mit gesenktem Kopf den Muff glatt, nur sekundenlang mit einem Blick die vor ihr Stehende streifend. Aber plötzlich kam ihr zum Bewußtsein, wie sehr die Schwester gelitten hatte, und es quoll warm in ihr auf. Wortlos erhob sie sich und drückte einen Kuß auf Annas Stirn. Dann nahm sie in einem Polsterstuhl Platz, so daß sie dem Fenster den Rücken drehte.

Den Kopf aufstützend, sagte sie nach einer Weile: »Ja, ich habe dir unrecht getan, Anna. Großes Unrecht! Aber – warum hast du deinen Mann auch nach Berlin fahren lassen? Du kennst mich doch. Ich hätte das nicht getan.«

»Es ist geschehen! Was läßt sich da noch ändern? Sprich nur nicht davon!«

»Nun höre mal, Annele … Annele, komm doch mal her!«

Da diese sich nicht rührte, erhob Lydia sich von neuem und drückte Anna in einen Stuhl. Dann kniete sie, nicht ohne Rücksicht auf ihre neue Frühjahrstoilette, neben Anna nieder, nahm deren Hand in die ihre und sagte: »Schau, Annele, nun sei mal vernünftig! Es ist geschehen, ja, leider. Aber es ist geschehen,« wiederholte sie. »Es ist vorbei. Ich kann mit ganz reinem Gewissen wieder dein Haus betreten. Ich empfinde für Alex nicht das geringste mehr.«

Anna fuhr in die Höhe und wich aufschreiend vor der Schwester zurück. »Lydia! Lydia! Du reißt meinen Mann, mit dem ich all die Jahre glücklich gewesen bin, von mir weg. Du zerstörst ihm alles, was er war und hatte, und nun, wo ihm auf der ganzen Welt nichts weiter bleibt als du, da sagst du, daß du nichts mehr für ihn empfindest!«

»Das ist eine grenzenlose Übertreibung!« erwiderte Lydia gekränkt. »Die Sache hat sich viel harmloser abgespielt! Wir waren vierzehn Tage zusammen unter demselben Dach. Vierzehn Tage« – Lydia betonte diese Worte – »war er der einzige Mann, den ich zu Gesicht bekam. Und dabei waren wir die ganze Zeit brav, bis dann am letzten Tag – wie es kam, weiß ich nicht – oder vielmehr ja, ich weiß es. Ich will dir offen gestehen, daß ich den entscheidenden Schritt getan habe. Ich hatte ihn wirklich furchtbar lieb. Er war rührend gut zu mir. Auf dich aber war ich gerade wütend. Und dann – nun es war eben noch so ein Rest von der Jugend her – ein unausgekosteter Rest. On revient toujours … Wir haben das nachgeholt, es war sehr schön, und nun ist es vorbei.«

»Mein Gott, der arme Mann! Wenn er das erfährt – er nimmt sich das Leben. – Lydia, hast du denn ganz vergessen, daß du ihn schon einmal so weit gebracht hast, daß er –«

»So was tut man nur einmal. Wenn man jung ist. Aber nun ist er von solchen Dummheiten kuriert. Sieh, Annele, du mußt die Männer nicht nach dir taxieren. Sie nehmen diese Sachen wirklich nicht so tragisch. Im ersten Augenblick, ja, da geraten sie außer sich, daß man neben ihnen auch noch andere passabel findet. Die liebe Eitelkeit gebärdet sich dann wie besessen. Aber es gibt sich. Glaub mir, Annele, es gibt sich. Nur muß man es ihm auf eine nette Weise beibringen. Der böse Zahn muß möglichst schmerzlos heraus. Und gerade deshalb möchte ich, daß Walpurga wieder zu mir kommt. Denn wenn die im Haus ist – du verstehst schon. Er muß dann gewisse Rücksichten nehmen. Das langweilt ihn. Er kommt nicht mehr so oft, und peu à peu verläuft die Sache im Sand.«

»Ich gebe dir das Kind dazu nicht. Nein, ich tu's nicht! Das Kind ist mir zu schade! O Gott, das alles ist ja so fürchterlich!«

Anna brach in ein haltloses Weinen aus. Lydia saß eine Weile still, während sie ihre Schwester nachdenklich betrachtete. Als diese sich etwas beruhigt zu haben schien, sagte sie: »Ich könnte ja verlangen, daß Walpurga zu mir zurückkommt. Aber wenn du nicht willst – ja, dann muß es eben anders gemacht werden. Aber zu Ende kommen muß die Geschichte. Adieu, Anna.«

»Bleib doch noch! Was wollte ich denn sagen?« Sie trocknete sich mit ihrem zerknüllten Taschentuch die Augen und starrte wirr vor sich hin. Aber sofort brachen neue Tränen hervor. »Bleib doch noch einen Augenblick!« wiederholte sie. »Ich weiß nicht, was ich sagen wollte. Mir ist so angst! So angst!«

»Es tut mir furchtbar leid. Aber ich habe eine Verabredung, zu der ich so wie so schon zu spät komme. Adieu, Annele. Und hab nur Mut! Es wird schon noch alles viel besser gehen als du denkst.«

»Ach, Lydia, schone ihn!« rief Anna ihr nach. »Tu ihm nicht weh! Du weißt ja nicht, wie er dich liebt!«

›Eine komische Welt!‹ dachte Lydia, während sie eilig das Haus verließ. ›Es fehlte nur noch, daß sie mich bittet, ihn ja doch recht lieb zu haben. Aber so denken nur Frauen, die die Männer nicht kennen. Diese Kanaillen sind alle keine Träne wert.‹

Sie war kaum einige Schritte gegangen, als sie merkte, daß es regnete. Sollte sie umkehren und sich einen Schirm holen? Aber das verbot ihr Aberglaube. Umkehren bedeutete Unglück.

Sie spannte also ihren Sonnenschirm auf und strebte eilig der Altstadt zu. Dort in der Kirchgasse wohnte die Limburg, bei der sie sich mit dem Rittmeister von Gysberg traf. Aber die Lust auf zärtliches Plaudern und Liebesgeplänkel war Lydia vergangen. Nein, sie war gar nicht in Stimmung dazu! Sie würde rasch eine Tasse Tee trinken und dann mit guter Manier fortzukommen suchen.

* * *

Eine kleine Viertelstunde früher war Alexander Herrn von Gysberg begegnet. Das heißt, er war, ohne von dem andern gesehen zu werden, hinter ihm hergegangen, bis der Rittmeister in einem ziemlich schäbigen Hause verschwand, in dem, wie Alexander sich dunkel erinnerte, die Limburg wohnen sollte.

Da war in ihm der Verdacht aufgestiegen, daß der Rittmeister bei der Dame vielleicht ein Schäferstündchen feierte. Unmöglich war es nicht. Herr von Gysberg war kein Kostverächter, und die Limburg galt bei vielen noch als reizvoll. Wenn dem so war – Alexander hatte ein Gefühl, fast als sprängen Ketten von seiner Brust.

Als er den Laden eines Vergolders betrat, bei dem er einige Rahmen für das Museum bestellen wollte, fragte er den Meister, ob in dem Hause schräg gegenüber vielleicht Frau von Limburg wohnte?

»Ei ja,« erwiderte der Alte, der in dem Haufen Leisten raschelte. »Freilich wohnt sie da. Das ist eene, Herr Hofrat! Die treibt's wirklich e bißchen zu bunt. Die bringt noch die ganze Straße in Verruf mit ihre Festivitäten. Heite morjen is noch e ganzer Handkarren voll Flaschen angekommen, aber da war Sie keen Wasser drinne, sage ich Ihnen.«

»Die wird sie doch nicht ganz allein austrinken?«

»Ne, nu freil'ch nich. 's is ja der reine Daubenschlag bei ihr. Haben Se ihn nich 'neingehn sehn, den Däuberich? Eben vor eener Minute is er drinne verschwunden.«

»Wer denn?«

»Nu, was solch'ch Ihnen verschweigen, was de ganze Straße weeß. 's is der Rittmeister von Gysberg.«

Alexander lachte, etwas geniert, daß er den Alten so weit ausgefragt hatte. Darauf suchten die beiden eine Reihe von Leisten aus, worüber eine ganze Weile verstrich. Schließlich ging der Meister noch in die Werkstatt hinüber, um einen in Arbeit befindlichen Goldrahmen zu holen.

