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Alexander Horn saß im Arbeitszimmer des Museums, dessen friedliche Stille nur selten durch eine schüchterne Frage seines Assistenten unterbrochen wurde, und grübelte. Bald redete er sich ein, alles wäre Lüge, bald mußte er sich gestehen, daß dies und jenes der Wahrheit entsprach. Aber unabhängig von dieser Arbeit des Gehirns sprießten in seinem Innern Keime von Hoffnungen auf, die Lydias Worte darin versenkt hatten.

Am Nachmittag, als er wußte, daß niemand ihn überraschen würde, holte er aus der Tiefe seines Schrankes die alten Jugendwerke wieder hervor. Er schämte sich bei der Lektüre wie ein alter Mann bei einem Jugendstreich und zitterte zugleich vor aufgeregtem Glück.

War es möglich, daß doch ein Dichter in ihm steckte, dessen Entfaltung nur sein eigener Kleinmut gehindert hatte? Besonders vertiefte er sich in den ›Gefangenen von Rom‹. Das Stück erschien ihm, von einigen jugendlichen Unzulänglichkeiten abgesehen, mindestens ebenso gut, ja besser als vieles, was er sonst auf dem Theater gesehen hatte.

Einige Tage darauf überraschte er seine Frau durch die Mitteilung, daß er für den Abend zwei Theaterbillette genommen habe. Man gab ›Minna von Barnhelm‹. Lydia spielte die Minna.

Nach der Vorstellung waren die drei noch in einem Restaurant zusammen.

Alexander war vom Spiel Lydias, die er noch nie gesehen hatte, so berauscht, daß er den Eindruck wie ein teures, unantastbares Glück in sich verbarg. Ihre Grazie hatte ihn in den Zustand holder Entrücktheit versetzt, wo man eine Welt lieblicherer und vollkommenerer Geschöpfe ahnt, als sie die grobe Erdenwelt hervorbringt. Aber tiefer noch hatte ihn der unnachahmlich echte Gefühlston getroffen, der unter ihrer leichten Anmut klang. So konnte nur ein tiefempfindendes Herz sprechen. Er bat ihr im stillen seine Zweifel ab. Jetzt war er überzeugt, daß sie ihn wirklich geliebt hatte.

Während ihres Beisammenseins aber ließ er Lydia diese Wirkung nicht merken. Er rühmte vor allem die Vornehmheit ihres Auftretens. Unter den mehr oder weniger steifen und aufgetragenen Komödianten wäre sie die einzige wirkliche Dame gewesen. Mehr als seine Worte verrieten der Glanz seiner Augen und seine aufgeregt fröhliche Laune seinen Zustand. Seine Frau meinte, er wäre so vergnügt, als wenn er Sekt getrunken hätte. Er versicherte, Durst darauf zu haben, und ließ welchen kommen.

Lydia blieb in ihrer Rolle. Sie war heiter, ohne Ausgelassenheit. Über das Lob der Vornehmheit schien sie hochbeglückt. Sie erzählte, wie schwer es sei, als Frau, die ihre gute Erziehung nicht vergessen konnte, unter den oft recht freien Theatermenschen sich zu bewegen. Aber sie hielte sich alle Kollegen drei Schritt vom Leib, pflegte mit niemand Verkehr, was ihr schon eine Menge Feindschaften eingetragen hatte.

Besonders die Frau von Limburg, ihre Partnerin und Rivalin, war eine entsetzlich intrigante Person. Und sie begann einige Klatschgeschichten auszukramen. Als sie aber Alexanders enttäuschte Miene bemerkte, lenkte sie das Gespräch rasch in ein anderes Fahrwasser.

