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Seit einer halben Stunde schritt der Oberst von Meyneburg die Reihe seiner Zimmer auf und nieder.

Diese Räume hätten das Entzücken und das Befremden eines Kunstsammlers erregt, ebenso wie das Haus selbst, das noch aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts stammte. Eine breite, geschwungene Treppe führte in so mäßiger Steigung, daß man sie ohne Gefahr hätte hinaufreiten können, zum obern Stockwerk, das der Oberst bewohnte. Das Erdgeschoß war seit dem Tode seiner Frau an zwei alte Damen vermietet.

In diesen obern Zimmern befanden sich Gebrauchs- und Schmuckgegenstände aus allen möglichen guten und schlechten Zeiten beisammen. Die schweren Eichendielen des Fußbodens waren mit bemalter Leinwand bedeckt, auf der sich die bunten asiatischen Teppiche einer neueren Zeit wunderlich ausnahmen. An den Türen hingen perlengestickte Klingelzüge. In den goldenen Kronleuchtern mit ihren spärlichen Kristallprismen steckten weiße Kerzen. Da und dort standen auf Konsolen und Schränken hohe dickbäuchige Petroleumlampen mit großen Papierschirmen, in die ein Kranz von Silhouetten oder von getrockneten Blumen eingepreßt war. Von einem einheitlichen Mobiliar konnte man schlechterdings nicht sprechen. Bouleschränke, vergoldete Stühlchen, Biedermeierkanapees mit schwarzem Roßhaarbezug und plüschbezogene Mahagonimöbel standen in friedlichem Verein.

Die verblichenen Tapeten waren kaum noch zu sehen, so viele Bilder bedeckten sie. Da hingen Familienbilder bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück, in Öl und Pastell, seltene kolorierte Stiche von hohem Wert, verblichene Daguerrotypien und moderne Radierungen. Den geschlossensten Charakter zeigte noch das Wohnzimmer des Obersten selbst, insofern es mit seinen Regimentsbildern, seinen alten Waffen und seinen unzähligen Geweihen an den Wänden einen ganz kriegerischen und weidmännischen Anblick zeigte.

Mochte nun ein Kunstverständiger auch über dies Sammelsurium die Nase rümpfen, der Bewohner der Räume wußte wohl, warum gerade diese Sachen sich hier befanden und warum sie standen, wie sie standen. Die größern Möbel waren fast lauter Erbstücke. Seit den Zeiten der Urgroßeltern hatte die Familie das Haus bewohnt, und jede Generation hatte darin die Spuren ihres Schaltens und Waltens zurückgelassen. Und auch unter den kleineren Gegenständen befand sich nicht einer, an den sich nicht eine liebgewordene Erinnerung knüpfte.

Darum, wenn der Oberst hier auf und ab wanderte, so schritt er in ganz besonderm Sinn auf eigenem Grund und Boden, und mit ihm wanderten die Schatten seiner lieben Frau, seiner Eltern und Großeltern.

Heute aber blieb er kopfschüttelnd, mit finsterer Miene, bald hier vor einem Bild, bald dort vor einer Jagdtrophäe stehen und stellte sich vor, daß das alles nun abgerissen und eingepackt werden sollte, um irgendwo an einem andern Ort ein neues Dasein zu beginnen.

Ein neues Dasein? Ne, ne, das machte ihm niemand weis. Und hierbleiben? Damit jede Klatschbase auf der Straße hinter ihm her zeigen konnte: das ist der Vater von dem Fräulein am Theater, das –

Siedehitze stieg in seinen Kopf, und seine Hände ballten sich. Er hatte zwar schon von Anna gehört, daß Lydia abgereist war. Aber das hatte seinen Plan, fortzuziehen, nicht wankend gemacht. Er mußte fort! Wenn er nur gewußt hätte, wohin? Er konnte das Kursbuch aufschlagen und auf irgendeine Station des großen deutschen Vaterlandes den Finger legen: in dieses Nest will ich mich verkriechen und vergraben. Er war überall gleich heimatlos.

Da trat sein Diener ein und meldete, daß draußen ein Kammerhusar sei und den Besuch des Fürsten um halb zwölf Uhr anmelde.

»Sagen Sie dem Kammerhusaren, daß ich Seine Durchlaucht erwarte.«

Mit dem verstorbenen Fürsten war der Oberst durch eine langjährige, biedermännische Freundschaft verbunden gewesen. Dem jetzt regierenden war er von Anfang an fremder geblieben. Nicht als ob er sich je über Zurücksetzung zu beklagen gehabt hätte. Auch gehörte er nicht zu der alten Hofpartei, die über den Bruch mit den bisherigen Gepflogenheiten und über die so ganz andern Passionen des jungen Fürsten mehr oder minder verhüllt herzog. Er übte in dieser Beziehung eine taktvolle Zurückhaltung, und zwar nicht nur aus der Erwägung, daß die neuen Interessen des hohen Herrn seinem eigenen Schwiegersohn besonders zugute kamen. Auch schätzte er den Fürsten wegen der unermüdlichen Fürsorge für sein kleines Land, und der kraftvolle Stolz, mit dem dieser sein schweres Familienschicksal getragen hatte, nötigte ihm aufrichtige Bewunderung ab.

Der Fürst hatte das Unglück gehabt, daß seine Gemahlin, eine ebenso reizende wie launische und unerzogene Prinzessin, eines Tages mit einem jungen Offizier seiner Umgebung das Weite gesucht hatte. Ein Unglück, das für manchen Privatmann Grund genug gewesen wäre, sich in ein grämliches Einsiedlerdasein zurückzuziehen. Aber obwohl die leidenschaftliche Liebe des hohen Herrn zu seiner jungen Frau allgemein bekannt war, hatte er von diesem Schlag die Öffentlichkeit nicht das geringste merken lassen und hatte die Aufgaben, die er sich einmal gestellt hatte, mit derselben Hingabe und Frische weiter erfüllt.

Was die beiden einander fernhielt, war einfach die Verschiedenheit der Charaktere und der Neigungen. Und in der Tat hätte der alte Soldat und passionierte Jäger seinem Landesherrn, der sich mit einer unter modernen Fürsten seltenen Einseitigkeit den Kunstinteressen zugewandt hatte, auch wenig bieten können.

Dieses Bewußtsein hatte den Obersten vom Hof ferngehalten, wo er sich nur bei hochoffiziellen, seltenen Gelegenheiten zeigte. So war er in Vergessenheit geraten und von einer strebsamern Generation verdrängt worden.

Was mochte der Fürst nun plötzlich von ihm wollen? Sollte sein Besuch mit Lydias Geschichte zusammenhängen?

Dem Alten stieg die Zornröte ins Gesicht, und sein sprühender Blick richtete sich zur Abwehr bereit auf die Tür. Bei aller Anhänglichkeit und Ergebenheit, die er dem Fürstenhaus entgegenbrachte, dem seine Vorfahren seit Generationen gedient hatten, war er zu stolz, um dem jugendlichen Herrn eine Einmischung in seine Privatverhältnisse zu gestatten.

Aber er fuhr sich beruhigend über die Stirn. Er wollte nicht hadern und aufsässig werden, ehe er noch die Ursache des Besuchs kannte. Er rief den Diener, um ihm die nötigen Weisungen zu erteilen und sich bei der Toilette helfen zu lassen.

Die alte Standuhr zeigte noch eine Minute vor halb Zwölf, als das Auto auf der Straße hielt, und gerade als der Gast, den nicht sein Adjutant, sondern der Oberjägermeister Graf Zech begleitete, ins Zimmer trat, setzte sie zum Schlagen ein. Ein Lächeln der Befriedigung über diese geglückte Pünktlichkeit umhuschte das zusammengedrängte, schmale Gesicht des Fürsten, der mit einem nervösen Griff an seinem englisch zugestutzten Schnurrbart zauste und dann seine Hand dem Obersten reichte.

»Mein lieber Herr von Meyneburg, es gehen Gerüchte um, Sie seien nicht wohlauf. Ich bin gekommen, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.«

»Ich danke Euer Durchlaucht für die Gnade. Körperlich geht es mir gut. Da kann ich nicht klagen.«

»Unberufen! Unberufen! Man soll das nicht verschreien,« versetzte der Fürst hastig. »Aber Sie schauen wirklich famos aus. Und in ihren schönen Räumen ist alles noch beim alten. Ach, da hängt ja die prächtige Geweihsammlung!«

Dabei stellte sich der kleine Herr gegen die Wand und schien mit nimrodischem Interesse die Beutestücke zu studieren.

Graf Zech blinzelte den Obersten mit belustigtem Lächeln an. Das Unverständnis und die Gleichgültigkeit des Fürsten allem gegenüber, was das Waidwerk betraf, waren im ganzen Land sprichwörtlich.

»Ein kapitales Stück, das da. Haben Sie den Bock in meinen Wäldern erlegt?«

»Jawohl, Durchlaucht. Den Hirsch habe ich bei einer Hofjagd, die Seine Durchlaucht der verstorbene Fürst in Sudenberg abhielten, geschossen.«

»Ich werde demnächst auch wieder eine Jagd veranstalten. Und ich hoffe, Sie dann begrüßen zu können, mein lieber Oberst.«

Dieser verbeugte sich stumm und sagte dann: »Wollen Durchlaucht nicht die Gnade haben, den Hut abzulegen?«

Der Fürst, der im einfachen Gehrock erschienen war, während der Oberjägermeister seine Uniform trug, gab dem Obersten seinen Zylinderhut, streifte die Handschuhe ab und nahm auf einem der Ledersessel Platz, mit einer Handbewegung andeutend, daß die beiden andern sich ebenfalls setzen möchten.