Während Alexander eine Anzahl ziemlich wertloser Ölbilder, die in einem Nebenraum ausgestellt waren, besah, warf er von Zeit zu Zeit einen neugierigen Blick auf die dicht verhängten Fenster des ersten Stockwerks. Dort mochte es wohl sein, wo der Rittmeister die Orgien mit der alten Lebedame feierte. Nun, Glück zu! Glück zu! Er beneidete ihn nicht darum.

Da, gerade in dem Augenblick, als er den Meister zurückkommen hörte, gewahrte er Lydia. Sie schloß schon einige Schritte vor dem schäbigen Hause ihren Schirm und schlüpfte dann eilig durch die offene Tür in den dunkeln Flur.

»Wenn Se mechten so freindlich sein und sich den Rahmen e mal besähn, Herr Hofrat,« sagte von nebenan der Alte.

Aber Alexander hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen, seine Stirn mit der Hand beschattend, ohne auf die Worte zu hören. In der Meinung, daß der Hofrat seine Bilder betrachtete, begann der Meister diese zu empfehlen.

Alexander erhob sein Gesicht, wollte etwas sagen, wollte fragen, ob Herr von Gysberg sich auch noch mit andern Damen dort träfe, aber er brachte die Worte nicht über seine Zunge. Der Alte bemerkte jetzt seinen Zustand und fragte erschrocken, was ihm fehle. Alexander schüttelte nur den Kopf, erwiderte, das käme häufiger vor und hätte nichts zu bedeuten. Dann ging er.

Mit leerem Blick und dem wächsern blassen Gesicht eines Menschen, der eben eine Gehirnerschütterung davongetragen hat, schlich Alexander an den Häusern entlang, immer in Versuchung, sich gegen eine Mauer zu lehnen, um nicht umzufallen. Aber nach einem halben hundert Schritt merkte er, daß die Kräfte ihn verließen. Da er gegenüber eine Wirtschaft bemerkte, überschritt er mühsam die Straße, trat ein und ließ sich einen Kognak geben.

Allmählich stellten sich wieder Gedanken ein. ›Wenn es wahr ist, dann ist alles aus,‹ sagte eine innere Stimme zu ihm. ›Ja, dann muß ich dran glauben und sie auch … Sie auch! … Dann heißt es aber sicher zielen … Dafür werde ich schon sorgen … Ja, was denn eigentlich? Wenn es wahr ist! Ist es denn nicht wahr? Habe ich sie denn nicht hineingehn sehn? Also ist es doch so. Oder?‹

Er strengte sein Hirn aufs äußerste an. Und da kam ihm der Gedanke, daß es immerhin ein Zufall sein konnte. Lydia konnte ja die Limburg, mit der sie sogar, wie sie ihm erzählt hatte, ziemlich häufig verkehrte, besucht haben, ohne zu wissen, daß auch der Rittmeister da war.

Lange sann er über diese Möglichkeit nach und fragte sich, ob sie nicht eine Ausflucht seiner Feigheit sei, die der Wirklichkeit nicht ins Gesicht zu sehen wagte. Nein, es konnte nicht sein. Hatte der Meister nicht von einem Handwagen voll Weinflaschen gesprochen? Um diese Zeit aber feierte man keine Weingelage. Es konnte sich um einen einfachen Besuch handeln. Er wollte sehen, wie lange Lydia blieb. Er wollte sie auf der Stelle fragen.

Draußen regnete es stärker. Alexander ging die Straße auf und nieder, während er die Haustür immer im Auge, sich zugleich aber in einer gewissen Entfernung hielt. Er hatte nach der Uhr gesehen. Lydia befand sich etwa eine Viertelstunde oder höchstens zwanzig Minuten oben. Wenn sie im Verlauf einer halben Stunde herunterkam, so wollte er glauben, daß es sich um einen harmlosen Besuch handelte. Wenn nicht … Dann ging er eben in einen nahen Waffenladen, kaufte sich einen Browning, drang in die Wohnung der Limburg ein und schoß die beiden und dann sich selbst nieder.

Aber da er fühlte, daß diese Vorstellung eine an Tobsucht grenzende Erregung in ihm hervorrief, drängte er sie gewaltsam zurück. Er wollte ganz ruhig sein. Klar und kalt. ›Dem Geier gleich – der auf schweren Morgenwolken ruhend nach Beute schaut – schwebe mein Lied!‹ … Das ganze lange Gedicht murmelte er vor sich hin. In dem Augenblick, wo er die Verse sprach: ›Aber den Dichter hülle in deine Goldwolken‹ …, in diesem Augenblick trat Lydia aus der Tür.

Er hätte im Schmutz der Straße niederknien und Gott danken mögen.

Ohne die Entfernung zu verringern, folgte er der Eiligen. Erst als Lydia in eine Nebenstraße bog, die zur Hauptstraße führte, beschleunigte er seine Schritte, da ihm einfiel, daß sie vielleicht in eine Droschke steigen könnte. »Ihr eilet ja, als ob Ihr Flügel hättet!« rief er, als er sie fast erreicht hatte.

Sie fuhr bei seiner Stimme zusammen und wandte sich um: »Herrgott, hast du mich erschreckt! – Guten Tag! Ach, nimm bitte meinen Schirm, dann kann ich mein Kleid besser halten.«

»Du hast wohl die Limburg besucht,« fragte er leichthin.

»Woher weißt du?«

»Ich sah dich aus dem Haus kommen.«

»Ja – ich – wollte zu meiner Schneiderin, da fing's an zu regnen. Da hab ich mir rasch den Schirm geholt.«

»War's nett bei ihr?«

»Blöd. Sie hat mir von ihren Schulden vorgetratscht.«

»Die kann sie sich doch von ihren Liebhabern bezahlen lassen.«

»Pfui Teufel, die und Liebhaber! Da muß einer schon für Hautgout schwärmen.«

»War denn noch jemand da?«

»Nein.«

»Was? Nicht der Gysberg?«

Mit einem Ruck blieb Lydia stehen und sah ihm drohend ins Gesicht. »Wie kommst du darauf?«

»Weil ich ihn auch ins Haus habe gehen sehen.«

»Sag mal, spionierst du etwa?«

»Nein, ich denke nicht daran.«

»Das fehlte auch noch! Wenn du mir aufpaßtest, das wäre weiß Gott der Gipfel.« Wie Katzenfauchen klang ihre Stimme, und ihre Augen funkelten grün vor Zorn.

»Aber ich sagte doch: es war ein Zufall. Ich war bei meinem Vergolder drüben.«

»Warum fragst du dann so dumm, ob noch jemand da war? Du wußtest es doch!«

»Aber Lydia, du tust gerade, als ob ich ein Verbrechen –«

»Nein, du tust, als wolltest du mich auf einem Verbrechen ertappen. Ich mache, was ich will, verstehst du? Was mir paßt! Ich werde da wohl noch öfter hingehen und mich auch mit Hans treffen. Und kein Mensch hat mir darüber Vorschriften zu machen.«

»Oh, das Recht hätte ich allerdings. Ich würde dir das ernstlich verbieten.«

»Du mir was verbieten? Und wenn ich ein Verhältnis mit Gysberg anfange, mit welchem Recht würdest du mir das verbieten? Weil ich eins mit dir habe? Sind wir verheiratet? Habe ich dir Treue geschworen? Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich bin frei – frei – frei!«

»Lydia, die Leute!«

»Die Leute! Die Leute! Wenn du nichts zu sagen weißt, fallen dir immer die Leute ein. – Geh lieber hinüber und hole mir eine Droschke, statt mich hier vollregnen zu lassen.«

Sie nahm ihm den Schirm aus der Hand. Gehorsam ihrem Befehl eilte er nach dem Droschkenstand und rief einen der Kutscher herüber.