Am nächsten Morgen besuchte Lydia ihren Schwager im Museum, wo sie sich zwei Stunden lang herumführen ließ. Dabei fragte sie ihn wieder nach seinem Stück, indem sie hinzufügte, sie glaube einfach nicht daran, daß es vernichtet sei. Er willigte ein, es ihr zu borgen, doch unter der Bedingung, daß sie es niemand zeige. Nachdem er es ihr gebracht hatte, marterte ihn die Ungeduld, ihre Meinung zu erfahren.

Schon den Tag darauf kam sie wieder und erklärte mit ihrer unwiderstehlichen Bestimmtheit:

»Du, ein paar Sachen mußt du ändern. Die sind bühnentechnisch unmöglich. Und vor allem einen andern Titel finden. Der ›Gefangene von Rom‹ – das klingt so verstaubt. Übrigens ist die Frau doch die Hauptsache. Wenigstens soll sie es sein. Denn ich will sie spielen.«

Er lachte auf.

»Ja, ja, wenn die paar Änderungen gemacht sind, reichen wir das Stück hier ein. Daß es angenommen wird, ist doch klar.«

»Du bist nicht gescheit, Lydia,« murmelte er, verwirrt und rot wie ein Schuljunge.

»O doch! Ich bin überzeugt, das Stück hat einen glänzenden Erfolg. Und ich werde damit gastieren gehen. Ich suche nämlich nach einer neuen Rolle. Und diese ist wie für mich geschrieben. Übrigens ist sie das doch auch wirklich.«

»Ach, Lydia, rede doch nicht solchen Unsinn!«

»Wieso Unsinn? Du bist ein ganzer Kerl, Alex. Nur willst du es nicht wahr haben.«

»Nein, nein, nein, selbst wenn das Stück was taugte, ich ließe es doch nicht aufführen. Ich weiß, daß du es gut meinst. Ich danke dir für deine liebenswürdige Absicht. Aber meine Bedenken kannst du nicht verstehen.«

»Namentlich, wenn du sie mir verschweigst.«

»Sieh, Lydia,« erwiderte er zögernd, »ich habe mir mein Leben zurechtgezimmert, ob groß oder bescheiden, das ist gleich, aber jedenfalls hat es einen festen Untergrund und ist ein rundes, klares Leben. Nun soll ich plötzlich alles umstürzen und mich auf ganz neue Bahnen begeben? Denn das ist doch klar: wenn dieses Stück Erfolg hat, dann sind die letzten fünfzehn Jahre einfach ein Irrtum gewesen. Wenn ich ein schöpferischer Mensch wäre und hätte mich begnügt mit … mit Aufhängen von Bildern?«

»Was schadet das? Du holst die verlorenen Jahre wieder ein.«

Er schüttelte stumm den Kopf. Alles Zureden nützte nichts. Er beharrte dabei, es wäre zu spät. Auch vor sich selbst. Und er verschloß das Manuskript wieder an seinen frühern Ort.

Aber Lydia kam, wenn sie mit ihm allein war, immer wieder darauf zurück. Und ihre Hartnäckigkeit besiegte endlich seine Zweifel. Er versprach ihr, wenigstens die nötigen Änderungen zu versuchen. Wenn diese gelangen, wollte er weiter sehen. Doch unter keinen Umständen würde er das Stück mit seinem Namen einreichen.

Anna erfuhr von dieser Abmachung nichts. Seitdem sie vor Jahren einmal ihr Mißtrauen über die dichterischen Fähigkeiten ihres Mannes geäußert hatte, vermied dieser je wieder mit ihr über derartige Pläne zu sprechen. Und Lydia schwieg erst recht davon.