»Es freut mich wirklich, mein lieber Herr von Meyneburg,« begann der Fürst, »daß man mich falsch berichtet hat. Ihre Gesundheit läßt also nichts zu wünschen übrig?«

»Außer einer Attacke von Gicht kann ich nicht klagen, Durchlaucht.«

»So, so! Gicht!« erwiderte der Fürst interessiert, der, wie bekannt war, selbst von diesem Übel häufig geplagt wurde. »Gicht! Das muß ja ein infames Leiden sein. Sehr schmerzhaft, wie ich mir habe berichten lassen. Kommt sie bei Ihnen auch von Ärger und Aufregungen?«

»Vom Ärger und vom Rotspon, Durchlaucht.«

»So, so! Na, das letztere ist wenigstens ein entschuldbarer Grund. Was tun Sie denn dagegen?«

»Ich trinke noch mehr Rotspon, Durchlaucht.«

»Das ist sehr gut! Hören Sie, Graf, dieses probate Mittel werde ich meinem Leibarzt empfehlen. – Aber es ist mir wirklich lieb, Sie bei so gutem Humor zu sehen. Gestern nachmittag hatte mir Graf Zech schon Angst gemacht, indem er mir von Unstimmigkeiten erzählte. Das war hoffentlich nichts weiter von Bedeutung.«

»Wenn ich vorhin Durchlaucht recht verstanden habe, so handelte es sich um mein körperliches Befinden. Was meinen Humor betrifft, so bitte ich Durchlaucht untertänigst davon schweigen zu dürfen.«

»Ach, das sollte mir leid tun, wenn Sie Grund zur Klage hätten. Sonst dürften Sie mit Ihrem Schicksal doch wohl zufrieden sein. Ein Mann, der so viel Freude an seinen Kindern haben kann.«

Der Oberst erhob stirnrunzelnd, während die buschigen Brauen sich zusammendrängten, sein Gesicht.

»Ihre ältere Frau Tochter habe ich ja selten das Vergnügen zu sehen. Aber Ihren Herrn Schwiegersohn besuche ich gelegentlich in meinem Museum. Ein ganz vortrefflicher Mensch. Unter seiner Leitung haben meine Sammlungen einen hohen Aufschwung genommen.«

»Das freut mich, Durchlaucht.«

»Es hat mich mit lebhafter Genugtuung erfüllt, ihm die Mittel zum Erweiterungsbau des Museums bewilligen zu können. Wo es sich um ideale Zwecke handelt, greife ich wirklich gern in die Tasche, schon um meinem Landtag ein gutes Beispiel zu geben. Und ich hoffe, es wird sich bald eine Gelegenheit finden, wo ich ihm auch persönlich beweisen kann, wie hoch ich seine Kraft schätze.«

»Es ist mir sehr lieb, daß Durchlaucht mit meinem Schwiegersohn zufrieden sind.«

»Und was Ihre jüngere Tochter betrifft – ich bin stolz, sie an meiner Bühne zu besitzen. Nicht wahr, Graf, darüber herrscht nur eine Stimme im ganzen Publikum, daß wir uns eine Ehre daraus machen, sie hier so lange als möglich zu fesseln.«

»Zweifellos, Durchlaucht, so eine brillante Schauspielerin haben wir hier noch nicht gehabt.«

»Und wir haben hier schon ganz vorzügliche Talente besessen! – Ja, mein verehrter Herr Oberst, Sie sind ein beneidenswerter Vater. Und wenn da dieser und jener seinen Neid nicht unterdrücken kann und Gerüchte ausstreut – es gibt ja leider auch in meiner Stadt Verleumder und Ehrabschneider – ich denke doch, Leute wie wir stehen über diesen Schmutzereien.«

»Wenn es sich nur um Verleumdungen handelte –«

»Um weiter nichts. Ich versichere Sie, mein lieber Oberst, um weiter nichts. Was haben Sie da übrigens für ein interessantes Bild von meinem Großvater?«

Der Fürst hatte sich erhoben und trat auf das an der gegenüberliegenden Wand hängende Ölgemälde zu.

»Mein Großvater mit dem Großkreuz der Ehrenlegion. Wie sich die Zeiten geändert haben!«

»Verzeihung, Durchlaucht, wenn ich auf das eben Gesagte zurückkomme. Ich muß Euer Durchlaucht widersprechen. Das Gerücht über meine Tochter ist leider wahr.«

»Wer wagt das zu behaupten?«

»Ich, Durchlaucht. Ich habe ihre eigene Bestätigung.«

Der Fürst griff nervös an seinen Schnurrbart, drehte sich dann um und blickte stillschweigend zum Fenster hinaus. Nach einer Weile kehrte er bis zur Mitte des Zimmers zurück und sagte leise: »Ihre Tochter ist eine große – eine ganz wundervolle Künstlerin. Sollte in ihrem Leben ein Schatten vorhanden sein, so wollen wir uns an die Lichtseiten halten.«

»Durchlaucht haben ganz recht mit Ihrem Urteil. Denn Durchlaucht sehen in ihr die Schauspielerin. Aber ich sehe in meiner Tochter das mißratene Kind, das Kummer und Schande über seinen Vater gebracht hat.«

Der Fürst blickte erblassend zu Boden, zupfte wieder an seinem Schnurrbart und streckte dann mit einer Geste voll jünglinghaftem Freimut dem Obersten die Hand hin:

»Verzeihen Sie, daß ich da in eine Wunde gegriffen habe. Das war nicht meine Absicht. Ich meinte es gut.«

»Ich weiß. Und ich danke Euer Durchlaucht von Herzen für den gnädigen Besuch.«

»Ja – –«

Wieder senkte der Fürst den Blick, sah dann den Grafen Zech an, als wenn er sagen wollte, mein Latein ist hier zu Ende, blickte dann suchend im Zimmer umher, nahm vom Spieltisch am Fenster seinen Zylinderhut und machte schon einige Schritte zur Tür, als er sich noch einmal umwandte:

»Mein lieber Herr von Meyneburg, der Graf sagte mir, daß Sie die Absicht hätten, uns zu verlassen.«

»Jawohl, Durchlaucht.«

»Ich möchte Sie bitten, sich das doch zu überlegen. Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Seit dreiundzwanzig Jahren.«

»Immer in diesem Haus?«

»Jawohl, Durchlaucht.«

»Und seit wieviel Generationen wohnt Ihr Geschlecht hier?«

»Seit fünf – seit sechs Generationen, Durchlaucht.«

»Und alle Ihre Vorfahren sind meinem Hause treue Freunde gewesen. Es würde mir leid tun, lieber Herr von Meyneburg, es wäre mir wirklich ein großer Schmerz, wenn Sie meine Stadt verließen. Denn ich würde mir sagen müssen, das sei durch meine Schuld geschehen. Auf meine persönliche Verwendung ist ja Ihre Tochter hierher gekommen.«

»Jawohl, Durchlaucht, und ich mache mir bittere Vorwürfe, daß ich damals, als es noch Zeit war, Eure Durchlaucht nicht bat, von Ihrer Absicht gnädigst abzustehen.«

»Wenn Sie nun wegziehen,« fragte der Fürst, ohne auf diese letzten Worte zu hören, »was glauben Sie eigentlich damit zu erreichen? Dadurch wird das Geschehene doch nicht aus der Welt geschafft. Im Gegenteil! Sie geben den Gerüchten ja nur eine neue Unterlage.«

»Aber ich höre sie wenigstens nicht,« brach der Oberst hervor. »Ich kann ungeschoren über die Straße gehen. Wenn das Gerücht erlogen wäre, und ich könnte den Schweinehunden das Maul stopfen – aber stillschweigen zu müssen zu dem Urteil der Leute –«

»Zu dem Urteil der Leute!« wiederholte der Fürst und zog die Stirn kraus. Und seine etwas gewölbten, hellblauen Augen blickten mit so hochmütigem Erstaunen den Oberst an, daß er trotz seiner Kleinheit auf ihn herunterzublicken schien. In diesem Augenblick mochte er an den Zeitungslärm, der anläßlich des Verschwindens seiner Gemahlin losgebrochen war, und an die wilden Gerüchte, die damals durch die Stadt schwirrten, denken. »Das Urteil der Leute! Ja, mein lieber Herr von Meyneburg, seit wann kümmert ein Mann von Stand sich denn um das Geschwätz der Menge? So weit sind wir hoffentlich denn doch noch nicht gekommen. – Wie ich höre, ist Ihre Tochter ohne Urlaub von hier fortgereist. Ich habe meinem Intendanten befohlen, ihr mitteilen zu lassen, daß diese unerlaubte Entfernung keine weitere Folgen für sie haben wird, wenn sie sich entschließt, zurückzukehren. Ich hoffe, daß Sie ihr keine Schwierigkeiten in den Weg legen werden. Aber ebenso sicher hoffe ich, daß Sie Ihren Entschluß, fortzuziehen, rückgängig machen werden. Darf ich mich darauf verlassen?«

Mit dunkelrotem Kopf, während die Unfähigkeit, zu einem klaren Entschluß zu kommen, seinem Gesicht einen hilflosen Ausdruck gab, stand der Oberst in strammer, dienstlicher Haltung da, bis er schließlich sagte:

»Durchlaucht mögen gnädigst verzeihen, aber ich kann nichts Bestimmtes versprechen.«

Der Fürst zuckte ungeduldig die Achseln.

»Das tut mir leid. Mir ist diese Rücksicht auf das Gerede der Leute offen gestanden vollkommen unverständlich. Besonders bei einem alten Soldaten. – Ich hoffe bestimmt, Sie werden sich noch in meinem Sinn entscheiden.«

Begleitet von dem Oberst und dem Grafen Zech eilte er die Treppe hinunter. Ehe er ins Auto stieg, reichte er dem Obersten noch einmal die Hand:

»Auf Wiedersehen, lieber Herr von Meyneburg. Es darf nicht sein, daß wir vor dem Pöbel die Flucht ergreifen. Darum auf Wiedersehen!«

,Vor dem Pöbel?' dachte der Oberst, der in sein Zimmer zurückgekehrt war und nun brütend auf demselben Stuhl saß, den er soeben dem Fürsten gegenüber eingenommen hatte. Handelte es sich nur um den Pöbel? Hatte von jetzt an nicht jede anständige Frau das Recht, seiner Tochter ihr Haus zu verwehren? Da oben im Reich der Fürstlichkeiten mochte mancherlei geschehen, und die Welt hatte sich daran gewöhnt, andere Maßstäbe anzulegen. Aber er hätte den Mann scheel angesehen, der eine Frau in die Gesellschaft eingeführt hätte, deren Vergangenheit nicht einwandfrei war. Und nun sollte er dasselbe begehen? Sollte die Grundsätze von Ehrbarkeit und Sittenreinheit, auf denen die Gesellschaft basierte, untergraben helfen. Er durfte nicht. Als Mann von Ehre durfte er das nicht! Und kein Fürstengebot half darüber weg.