Bis er zurückkam, vergingen einige Augenblicke. Mit verstörter Miene sah er sie an. »Lydia, warum sagst du solche Sachen, die mich bis aufs Blut reizen?«

»Du hast mich gereizt. So hinterrücks zu fragen, ob noch jemand da war! Pfui, schäm dich!«

Nachdem er den Schlag geöffnet hatte, stieg sie mit einem schroffen ›Danke‹ ein, ohne ihm die Hand zu geben.

›Ich verbiete dir das … Das hätte ich nicht sagen sollen. Nein! Wie komme ich dazu, ihr etwas zu verbieten?‹ dachte Alexander.

Er saß in seinem unerleuchteten Zimmer, dessen beide Fenster noch offen standen. Draußen rauschte der Regen, ein prasselnder, langsträhniger Regen, aus düstergrauem Himmel. Ein ununterbrochener Tropfenfall rann vom Fensterbrett auf den Fußboden; darunter hatte sich schon eine Lache gebildet. Alexander fror, aber nicht von der nassen Kellerluft, die ihn umgab. Ihn fror in hoffnungsloser Traurigkeit. Er glaubte nicht, daß Lydia ihn betrog, aber ebensowenig, daß sie ihn noch liebte. So kalt und herzlos sprach man nicht, wenn noch ein Fünkchen guten Gefühls in einem glühte.

›Du mußt den Mut haben, dir zu sagen, daß es aus ist …‹ Aber kaum hatte er das gedacht, als ihn auch wieder eine wahnsinnige Unruhe ergriff. Er war in Versuchung, zu Lydia zu eilen und sie mit seinen Bitten zu bestürmen. Er wollte ihr sagen, daß er jenes ›Verbieten‹ nur theoretisch gemeint habe, so wie sie theoretisch von ihrem Verhältnis mit dem Rittmeister gesprochen hatte. Er wollte keine Rechte an ihr haben. Nur lieben sollte sie ihn.

Aber dieser Streit wegen eines mißverstandenen Wortes war ja nicht der erste gewesen. Gestern, vorgestern, alle Tage hatte es ähnliche Szenen gegeben. Er dachte an die frühere Lydia zurück, an die Lydia, auf deren Seelengrund er nur sein eigenes Bild erblickt hatte, an die Lydia mit den klaren, gütigen Augen.

Während er in die Regennacht hinausstarrte, konnte er nicht begreifen, daß sie für immer dahin sein sollte. Und endlich kam er mit der Dialektik des Verzweifelten auf den folgenden Gedanken: ›Sie hatte sich geändert. Doch nicht so, daß ihre Liebe etwa erkaltet wäre. Nein, sondern sie war gereizt gegen ihn. Sie schien ihn geradezu zu hassen. Das mußte einen besonderen Grund haben. Und er glaubte diesen Grund gefunden zu haben.‹

Gleich in der ersten Zeit hatte er den Plan einer Ehe mit ihr erwogen. Sie war damals nicht recht darauf eingegangen, und er war auf diese Absicht nicht wieder zurückgekommen. Nun aber litt sie unter dem schiefen Verhältnis, in dem sie sich befand. Sie war zu stolz, ihn an sein Versprechen zu erinnern, aber sie fühlte sich durch sein Zögern verletzt. Sie mochte sich sagen: ›Zu einer oberflächlichen Liebschaft bin ich ihm gut genug, aber sein Leben will er nicht an mich ketten.‹ Vielleicht hielt sie ihn auch für zu feige, um alle die Kämpfe, die aus einer Trennung von Anna entstanden, auf sich zu nehmen. Hatten ihre Worte: ›Du hast kein Recht auf mich. Ich bin frei! …‹ nicht diesen Hintersinn? Lag nicht der geheime Vorwurf darin versteckt: ›Warum bindest du mich nicht? Warum läßt du mich so vogelfrei herumlaufen?‹ Daher ihre nervösen Krisen, ihre Gehässigkeiten, ihre ganze Haltlosigkeit.

Aber er wollte ihr den Halt geben, dessen sie bedurfte, er wollte auch äußerlich so unlöslich sich ihr verbinden, wie er mit seinem Herzen an sie gebunden war. ›O Lydia,‹ dachte er, ›wie wenig hast du mich verstanden! Wie sehr hast du doch meinen heißen Worten mißtraut. Du, für die ich mit Freuden jedes Verbrechen beginge, hieltest mich für feige. Die Erinnerung an deine Vergangenheit hat dich gewiß gequält. Aber ich kenne mit dir nur eine strahlende Zukunft. Du hast geirrt. Doch alles Irren hat dich schließlich zu mir geführt.‹

Er lebte sich immer inbrünstiger in diesen Gedanken ein, aus dem heiße Kraftquellen hervorsprudelten. Während sein Inneres litt und bebte bei der Vorstellung, was er Anna antun mußte, während er deren Entsetzen und Jammer als seinen eigenen empfand, strömte ganz in der Tiefe zugleich das Gefühl, daß es süß ist, Opfer zu bringen für die, die man liebt. Nie war ihm die Stärke seiner Leidenschaft so zum Bewußtsein gekommen. Die ganze furchtbare Macht! Erst gestern hatte er gefühlt, daß die alte Liebe zu seiner Frau nicht tot war. Daß sie tief, tief sein Herz umspannte mit tausend Wurzeln. Aber er würde sie ausreißen, und das strömende Blut würde nur seine Liebe zu Lydia nähren. Er dachte an seinen Schwiegervater, an die Gesellschaft. Seine Stellung war untergraben, er war verfemt, möglicherweise zwang man ihn, seinen Beruf aufzugeben. Ach, hätte man ihn nur wie in frühern Zeiten gesteinigt! Er wäre durch allen Schimpf und Haß und Jammer mit Lydia dahingeschritten – glücklich noch, daß sie nun sehen mußte, wie sehr er sie liebte.

Aber allmählich legte sich die Aufregung. Das Gedränge der strömenden Vorstellungen wich. Stille trat ein. Nur eins blieb zurück: der Gedanke an Anna. Er erhob sich, um mit ihr zu sprechen. Aber mitten im Zimmer ihn festhaltend, sagte eine Stimme zu ihm: ›Sie hat dir ihr Leben lang nichts als Gutes getan, und zum Dank dafür versetzt du ihr den Todesstoß. Wer bist du? Ein Wahnsinniger oder ein gefühlloser Verbrecher?‹ Er starrte in die wüste Öde seines Innern, zuckte die Achseln und ging.

Aber weder im Erdgeschoß noch im ersten Stock konnte er Anna finden. Da stieg er noch eine Treppe höher und vernahm aus dem Zimmer, das man für Walpurga eingerichtet hatte, das laute Schmettern eines Kanarienvogels. Er öffnete die Tür und blieb überrascht stehen.

Das erste, worauf sein Blick fiel, war das Kätzchen, das listig aus den Vorhängen eines Puppenwagens hervorlugte, mit dessen Troddeln es gespielt hatte. In einem Korbe voller Flicken ruhte der Teckel seines Schwiegervaters und kaute hingegeben auf dem ledernen Stiel einer Peitsche. Durch die offene Tür eines Nebenzimmers klang das Surren einer Nähmaschine. Das mochte den Kanarienvogel angeregt haben, der auf dem Knauf einer Gardinenstange saß. Denn er sang aus voller Kehle.

In einer Ecke des kleinen Zimmers, das von seinen mit heller Ölfarbe gestrichenen Wänden ein gleichmäßiges warmes Licht zurückstrahlte, hatte das Kind aus Stühlen, Badetüchern, aufgeschlagenen Bilderbüchern eine Art Hütte hergestellt, in der eine ganze Gesellschaft von Puppen um einen Kaffeetisch versammelt saß. Aber noch viel mehr Puppen hockten an den Wänden entlang: eine mit blonder, eine mit schwarzer Perücke, eine im Babykleid, ein Soldat, eine Tirolerin, eine ganz große, fette Puppe, die ihr dickes Bein wagerecht ausgestreckt hielt, und eine ganz kleine, nackte Porzellanpuppe.