Im übrigen war aber ihr Verkehr mit der Schwester so innig wie vielleicht nicht einmal in der Jungmädchenzeit. Obwohl Anna Lydias Charakterfehler kannte, bewahrte sie dennoch für die jüngere Schwester eine ihr selbst fast unbegreifliche Liebe, die an Schwärmerei grenzte. Auch war Lydias Benehmen in dieser Zeit so untadelig, daß man wirklich glauben konnte, sie wäre nach ihres Vaters Worten in sich gegangen. Ihr einziges Streben schien darauf gerichtet, außerhalb des Theaters ganz Dame zu sein und in der Gesellschaft festen Fuß zu fassen. Wie gewöhnlich übertrieb sie diesen Eifer ein wenig, so daß Anna ihr einmal scherzhafte Vorwürfe wegen ihrer Prüderie machte. Jedenfalls kam sie zu der Überzeugung, daß sie sich während der langen Trennung doch ein falsches Bild von der Schwester gemacht hatte, bis diese sich ihr mit größter Offenherzigkeit plötzlich enthüllte.

Anna hatte sich in der Dämmerstunde eingefunden und wollte zum Abendbrot bleiben, da ihr Mann irgendeine Sitzung hatte. Die beiden Schwestern und die kleine Walpurga hielten sich im Wohnzimmer auf. Im Salon und im Musikzimmer standen die Möbel noch in derselben Unordnung wie am Tage des Umzugs. Lydia war noch immer nicht dazu gekommen, ihre Einrichtung zu vollenden. Sie saß auf dem Sofa über eine Stickerei gebeugt, die das Wappen der Familie darstellte und ein Geburtstagsgeschenk für den Obersten werden sollte. Mit ehrbar eifrigem Gesicht hob und senkte sie die weiße Hand wie eine fleißige Näherin. Walpurga hockte auf der Erde und hatte einen großen Haufen Spielsachen um sich ausgebreitet. Jetzt eben war sie damit beschäftigt, auf der Rückseite eines Wochenrepertoires ein sehr komisches Bild von ihrer Tante zu entwerfen.

Ohne den Kopf zu erheben, fragte Lydia:

»Hast du eigentlich das Stück gelesen? Es ist doch ein Schmarren, was?«

»Aber durchaus nicht! Ich finde es sehr interessant.«

»Wahrhaftig? Dann habe ich es offenbar nicht verstanden.« Anna holte das Buch, das sie auf dem Vorplatz hatte liegen lassen. Es war das Stück eines österreichischen Dichters, ein psychologischer Dialog zwischen Ehegatten mehr als ein Drama. Lydia sollte darin die Rolle der Frau spielen. Nun ließ sie sich von ihrer Schwester den eigentlichen Sinn erklären, hörte mit erstaunter Gebärde oder beifälligem Kopfnicken deren Auffassung von der Rolle an. Und Anna geriet in Eifer, las, um ihre Ansicht zu belegen, ihr lange Stellen vor, bis Lydia aufsprang und einen Bleistift holte.

»Streich's an, wie du die Sätze betonst. Ganz famos! Ich glaube, du hast eigentlich mehr Talent als ich. Zum mindesten mehr Verständnis. Nein, Kindchen, es ist zu schade, daß du nicht auch Schauspielerin geworden bist.«

Anna schüttelte den Kopf. Doch konnte sie, als sie sich nun der fernen Mädchenzeit erinnerte, ein leises Bedauern nicht unterdrücken.

Die beiden Frauen saßen in lebhafter Unterhaltung, bis Maruschka an einer Ecke des Tisches eine Serviette ausbreitete und darauf das Abendbrot für Walpurga stellte: einen Bratapfel und ein paar Butterbrote. Diese wollte gleich darauf stürzen. Doch Lydia führte sie ruhig zu ihren Spielsachen zurück.

»Ne, Kindchen, erst einpacken!«

»Das ist langweilig,« miaute sie.

»Einerlei! Wer die Unordnung angerichtet hat, muß sie auch forträumen.«

Die Kleine warf sich auf den Boden und klagte:

»Ich bin so müde! Mein Bein tut mir so weh!«

»Schön! Dann soll Maruschka dich gleich ins Bett bringen.«

Das half. Mit einem Seitenblick auf den verlockenden Apfel begann Walpurga ihre Siebensachen einzupacken.