Sobald Anna das Haus ihrer Schwester verlassen, hatte Lydia die alte Magd herbeigeklingelt. Dann war sie in ihr Schlafzimmer geeilt und hatte ohne langes Überlegen ein Dutzend Straßen-, Gesellschafts- und Balltoiletten aus den Kleiderschränken herausgerissen.

»Maruschka, fix, telephonier nach 'nem Auto! Ich muß verreisen. Und die Sachen hier packst du ein. Aber dalli, verstanden? Was stehst du noch und guckst so dumm, altes Kamel. Beeil dich doch, in fünfzig Minuten geht mein Zug.«

»So? Geht er? Aber ob er die knädje Frau auch mitnimmt?« fragte Maruschka, und ihr grobknochiges Zigeunergesicht versteinerte geradezu zu einem Ausdruck störrischer Dummheit. Lydia schwieg. Sie wußte, wenn die Alte diese Miene aufsetzte, war mit ihr nichts anzufangen.

»Ich hab ja schon geheert,« fuhr Maruschka fort, »daß es en Krach jejeben hat mit die Frau Hofrat. Na ja, 's war ja iberflissig, daß se der knädjen Frau das vorjeworfen hat mit das Kind und mit die unölige Geburt. Das war nich hibsch von se. Denn das kann doch jeder mal passieren. Aber die knädje Frau brauchte auch nich gleich so ausfallend zu werden. Das war wieder mal ganz ibertrieben von de knädje Frau. Und nu wollen Se sich in 'n Zug setzen und wegmachen? Wo wir uns hier so 'ne hibsche Position verschafft haben? Das Publikum – besser kann es gar nich sein zu die knädje Frau. Und der Fürst hat sich auch so liebreich ausgesprochen. Aber so sind die knädje Frau ja immer. Nirgendswo kennen Se warm werden. Wenn de Leite 's recht gut mit Se meinen, missen Se se vorn Kopp stoßen. – Und iberhaupt, jetzt kennen Se doch gar nich verreisen, wo ich grad die ganze Spitzenwäsche weggetragen habe zum Waschen.«

Nachdem die ehrliche alte Haut endlich ihrem Herzen Luft gemacht hatte, warf Lydia ihr eine Handvoll Strümpfe an den Kopf und befahl:

»Ruhig, alte Schetterbüchse!«

Dann hob sie von dem Berg Koffer, die übereinandergestapelt noch immer im Schlafzimmer standen, den obersten herunter, schloß den krachenden Deckel auf und sagte:

»Also jetzt dalli, einpacken! Wenn du was vergißt und ich muß es mir in Berlin neu kaufen, setze ich es dir auf die Rechnung.«

»Ach, da könnte die knädje Frau aber lange aufs Bezahlen warten.«

»Ich schicke dir den Gerichtsvollzieher auf den Hals und lasse dir deinen wollenen Strumpf pfänden.«

»Bei mir findet kein Gerichtsvollzieher keinen Groschen nich. Iberhaupt is das ganz iberflissig. Ich hab der knädjen Frau doch schon alles geborgt. – Aber's hat keine Eile. Lassen Se man! Lassen Se man!« bat sie, als Lydia das Portemonnaie zog.

Der Streit endete damit, daß Maruschka bereitwillig und mit ebensolcher Geschwindigkeit wie Ordnung die herausgelegten Sachen einpackte.

Noch stand Lydia der Abschied mit Walpurga bevor, die erst von der Straße, wo sie gerade spielte, heraufgerufen werden mußte. Aber das Kind benahm sich merkwürdig verständig, fast zu verständig, wie die Mutter dunkel empfand. Im Spiel mit seinen Kameraden gestört, schien es nur den Wunsch zu haben, sobald wie möglich wieder hinunterzukommen. Als Lydia sie fragte, was sie ihr mitbringen sollte, überlegte die Kleine einen Augenblick und erwiderte dann:

»Ach, du wirst schon was finden. – Adieu, Mutti! Die Jungs warten auf mich.«

Und schon war sie mit glühenden Wangen und flatternder Mähne zur Tür hinaus.

Lydia traf noch einige Minuten vor Abgang des Zuges auf dem Bahnhof ein. Während sie auf dem belebten Perron hin und her spazierte, drehten sich die Leute nach ihr um und flüsterten über sie. Ihre Erscheinung in dem schwarzen Sealpelz, der mit Chinchillabesatz verbrämt war, mit dem großen grauen Pleureusenhut, war unter diesem bescheidenen Provinzpublikum freilich auch auffallend genug. Ihr tat dieses Aufsehen, das sie erregte, aufrichtig wohl. Im Auto noch hatte das Gefühl erlittenen Unrechts ihr Herz geschwellt. Ihren Schuldanteil hatte sie völlig vergessen, nur die Erinnerung an die unbeherrschte und so grundlose Heftigkeit der Schwester wirkte in ihr nach. Aber jetzt war auch das vergessen. Ohne es zu wissen, spielte sie Theater und schritt mit dem Anstand einer Fürstin, das Kinn ein wenig hochmütig erhoben, die Nasenflügel leicht gebläht, durch die Menge, die ihr unwillkürlich Platz machte.

Als jetzt der Portier, die Hand an der Mütze und in devoter Haltung sich ihr näherte und fragte, ob er ihr ein Abteil öffnen dürfte, erwiderte sie leutselig, ja, eins erster Klasse. Aber möglichst ein leeres. Sie möchte ungestört sein. Da sie so gnädig war, hielt der Mann ein kleines Zwiegespräch für angebracht und sagte in ehrerbietig-vertraulichem Ton, er hätte die gnädige Frau am letzten Sonntag als Gretchen im ›Faust‹ gesehen. Großartig! Einzig!

Sekundenlang huschte ein tragischer Schatten durch Lydias Inneres, und sie dachte: ›Doch wenigstens ein Mensch, der mich hier nicht fallen läßt!‹ Gleich darauf aber, als der Zug sich in Bewegung setzte, ergriff sie freudiges Wohlgefühl und prickelnde Erwartung: Berlin! Berlin! Es war die höchste Zeit, daß sie wieder Großstadtluft atmete!

In Berlin angekommen, stieg Lydia im Kaiserhof ab und telephonierte an ihre Freundin Martha Kullrich, genannt Madeleine Riche, sie möge sie doch noch heut besuchen. Darauf nahm sie ein Bad und lag nun, in einen weißen Kimono gehüllt, auf der Chaiselongue, als es klopfte.

»Herein!«

In der geöffneten Tür stand eine mittelgroße, geschmeidige Person mit einem gelblich blassen Affengesicht, auf den rostroten Haaren einen grünlichen Turban, von dem ein etwas ramponierter Reiherbusch pinselartig in die Höhe starrte. Die Dame spähte einen Augenblick ins Zimmer, ließ dann ihre langstielige Schildpattlorgnette hinunterfallen und stürzte mit geöffneten Armen auf Lydia zu.

»Jo, bist du's denn wirklich? Li? I hob ja oan Juchzer ausgestoßn durchs Telephon, wann i dei Stimm ghört hoab. Die Li wieder im Land! Loß dir a Busserl gebn, mei Herzl! Wie schaust denn aus? Ja, mein Gott, mein Gott, wann's möglich wär, tät i holt meinen, noch schlänker bist wordn.«

»Sag mal, du bist nun wohl ganz übergeschnappt,« unterbrach Lydia die Besucherin, die um sie herumgetanzt war wie ein närrischer Pudel. »Seit wann radebrechst du denn so ein scheußliches Münchnerisch?«

»Ober dös is doch Weanerisch! Kann holt nit anders. Seit sechs Wochen spüll ich doch die Weaner Komtesse in dem faden Stück, was wir jetzt geben, do hoab i mir's holt angwöhnt.«

»Gewöhn dir's nur schleunigst wieder ab. Wenn man in der Mulackstraße in Berlin N. groß geworden ist, klingt das blöd.«

»Na weißte, so grob brauchste einem auch nich gleich zu kommen,« versetzte Fräulein Riche gekränkt. »Wie geht's dir denn, Herzl?«

»Danke! Ich erzähl dir noch. Trinkst du Tee?«

»Jo, gern.«

Als gleich darauf der Kellner erschien, bestellte Fräulein Riche für sich Tee mit Obers und Rum. Dann entledigte sie sich ihres schwarzen Seidenmantels, der trotz des zerschlissenen Futters und des fehlenden Aufhängers von außen ganz respektabel ausgesehen hatte, und gestikulierte nun in einer angeschmutzten irischen Seidenbluse umher, die hinten mit schwarzen und goldenen Stecknadeln notdürftig zusammengehalten wurde. Da die Ärmel nur bis zum Ellenbogen und die ehemals gelben Glaces nur gerade über den Handknöchel gingen, so waren ihre Unterarme bloß. Aber ohne sich darum zu kümmern, holte sie aus ihrem Pompadour ein Etui von Tulasilber mit einem vergoldeten Wappen darauf, und bald saßen die beiden beim Dampf des Tees und der Zigaretten. Auf Madeleines Fragen, was Lydia nach Berlin geführt hätte, hatte diese jedesmal nur kurz ausweichend geantwortet. Jetzt sagte sie in ihrer herrischen Weise:

»Erzähl mir, was gibts Neues in Berlin?«

»Jo, mein Gott, was soll's in diesem dalketen Nest wohl Naies gebn? Es ist holt immer die ölte Geschicht. Das heißt, weißte schon das Neuste? Die Chose von der Röder – du, das is ja zum Schießen!«

Die Röder, die erste Salondame an Madeleines Theater, hatte jahrelang ein Verhältnis mit einem jugendlichen Liebhaber gehabt, der wegen gänzlicher Talentlosigkeit nur an obskuren Provinzbühnen Engagements gefunden hatte.