Die Besitzerin aller dieser Herrlichkeiten aber saß inmitten ihres Paradieses und verzehrte ihr Abendessen. Ihre roten Apfelbacken waren mit Eigelb beschmiert. Anna, die ihr gegenübersaß, schien gerade etwas Munteres erzählt zu haben, denn aus dem geöffneten Mund Walpurgas perlte das Lachen in hellen, silbernen Wachteltönen.

Aber einen Augenblick später, als Alexander die Tür geöffnet hatte, kam eine kleine Veränderung in die ganze Szene. Die Katze mit den blanken, listigen Augen huschte hinter die Vorhänge zurück, der Teckel knurrte brummig, der Kanarienvogel flatterte davon, und Walpurgas Lachen verstummte, während sie mit betroffener Miene den Eintretenden anschaute. ›Als wenn alle den Störenfried in mir ahnten …‹, dachte Alexander.

»Ich wußte gar nicht, daß du zu Hause bist,« sagte Anna.

»Schon längst. Aber bleib sitzen, Walpurga,« wandte er sich an das Kind, das aufgestanden war und ihm artig, wenn auch kühl, wie einem nicht gerade willkommenen Fremden, die Hand reichte.

»Wünschest du etwas?«

»Nachher. Es hat keine Eile. Iß nur weiter, Walpurga, und laß dich nicht stören.«

Er selbst nahm am andern Ende des Tisches Platz und beobachtete seine Frau. Es war nicht nur der Schein des elektrischen Lichtes, der ihrem Gesicht einen hellern Schimmer gab. Hier in diesem Zimmer, das er kaum zwei- oder dreimal betreten hatte, solange Walpurga im Haus war, mochte sie wohl ein anderes Leben führen. Mochte vergessen, was sie als Frau litt, über der Liebe zu diesem kleinen Wesen, dessen wahrhafte Mutter sie geworden war. Und zu hoffen, daß ihr das bleiben würde, gewährte Alexander Trost.

»Woher hast du denn die Schmarre an der Backe?« fragte er Walpurga.

»Da hat mich mein Freund, Fritz Lattich, mit dem Absatz hingetreten,« erwiderte diese ernst.

»Na, ich danke, das ist aber ein schöner Freund!«

»O bitte, er hat's doch nicht mit Absicht getan! Er konnte doch nichts dafür. Und er hat mir auch hinterher vier Murmeln geschenkt.«

»Aber er ist wirklich ein etwas zu wilder Bengel,« sagte Anna. »Und dabei ist er so schrecklich plump.«

»Nein, gar nicht, Tante! Wirklich nicht, Tante!« verteidigte Walpurga ihren Kameraden. »Er ist ganz artig. Und er ist mein bester Freund. Mein allerliebster, allerbester Freund von allen Freunden und Freundinnen, die ich habe.« Ihre Augen blitzten, und Tränen schimmerten darin bei diesem Angriff auf ihren Herzensfreund.

Alexander holte tief Atem. Wie gut er das verstand, den, den man liebte, mit solchem zornigen Eifer auch vor der leisesten Verletzung zu schirmen.

»Gehst du nun zu Bett?« fragte er, als Walpurga ihren geleerten Teller fortschob.

»Ja, und Tante Anna bringt mich.«

»Könntest du dich nicht diesmal von Lina ausziehen lassen? Du hast doch gehört, Onkel Alex will mit mir sprechen.«

»Nein, du hast es mir versprochen, Tante! Und was man verspricht, muß man halten. Nicht wahr, Onkel?«

»Ja – wenn man kann.«

»Er erhob sich und küßte das Kind auf die Stirn. »Es dauert ja nicht lange. Ich gehe derweil in mein Zimmer.«

Wie kalt und schaurig es ihm jetzt in dem schwarzen Raum vorkam, den die abendliche Regenluft erfüllte! Er drehte das Licht an und schloß die Fenster. Nach wenigen Minuten schon erschien Anna.

»Ich habe mich durch das Versprechen eines Märchens losgekauft. Was hast du mir zu sagen?«

Er war aufgesprungen in plötzlichem Schreck über ihr unvermutet rasches Erscheinen, ging ihr entgegen, umschlang sie und preßte sie an sich mit einer Angst, die seine mühsam geordneten Worte durcheinander warf. »Anna, erschrick nicht. Aber es geht so nicht weiter. Ich halte es nicht mehr aus. Ich muß fort. Wir müssen uns trennen, Anna. Es muß ein Ende haben mit diesem furchtbaren Zustand der Unklarheit. Ich muß mich frei machen – du mußt mich freigeben.«

»Ich versteh nicht, ich versteh nicht,« stammelte Anna und suchte sich seiner Umarmung zu entwinden.«

Als sie sich endlich losgemacht hatte, trat sie zurück; ihn starr anschauend, sagte sie: »Nun sprich! Was willst du?«

»Mich frei machen. Mich scheiden lassen und Lydia heiraten.«

»Ach du!« Ihr fahles Gesicht sank auf die Brust. Sie griff mit krallenden Fingern an ihr Herz. Ihr Atem war ein Stöhnen. »Und das versetzst du einem so –«

»Wie einen Todesstoß, jawohl! – Aber, Anna, du wirst nicht daran sterben. – Du konntest ja mit mir gar nicht glücklich sein. Du wirst ein neues Glück finden. Du wirst froh sein, von mir befreit zu sein, der dir nur weh tun konnte. Und ich, Anna, ich muß zu ihr. Es gibt keinen Frieden für mich außer bei ihr.«

»O du Verblendeter! Du Verblendeter!« Fast schreiend stieß sie den Atem aus. Dann sah sie ihn mit leeren, fassungslosen Augen an. »Das ist doch Wahnsinn! Seit wann ist das alles nur gekommen? Von einer Stunde auf die andere. – Weiß sie denn überhaupt was davon?«

»Nein, sie weiß noch nichts. Aber ich weiß, daß es nicht anders geht. Der ganze furchtbare Zustand der letzten Wochen kommt nur daher. Von diesem unmöglichen, erniedrigenden Verhältnis. Lydias Stolz, Lydias Ehre erträgt es nicht länger, meine Geliebte zu sein. Sie muß mein Weib werden.«

»O Gott, Alex, wenn du nicht mein Mann wärst – – Ach, lieber, guter Alex, ich will ja kein böses Wort gegen Lydia sagen. – Aber glaub mir, du kennst sie nicht.«

»Ich kenne sie! Ich bin der einzige, der sie kennt. Sie ist der reinste, edelste Mensch, den ich je getroffen habe. Ihr alle kennt nur ihre schillernde Oberfläche. Nur das, was ihre Umgebung aus ihr gemacht hat. Ja, sie hat sich weggeworfen, hat sich vergeudet, hat sich besudelt. Aber ein Rembrandt bleibt immer ein Rembrandt, auch wenn er unter elendem Gerümpel liegt, und wenn der Schmutz von Jahrhunderten ihn bedeckt. Ich habe gesehen, was unter Lydias Oberfläche lebt. Anna, mir hat sie ihre Seele offenbart. Ihre wahre Natur habe ich schauen dürfen! Und wer das erlebt hat, den kann nichts mehr irre machen. Dessen Glaube ist gefeit gegen alle Anfechtungen. Ich glaube an sie. Und du kannst sagen was du willst.«

»Ich will kein böses Wort gegen Lydia sagen,« wiederholte Anna leise. »Und ich habe auch nie eins gegen sie gesagt. Nicht wahr?«

