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Am nächsten Morgen kroch die kleine Walpurga zu ihrer Mutter ins Bett und erklärte mit großer Bestimmtheit, sie möchte von hier fort.

»Aber Burgelchen, Herzchen,« fragte Lydia erschrocken, »gefällt's dir denn bei mir nicht?«

»Bei dir wohl. Aber du bist ja immer fort. Ich langweile mich hier so.«

»Das kommt, weil wir hier noch fremd sind. Aber wart' nur ein paar Tage, dann werde ich dir schon eine Freundin besorgen.«

»Dann möchte ich wenigstens in die Schule.«

»Nein, nein, in der Schule ist es furchtbar streng,« sagte Lydia ängstlich. »Eine Privatlehrerin ist doch viel schöner.«

»Alle Kinder gehen in die Schule. Nur ich nicht.«

Lydia versprach ihr die schönsten Spielsachen und Freundinnen in Hülle und Fülle. Aber das Kind beharrte dabei, sie wollte in die Schule.

Schließlich klingelte Lydia die alte Huscha herbei, ihre langjährige Dienstmagd, die sie durch alle Engagements begleitet hatte, und befahl ihr, Walpurga anzukleiden.

Sie war in ratlosem Mißmut. Jetzt beim hellen Morgenlicht erkannte sie alle Torheiten, die sie gestern abend begangen hatte, erst in voller Klarheit. Bei ihrem Schwager hatte sie sich unmöglich gemacht. Was sollte nun mit dem Kind werden, für das sie am meisten auf den Beistand ihrer Schwester gerechnet hatte?

Mutter und Tochter saßen noch beim Frühstück, als der Oberst von Meyneburg eintrat. Walpurga hüpfte ihm fröhlich entgegen und fragte den Großvater, ob er sie mit in seinen Garten nehmen wollte?

Der alte Herr tätschelte verlegen die Wangen seiner Enkelin. Er fühlte sich zuerst stets etwas bedrückt in der Gegenwart dieses kleinen Wesens, das von einem Vater herrührte, den er nie gekannt hatte. Während Lydia auf einer Tournee in Amerika war, hatte sie ihren Verwandten plötzlich mitgeteilt, sie hätte sich mit einem dortigen Schauspieler verheiratet. Ein Jahr später schrieb sie von Paris aus, ihr Mann wäre gestorben, und schickte zugleich die Photographie ihres Kindes. Diese Heirat war eine der Episoden in Lydias Leben, über die sie sich, trotz aller Fragen, niemals recht aussprach, und ihren Vater hielt eine unbestimmte Scheu zurück, sie darum zu drängen.

Jetzt schickte er Walpurga hinaus, da er mit ihrer Mutter allein zu sprechen hätte. Kaum war das Kind draußen, als seine Miene sich verfinsterte.

Aber Lydia sagte schnell mit strahlendem Lächeln: »Hoffentlich ist dir der reizende Abend auch gut bekommen, Papachen?«

»Du weißt ganz gut, warum ich gekommen bin,« versetzte der alte Herr mit mühsam unterdrückter Stimme. »Spiel mir doch keine Komödie vor. Du hast dich ja gestern nett aufgeführt. Denkst du denn, unsere Gesellschaft wäre ein Ökonomenball? Hast du deine gute Kinderstube so total vergessen unter deinen verdammten Zirkusleuten?«

»Unter meinen verdammten Theaterleuten,« verbesserte Lydia den alten Herrn, der nie ein Theater besuchte, und der nie seine Tochter hatte spielen sehen.

»Bilde dir nur nicht ein, daß du mit uns umspringen kannst, wie's dir gefällt. Wenn eine solche Schweinerei wie gestern noch einmal passiert, dann sind wir geschiedene Leute. Bei Horns wirst du dich überhaupt nicht mehr sehen lassen dürfen, wie ich Alexander kenne. Du solltest dich doch wirklich was schämen und deiner Tochter ihren Weg nicht noch schwerer machen. Keinen Vater mehr zu haben und 'ne Mutter, die beim Theater ist, das ist doch wahrhaftig schon Unglück genug.«

»Nun hör aber auf!« erwiderte Lydia wütend.