Von dort schrieb er die flehentlichsten Briefe, sie möchte doch ihren Einfluß aufbieten, damit er wieder an ihrem Theater engagiert würde. Die Röder hatte mit allen Mitteln gearbeitet und hatte auf den Proben die Briefe ihres Liebsten herumgezeigt, die von Zärtlichkeit und Leidenschaft überströmten. Schließlich hatte der Direktor sich erweichen lassen. Und eines Tages erzählte die Röder freudestrahlend allen Kollegen, sie würde morgen ihren Max, der ohne sie nicht leben könne, von der Bahn abholen. Aber als sie dann in bräutlicher Empfangsbereitschaft auf dem Perron ihn erwartete, war er ihr entgegengekommen. Arm in Arm mit einer jungen Frau.

Lydia lachte, daß ihr Tränen in die Augen traten. Andere Geschichten folgten. Kulissenklatsch und Skandalaffären aus der Lebewelt. Lydia erkundigte sich nach den Kavalieren, die ihr im vergangenen Jahr im Eispalast und auf den Bällen den Hof gemacht hatten. Aber was Fräulein Riche da zu erzählen hatte, war nicht immer erfreulich. Der junge Graf, mit dem sie sich so herrlich amüsiert hatten, war entmündigt worden. Der galante Gutsbesitzer aus dem Osten, den sie im Verdacht gehabt hatten, ein Falschspieler zu sein, war wirklich einer gewesen. Er war ganz plötzlich verduftet, nachdem er noch alle seine Bekannten angepumpt hatte. Auch Madeleine hatte er einen Brillantring abgeluchst, zu ihrem Glück jedoch einen unechten.

Die Stunden vergingen, während die beiden sich in dieses Pandämonium von Glücksrittertum, Leichtsinn und Eintagsleidenschaften vertieften, bis es Fräulein Riche einfiel zu fragen, was sie diesen Abend beginnen sollten. Sie hatte beabsichtigt, ins Apollotheater zu gehen, wo ein berühmter Schauspieler in einem neuen Sketch auftrat. Aber Lydia erinnerte sich plötzlich ihrer Eigenschaft als große Dame und erklärte, ohne männliche Begleitung könnte sie ein Varieté nicht besuchen. Deshalb beschlossen die beiden, in ein ernsthaftes Theater zu gehen.

Aber vorher mußten die Koffer ausgepackt werden. Dieses Geschäft überließ Lydia der Riche, die mit der Geschicklichkeit einer Garderobiere die großen Rohrplattenbehälter entleerte und dabei nicht verfehlte, jede Robe vor dem Spiegel sich anzuhalten, jeden Hut auf ihren Kopf zu setzen und darüber in Bewunderung auszubrechen. Dabei stellte sich heraus, daß ein schwarzes Voilekleid geradezu für sie gemacht schien, und daß unter den Hüten sich einer befand, den man schlechterdings nur zu diesem Kleid tragen konnte. Sie wurde immer deutlicher in ihren Anspielungen, bis schließlich Lydia erklärte, sie solle doch lieber geradeheraus sagen, daß sie die beiden Sachen geschenkt haben möchte.

Aber nun gab es einen kleinen Entrüstungssturm. Nein, das konnte niemand der Madeleine Riche nachsagen, daß sie ihren Kolleginnen etwas abbettelte. Aber wenn Lydia ihr die Sachen borgen wollte, würde sie nicht nein sagen. Denn sie war nicht zum Theaterbesuch angezogen. Auf die Nachricht von Lydias Ankunft hatte sie sich, wie sie war, ins Auto gestürzt.

»Also, nun mach kein langes Gerede,« erklärte Lydia. »Verborgen tu ich meine Sachen nicht. Du kannst sie ruhig behalten.«

»Nein, nein, um keinen Preis,« versicherte Fräulein Riche, die bereits in der Untertaille, den neuen Hut auf der rostroten Frisur, herumtanzte. »Morgen in der Früh schick ich sie dir zurück. Ehrenwort!«

Dann zog sie sich das schwarze Voilekleid über, das sie vermöge ihrer langen Affenarme sich eigenhändig auf dem Rücken zuknöpfte.

»Todschick schau ich aus. Du, in der Toilette geh ich nach dem Theater mit dir ins ›Esplanade‹. Wir werden Furore machen. Aber weißt du, ein paar anständige Handschuh brauch ich auch noch. Zum Kaufen ist es nicht mehr Zeit. Die könntest du mir vielleicht noch pumpen.«

Bevor sie gingen, verpackte Madeleine aber noch schnell ihren eigenen Turban, die Bluse und den Rock in einen leeren Karton und beorderte den Zimmerkellner, das Paket noch diesen Abend in die Flottwellstraße zu schicken.

Dann fuhren die beiden ins Theater. Nachher aber verabschiedete Lydia sich, um sich nach einem Imbiß auf ihrem Zimmer schlafen zu legen.

Am nächsten Mittag erschien die Riche mit ziemlicher Pünktlichkeit wieder, um Lydia in den Eispalast abzuholen. Sie trug jetzt zu ihrem Turban ein etwas ramponiertes Sportkostüm. Von den geborgten Sachen war nicht mehr die Rede.

Die große Stadt zeigte ein graues, verdrossenes Gesicht. Quietschend glitten die Reifen des Autos durch die Lachen auf dem Asphalt. Straßenreiniger sprangen geschickt zwischen den sausenden Fuhrwerken hin und her und schoben den schwarzen Morast mit ihren langgestielten Lederstreifen zur Seite. Aber der hartnäckig strömende Regen breitete überall neue Sümpfe aus und hüllte alles in ein stumpfes, trübseliges Grau. Beschlagene Fensterscheiben, Gummischuhe, Regenschirme, aufgeschürzte Röcke und fröstelnde, mißmutige Mienen – etwas anderes bot sich den beiden Insassen des Autos nicht dar.

Aber in der Riesenhalle des Eispalastes herrschte die wohlige Helligkeit des elektrischen Lichts. Da brannten, unbekümmert darum, daß die Sonne von Wolken und Großstadtqualm verdeckt war, die dickbäuchigen Riesenlampen, deren klare, gleichmäßige Flut eine zeitlose Stimmung erzeugte, so daß man an dieser Stätte des Amüsements in der Tat kaum wußte, ob es Mittag oder Mitternacht sei.

Über die erst leicht geritzte Fläche des Kunsteises glitt der Strom der Läufer nach den Walzerklängen einer Musikkapelle. Es lag ein fortreißender Rhythmus in diesem leisen, schürfenden Geräusch. Da und dort schnitten kunstfertige Läufer in einem abseitigen Winkel Figuren ins Eis. Aus dem Gewühl der flatternden Röcke tauchten die Gestalten der Schlittschuhlehrer heraus, junger Burschen in schwarzen Pekeschen und anliegenden schwarzen Trikotbeinkleidern. Kinder flitzten wie mutwillige Hechte umher und störten auf Augenblicke diesen gleichmäßig kreisenden Fischzug. Und am Geländer sah man, einer lahmgeschossenen Möwe ähnlich, mit ausgebreiteten Armen und entgleitenden Beinen eine dicke Bürgersfrau sich abmühen, der der Arzt diesen Sport gegen ihre Korpulenz verordnet haben mochte.

Lydia fühlte die alte Lust in den Gelenken zittern. Kaum hatte sie sich ihre Stiefel mit den daran befestigten Schlittschuhen anziehen lassen, als sie bogenschneidend sich dem Strom anschloß und, von den Zehen bis zum Kopf erfüllt von dieser schwebenden und wiegenden Empfindung, dahinglitt. Von Zeit zu Zeit blickte sie sich nach Bekannten um. Aber die Welt, in der man sich amüsiert, ist für Dauerbewohner nicht recht eingerichtet. Man reist dort schnell und meistens zu einem unerwünschten Ziel. Von dem großen Troß, der Lydia noch im letzten Jahr umschwärmt hatte, schien wirklich niemand mehr übrig geblieben.

Dafür machte Fräulein Riche sie mit einem jungen Herrn namens Goldammer bekannt. Er war der Sohn eines reichen Kohlenhändlers und ein brillanter Schlittschuhläufer. Diese Kunst hatte er in Davos gelernt, wo er mehrere Winter seiner Gesundheit wegen gewesen war. Dieses Jahr hatten die Ärzte ihn nach Ägypten geschickt, und sein guter Vater vermutete ihn auch längst dort. Aber er strapazierte seine Lungen noch ein wenig in Berlin, um wenigstens Grund zum Kurieren zu haben, wie er sagte.

Er war kaum eine Viertelstunde mit Lydia gelaufen, als er ihr erzählt hatte, daß er in der Wilhelmstraße eine entzückend eingerichtete kleine Wohnung besäße, von der jedes Zimmer zwanzigtausend Mark kostete. Dort pflegte er seine Junggesellenfeste zu veranstalten und hatte bereits die Ehre gehabt, die Cleo de Merode sowie die Tortajada bei sich zu sehen. Er schwor, daß, wenn Lydia ihn begleitete, er morgen mit ihr nach Heluan abreisen würde. In ihrer Gesellschaft würden weder die Mumien noch die Sphinx ihm Furcht einflößen.

Lydia erklärte lachend, er wäre ein dummer Bengel. Solche Aufschneidereien könnte sie auf nüchternem Magen nicht vertragen. Die seien allenfalls erlaubt, wenn man nach einigen Flaschen Sekt fromme Wünsche und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten könnte. Darauf schlug der Ton des jungen Herrn sofort in demütige Bewunderung um. Er sprach mit ihr von den Rollen, in denen er sie gesehen zu haben behauptete. Und obwohl sie überzeugt war, daß er alles, was er erzählte, in den Zeitungen gelesen hatte, ließ sie sich die einschmeichelnden Phrasen dennoch schmecken.