»Nein.«

»Obwohl sie mir das Schwerste angetan hat, was man einer Frau antun kann. Mir, der Schwester! Und doch habe ich nicht einmal Schlimmes von ihr gedacht. Ich sah deine Leidenschaft entstehen. Ich sah, wie du nachts zu ihrem Bild schlichst und dich in seinem Anblick einwühltest. Ich bin still gewesen. Ich habe nicht versucht, diese Leidenschaft aufzuhalten. Ich war überzeugt, sie war unaufhaltsam. Und darum bin ich still gewesen. Aber was du jetzt vorhast, kann ich nicht ruhig geschehen lassen. Nicht meinetwegen, deinetwegen, Alex! – – Wenn ich gehässig und grausam wäre, würde ich sagen: ›Geh hin und hol dir Lydias Antwort.‹ Nein, Alex, du kennst Lydia nicht, obwohl du Lydias Seele erlebt hast, wie wir alle nicht. Das, was du erlebt hast, ist kein Irrtum, keine Verblendung. Wie sie sich dir damals offenbart hat – gewiß, auch das war Lydia. Lydias Seele. Aber sieh, das ist ihre eigentliche und wahre Natur, darum ist sie eine so wunderbare und unbegreiflich starke Künstlerin und ein so unseliger Mensch: sie hat gar keine Seele. Sie hat nicht dieses Tiefste, worin der andere ankern kann, nicht diesen festen Grund, auf den man bauen und vertrauen kann. Sie ist – wie das Meer ist sie: nur Wellen, Wellen, Wellen. Sie hat dich geliebt, damals als junges Mädchen. Sie hat dich vergessen und andere geliebt. Ich weiß nicht, wie viele! Aber jedem hat sie angehört, leidenschaftlich, mit Leib und Seele. In dem Wahn, daß er der einzige wäre. Und doch hat sie einen nach dem andern vergessen. Einen gegen den andern eingetauscht, weil sie seiner überdrüssig geworden war. Und auch deiner ist sie jetzt überdrüssig! Sie kann nichts dafür. Sie ist eben nicht mehr die Lydia von damals, sondern eine andere Lydia.«

»Bist du fertig?« fragte Alexander.

»Ja, ja! O Gott, nicht einmal anhören tust du einen!« schluchzte Anna.

»Dann will ich dir sagen: so wie du Lydia schilderst, wirkt sie, wenn man sie von außen ansieht, unpersönlich, fremd. Aber ich kenne sie, wie sie sich vielleicht selbst nicht kennt. Sie ist ein schwankender Charakter. Warum? Weil sie gesucht und geirrt hat. Sie hat mich geliebt, ein unseliges Mißverständnis, durch meine Schuld hauptsächlich, hat uns getrennt. Sie war mir und dadurch sich selbst entfremdet. Nur so konnte sie sich verlieren an diesen und jenen. Es war ein vergebliches Suchen. Nun ist sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt, indem sie den ersten, einzigen, den sie geliebt hat, wiedergefunden hat. Glaub mir, Anna, wenn sie und ich vereint sind, so wirst du eine neue Lydia erleben, eine harmonische und in sich gefestigte, von der du dir jetzt keine Vorstellung machen kannst. Aber was nützt alles Reden! Du hast nicht erlebt, was ich erlebt habe, und alle meine Worte können es dir nicht begreiflich machen. Nur eins sage mir, Anna, willst du meinem Glück im Wege stehen? Nicht nur meinem Glück! Mein Friede, ja, meine Vernunft hängt davon ab, daß ich zur Klarheit komme.«

»Alex, wenn nun Lydia dir sagt, was ich dir gesagt habe? Wenn du dich trotz allem geirrt hast?«

Er schüttelte nur den Kopf, sagte dann aber: »Selbst das wäre besser als dieser furchtbare Zustand jetzt.«

»Du wirst mir ihre Antwort mitteilen?«

»Das werde ich. Du aber – du gibst mich frei?«

»Ja. – Sag ihr: aus Liebe täte ich es. Sag ihr: ich wollte nicht, daß du leidest. Und, Alex, sage ihr auch, aber versprich es mir: ich bäte sie, barmherzig zu sein.«

Von allem, was Anna gesagt hatte, hatte Alexander nur das eine gehört, daß er frei sei. Mit aufgeschlagenem Mantelkragen, ohne sich Zeit zu nehmen, den Schirm zu suchen, eilte er in den strömenden Regen hinaus.

Auf dem Treppenabsatz vor Lydias Wohnung hörte er ihr Klavierspiel. Er zögerte zu schellen und horchte.

Lydia dachte an ihren gestrigen Ritt mit Herrn von Gysberg. Durch den Jungwald waren die beiden getrabt. Er hieß so, obwohl er gut seine hundert Jahre zählte. Gegeneinander geneigte Hainbuchen breiteten ihre bewimpelten Kronen über sie, durch die grüngoldenes Sonnenlicht träufelte. Lautlos trabten die Pferde über die schwarze moorige Erde. Scheue Fasanenhennen trippelten über den Weg, ein Hahn mit glänzendem Gefieder wie ein Märchenvogel flog purrend aus dem Dämmerdickicht in die sonnige Weite. Lydia fühlte sich getragen und gewiegt, sanfter als auf einem Kahn. Durch wechselnde Luftströme glitt sie hin, durch kühle, voll frischem Erddunst, durch sonnige, warme, die ein feiner Veilchenduft würzte. Sie und der Rittmeister sprachen nicht, wechselten nur manchmal einen lachenden, strahlenden Blick voll tiefsten Wohlseins, voll Freude aneinander, an diesem herrlichen Morgen, am Leben überhaupt.

Von jenem Ritt träumte Lydia, während sie spielte. Und Alexander horchte auf die silbern perlenden Töne, die wunderbar seine erregten Nerven beruhigten und auch in ihm Erinnerungen weckten, an jene erste glückliche Zeit ihrer Liebe.

Nun sprengten sie aufs Blachfeld hinaus. Ein scharfer Galopp. Das dumpfe Dröhnen der Hufe, das Klirren, wenn sie auf einen Stein trafen, das Schnauben der Pferde, die scharfe Luft, die wie Sturm ihnen entgegenwehte, steigerten noch das berauschende Lebensgefühl. Sie stoben dahin, einer Ligusterhecke entgegen. Ein fragender Blick, ein Nicken. Hinüber!

›Weiß der Deubel, Gnädigste, mit Ihnen macht das Reiten noch Vergnügen! Mit ihnen zusammen möchte ich mal wieder in die Zirkusmanege,‹ sagte Herr von Gysberg. ›Schulreiter war ich da drüben nämlich auch. Längst nicht das schlechteste Metier! Aber noch lieber wäre ich der Kerl, der oben vom Zirkusdach in die Manege springt. Herrgott, im Moment, wo man sein Leben riskiert, merkt man doch erst, wie schön es ist. – Ich hab meins verplempert. Im Krieg wär was aus mir geworden. Aber so hau ich's mir um die Ohren. 's lohnt ja nicht. Für wen auch?‹

›Für mich!‹ dachte Lydia. ›Für mich!‹ Und sie ließ den ganzen Jubel dieses neuen Glücks in stürmischen Tonwellen emporrauschen.

Nie hatte sie einen Menschen getroffen, so ganz vom gleichen Holz geschnitzt, so Blut von ihrem Blut, wie diesen Vagabunden in der Uniform eines Dragoneroffiziers, der mit dem regierenden Fürsten kordial als Bruder sprach und ebenso kordial an der Stummelpfeife eines Straßenarbeiters sich seine Importe ansteckte, der im Glanz wie im Schmutz sich zu Hause fühlte und nur die breite Mittelschicht derer, die sich die Gebildeten nannten, haßte. Diesen Menschen ohne Klasse, ohne Moral, ohne Gewissen, ohne Sorge, der wie ein schönes Tier durchs Leben stürmte, leidenschaftlich und raublustig, melancholisch und primitiv. Sie liebte ihn, wie sie noch nie früher einen Mann geliebt hatte, und gerade deshalb verteidigte sie sich gegen seine heißen Bewerbungen mit einer Sprödigkeit, die sie selbst überraschte. Aber sie war zu glücklich, um diese zitternde Spannung nicht weiter genießen, zu ängstlich vor dem Ende, um es nicht hinausschieben zu wollen.

Jetzt schüttete sie das ganze Wogen ihres Innern über die Tasten aus: das helle Lachen ihres Glücks und das wühlende Verlangen ihres Bluts, den Sturm ekstatischen Lebensgefühls und die süße Hingebung einer Liebe voller Zärtlichkeit und Furcht. Die Tasten sangen und lachten unter ihren Händen, dröhnten und schluchzten leise auf, flüsterten von geheimer Lust und unterdrücktem Schmerz und weckten in dem Horcher an der Tür die Erinnerung an alles Glück, an alles Leid seiner eigenen Liebe.