»Du hast gestern den gewöhnlichsten Anstand aus den Augen gelassen. Ein Dienstmädchen hätte sich nicht so pöbelhaft benommen wie du.«

Lydia stand sprungbereit, als wartete sie nur auf ihr Stichwort, um die keineswegs leise Stimme ihres Vaters noch zu übertönen. Wie Vater und Tochter sich in diesem Augenblick überkochenden Zornes anblitzten, hatten sie eine erstaunliche Ähnlichkeit miteinander.

Gerade wollte der cholerische alte Herr von neuem beginnen, als Lydia einen Porzellanteller ergriff und ihrem Vater in die Hand drückte.

»Was soll das? Bist du verrückt?« versetzte der alte Herr und stieß den Teller zurück, daß er hinfiel und zerschellte.

»So ist's recht!« lachte Lydia und schmetterte einen zweiten Teller auf den Boden. »Hier, Papa, noch einen! Pang! Das ist meine Porzellankur. Die hat mir mein Doktor empfohlen. So! So! Krachen muß es!« Dabei schleuderte sie Teller und Tassen, was ihr gerade unter die Hände kam, zu Boden. »Tut das gut! Tut das gut! Jetzt ist mir wohl. – Nicht wahr, mein liebster, bester, alter Herzenspapa?«

Sie brach in ein helles, silbernes Lachen aus, das aber plötzlich in ein krampfhaftes, nicht endenwollendes Schluchzen überging. So lag sie an ihres Vaters Brust, der mit den zärtlichsten Worten sich bemühte, sie zu beruhigen.

Endlich hatte sie sich ausgeweint, flüchtete in ihr Schlafzimmer und kam nach wenigen Augenblicken mit klarem Gesicht wieder zurück.

»So, Papa, nun laß mich auch mal ein Wort sagen. Du hast ja recht, tausendmal recht. Ich habe mich schmählich benommen. Das weiß ich selbst und habe mir die gräßlichsten Vorwürfe gemacht. Aber glaube mir, es war wirklich die reine Nervosität. Und ich schwöre dir, es soll mir nicht noch einmal passieren. Was kann ich nur tun, um die Sache wieder gutzumachen? Ich will zur alten Grunstedt hingehn.«

»Ne, ne, das laß nur lieber bleiben. Es ist viel wichtiger, daß du dich mit Horns versöhnst. Alex hast du in seiner Eitelkeit verletzt. Und das ist sein wunder Punkt. Aber was da zu machen ist, weiß ich selbst nicht.«

»Zuerst sollte ich mal mit Anna allein sprechen.«

»Die triffst du am besten gleich. Um zehn geht er in sein Museum.«

»Schön. – Darf Walpurga dich nachher ein bißchen besuchen, Papa?«

»Na ja, schick sie mir nur! Adieu! Und – Lise, geh doch mal endlich in dich! Es ist wirklich nicht hübsch, wie du's treibst.«

Lydia begab sich in ihr Schlafzimmer. Dort kam ihr ein guter Gedanke. Wichtiger als die Versöhnung mit der gutmütigen Schwester war die mit dem Schwager. Darum beschloß sie, den Stier gleich bei den Hörnern zu fassen. Wenn sie sich jetzt auf den Weg machte, würde sie Alexander noch vor dem Museum treffen.

Lydia, die zu Hause gewöhnlich in einem unbeschreiblichen Aufzug herumlief, verfügte über mehrere Schränke voll moderner Toiletten. Es kostete sie viel Nachdenken, bis sie ein mauvefarbenes Kostüm wählte. Das sah so schlicht aus, und sie wirkte darin ganz wie ein junges Mädchen.

Es war etwas später geworden, als sie beabsichtigt hatte. Während sie eiligen Schrittes durch den Park dem Museum zustrebte, gewahrte sie den Hofrat auf einer Bank.