Er war kaum zwanzig Jahre alt. Aus den glänzenden, zwischen hervorspringenden Stirn- und Wangenknochen ruhenden Augen brannte Lebensgier und Vorgefühl eines nahen Endes. Trotz seines renommistischen Tons entfaltete sein Wesen eine gewisse Grazie, eine sterbenskranke Heiterkeit, eine lügnerische Bravour, etwas Perverses, Erschreckendes und Anziehendes, auf das Lydia in ihrer momentanen Seelenverfassung gestimmt war.

Sie hatte für den jungen Menschen nach kurzer Zeit den Namen ›Lebebaby‹ gefunden und erlaubte ihm, sie diesen Abend auf den Ball, den sie mit ihrer Kollegin besuchen wollte, zu begleiten.

Aber als sie dann endlich einen Bekannten entdeckte, ließ sie den Jüngling kurzerhand stehen und winkte dem andern, der die Blondine an seinem Arm hastig verabschiedete und ihr entgegeneilte.

Es war ein Herr von Kallreuther, der, nach Berlin auf die Kriegsakademie kommandiert, damals einer Kollegin von ihr den Hof gemacht hatte. Jetzt hatte er den bunten Rock ausziehen müssen und war Vertreter einer Automobilfabrik geworden. Natürlich nur, um seine Flamme heiraten zu können, wie er zögernd und einigermaßen unsicher, ob ihm das auch geglaubt wurde, erklärte.

»Und wer ist das blonde Mädchen?« fragte Lydia.

»Eine Zufallsbekanntschaft! Ich habe sie hier zum ersten Male getroffen. Das heißt, meine Gnädige, erzählen Sie Olga nichts davon. Sie kennen ja ihr Temperament.«

»Und wo ist Ihre Braut?«

»Auf der Probe. Sie hat gräßlich zu tun. Wie immer. Sie wissen ja, was man ihr alles aufpackt.«

»Und Sie tüchtiger Mann vertreten hier Ihre Automobilfabrik?«

»Warum hier nicht so gut wie anderswo? Wünschen Sie vielleicht einen Benz?«

»Wenn ich ihn nicht zu bezahlen brauche.«

»O bitte, ein Wechsel von Ihnen ist so gut wie bares Geld.«

»Danke bestens. Vielleicht später mal, wenn ich so in Schulden sitze, daß es auf ein unbezahltes Auto nicht ankommt. Einstweilen bin ich zu gut rangiert, um mir das leisten zu können.

Es stellte sich heraus, daß auch Herr von Kallreuther den Ball heute abend besuchen wollte. Nach kurzer Zeit verabschiedete er sich mit einem ›Auf Wiedersehen!‹

»Endlich kommt man doch wieder in die Reihe!« sagte Lydia zu Fräulein Riche. »Also die Rembke wird jetzt Frau von Kallreuther. Nun braucht man sich wenigstens nicht mehr zu beunruhigen, wo alle ihre Ersparnisse bleiben.«

Die Musik spielte den Walzer aus der ›Lustigen Witwe‹. Lydia, die beim Rückwärts-Bogenschneiden eine Unsicherheit des linken Fußes fühlte, hatte einen Trainer herbeigerufen und übte mit diesem, als sie, beim Eingang vorbeilaufend, plötzlich den Gedanken in sich auftauchen fühlte, was wohl geschehen würde, wenn jetzt ihr Schwager Alex hier erschiene?

Wie war sie nur auf den Einfall gekommen? Während sie weiter in der Menge kreiste, geführt und gehalten von den kräftigen Händen des Trainers, verlor er sich wieder. Aber als sie dann von neuem in die Nähe des Eingangs kam, spähte sie nach den dort Stehenden aus und erkannte wirklich die hohe Gestalt ihres Schwagers.

»Alex!«

Sie verabschiedete rasch den Trainer, rief, winkte und streckte dem auf sie Zueilenden lachend die Hände entgegen.

»Alex! Du hier? Alle möglichen Menschen hätte ich eher hier vermutet als gerade dich. Aber über niemand könnte ich mich mehr freuen. Was führt dich her?«

»Ich suchte dich schon im Kaiserhof.«

»Woher wußtest du denn mein Hotel?«

»Der Intendant meinte, du wärest dort abgestiegen.«

»Der Intendant? Was geht den Esel meine Adresse an?«

»Aber Lydia!« erwiderte Alexander, mit Absicht einen leichten Ton anschlagend. »Du bist wirklich sehr gut. Die ganze Stadt ist außer sich über deine Abreise. Der Fürst ist untröstlich. Der Intendant rauft sich die Haare. Du mußt schleunigst zurückkommen. Ich habe Befehl, dich, so wie du gehst und stehst, zurückzubringen.«

»Befehl von wem?«

»Direkt vom Intendanten. Indirekt vom Fürsten.«

»Was die mir befehlen, ist mir höchst gleichgültig. Ich komme nicht zurück.«

»Du bist verrückt, Lydia.«

»Vielleicht. Aber ärgere mich nicht. Geh und zieh dir Schlittschuhe an. Und dann sind wir fidel.«

»Lydia, du weißt nicht, was du getan hast. Das ist Kontraktbruch.«

»Adieu. Ich habe Moralpauken satt.«

Und schon setzte sie sich in Bewegung, als er ihr ein Halt nachrief.

»Ich bitte dich, höre mich doch einen Augenblick vernünftig an. Was für einen Grund hattest du denn überhaupt zu dieser plötzlichen Abreise?«

Da trat sie zornblaß auf ihn zu, und ihre Pupillen erweiterten sich so, daß ihre Augen ganz dunkel erschienen.

»Grund? Wenn du den Grund wissen willst, dann frage doch deine Frau. Meinst du, ich ließe mich von deinen Leuten mit Füßen treten? Sie haben mich fortgejagt, sie haben mir mit dürren Worten gesagt, in ihrer hochehrbaren Stadt sei kein Platz für mich. Und das soll ich mir gefallen lassen? Und was ist der Grund? Daß ich ein Kind habe und keinen Heiratsschein aufweisen kann? Schön! Da können sie sich ja morgen das Gretchen von einer Dame mit Heiratsattest und ohne Talent vorspielen lassen. Ich passe nicht in eine Stadt, wo man die Ehrbarkeit höher schätzt als die Kunst.«

In tödlicher Verlegenheit blickte Alexander die Umstehenden an, die jedes Wort verstehen mußten. Aber Lydia lachte ihm ins Gesicht.

»Hast du schon wieder Angst, daß der liebe Nachbar was hört? Hier darf man so laut sprechen wie man will. Das ist das Gute an Berlin. Da steht nicht an jeder Straßenecke eine alte Base, die alles weiterklascht.«

»Lydia, hier ist wirklich nicht der Platz, um diese Angelegenheit zu erörtern.

»Ganz meine Meinung. Aber ich habe ja nicht davon angefangen. – Also sei kein Frosch und komm mit aufs Eis!«

Und während sie den bösen Ausdruck ihres Gesichts im Nu in eine lachende Miene umschaltete, ergriff sie ihren Schwager bei der Hand, humpelte mit ihm über den Bretterboden zu einem Stuhl und rief einem der Diener zu:

»Ein paar Kondor für den Herrn. Aber recht schnell!«

Und um ihren Worten mehr Nachdruck zu geben, drückte sie dem dienstfertigen Mann ein Geldstück in die Hand.

»Du springst mit einem um, als wenn man ein Kind wäre,« sagte Alexander kopfschüttelnd.

» That's the nature of the beast."

Wenige Minuten später umkreisten die beiden Hand in Hand die Bahn.

Jetzt, wo sie ihren Willen durchgesetzt hatte, war sie von strahlender Laune, lobte seine prächtigen, weitgerundeten Bogen und blickte ihn mit zärtlichen, lachenden Augen an.

»Wenn so deine Frau uns beide sähe!«

»Deine Frau? Warum sprichst du in diesem Ton von Anna? Warum sagst du nicht: meine Schwester?«

»Weil sie mir so weltenfremd, so … von ganz anderer Rasse vorkommt.«

»Und warum sollte sie uns nicht sehen?«

»Weißt du nickt, daß sie mir in der letzten Stunde eine furchtbare Eifersuchtsszene gemacht hat?«

»Sie – dir?«

»Ja, mir. Sie sagte, ich wäre Gott weiß was und wollte dich ins Verderben locken! Ohne allen Grund ist sie über mich hergefallen. Oder habe ich ihr doch etwa Grund gegeben?«

Alexander runzelte befremdet die Stirn.

»Sprichst du eigentlich im Scherz?«

»Nein, mein völliger Ernst! Aber sag mir: Hab ich ihr Grund zur Eifersucht gegeben?«

»Ich wüßte nicht.«

»Nicht wahr? Ich habe mich die ganze Zeit so unschuldig wie ein Lämmchen benommen. Habe dir nie den kleinsten schmachtenden Blick zugeworfen. Und doch wär's eigentlich kein Wunder gewesen. Wenn man einen so hübschen Schwager hat, dann ist es doch nur natürlich, daß man ein bißchen mit ihm kokettiert.«

»Lydia,« bat er gequält, »laß doch diesen frivolen Ton. Ich vertrage ihn nicht.«

»Nicht? Du Guter! Ein klein bißchen Frivolität macht dich schon schaudern. Ach, Alex, Alex, deine arme Künstlerseele – wie ist die erstickt unter Angst, Ehrbarkeit, Gediegenheit und wie das schimmlige Zeug alles heißt. Atme doch einmal frei auf! Sei lustig! Lache mal wieder! Schmeiß den ehrbaren Philister in dir mit einem tüchtigen Hohngelächter heraus. Mach's doch wie ich. Wenn ich merke, daß mein Blut dick wird, und wenn mich Hypochondrien quälen, dann tauche ich unter und tummele mich einmal tüchtig im Großstadttrubel.«

»Wenn man nur daran Geschmack finden könnte!«

»Oh, das wirst du schon mit Gottes und meiner Hilfe. Vor allem wollen wir uns tüchtig amüsieren. Über das weitere sprechen wir später. Ich werde dich gleich einer ehemaligen Kollegin vorstellen. Das heißt, weißt du, so dritter, vierter Güte. Ein gräßliches Frauenzimmer, unter uns gesagt. Aber sie ist ein Hans in allen Gassen, weiß überall Bescheid, bei Kommissionen prächtig zu gebrauchen, und im übrigen eine treue Seele, wenigstens soweit sie darin ihren Vorteil sieht. Wenn wir hier genug haben, frühstücken wir bei Adlon. Dann ruhen wir uns aus. Dann fahren wir in den Zirkus Busch, den Ödipus sehn. Und hinterher gehen wir auf den Ball im Admiralspalast.«

»Um Himmels willen, ist das ein Hexensabbat! Auf den Ball kann ich schon mal nicht mitgehn, da ich keinen Frack habe.