›Sie hat die selbstverständliche Autorität‹, dachte Anna mit stillem Wundern. ›Sie sagt, das muß so sein, ohne sich zu fragen, ob sie es besser macht, ohne an ihre unaufgeräumten Zimmer und die Haufen halb ausgepackter Garderobe zu denken‹

Nachdem sie das Kind ins Bett gebracht hatten, setzten die Schwestern sich ins Eßzimmer an den Tisch. Lydia hatte sogleich bemerkt, daß dies und jenes fehlte. Sie klingelte jedesmal und ließ das Vergessene herbeibringen, indem sie dem Hausmädchen bemerkte: »Wenn Sie's nicht im Kopf haben, müssen Sie's in den Beinen haben.«

»Eigentlich steckt in dir eine famose Hausfrau,« sagte Anna.

»Ja, freilich!« erwiderte Lydia stolz. »Das haben mir alle meine Verehrer gesagt.«

Anna fuhr zusammen.

»Ja, ja, wirklich!« beteuerte Lydia noch einmal. »Jeder einzelne hat's mir versichert.«

»Wer weiß,« bemerkte Anna nach kurzem Schweigen, »was aus dir geworden wäre, wenn du gleich in die richtigen Hände gekommen wärst.«

»Annchen, nun bist du komisch.«

»Wieso?«

»Wenn ich gleich in die richtigen Hände gekommen wäre, sagst du? Mein erster war doch –«

»Alexander. Ja, freilich, der war nicht der richtige Mann für dich!«

»Da hast du recht. Während ihr beide brillant harmoniert. Du und ich, wir sind eben ganz verschiedene Naturen.«

›Wirklich?‹ dachte Anna. ›So sehr verschieden?‹

Und während sie den vorhin schon angeschlagenen Gedanken nachsann, wurde sie in ihre Mädchenzeit zurückversetzt.

War nicht sie, die ältere, es gewesen, die, von Alexanders Begeisterung entflammt, in ihrem Turmzimmerchen ganze Abende, während die Eltern eingeladen waren, damit verbracht hatte, die Julia, die Millerin, Maria Stuart und all die andern tragischen oder rührenden Rollen zu deklamieren? Hatte sie nicht die jüngere Schwester erst angelernt zum Mitspielen? Hatte es nicht Mühe gekostet, ihr den Geschmack an den platten Backfischgeschichten zu nehmen und sie in die Gefühlswelt der Klassiker zu erheben? Hatte nicht sie zuerst das alles entworfen und ausgemalt, was sich später für Lydia verwirklichen sollte?

Nun war diese Schauspielerin geworden, war die Straße der Selbstherrlichkeit und Freiheit gezogen, die auf Gipfel, aber auch in Abgründe führt. Anna dagegen hatte den Weg in die bürgerliche Enge eingeschlagen. Nichts aus sich selbst, fand sie ihr Glück darin, die Helferin und Stütze dieses verwöhnten und leicht verletzlichen Mannes zu sein. Ihr Leben floß scheinbar so still und klar dahin! Die sympathische, liebe Frau, die Frau von so rührender Selbstlosigkeit – das war die Marke, mit der alle Welt sie gezeichnet hatte. Aber war sie das wirklich? Gab es nicht Tage, wo es in ihr stürmte und tobte von heißer Sehnsucht und ausschweifenden Wünschen? Tage so tiefer Verzweiflung und wilder Erbitterung, daß sie, der ewigen Aufopferung müde, nahe daran war, fortzulaufen? Und Tage wieder, wo sie in ihrer innern Welt so viele Seligkeiten fand, daß jedes von außen kommende Glück vor diesem Glanz erloschen wäre?