Alexander Horn gehörte zu den vielen Menschen, die, im stillen Verlauf des Daseins, über der stetigen Arbeit des Tages und den bescheidenen Erfolgen im engen Umkreis der Welt, auf die sie sich zurückgezogen haben, allmählich vergessen, daß ihr eigentlicher Lebensplan und ihre weitausschauenden Hoffnungen gescheitert sind. Trotz des Unterstroms von Melancholie und träumerischer Zerstreutheit war er für gewöhnlich doch ein leidlich zufriedener Mensch.

An diesem Morgen aber war er mit einem Herzen voller Todestraurigkeit erwacht. Er wehrte sich nach Kräften gegen diesen Alpdruck der Verzweiflung. Er sagte sich, daß er es in seiner Ehe so gut getroffen habe, wie nur ein vernünftiger Mensch sich wünschen könne. Seine Frau trug ihn auf Händen und tat ihm alles zuliebe. Als Museumsdirektor besaß er eine sehr umworbene und angesehene Stellung. Ohne Überhebung durfte er sich rühmen, sein Amt mit so viel Eifer, Geschmack und Kenntnis ausgeübt zu haben, daß die früher kaum beachtete Sammlung dadurch, daß er sie um viele bis dahin in den Schlössern des Landes zerstreut und vergessen gewesene Bilder und durch glückliche Neuerwerbungen bereichert hatte, jetzt in der Kunstwelt sehr geschätzt wurde und manchen kunstsinnigen Fremden in die Stadt lockte. Und was seine gesellschaftliche Stellung betraf, die er allerdings zum großen Teil der stets gleichbleibenden Liebenswürdigkeit seiner Frau verdankte, so nahm sein Haus einen einzigartigen Platz ein. Wenn er sich an Reichtum und äußerm Prunk auch mit vielen andern nicht messen konnte, bildete es doch den Mittelpunkt des geistigen Lebens. Die durchreisenden Künstler verfehlten selten, es aufzusuchen, und bei der einheimischen Gesellschaft gehörte es einfach zum guten Ton, die Dienstagabende zu besuchen.

Bot ein so gestaltetes Leben nicht genug, um eines vernünftigen Mannes Planen und Sinnen zu befriedigen? Warum also dieser finstere Unmut? Doch da kamen gleich Fledermäusen, die von einer Fackel aufgescheucht sind, alte Erinnerungen angeflattert. Was war aus seinen Reisen geworden, die er vorgehabt: nach den Inseln Homers, nach Ägypten und dem Zweiströmeland? Hatte ihm nicht einmal der Ruhm eines großen Archäologen vorgegaukelt? Warum war er alle die Jahre in dieser bescheidenen Kleinstadt hängen geblieben? Und welches Schicksal hatten seine dichterischen Pläne erlebt? In seinem Schreibtisch moderten Stöße von Gedichten, die nie gedruckt worden, und Theaterstücke, die nie ein Theater gesehen hatten. Warum war das alles in Staub zerfallen und in Vergessenheit geraten? Und seine Ehe? Wohl war sie friedlich und harmonisch. Aber – so schien es ihm heute – es war nur ein laues Glück. Er hatte in seiner Verzweiflung, als die jüngere Schwester ihn verraten, Halt und Trost bei der älteren gesucht, die nie seinen Herzschlag beschleunigt, die ihm nie ein Gedicht entlockt hatte. Und wer war an alledem schuld? ›Du selbst‹, sagte deutlich die Stimme der Vernunft. ›Du allein mit deiner Energielosigkeit und Schwäche.‹ Aber eine andere Stimme erhob sich und schrie: ›Sie! Sie! Sie! Sie, die mich verraten, die meine Schwungkraft geknickt, die meinen Lebensmut zerbrochen hat.‹ Und seine Brust wurde von einer Qual erfüllt, in die sich Neid und Haß mischten.