Als Alexander eintrat, wandte Lydia sich um, ohne sich von ihrem Stuhl zu erheben. Bei seinem Anblick schlug sie noch einmal auf die Tasten in einem heisern Mißakkord. Kaum daß sie seinen Gruß erwiderte. Und sofort fügte sie hinzu: »Du, entschuldige! Aber ich wollte gerade fort. Ich habe wirklich keine Zeit.«

»Lydia – was mich herführt, ist so wichtig für deine Zukunft –«

»Für meine Zukunft? …« Sie lachte leise auf. »Von meiner Zukunft interessiert mich immer nur die nächste Stunde. Und da muß ich im Theater sein.«

»Laß doch den spöttischen Ton!«

»Also sage mir, was du von meiner Zukunft weißt. Zehn Minuten kann ich dir allenfalls noch bewilligen.« Sie drehte die Deckenbeleuchtung an und nahm in dem kleinen Ecksofa Platz.

Er blieb stehen. Das Pochen seines Herzens nahm ihm fast den Atem. Mit halber Stimme begann er, sorgfältig die Worte setzend: »Zunächst, Lydia – was ich dir vorhin sagte von ›Verbieten‹ – ich weiß, ich habe dir nichts zu verbieten. Du bist vollkommen Herrin deines Tuns und Lassens. Es war ein falscher Ausdruck. Verzeih!«

»Schön! Schön! Du siehst dein Unrecht ein – sprechen wir nicht mehr davon. Aber willst du dich nicht setzen?«

Sie ließ einen kleinen ungeduldigen Blick über die Porzellanuhr auf dem Zierschrank huschen und sah dann mit gespannter, aber kühler Neugierde ihn an, der vor ihr stand, einen Kranz feiner Schweißperlen auf der blassen Stirn, indem er die Brust so mühsam hob und senkte, als wäre sie von unsichtbaren Ketten zusammengeschmiedet. Und in Wahrheit war alles das, was er vor wenigen Minuten zu seiner Frau gesagt hatte, jetzt so zusammengeballt und geradezu versteinert, daß er es Wort für Wort loshacken mußte.

»Die häßliche Szene vorhin – die war nicht schön.«

»Nein,« erwiderte Lydia ironisch. »Eine häßliche Szene ist gewöhnlich nicht schön.«

»Aber sie hatte den Vorteil, daß sie mir die Augen öffnete. Ich habe über dich nachgedacht. Und glaube zu wissen, wie's in dir aussieht. Und wie du zu mir stehst.«

»Ah!« Ein ungewollt freundlicher und teilnahmsvoller Ausdruck trat plötzlich auf Lydias Gesicht.

»Ich habe mir dein Benehmen, das so anders als früher war, klargemacht. Ich habe nach dem Grund gesucht. Und ich glaube ihn gefunden zu haben. Du kannst deinen jetzigen Zustand nicht länger ertragen.«

Sie nickte. In ihr quoll eine dankbare, weiche Stimmung auf, und gütige, milde Worte strömten ihr zu. Sie wollte ihm sagen, daß sie nicht aufhören würde, ihn als ihren besten Freund zu betrachten, ihn als Dichter zu verehren, daß sie von dem Erfolg seines neuen Stückes überzeugt sei und sich freue, darin die Hauptrolle zu spielen.

Aber als er ihr nun seine wahre Absicht eröffnete und ihr sagte, daß er sie heiraten wollte, sprach fassungsloses Erstaunen aus ihren Zügen. »Aber Alex, du mußt mich doch genügend kennen, um zu wissen, daß ich nicht fürs Heiraten geschaffen bin. Ich heirate überhaupt nicht. Am wenigsten dich.«

»Doch.« Er nickte nur, mit dem überlegenen Lächeln des Arztes, der eine dem Patienten unwillkommene Operation empfohlen hat. »Es ist die einzige Möglichkeit, Lydia, damit du wieder du selbst wirst. Sieh, man spricht von der blinden Liebe, ich aber glaube an die –«

Doch sie unterbrach ihn ungeduldig: »Hast du dir denn überlegt, daß du dich von Anna trennen mußt, wenn du mich heiraten willst?«

»Gewiß habe ich das getan.«

»Und das sagst du in vollem Ernst, ohne dich zu schämen? Du hast die beste, gütigste, selbstloseste Frau und willst sie einfach fortjagen?«

»Nicht fortjagen. Wir gehen im Guten auseinander. Anna gibt mich frei.«

»Hast du denn mit ihr gesprochen?«

»Allerdings.«

»Wann?«

»Jetzt. Soeben bevor ich zu dir kam.«

Nun kochten Entsetzen und Zorn in Lydia auf. »Du Unmensch, du!« schrie sie ihn an. »Hast du sie noch nicht genug gequält? Mußt du noch hingehen und ihr das antun? Und mit welchem Recht? Mit welchem Recht? Ich sage dir, ich will nicht geheiratet sein! Und ich befehle dir, geh nach Hause und bitte sie auf den Knien um Verzeihung. Und wenn du wieder bei Verstand bist, dann danke Gott, daß du sie noch hast, die zehntausendmal besser ist als ich.– Ach, du, wenn du mir nicht leid tätest, ich würde dir Dinge von mir ins Gesicht schreien, daß sich dir die Haare sträubten.«

»Was wir gegen Anna sündigten, das müssen wir später wieder gutzumachen suchen. Jetzt handelt es sich um dich und mich.«

»Alex, höre: wenn du mich heiratetest, ich betröge dich vom ersten Tage an. Ich hätte einen Haß gegen dich, wie der Gefangene gegen den Gendarm, der ihn an der Kette daherschleppt.«

Mit verbissenem Schmerz starrte Alexander in das Licht an der Decke und sah deutlich vor sich ein Bild, das gerade jetzt in der Ausstellung seines Museums hing: ein hellschimmernder Kreidefelsen, gegen den ein aufgewühltes Meer von Schlamm und Tang und Unrat aufschäumte. Aber so hoch die Schlangenhäupter der Wellen sich auch aufbäumten und ihre schmutzige Gischt ausspien, den strahlenden Gipfel des Berges konnten sie nicht berühren.

»Willst du mich nun immer noch heiraten?«

»Ja, Lydia, davon bringt mich nichts ab.«

»Dann glaubst du mir wohl nicht? Denn sonst müßtest du doch einfach wahnsinnig sein.«

»Sieh, Lydia, wir sind vom Schicksal für einander bestimmt. Als wir einander verloren hatten, da hatten wir uns selbst verloren. Da triebst du dich im Schlamm umher und ich in der Mittelmäßigkeit. Aber wir brauchten uns nur wiederzufinden, so wurden wir auch schon wieder wir selbst. Durch mich, durch deine Liebe zu mir sind die lautern Quellen in dir frei geworden. Damals, als ich krank lag und du mich pflegtest, da standen die Tore deiner Seele weit auf, und die rechtmäßigen Kinder zogen ein in ihr Elternhaus: das reine und hohe Empfinden. Damals war das Leben, das du früher geführt hattest, dir verhaßt. Ja, du fuhrst zusammen bei jedem häßlichen Wort, und die Erinnerung an deine Bekannten war dir unerträglich. Damals warft du du selbst! – Und ebenso ist es mir ergangen. Bin ich nicht jahrelang hingeschlichen wie ein müdes Lasttier? Aber du brauchtest mich nur zu erinnern, wer ich gewesen war, so wurde ich es auch wieder. Es fing einfach ein neues Leben für mich an, nachdem der Künstler in mir sich befreit hatte.«

Lydia saß auf der Lehne eines Fauteuils und wippte den an ihren Zehen hängenden Lederschuh auf und nieder. Sie hatte sich, während er sprach, eine Zigarette angezündet, hatte auch ihm die Dose hingehalten, ohne daß er es jedoch bemerkte. Nun klopfte sie ihm gutmütig auf die Schulter. »Dank für deine gute Kritik, Alex. Aber leider stimmt sie nicht.«

Er schüttelte nur den Kopf.