Ach, diese innere Welt – wer davon gewußt hätte! Die alten Damen, die beim Kommen und Gehen ihre Wangen küßten und alle Frauentugenden in ihr verkörpert fanden, und die jungen Frauen, die sie um Rat fragten, so voll naiven Vertrauens, und die Männer, die ihr Herz ausschütteten wegen ihrer Vernünftigkeit – hätten sie einmal in ihre Seele hineingeblickt, ihr Entsetzen wäre vielleicht noch größer gewesen als das über die jüngere Schwester.

Und was war im Grunde der Unterschied?

Etwas weniger heißes Blut, vielleicht etwas weniger Leichtsinn, etwas mehr Verstand – das mochte alles sein.

Sie nahm ihren ursprünglichen Gedanken wieder auf – wenn Lydia damals, statt einem zerfahrenen Jüngling, einem gefestigten, gütigen, aber auch strengen Mann in die Hände gefallen wäre – vielleicht wäre sie auch dann Schauspielerin geworden, aber ihr Frauenleben hätte sich doch ganz anders gestaltet. Und indem sie der Fortsetzung dieses Gedankens Ausdruck gab, sagte sie:

»Weißt du, Lydia, ich glaube, das Beste wäre für dich immer noch, wenn du heiratest.«

»Nicht für mich, wohl aber für Walpurga.«

»Auch für dich!« erwiderte Anna und setzte ihr auseinander, wie sie dadurch an innerm Halt und Stetigkeit gewinnen und wie sie auch in der Gesellschaft eine ganz andere Stellung einnehmen würde.

Statt aller Antwort ergriff Lydia die Hand ihrer Schwester.

»Ich möchte dich mal was fragen, Herzchen, aber du mußt mir schwören, daß du mir die Wahrheit sagst.«

»Das tue ich auch so.«

»Nein, du mußt schwören. Heb die Hand aus und sage: ›Ich schwöre!‹«

»Ich schwöre –« sagte Anna lächelnd mit leicht erhobener Rechten.

»Bei allem, was mir heilig ist, daß ich die reine Wahrheit sagen werde.«

Anna sprach ihr die Worte nach, ein wenig belustigt von der feierlichen Gebärde, mit der Lydia die Zeremonie begleitete. Diese beugte den Kopf vor und fragte dann, unter gerunzelter Stirn ihrer Schwester ins Auge blickend:

»Hast du nie deinen Mann betrogen?«

»Aber Lydia!« stieß Anna entsetzt hervor.

»Sag ja oder nein!«

»Um Gottes willen – niemals! niemals!«

»Bist du ihm aus Prüderie oder aus Angst treu geblieben, oder –«

»Nein! Nie ist mir auch nur der Gedanke an einen andern gekommen.«

»Wirklich? Du hast nie Sehnsucht nach einem andern gehabt?«

»Nein, ich schwöre dir. Nie!«

Da sprang Lydia auf und sagte:

»Siehst du, das verstehe ich nicht.«

Und mit zurückgeworfenem Kopf durch das Zimmer schreitend summte sie:

»Wer mich liebt, den lieb ich wieder,
Und ich weiß, ich bin geliebt.«

»Nein, Herzchen, zeitlebens mit einem Mann auszukommen, das wäre mir ein schrecklicher Gedanke. Man ist doch selbst nicht nur ein einziger Mensch. Man hat doch hundert Seelen in sich und braucht ebenso viele Ergänzungen. Es gibt Zeiten, wo man leichtsinnig ist und sich in die Welt stürzen möchte. Dann will man einen eleganten Windhund zum Begleiter. Dann wieder ist man sentimental und braucht Trost und streichelnde Hände. Bis man auf einmal den ganzen Quark satt hat und sich nach einem Wolf aus dem Walde sehnt, der einen zwischen die Zähne nimmt und, hast du nicht gesehen! in seinen Bau schleppt.«

Die erste Wirkung auf Anna war, daß mit rascher Heftigkeit die Vorstellung auf sie eindrängte, wie Lydia eben noch ihr Kind mit aller mütterlichen Sorgfalt ausgekleidet, wie sie mit ihm gebetet und an seinem Bett gesessen hatte – und das war dieselbe Frau …? diese Zigeunerin und war ihre Schwester.