In dieser Stimmung gewahrte er Lydia. Er wollte aufstehen, aber dann wäre er gerade auf sie zugegangen. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Erst als sie dicht vor ihm stand, schrak sie sichtlich zusammen.

»Mein Gott, bist du's wirklich?«

Er zog wortlos den Hut und wollte an ihr vorübereilen.

»Bleib!« – Und mit tiefen Atemzügen ihren, wie es schien, aufgeregten Herzschlag bändigend, fuhr sie fort: »Daß ich gerade dich hier treffen mußte!«

»Ist das so merkwürdig?«

»Es ist mehr als Zufall! – Ich gehe sonst morgens nie in den Park.«

»Ich auch nicht.«

»Siehst du! Siehst du! Und trotzdem mußten wir uns treffen! Ich hatte die ganze Nacht nur den einen Wunsch: ich muß dich sehen, Alex.«

»Ja, entschuldige, ich habe aber wirklich augenblicklich keine Zeit.«

»Nur zwei Minuten. Ich muß mich vor dir rechtfertigen, Alex.«

»Ums Himmels willen, lassen wir doch die Vergangenheit ruhn.«

Diese unerwartete Antwort gab Lydias Gedanken, die sich bis zu dem Augenblick nur mit dem gestrigen Abend beschäftigt hatten, eine völlig neue Richtung. Doch sagte sie rasch gefaßt: »Aber die Vergangenheit läßt mich nicht ruhn, Alex. – Weshalb glaubst du denn, daß ich überhaupt nach Weyringen gekommen bin? Meinst du, das Theater wäre so verlockend? Oder die Gesellschaft? – Deinetwegen!«

»Ach, Lydia, rede doch nicht solchen Unsinn!«

»Glaub's oder glaub's nicht. Aber es ist so. Ich wollte mich vor dir rechtfertigen. Bis dahin hast du ja nie von meiner Existenz Notiz genommen. Weder in München noch in Berlin hast du mich spielen sehen. Darum bin ich zu dir gekommen, um dich zu zwingen, mich auf der Bühne zu sehen. Ich will deine Anerkennung hören. Du sollst mir sagen: ja, du hast recht getan, daß du diese Laufbahn ergriffest. Du bist dafür geboren.«

Alexander Horn fuhr sich über die Stirn wie jemand, der unfaßbare Gedanken in sich aufzunehmen versucht. Dann sagte er zögernd und beinahe widerwillig: »Darum handelte es sich doch nicht!«

»Doch, gerade darum, denn das war der eigentliche Grund, warum wir auseinandergekommen sind. Du hattest immer an mir herumzunörgeln. Statt dich an mir zu freuen, wie ich war, wolltest du mich erziehen. Dein Ideal war die brave bürgerliche Frau, wie sie hier in der Gesellschaft zu Dutzenden herumläuft. Hast du ganz vergessen, wie entsetzt du warst, als ich dir erklärte, daß ich aufs Theater wollte? Weißt du das nicht mehr?«

»Gewiß, ja …« erwiderte er verwirrt. »Der Gedanke war mir anfangs unfaßbar.«

»Und wer hat ihn zuerst in mir erweckt? Du! Ein so widerspruchsvoller Mensch warst du. Wer hat mir denn zuerst aus den Klassikern vorgelesen? Haben wir nicht zusammen Ferdinand und Luise und Carlos und Elisabeth gespielt? Und hast du nicht für mich ein Stück geschrieben? Das mit der römischen Kokotte? Wie heißt es doch? ›Der Gefangene von Rom‹.«

»Ach, diese Jugendtorheiten!«

»Nein, Alex, das waren keine Jugendtorheiten. Für mich war das ernst. Für mich bedeutete das die Zukunft. Ja, du magst es glauben oder nicht, was ich geworden bin, das bin ich durch dich geworden. Ich bin dein Werk. Und nun bist gerade du der Mensch, der meine Existenz negiert. Der nichts mehr von mir wissen will. Das hat mich gewurmt all die Jahre. Ich möchte dir danken können, Alex.«

Das Innere des Hofrats geriet in Verwirrung. Die eindeutige Vorstellung, die er sich von der Vergangenheit gemacht hatte, begann zu wanken. In vielem mußte er Lydia recht geben. Aber hart und klar stand in seiner Seele auch das Bewußtsein ihres Verrats.