»Und über dich täuschst du dich ebenso gründlich.«

»Wieso?«

»Also erstens! Du bist fest von deinem Talent überzeugt. Aber ich bin allmählich anderer Meinung geworden. Es gibt eine ganze Reihe vernünftiger Leute, die dein Stück direkt schwach finden. Sie sagen, der Erfolg sei nur meiner Darstellung zu verdanken. Deine ganze Kunst, das wäre ich.«

»Ja, da hast du recht!« erwiderte er mit fanatischem Aufleuchten. »Meine ganze Kunst bist du! Aber mit dir zusammen getraue ich mich, auch das Höchste zu erreichen.«

»Ach, höre auf! Das alles hat ja keinen Sinn und Verstand. Künstler ist man aus sich selbst heraus. Dazu hat man keinen zweiten nötig. Wenn du ein Künstler wärst, dann gingst du jetzt nach Haus und machtest aus unserer verflossenen Liebe irgendein schönes Stück. Aber du bist eben kein Künstler. Du bist ein braver Bürger, der sich in eine verrückte Idee verrannt hat. Und daran, das will ich gern zugeben, bin ich zum Teil schuld. Du fülltest deinen Posten am Museum ja vortrefflich aus, und ich hätte dir ihn nicht verekeln sollen. Aber schließlich, ich hatte Mitleid mit dir. Ich dachte: vielleicht steckt doch mehr in ihm. Ich habe mich getäuscht. Das kann einem passieren. Aber wenn du gescheit bist, dann kehrst du schleunigst zu deinem Leisten wieder zurück. Sonst machen sich die Leute noch lustig über deine dilettantische Dichterei.«

Ganz ruhig und kühl, ohne jede Schärfe in der Stimme hatte sie gesprochen, mit dieser grenzenlosen Grausamkeit, mit der sie auch ihren Kollegen gegenüber manchmal verfuhr, und ebenso ruhig, ohne jede Gereiztheit, erwiderte er: »Du kannst mich noch ärger beschimpfen, Lydia. Es trifft mich nicht.«

»Beschimpfen? Nein! Es ist mein völliger Ernst. Ich möchte dir nur die Augen öffnen.«

»Ich ging einmal mit einem Arzt und einem Irren spazieren, der wegen irgendeiner Sache plötzlich in Wut geriet und dem Arzt ins Gesicht spie. Der wischte sich ruhig den Speichel ab und befahl nachher dem Wärter, dem Patienten ein laues Bad zu verabreichen. Ich war erstaunt über diese völlige Gelassenheit, aber mein Freund erwiderte mir: ›Was wollen Sie, der Mann ist doch geisteskrank.‹«

»Danke! Also mit andern Worten: du hältst mich für verrückt?«

»Du bist dir selbst entfremdet, Lydia. Und in diesem Sinne bist du krank.«

»Wenn einer von uns beiden krank ist, so bist du's. – Ja, Alex, du bist doch sonst ein feinfühliger Mensch. Es würde dir nicht einfallen, dich jemand aufzudrängen. Aber mir drängst du dich seit Wochen auf! Ich habe dir wirklich ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, daß ich mich entschieden wohler ohne deine Gesellschaft fühle. Aber du willst einfach nicht verstehn. Du stellst dich taub und blind. – Ich sage dir, daß meine Liebe aus ist, und du machst mir als Antwort einen Heiratsantrag. Ja, wie nennst du das? Wahrscheinlich den Gipfel der Gescheitheit. Wie?«

Alexander starrte Lydia an, starrte ins Zimmer und gewahrte die hohe Bronzefigur einer Tänzerin, die wie magnetisch angezogen in seine Hand zu fliegen schien. Er umklammerte sie und ließ sie in Gedanken niedersausen auf Lydias Kopf. Er wischte sich über die Stirn, und die Hand glitt über eine kalte Schweißfläche. Er fühlte, daß sein Körper wie unter elektrischen Schlägen zusammenzuckte. Und wieder starrte er Lydia an, deren blondes, nach beiden Seiten in lockigen Wellen gescheiteltes Haar ihm als ein Knäuel von Schlangen erschien. Und er faßte in dies verschlingende Gewühl, riß Lydia daran zu Boden und trat darauf herum in besinnungsloser Wut.

Er dachte: ›Ich bin in der Tat wahnsinnig,‹ und wiederholte sich ihre letzten Worte, die ihm diese entsetzlichen Bilder eingegeben hatten. Noch saß er wie festgenagelt auf seinem Stuhl, aber es bedurfte nur eines einzigen Wortes, so hätte er sich wirklich auf Lydia gestürzt und sie gewürgt.

Da schellte es. Man hörte eine tiefe, gequetschte Stimme auf dem Flur. Im nächsten Augenblick trat Frau von Limburg ein.

»Ja, wo steckst du denn nur? Ach, Verzeihung, ich wußte nicht –.« Sie begrüßte Alexander mit hoheitsvoller Würde, der sie überhaupt nicht beachtete, und wandte dann langsam, die Augen weit aufreißend, ihr Gesicht zu Lydia hin. »Ich störe wohl?«

»Oh, bleib nur!« erwiderte Lydia. »Meinen Schwager kennst du ja.«

Doch Alexander schien die Besucherin noch immer nicht zu bemerken. Diese zog die Mundwinkel herunter und kniff ein Auge zu.

»Komm, Limburg, ich ziehe mich schnell um. Du kannst so gut sein und mir helfen.«

Als die beiden in Lydias Schlafzimmer waren, sagte Frau von Limburg: »Zwischen euch hat's wohl einen Kladderadatsch gegeben?«

»Wir haben uns mal gründlich ausgesprochen. Es war auch höchste Zeit.«

»Du, vor dem würde ich Angst haben. Der sah ja unheimlich aus.«

»Wieso?«

»Na, als wäre er zu allem fähig.«

Lydia lachte leise auf. »Wenn er mich niederknallte – das wäre ein Witz! Limburg, dann stiftest du mir aber einen feinen Kranz.«

»Und was für einen! Mit vier Meter Atlas.«

Einen Augenblick stand Lydia in Nachdenken versunken. Dann öffnete sie die Tür und blickte auf den Flur hinaus. »Sein Mantel hängt noch. – Ach ja, man hat's nicht leicht! – Mach schnell, Limburg! Die obersten Knöpfe kannst du auflassen. Ich hänge den gelben Schal um.«

Nachdem Frau von Limburg das Kleid geschlossen hatte, ging Lydia noch einmal in den Salon und kam nach wenigen Augenblicken wieder zurück.

»Was hat er gesagt?«

»Er will morgen wiederkommen. – Na, wenigstens tut er sich nichts an. – Ach, Limburg, es ist traurig! Es ist traurig, wenn ein Mann, den man mal gern hatte, so gar keine Würde mehr zeigt. – Das weiß ich, wenn ich einen Mann liebte, der genug von mir hat, ich liefe ihm nicht nach. Weiß Gott, lieber bisse ich mir die Zunge ab, als daß ich um Liebe bettelte.«

Als Alexander den Wagen mit den beiden Frauen fortrollen hörte, verließ auch er das Zimmer und begab sich nach Haus. Seine Frau kam ihm auf dem Flur entgegen. Auf ihren fragenden Blick erwiderte er: »Es ist so, wie du gesagt hast. Sie will nicht.«

Anna ergriff mit zuckender Bewegung seine Hand und umpreßte sie krampfhaft.

»Ich werde schon darüber wegkommen. Nur brauche ich Ruhe.« Nach diesen Worten begab er sich auf sein Zimmer.

Man erzählt von Leuten, die mit zertrümmerter Schädeldecke sich noch stundenweit fortschleppen, bis sie dann zusammenbrechen, um nicht wieder zu sich zu kommen. In einem solchen Zustand verbrachte Alexander den nächsten Tag. Noch einmal begab er sich zu Lydia, obwohl er von der Nutzlosigkeit seines Unternehmens vollkommen überzeugt war. Das künstliche Gebäude, das seine Leidenschaft und sein Selbsterhaltungstrieb zurechtgezimmert, hatten Lydias Worte bis auf den letzten Rest zerstört. Nun machte er nicht den geringsten Versuch, bei ihr einzudringen, als das Mädchen ihm mitteilte, daß die gnädige Frau nicht zu Hause sei, sondern erwiderte: »Bestellen Sie der gnädigen Frau, daß ich sehr bedauerte, sie nicht getroffen zu haben. Ich hätte ihr nur Adieu sagen wollen.« – Darauf begab er sich zu einem Waffenhändler in der Altstadt.