»Kind! Wie kann man nach Berlin fahren ohne Frack? Aber das tut nichts. Wozu gibt's Leihinstitute? Ich werde dir schon ein blendendes Gewand besorgen. Überlaß dich nur meiner Führung.«

Das tat er denn auch, da ein Widerstand bei der augenblicklichen Gemütsverfassung Lydias zwecklos erschien, und wurde von nun ab durch eine Reihe von Eindrücken gehetzt, die ihn, der seit mehreren Jahren Berlin nicht besucht hatte, kaum zur Besinnung kommen ließen.

Lange hatte die Leidenschaft für Lydia ihn erfüllt, ehe er selbst darum wußte. Noch an dem Tage, als seine Frau ihn fragte, warum er denn über Lydias Abreise so aufgeregt sei, hatte er ohne Arg und Falsch antworten können, er sei es einzig seines Stückes wegen. Aber gerade diese Frage und der angstvolle Argwohn, der sich dahinter verbarg, hatte ihm über seinen eigenen Zustand die Augen geöffnet. War es wirklich nur der um seine Hoffnungen betrogene Poet in ihm, der so maßlos bis zur Verzweiflung litt? Jetzt, wo er sich des Umgangs mit Lydia beraubt sah, begriff er erst, wieviel ihm dieses fast tägliche Beisammensein gewesen war. Wie er zu ihr eilend und von ihr kommend dahingeschritten war in diesem Rausch einer gesteigerten Lebenslust, der alles Gewölk vom Himmel abwischt und alle Runzeln auf der Stirn glättet, der als prangender Sonnenschein, als fast unfehlbares Gelingen, als schier endlose Kette glücklicher Zufälle von außen uns entgegentritt und im Innern als die siegreiche Göttin der Jugend ihre flatternden Fahnen schwingt.

Nun war das alles dahin! Und er hatte sich verzweifelt gefragt, wie er das Leben, das jetzt als eine einzige freudlose Finsternis vor ihm nachtete, ertragen sollte! Mit unheimlicher Lockung hatte es ihn ihr nachgezogen. Erregt vom tobenden Begehren seines Herzens, gequält von den warnenden Stimmen seiner Vernunft, war ihm der chaotische Zustand seines Innern zu seinem Schrecken bewußt geworden.

Da hatte der Intendant ihn am nächsten Nachmittag aufgesucht. In größter Verlegenheit und Ratlosigkeit, wie er die verschwundene Lydia wieder zur Rückkehr bewegen könnte, denn seine Telegramme waren einfach ohne Antwort geblieben. Und er hatte Alexander, andeutend, daß er dies im Auftrage des Fürsten täte, gebeten, seinen Einfluß auf die Schwägerin geltend zu machen.

In diesem Augenblick nun war in Alexander etwas ihm selbst Unerklärliches vorgegangen. Statt mit Freuden die Mission anzunehmen, hatte er in finsterm Schweigen dagesessen, wie brauende Nebel hatte ihn Verwirrung überfallen, und er durchlebte einen Traum, der ihn für eine kurze Spanne Zeit seine Umgebung völlig vergessen ließ. Vergeblich sagte er sich im Oberbewußtsein, daß ihm hier das Schicksal noch einmal die Hand bot, um alles wieder gutzumachen. Daß es sich um sein Stück, ja vielleicht um seine ganze zukünftige Laufbahn handelte. Stärker als dies war eine Reihe unheimlich klarer, körperhafter Vorstellungen, die vielleicht in einer ihm selbst unbewußt nachwirkenden Erinnerung an seinen mißglückten Selbstmordversuch vor Jahren ihren Ursprung hatten.

Nacheinander erlebte er die Trennung von seiner Frau, die gemeinsame Flucht mit Lydia, selig-unselig lag er vor ihr und preßte sein Gesicht in ihren Schoß … Dann aber stand er todblaß vor ihrer Tür, die ihm verschlossen war. Zugleich war sie selbst irgendwo in einer fernen Gegend von Rivieracharakter. Er aber schritt langsam und schwer, als hätte er Ketten an den Füßen, durch stille, menschenleere Straßen, einem nächtlich rauschenden Fluß zu.

Niemals früher war er von solchen Wachträumen am hellichten Tage gepeinigt worden. Es war nur für die Dauer weniger Sekunden. Aber als er jetzt zu sich kam und dem Intendanten antworten wollte, war seine Zunge noch immer wie gelähmt.

Da gewahrte er die in tödlicher Angst auf sich gerichteten Augen seiner Frau, die bei dieser Unterredung zugegen war. Einen Augenblick durchschoß ihn der Gedanke, daß er von ihrem Blick hypnotisiert worden sei. Zugleich regte sich aber auch seine Widerstandskraft. Nein, er war nicht so schwach! Was er verehrte, was sein Herz in Unruhe und sein Blut in Wallung versetzt hatte, war die große, heilige Künstlerin, dieses begnadete Gottesgeschöpf, nicht das verführerische, seine Schönheit mißbrauchende Weib. Sein Stolz empörte sich, und sein edler Sinn rief sein Mitgefühl, seinen Verantwortungssinn wach. Es schien ihm geradezu Pflicht, die Folgen dieses unbesonnenen Streichs, der Lydia ein Auftreten an würdigen Theatern auf Jahre hinaus unmöglich machen konnte, von ihr abzuwenden.

In dieser Erwägung versprach er dem Intendanten, Lydia nachzureisen und alles, was in seinen Kräften stand, zu versuchen, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Als Lydia ihn nun so schnöde abfahren ließ, beschloß er, nachzugeben und seine Stunde abzuwarten. Aber während dieser Vorsatz wie ein starker Oberbau sein Bewußtsein beherrschte, regten sich in der Tiefe von neuem die alten verworrenen Wünsche und Ängste.

Es war Lydia eingefallen, daß sie ihrem Agenten einen Besuch in dessen Bureau angekündigt hatte. Da sie aber ihrem Schwager einen Frack aussuchen wollte, blieb dazu keine Zeit mehr. Sie bestellte den Kommissionsrat Friedemann deshalb ins Hotel Adlon.

Wieder umschmeichelte Alexander das helle elektrische Licht und ließ ihn vergessen, daß draußen Nebel und Regen brauten.

Lydia hatte sich darauf kapriziert, das Menü zusammenzustellen. Während die Kellner auf ihr Geheiß alle möglichen Delikatessen der Saison auftrugen und von Anfang an Sekt einschenkten, was, wie sie sagte, nicht vornehm, aber äußerst bekömmlich sei, saß man im heitersten Gespräch. Lydia sprach zu Herrn Friedemann von ihrem Schwager trotz dessen Sträuben als von einem zukünftigen großen Theaterdichter, von dem in allernächster Zeit ein Stück aufgeführt werden würde, das sicher alle Bühnen eroberte. Denn es sei das große Drama, das packende Versstück, nach dem das Publikum lechze.

Während der Herr Kommissionsrat ungemein große Mengen Kaviar in den Mund schob, zeigte er sich außerordentlich interessiert und behandelte Alexander mit einer Auszeichnung und Devotion, als wenn dieser bereits einen Riesenerfolg einkassiert hätte.

Erfolg und Tantiemen waren überhaupt seine Lieblingsworte. Er seufzte wohl manchmal über schlechte Zeiten, bevorstehende Theaterkrache und Schauspielernot. Doch nach diesen mehr andeutungsweise gehaltenen, kurzen Zwischenbemerkungen hüpfte er wieder in seinem Goldstrom, in dem er so munter plätscherte, daß einem, ob man wollte oder nicht, die Lust ankam, ebenfalls darin unterzutauchen. Er rechnete nur nach Mille und Millionen. Zwanzig Mille, dreißig Mille, eine halbe, eine ganze Million, das flog nur so durch die Finger des lebhaft gestikulierenden kleinen Herrn.

Alexander, der noch einigermaßen in der Vorstellung von der Not und dem Kampf aller Künstler befangen war, vernahm ungläubig, befremdet und doch auch wieder angelockt, die Summen, welche die Schützlinge des Herrn Kommissionsrats verdienten, Summen, die das Gehalt eines Ministers seines Ländchens ums Vielfache überstiegen. Und das alles klang so leicht, so selbstverständlich, als brauchte man im Vorübergehen nur schnell die Treppen zum Bureau hinauszusteigen und einen Kontrakt zu unterschreiben, um ein gemachter Mann zu sein.

Der leichte Sektrausch war noch nicht verflogen, als Alexander dann mit den beiden Damen in den Zirkus Schumann zum Ödipus fuhr. Wieder drang ein neuer, mit dem Alltagsleben nicht zu vereinbarender Eindruck auf ihn ein. In diesem ungeheuren Raum, in diesem Gewimmel von Menschen, die in langen, schwarzen, vom Boden aufsteigenden Reihen noch das mit den Augen kaum erreichbare Dach als lebendige Girlande bekränzten, in dieser beizenden, vom Geruch der Pferde erfüllten Luft trat das Chaos in erschütternde, furchtbare Erscheinung. Aufgelöst waren alle gewohnten Begriffe und Beziehungen. Man sah den Sohn als Gatten der Mutter, als Mörder des Vaters.