Er sah Lydia an, die mit dem naiv herrischen Stolz eines jungen Mädchens sich ihm in den Weg gestellt hatte. Er suchte nach einer Antwort und mußte sich doch in den Anblick ihrer Züge verlieren. Wie jung sie geblieben war gegenüber ihm, der sich so müde und verbraucht vorkam. Alle Schminke und alle durchwachten Nächte hatten den weichen Glanz ihrer Haut und das strahlende Blau ihrer Augen nicht trüben können. Und ihre Lippen waren noch immer so zart und frisch wie die der Siebzehnjährigen, die er geküßt hatte. Wieder durchrannen ihn die einst gespürten Schauer. Zuerst war es der Duft des Haares gewesen, der ihn willenlos anzog, daß er sich mit geschlossenen Augen wie sinkend näherte, um auf ihrem Mund auszuruhen, der still lag ohne Regung, wie eine schlummernde Seele, bis er sich belebte zu sanften, scheuen und immer heißern Küssen, von denen er sich schließlich losriß, halb betäubt und mit einem Gefühl von Schrecken und Scham. Aber eine Stunde später hatte ein anderer sie geküßt, dachte er mit selbstquälerischem Wahrheitsdrang. Und nach diesem wie viele andere noch!

»Alex!« sagte Lydia endlich, da er nichts erwiderte. »Ich bin anders geworden, als du mich wolltest. Aber sage mal ehrlich: hätte ich dich glücklich gemacht? Nein! Das wissen wir jetzt beide. Darum laß uns die Vergangenheit vergessen und laß uns Freunde sein.«

In ihrer Stimme lag die Kraft der Aufrichtigkeit. Mit der Freimütigkeit des guten Gewissens reichte sie ihm die Hand. Er hatte nicht den Mut, ihr die seine zu verweigern. »Dank, Alex,« flüsterte sie. »Lange habe ich diese Hand gesucht.«

Aber wie er den leisen Druck ihrer Finger spürte, ergriff ihn ein so krampfartiger Schmerz, daß er erschrocken dachte: Ich liebe sie ja noch! Ich hasse sie nur, weil ich sie liebe! Er zog seine Hand zurück und sagte schwer atmend: »Wir wollen versuchen, Freunde zu werden, Lydia. Wenn es geht. Du hast ja selbst gesagt, die Vergangenheit ist tot. Und neue Freundschaften zu schließen, das habe ich verlernt. Ich fühle mich zu alt dazu.«

»Du zu alt? Wir sind doch beide noch so jung!«

»Ich nicht, Lydia.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Komm, laß uns ein wenig gehn. Erzähle mir, warum du dich zu alt fühlst. Ich will dich wieder jung machen. Ja, das hat mich immer erstaunt, warum ich von deinen dichterischen Plänen nichts mehr hörte. Ich fragte Anna mal danach. Sie schien aber nichts zu wissen. Warum sind deine Theaterstücke nie aufgeführt worden?«

Während sie den sich schlängelnden Weg verfolgten, der auf der einen Seite von hohem Strauchwerk, auf der andern von einer weiten Wiese abgegrenzt war, schillerte Lydia in ganz neuen Farben.

Mit der natürlichen Herzlichkeit eines Freundes, dem die Vergangenheit gegenwärtig ist, weil er immer in ihr gelebt hat, sprach sie von seinen Jugendwerken. Sie vermochte sich einzelner Szenen zu erinnern. Ganze Verse fielen ihr ein. Namentlich von dem ›Gefangenen in Rom‹ sprach sie mit solcher Begeisterung, daß sie auch in seinem Herzen eine schüchterne Hoffnungsflamme neu entzündete. Sie verlangte ihm das Versprechen ab, ihr das Manuskript zu schicken. Er erklärte, es existiere nicht mehr, wenigstens wüßte er nicht, wo es sich befände. Und doch durchhuschte seinen Geist die phantastische Vorstellung, daß Lydia darin die Hauptrolle verkörperte.