Am Nachmittag machte er einen Spaziergang in den Park. Der Weg führte ihn zu der Brücke, auf der er mit Lydia bei ihrer Begegnung am Morgen nach der Gesellschaft gestanden hatte. Lange starrte er in das Wasser hinab und erinnerte sich ihrer Worte, die sie im Hinblick auf einen vom Strudel erfaßten morschen Ast geäußert hatte: ›Wie er sich sträubt! Wie er sich festklammert! Aber hinunter muß er doch.‹

Und hinunter mußte er auch. Dort drüben unter dem blühenden Gebüsch von Goldregen und Springen hatte vor vielen Jahren einst das naive Mitleid den sich verblutenden Jüngling aufgerafft und ins Leben zurückgerufen: in ein sieches, todwundes Leben. Morsch und krank war er die ganze spätere Zeit gewesen. Hatte nicht verstanden, mit starken Wurzeln in den harten Boden der Wirklichkeit einzudringen. Darum hatte sie ihm auch weder Kraft noch Freude geben können. Und nach echter Krankenart, die zum Morphium greift, hatte er sich in diese Leidenschaft gestürzt. Nun war es um die beiden geschehen, um ihn, der das Gift getrunken, um sie, die es ihm gereicht. Er haßte Lydia nicht, aber er fühlte sich befugt, über sie zu richten. Denn mit dem Besten in ihm, nein, mit dem Besten in aller Menschenseele überhaupt, hatte sie ein verruchtes und höhnisches Spiel getrieben.

Jetzt dachte er an seinen vermessenen Wahn, an seine hochfliegenden Pläne mit der Scham zurück, die ein Ernüchterter über den Zustand lärmender Trunkenheit empfindet. Er haßte Lydia nicht. Aber er sprach sie des Todes schuldig. Denn ihn hatte sie vernichtet.

Die Dämmerung war hereingebrochen, als er sich nach Haus begab. Mitten im Gehn stand er plötzlich still. Während er in den verblassenden Himmel starrte, in dem ein ganz schwaches Sternlein mit trügerischem Blinzeln auf und nieder zuckte, fragte er sich, ob nicht doch ein Weiterleben möglich sei? Aber sofort wuchsen um ihn schwarze Mauern, rund und eng, wie Wände eines Brunnens auf. Nein, es gab nichts, was ihm solche Furcht, solches Entsetzen einflößte, wie der Gedanke, noch einmal ein neues und doch wieder das alte hoffnungslose Dasein zu beginnen.

Abends spielte seine Frau ihm vor. Schumanns ›Warum?‹ bat er sie zu wiederholen, und als sie geendet, murmelte er:

»Ja, warum? Aber ich bin's ja nicht allein. Viele, viele fragen. Nur geben sie sich nicht die rechte Antwort darauf.«

Nachdem Anna sich zu Bett begeben hatte, ging er in sein Arbeitszimmer und entwarf einen Abschiedsbrief, in dem er seine Tat zu erklären versuchte. Aber nach mehreren vergeblichen Versuchen zerriß er den Bogen und schrieb nur die folgenden kurzen Zeilen: ›Mein Herz, ob Du verstehst, was ich tun will, weiß ich nicht. Aber ich kann nicht anders. Der Gedanke an den Tod hat nichts Schreckliches für mich. Nein, er gewährt mir den einen Trost, daß die letzte Schändlichkeit, die ich gegen Dich plante, nun unmöglich wird. Hab Dank für alle Deine Liebe und Treue. Es gab in unserer langen Ehe nicht eine Stunde, wo ich Grund hatte, Dir böse zu sein, aber so viele, viele, wo ich Dir hätte danken müssen, ohne es zu können. Möge Dir ein neues, glücklicheres Leben beschieden sein. Du hast das Recht darauf. Hab auch den Mut dazu! Denk an die kleine Walpurga. Leb wohl, Du Liebe! Dein Alexander.‹

Am nächsten Morgen begab Alexander sich zu früher Stunde in einen Blumenladen und kaufte dort einen Strauß roter Rosen. Damit eilte er zu Lydias Wohnung. Dem Dienstmädchen, das mit Besen und Scheuereimer in der offenen Flurtür hantierte, drückte er ein Goldstück in die Hand und hielt ihm zugleich den Strauß entgegen, indem er flüsterte: »Pscht! Nur nicht die gnädige Frau wecken. Es soll eine Überraschung sein.«

Dann schlich er sich auf den Zehen ins Eß- und von dort in Lydias Schlafzimmer, dessen Tür er geräuschlos verschloß.

Weinfarbenes, fast glühendes Dämmerlicht erfüllte den Raum. Während er die eine Pistole in seiner Seitentasche ließ, nahm er die andere in die Hand und zog geräuschlos die roten Vorhänge zur Seite. Ein breiter Strom von Sonnenlicht flutete ins Zimmer. Durch den Fensterspalt hörte Alexander von den gegenüberliegenden Bäumen das Schilpen der Spatzen und das Schmettern eines Buchfinks.

Er legte den Rosenstrauß auf die Mitte des pompösen Bettes und vergrub sich zum letzten Male in den Anblick der Schläferin. Nie glaubte er Lydia in so reiner und rührender Schönheit gesehen zu haben wie jetzt. Voller Bitterkeit dachte er an die Tausende, die ihr zugejubelt hatten, und die nun ihr Schicksal beweinen und seine Tat verfluchen würden. Ein langer Zug von Trauernden würde ihr folgen, aber kaum zwei oder drei Menschen würden ihn verstehn und ihn nicht als einen Missetäter verurteilen. Und war er es nicht auch? Jetzt im letzten Augenblick kamen ihm plötzlich furchtbare Zweifel. Er sah Lydia wieder auf der Bühne stehen, noch einmal zitterte die tiefe Ergriffenheit, die hohe Wonne, das lodernde Feuer leuchtender Offenbarungen in ihm nach. Hatte er ein Recht, dieses Geschenk der Gottheit an die Menschheit zu vernichten, nur um sein eigenes erbärmliches Schicksal zu rächen?

Die Pistole zitterte in seiner Hand. Unstet irrten seine Blicke von rechts nach links, von der Eingebung beirrt, zu fliehen, allein zu sterben, und sie, die Künstlerin, unangetastet zu lassen.

Da gewahrte er auf Lydias Nachttisch ein Bild, die Photographie eines schnurrbärtigen Offiziers in Dragoneruniform, und rief mit heiserer Stimme: »Lydia, wach auf!«

Sie fuhr zusammen, ohne sich gleich zu ermuntern, streckte aber den einen Arm aus, so daß die Decke von ihrer Brust zurückglitt. Mit groß geöffneten Augen starrte sie den vor ihr stehenden Alexander an, der die Pistole gegen sie erhob. Aber ehe der Ausdruck schlaftrunkener Verwunderung auf ihrem Gesicht sich noch veränderte, krachte auch schon der Schuß.

Die zweite Pistole richtete Alexander gegen sich.

Die Vögel im Vorgarten flogen erschrocken auseinander. Ein Vorübergehender blieb stehen und starrte hinauf, indem er ärgerlich brummte: »Verrückte Gesellschaft!« Das Dienstmädchen warf ihr Scheuertuch beiseite und stürzte laut kreischend zu Maruschka in die Küche mit dem Ruf: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Er hat die gnädige Frau alle gemacht.«

Maruschka versuchte die Tür einzudrücken. Als ihr das nicht gelang, raste sie hinunter zum Hauswirt ins Erdgeschoß, der mit Hilfe eines Beils das Schloß sprengte. Man fand die beiden Leichen. Alexander hatte diesmal besser getroffen als vor Jahren.

 

 


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