»Nun?« fragte Lydia ein wenig spöttisch. »Du hast wohl eine Gänsehaut bekommen.

Aber Anna schüttelte nur den Kopf.

»Was denkst du denn?«

›Ja, was denke ich eigentlich?‹ fragte Anna sich. ›Ich müßte eigentlich entrüstet sein. Oder wenigstens die Entrüstete spielen …‹ Und doch war ihre Empfindung eine ganz andere.

»Nun, sag doch was!« drängte Lydia.

»Wenn ich dir meine Meinung sagen soll, so tust du mir leid, Lydia. Von Herzen leid. Denn du hast das Beste in dir zerstört, deine Liebesfähigkeit. In der Liebe bist du ein trauriger Dilettant. Ein Stümper.«

»Was?« fragte Lydia stirnrunzelnd.

»Ein Stümper! … Ich glaube, du hast nie einem Mann wirklich angehört und auch niemals einen Mann wirklich besessen – sondern die Laune trieb euch zueinander und auseinander. Die Männer waren für dich ein Spielzeug und du für sie. Sonst könntest du das nicht sagen, was du gesagt hast. Ja, glaubst du, in dir allein wohnten diese hundert Seelen? Nein, in jedem Menschen. Jeder Mensch ist eine Welt!«

Und Anna sprach ihr von jener andern Liebe, die nicht mit hungrigen Sinnen an sich rafft und mit gesättigten von sich wirft, sondern die ein Suchen und Geben des Herzens ist, ein Miterleben und Eindringen in die nie ganz zu ergründenden Bezirke der Seele; von der Liebe, die, indem sie das eigene Ich aufgibt, es groß und reich macht.

Und obwohl sie keineswegs große und prächtige Worte, sondern die alleralltäglichsten gebrauchte, lag in ihnen, weil sie ein Bekenntnis innerlichen Glaubens waren, so viel einfache Überzeugungskraft, daß Lydia unversehens die Rechte ihrer Schwester ergriff und sie an die Lippen führte. Dann saß sie mit geschlossenen Augen zurückgelehnt, als wenn sie nachdächte. Nur hin und wieder warf sie einen raschen Blick auf die Hand, die sie noch immer hielt, und die in ihrer ausgearbeiteten Schlankheit die Schönheit eines klaren und gefestigten Charakters zeigte.

Indem sie dann aber mit rascher Bewegung über Stirn und Augen fuhr, sagte sie:

»Anna, du bist doch der liebste und herzigste Kerl, der mir je im Leben begegnet ist. Wenn du ein Mannsbild wärst, würde ich dich auf der Stelle heiraten.«

»Da hättest du den Rechten auch nicht gefunden.«

»Also ich werde mir deine Worte zu Herzen nehmen. Du hast ja so recht! So recht! Man verkommt innerlich bei dieser Art von Leben. Ich habe schon längst gefühlt, daß es höchste Zeit ist, Schicht zu machen. Allein schon Burgelchens wegen. Es wäre mir entsetzlich, wenn ich in ihren Augen als so eine dastände! O Gott, das ertrüge ich einfach nicht. Anna, ich schwöre dir …«

»Ach, schwöre doch lieber nicht!«

»Doch! Ich schwöre dir« – sagte sie feierlich – »so wahr ich hoffe, daß Walpurga ihre Mutter immer in Ehren halten wird – ich will ein neues Leben anfangen. Niemand soll mir je wieder etwas vorwerfen können. Es soll bei mir zugehen … wie heißen doch diese Priesterinnen? Hero ist eine …«

»Vestalinnen meinst du?«

»Ganz recht. So soll es von nun an bei mir zugehen. Das schwöre ich dir beim Haupte meines lieben Kindes!«

 


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