Ohne daß Alexander sich dessen bewußt wurde, waren die beiden jetzt an einen Teil des Parks gelangt, den er seit Jahren nur höchst selten und nie aus freien Stücken betreten hatte. Eine Brücke führte über den Fluß, der wenige Meter unterhalb ein Wehr bildete. Dahinter aber lag das Boskett, in dessen Dickicht er sich eine Kugel in die Brust gejagt hatte, die, ihr Ziel verfehlend, an einer Rippe abgerutscht war. Nie konnte er diese Brücke betreten, ohne daß sengende Verachtung ihn verbrannte bei dem Gedanken an seinen verunglückten Selbstmordversuch, den zu wiederholen er nicht die Kraft gefunden hatte. Wer sein Leben fortwarf, weil es ihm unwert erschien, und es dennoch weiterführte, der vegetierte doch bloß als ein Sklave seiner Todesangst!

Rasch wollte er die Brücke überschreiten, doch Lydia blieb auf ihrer Mitte stehen, wies auf einen dürren Ast, der, von der rascher eilenden Strömung getragen, sich um sich selbst drehte und bald hier, bald dort am Ufer sich festhalten zu wollen schien, aber immer von neuem ergriffen wurde. Ihre Augen bekamen etwas Saugendes, während sie hinunterblickte. »Wie er sich wehrt! Er will nicht. Aber der Strudel packt ihn. Er muß hinunter. So – Fort mit ihm!«

Ein nervöses schadenfrohes Lachen kam aus ihrer zusammengepreßten Kehle. Dann beugte sie sich tiefer über das Holzgeländer. »Hör nur, wie das Wasser rauscht. Ich mag das gern. Es hört sich an, als wenn mein Blut kochte. – Nämlich du, ich höre manchmal mein Blut kochen. Abends wenn ich allein zu Haus bin, oder noch besser nachts … so in einer ganz ruhigen Stunde, dann lausche ich, wie mein Blut kocht. Das klingt wie das Summen einer Mücke, die eine Lampe umschwirrt. Und dann denke ich, in meinem Blut ist auch so etwas, so eine prickelnde Begierde nach dem, was Schaden bringt, andern und mir selbst … Du hörst ja gar nicht zu, Alex. Woran denkst du?«

»An nichts. Laß uns gehn.«

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Erst sollst du mir sagen, woran du gedacht hast. Du bist ja ganz blaß!«

»Komm!«

»Nein!« sagte sie bestimmt und hielt ihn fest. »Was ist denn da los im Gebüsch?«

»Wenn du das nicht weißt!« Er lachte höhnisch.

»Ich habe keine Ahnung … Ach so! Ach so!«

»Na also! Da wirft du mir wohl verzeihn, wenn ich dich bitte weiterzugehn.«

»Warum? Ich an deiner Stelle ginge alle Tage hierher und betete: ›Lieber Gott, ich danke dir, daß du die Folgen meiner Dummheit von mir genommen hast‹.«

»Auch eine Auffassung!«

»Ich an deiner Stelle schnitte mir hier einen tüchtigen Stecken ab und sagte mir: ›Damit verdienst du Prügel, wenn du je wieder auf solche Verrücktheit kommst.‹ Obwohl – ich glaube, auf solche Verrücktheit kommt man nur einmal.«