Und dies Erlebnis wurde doch wieder seiner tiefsten Wirkung und seiner erlösenden Kraft beraubt durch tausend störende Nebensächlichkeiten. Während Lydia schweigend und entrückt dasaß, unterhielt Fräulein Riche ihren Nachbar damit, die Schauspieler zu kritisieren, ihre Gagen aufzuzählen, von den Wirkungen der Beleuchtung und den Bewegungen des Chors zu sprechen.

Kaum war die Vorstellung zu Ende, als ein allgemeines Drängen und Hasten entstand. In der Minute, wo sich die Bühne entleerte, schien jede Nachwirkung erloschen. Neuen Eindrücken wälzte sich die ewig leere, ewig hungrige Menge zu. Wenige Minuten später schoben sich die drei durch das Gewühl der Friedrichstraße.

Es hatte aufgehört zu regnen. Die Stadt, am Tage so mürrisch und verdrossen, schien jetzt zu einem unwirklichen, märchenhaften Leben erwacht. Über den nassen Asphalt zitterten Strahlen bunten Lichts. Unter dem schwarzen Firmament drehten sich Feuerräder. Riesenhände schrieben dort droben Flammenzeichen und löschten sie ebenso schnell wieder aus. Hinter durchsichtigen Glasscheiben lockte alles, was Sinnengier sich wünschen konnte. In der Menschenmenge drängte sich Schulter an Schulter verlumptes Elend und satter Reichtum. Was Talmi, was echt, was Ehrbarkeit, was Halbwelt war, vermochte der Blick des Kleinstädters nicht zu unterscheiden. In dieser Ungeheuern Lichtwelle, die alles übergoß, leuchteten Rheinkiesel wie Diamanten und nahm die Miene harmloser Passanten einen Schein von Schwindelhaftem und Verruchtem an.

Von neuem ergriff Alexander das dumpfe Gefühl einer allgemeinen Verwirrung; als hätten diese Menschen die festen, geordneten Beziehungen, von denen seine Welt beherrscht war, über den Haufen geworfen und die Natur auf den Kopf gestellt. Nacht wurde zum Tag, das Außerordentliche zum Alltäglichen, das Verbotene zum Erlaubten.

Unter den Linden nahmen die drei ein Auto und fuhren in den »Kaiserhof«.

Da Lydia der Ansicht war, daß ein öffentlicher Ball erst nach Mitternacht amüsant zu werden anfinge, setzten sie sich noch zu einem kurzen Imbiß in das Grillroom des Hotels. Dann begaben sie sich auf ihre Zimmer, um Toilette zu machen.

Es ging auf eins, als sie die Säle des Admiralspalastes erreichten, in denen das Fest stattfand..

›Berlin drunter durch‹ war die Marke dieses Balls, für den schon seit Wochen in allen Blättern Reklame gemacht, und der im voraus bereits als das originellste und sensationellste Fest der Saison gepriesen worden war. ›Berlin drunter durch‹ – das hieß so viel, als daß alles, was die ungeheure Stadt an Skandal- und Kriminalfällen in der letzten Zeit der gesitteten Welt zu ihrem Schrecken im Spiegel der Zeitungen vorgeführt hatte, sich hier versammeln sollte wie in der Büchse der Pandora.

Eine Gruppe bekannter Karikaturisten hatte die Wände mit bunten Festons geschmückt, mit riesigen Einzelbildern im Stil der Schauerbilder auf den Jahrmarktsbuden und mit frechen Zeichnungen, die auf den buntausgeschlagenen Säulen klebten. Da sah man die fürstliche Hauptperson eines Meineidsprozesses neben berüchtigten Einbrechern. Damen, die durch ihre Ehescheidungsaffäre in den Mund der Leute gekommen waren, waren dargestellt neben berühmten Kokotten mit phantastischen Adelsnamen. Der Hauptmann von Köpenick hing in einer Reihe, die mit ›Ehrensaal‹ überschrieben war, neben dem Hoteldieb Manolescu und vor kurzem abgefaßten Falschspielern.

Und was dort an den Wänden in grellen Farben herunterschrie, das stolzierte im Saal in karikierter Maske durch die Menge. Die Langfinger, Geldschrankknacker, die Raufbolde mit blutig gefärbten Wangen und unheimlich echt blaugeschminkten Augen waren kaum zu zählen.

Dazwischen bewegten sich elegante Herren im Frack und schöne Frauen mit Perlenkolliers auf den nackten Schultern und Brillantendiademen in den hochfrisierten Haaren.

Sie fanden das Lebebaby auf der Galerie vor einer leeren Sektflasche. Er behauptete, seit zwei Stunden den Tisch verteidigt zu haben.

»Recht so!« sagte Lydia. »Da haben Sie sich doch einmal in Ihrem Leben nützlich gemacht. Nun rufen Sie schnell den Kellner, daß er Pommery bringt.«

Bald schimmerte der Sekt in den beschlagenen Gläsern.

Immer neue Menschen umdrängten den Tisch. Zuerst erschienen Kallreuther und seine Freundin, die Rembke. Lydia und sie waren, solange sie an derselben Bühne engagiert waren, die ärgsten Feindinnen gewesen, da Lydia der Ältern alle Rollen weggespielt hatte. Nun begrüßten sie sich mit zärtlichen Küssen auf beide Wangen. Die Rembke fragte Lydia sofort, ob sie schon die Kritiken über ihre Klytämnestra gelesen hätte? An den Tisch wollte sie sich nicht setzen, sie hätte keine Zeit, wie sie sagte, und gleich daraus verschwand sie mit einem ältern Herrn, der an der Ecke der Galerie auf sie wartete.

»Ist das nicht der Kommerzienrat Beermann?«

»Jawohl,« antwortete Kallreuther. »Ein alter Freund von uns.«

»Gratuliere,« sagte Lydia spöttisch.

Immer neue Herren kamen und begrüßten Lydia wie eine alte Bekannte, setzten sich einen Augenblick, plauderten, tranken ein Glas Sekt und verschwanden wieder. Als Alexander seine Schwägerin einmal fragte, wer der letzte Gast gewesen sei, antwortete sie leichthin:

»Keine Ahnung. Wie soll ich alle die kennen, die mich kennen.«

Inmitten der geschminkten Damen, der verwelkten Herren saß sie da mit ihren frisch geröteten Wangen, den blitzenden Zähnen, den glänzenden Augen, der faltenlosen Stirn unter der Fülle des blonden Haares, wie das blühende Bild der Jugend.

Sie strahlte vor guter Laune.

»Kinder, endlich mal ein Abend, wo ich restlos glücklich bin. Wo ich fühle, daß ich lebe. Ich glaube, den ganzen Winter habe ich bis jetzt geschlafen. Ach, dies Berlin! Dies freche, tolle, reizende Berlin! – Ist es nicht hübsch hier, Alex? Warum machst du ein so sauertöpfisches Gesicht? Trink doch! Sprich doch! Sollen wir tanzen? Komm her, Junge, wir wollen uns einbilden, du wärst siebzehn und ich wär fünfzehn. Weißt du noch, wie wir da auf dem Kriegervereinsball gescherbelt haben? Immer außer der Reihe, bis die Veteranen uns hinausschmeißen wollten!«

Er drehte sich mit ihr im Gedränge, bis ihm schwindlig wurde. Aber kaum stand er ausruhend, als Lydia ihm von einem andern Arm entrissen wurde. Er verlor sie unter dem Gewoge und kehrte zu dem Tisch zurück. Dort saßen Fräulein Riche und ein fremder junger Herr in zärtlichem Beisammensein und leerten die Sektflasche, ohne sich um ihn zu kümmern.

Herr Goldammer, der sich nach einer Weile zu ihm gesellte, stieß vertraulich mit ihm an und sagte:

»Sie sind wohl zum ersten Male in Berlin?«

»Wenigstens ist es ein paar Jahre her, daß ich hier war.«

»Wo leben Sie sonst?«

»In der Provinz,« erwiderte Alexander unbestimmt.

»Sie Glücklicher! Ach ja, die Provinz! Die hat's in sich. Immer gemütlich, immer solide, nicht weiter aufregend, aber gesund! Gesund! Aber was wollen Sie? Wem der Berliner im Blut sitzt, kann anderswo nicht existieren. Tatsächlich ausgeschlossen! Ich sollte längst in Ägypten sitzen. Aber offen gestanden, ich bin nicht vergnügungssüchtig, hier gefällts mir besser.«

»Sind Sie vielleicht Ägyptologe?«

»Ägyptologe? Ne ne, ich hab man bloß 'n bißchen Tuberkulose. Meine Lunge ist wie's Heidelberger Schloß. Die eine Seite ist ganz Ruine und die andere auch restaurationsbedürftig. Aber wenn mich nicht einer beim Kragen nimmt und auf einen Lloydkahn verstaut, komme ich hier überhaupt nicht weg. – Übrigens was sagen sie zur Lydia? Ein fesches Weib, was? Aber von der Rasse der kalten Hundeschnauzen. Ich versuch's mal mit der Geduld. Ich warte, bis sie alle weg sind. Bei den Weibern ist der Zufall doch die größte Hauptsache. Wer zuletzt kommt, gewinnt die Partie.«

»Von wem sprechen Sie eigentlich?« fragte Alexander, der nicht recht gehört zu haben glaubte.

»Von wem? Ja natürlich von der Lydia Meyn, die ich gern mit 'nem i schreiben möchte.«

»Hören Sie, junger Mann, Sie sind offenbar schwer betrunken. Wenn ich nicht einen Skandal vermeiden wollte, würde ich Ihnen auf der Stelle ein paar Ohrfeigen geben.«

»Mir? Erlauben Sie mal, das wäre aber keine Kunst, einen todkranken Menschen zu ohrfeigen. Übrigens, warum machen Sie mir überhaupt solche massiven Propositionen? Was habe ich denn Schlimmes gesagt?«

»Frau Meyn ist meine Schwägerin.«

»So? Pardon! Ich bitte um Verzeihung. Aber das kann ich doch nicht wissen. Das hätte mir doch einer sagen sollen. Ich dachte. Sie hätten sich auch bei ihr vormerken lassen, weil Sie ihr solche Augen machten.«

»Sie werden jetzt augenblicklich den Tisch verlassen, verstehen Sie?«

»Fällt mir nicht ein. Ich kann hier ebensogut sitzen wie Sie.« Alexander erhob sich schweigend, als Lydia erschien.