»Schlimm genug!«

»Du meinst, schlimm genug, daß man überhaupt drauf kommt? Alex, ich hoffe: wenn du jetzt an diese Sache zurückdenkst, dann schämst du dich ihrer als eines furchtbar dummen Jugendstreiches. Ich will ja nicht davon sprechen, was du mir damit angetan hast. Der Skandal! Ich war doch hier einfach unmöglich. Und das Toben Papas! Er hat mich ja behandelt, als wenn ich die ärgste Dirne wäre. Aber du selbst, Alex! Das Größte, was der Mensch besitzt, sein Leben, wegwerfen wollen wegen – wegen einer Lappalie!«

»Lydia!«

»Jawohl! Denn weiter war es nichts. Was war passiert? Ich hatte heimlich bei Reubke Stunden genommen. Aber du selbst hast mir immer von ihm vorgeschwärmt. Du hattest mir ihn gerühmt als glänzenden Lehrer. Gut, eines Tages gehe ich heimlich hin und bitte ihn, mich zu prüfen, ob ich Talent habe. Er willigte ein, mir Stunden zu geben. Stunden, die ich von meinem Taschengeld bezahlte. Du kannst dir denken, wie hoch das Honorar war. Von dem Tage an behandelte er mich als seine Schülerin. Das heißt, wie ein Komödiant seine Schülerinnen behandelt. Wenn ich meine Sache schlecht machte, bot er mir Backpfeifen an, machte ich sie nach seiner Ansicht gut, so küßte er mich. Theaterküsse, mein Lieber! Ich leugne nicht, daß ich auf seinem Schoß gesessen habe, als du hereinkamst. Aber ein einziges Wort hätte alles aufgeklärt. Statt dessen rennst du wie ein Unsinniger davon und willst dich umbringen. Nein, Alex, der liebe Gott hat's wahrhaftig gut mit dir gemeint.«

»Dann leugnest du also, daß du diesen Menschen geliebt hast?«

»Den? Ich hatte nur dich lieb. Trotzdem du mich so wahnsinnig. quältest.«

»Aber warum ist er denn geflohn?«

»Er brannte durch, als er hörte, was mit dir geschehen war. Übrigens war das nur der letzte Tropfen im vollen Faß. Der Hauptgrund waren seine Schulden. Davon hast du wohl gehört?«

»Lydia – ich – es klingt wie Wahrheit und ist doch –. Welche Grausamkeit treibt dich eigentlich dazu, mir das einreden zu wollen?«

»Ja, was sollte mich wohl dazu treiben, außer die einfache Wahrheit?«

»Dann – dann hätte ich dir womöglich noch unrecht getan?«

»Unrecht haben weder ich noch du getan. Jeder tat, was er mußte. Alex, wenn das nicht geschehen wäre, dann hätte ich dir doch ein paar Tage, vielleicht ein paar Monate später gesagt, daß ich deine Frau nicht werden könnte. Ich kann niemandes Frau sein. Ich bin einfach für die Ehe nicht geschaffen. Aber ich hätte dich gebeten: ›Mach dich von hier los! Komm mit mir in die Welt, wo wir uns frei entwickeln können.‹ Und dort wäre ich deine Geliebte geworden, wenn du mich hättest haben wollen.«

Unter hohen Bäumen, die aus ihren verflochtenen Ästen weinrote und braune und gelblich fahle Blätter niederstreuten, gingen die beiden dem Ausgang des Parkes zu. Ohne ein Wort zu wechseln, hingen sie ihren Gedanken nach.

Lydia war von der Wahrheit ihrer Erzählung vollkommen durchdrungen. Daß sie damals ihrem Lehrer versprochen hatte, mit ihm durchzubrennen, hatte sie im Lauf der Jahre vergessen. Und jetzt unter dem Eindruck ihrer eigenen Worte war sie überzeugt, daß Alexander gegen sie eine Schuld abzutragen hatte.

Endlich, als sie bei einer Straßenkreuzung die Bemerkung machte, daß ihre Wege sich hier trennten, sah Alexander sie an mit zweifelndem und doch bestätigungssüchtigem Blick.

»Lydia, es klingt zu schön, als daß ich es glauben könnte.«

»Denk nur nach, ob es nicht so plausibel wie die Wahrheit klingt.«

 


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