Das aufgeregte Fräulein Riche teilte ihr den Grund des Streites mit.

»Kinder, ihr seid ja verrückt,« sagte Lydia ärgerlich, ohne jedoch allzu empört zu sein. »Sie bitten um Verzeihung, Sie grüner Junge, sonst werden Sie mit Glanz hinausgeworfen. Ich telegraphiere an Ihren Papa, daß er kommt und Sie ins Bett bringt. So! Ich bitte – sprechen Sie nach – ich bitte um Verzeihung wegen meiner unverschämten Äußerungen – Äußerungen, und erkläre, daß ich von nun ab bescheiden und mäuschenstill sein will. – So – nun ist die Geschichte beigelegt. Was so'n dummer Junge spricht, ist doch ganz egal,« sagte sie zu Alexander gewandt.

Aber dieser stand noch immer von Empörung durchwogt. Durfte er es zulassen, daß jemand von seiner Schwägerin wie von dem ersten besten Frauenzimmer sprach? War es nicht richtiger, zu gehen? Aber dann hätte er das Ergebnis seiner ganzen Reise in Frage gestellt. Mit Lydia war in diesem Augenblick nichts anzufangen. Vielleicht würde sie morgen mit Ekel an diesen Abend zurückdenken. Dann war seine Stunde gekommen.

Noch stand er unschlüssig und mit gequältem Ausdruck, als Lydia seinen Arm ergriff.

»Komm, tanzen wir! Ärgere dich doch nicht! Das ist so der Ton bei diesen Berliner Bengels. Die denken, für die Millionen ihres Papas können sie alles haben.«

»Am liebsten würde ich ihm morgen meine Zeugen schicken.«

»Aber geh! Der ist ja nicht einen Schuß Pulver wert. Komm, sein wir lustig!«

Ein solches Gedränge herrschte im Saal, daß man sich kaum bewegen konnte. Lydia zeigte ihm einzelne Erscheinungen, die ihm bekannt waren. Dort der Rowdy in dem zerschlissenen Jägerhemd war ein berühmter Bildhauer, von dem Alexander noch jüngst eine Ausstellung veranstaltet hatte. Da der betrunkene Herr im Frack war der Graf Samter, eigentlich Prinz Soundso, der gegen eine tüchtige Apanage sich seinen Prinzentitel und sein Anrecht auf den Fürstenthron hatte abkaufen lassen. Ein junges Mädchen in Babykostüm, das kaum die Knie erreichte, zog Alexanders Aufmerksamkeit auf sich. Es drängte sich mit einem winzigen Portemonnaie an die Tische und bettelte:

»Schauen Sie mein Beutelchen! Nichts drin! Schenken Sie einem armen Kinde was!«

Die Silber- und Goldstücke flogen. Wenn der winzige Behälter voll war, schüttete sie den Inhalt in ihren Blusenausschnitt. Jeder, der etwas gab, hielt sich zu einer mehr oder minder dreisten Liebkosung berechtigt. Die Herren zogen sie auf ihren Schoß, selbst einzelne Damen schienen an der niedlichen Puppe Gefallen zu finden.

»Ein gutes Geschäft!« Lydia lachte. »Aber ich möchte nicht alle die blauen Flecke haben. Sieh nur, die am wenigsten geben, benehmen sich am frechsten.«

»Scheußlich!« sagte Alexander. »Daß so etwas erlaubt ist! Ein halbes Kind noch, und schon so verdorben!«

»Für wie alt hältst du sie?«

»Doch höchstens für siebzehn.«

»Und zehn dazu langt kaum. Ich kenne sie. Sie ist Balletteuse und sieht bei Tage wahrhaftig nicht zum Anbeißen aus. Aber jetzt hat sie sich geschickt geschminkt. An der kann nichts mehr verdorben werden.«

»Um so schlimmer!«

»Du, Alex! Nun tu mir einen Gefallen und schlage mal endlich den Philister in dir tot, aber gründlich! Ein Künstler moralisiert nicht, der macht die Augen auf und beobachtet.«

Wieder trat ein Herr auf die beiden zu und verbeugte sich mit einem halben Blick auf Alexander. Im nächsten Augenblick stand dieser allein. Die Worte Lydias klangen in ihm nach.

Ja, auch dies war ein Stück Leben. Entrüste dich nicht, beobachte! … Aber er fühlte den dumpfen Widerwillen immer stärker in sich wachsen. Nein, er konnte dies Treiben nicht mit freiem Künstlerblick ansehen. Ihm war, als müßte ein Feuerbrand in dies Sodom und Gomorrha niederfahren. Dachte so der Philister in ihm? ›Meinetwegen, dann bin ich eben ein Philister‹, sagte er sich. Aber das wußte er, aus diesem trüben Schaum würde seine Kunst niemals Nahrung schöpfen.

Plötzlich bemerkte er, daß er Lydia aus den Augen verloren hatte. Er trat auf eine Treppenstufe, um die Menge besser übersehen zu können. Dort tauchte Lydia auf. Der Herr hatte sie dicht an sich gepreßt. Wie ihre Augen strahlten! Die des Mannes schwammen in trüber Feuchte. Jetzt blieben sie stehen. Lydia legte den Kopf auf die Seite. Wovon sprachen sie?

Ein rasender Schmerz, eine wilde Pein ergriff Alex, daß ein anderer Worte mit ihr wechselte, die er nicht hörte, verfängliche Worte, Liebeserklärungen vielleicht. Er mußte an sich halten, um sich nicht durch die Menge zu drängen und Lydia fortzuziehen. Er konnte das nicht länger ertragen. Diese frechen Blicke, dieses Berühren ihres bloßen Arms, dies Streifen ihrer Schulter, alle diese Vertraulichkeiten, denen sie auf Schritt und Tritt ausgesetzt war.

Ihm schwindelte, der Saal wurde ein verschwommenes Gewoge, während sein Herz in rasendem Tempo schlug. Sein Gesicht war noch todblaß, als Lydia auf ihn zukam.

»Ich habe dich überall gesucht. Komm, wir wollen im Henkerstübchen ein Glas Bier trinken.«

Ein schmaler, mit Leinwand ausgeschlagener Gang führte einige Stufen hinunter. Dann traten sie in einen rot ausgeschlagenen Raum, dessen qualmige Finsternis nur durch Reihen dunkelroter Lampions einiges Licht erhielt. Beinahe wäre Alexander über einen Block gestolpert, in den ein riesiges Beil eingekeilt war.

»Garantiert echt!« sagte ein Herr im Frack, der sich vergeblich bemüht hatte, die Schneide herauszuziehen. »Der Mann da hinten am Schanktisch war früher Scharfrichter.«

Lydia war neugierig. Sie ruhte nicht eher, bis sie ihn sich betrachteten. Aber sein Anblick enttäuschte sie: er sähe aus wie ein braver Familienpapa.

Übrigens mißfiel ihr die ganze Herrichtung des Raums. Sie fand es stupid und nicht ein bißchen aufregend, auf Henkersblöcken zu sitzen und Bier zu trinken an Tischen, die mit blutroten Laken gedeckt waren. Als aber Alexander ihr vorschlug, sie wollten dann doch lieber gehen, erwiderte sie:

»Nein, nein, man muß alles auskosten.«

Es herrschte ein fürchterliches Gedränge, und in der Dunkelheit erkannte man sich kaum. So dauerte es eine ganze Weile, bis sie endlich Kallreuther und die Rembke gewahrten. Neben ihnen saß das Lebebaby. Lydia nahm ohne Zögern an seiner Seite Platz, während Alexander sich neben Kallreuther setzte. Gleich darauf bemerkten sie auch die Riche, die mit vorgebeugtem Oberkörper überall hin lorgnettierte, bis man sie anrief. Sie zwängte sich neben die Rembke. Alexander hörte, wie sie diese fragte:

»Hast du deinen Alten nach Hause geschickt?«

»Gott sei Dank! Länger als bis zwei Uhr erlaubt's ihm der Doktor nicht.«

»Ist wohl keine sehr anstrengende Freundschaft?«

»Wie man's nimmt. Der alte Esel verlangt immer Seele. Jeden Tag muß ich ihm einen sentimentalen Brief schreiben.«

»Kinder, was machen wir mit der angebrochenen Nacht?«

»Gnädige Frau, wissen Sie schon, daß ein paar richtige schwere Jungen hier sind? Mit denen könnten wir eine Kaschemmenfahrt unternehmen.«

»Eine Idee! Eine Kaschemme wollte ich schon längst mal sehen. Wo sind die beiden?«

»Ich hole sie.«

»Lydia, willst du wirklich dorthin?« fragte Alexander bestürzt.

»Warum nicht?«

»In deiner Toilette?«

»Ich habe ja den Abendmantel.«

»Ich lasse das nicht zu. Du setzt dich da einer Gefahr aus –«

»Mir tut niemand was. Ich wollte schon längst mal Verbrecher sehen.«

Nach einiger Zeit erschien das Lebebaby mit zwei jungen Leuten, die er als die verlangten Einbrecher vorstellte. Ob es wirklich welche waren, wurde nicht weiter in Frage gestellt. Lydia hatte sie im Verdacht, harmlose Kunstschüler zu sein. Jedenfalls spielten sie ihre Rolle sehr geschickt. Äußerlich glichen sie ganz den Gestalten, die man zwischen befrackten Herren und eleganten Damen hatte umherirren sehen, schmächtige Burschen, nicht viel über zwanzig, in zerrissenen Hemden, mit blassen Gesichtern und blutigen Striemen auf den Wangen. Der eine hatte ein blaues Auge.

Lydia fragte sie, ob sie bereit wären, ihnen einige Verbrecherkneipen zu zeigen.

Die beiden zeigten durch ein Grinsen ihre Einwilligung, setzten aber, nicht ohne Genugtuung, hinzu, bis um vier Uhr müßten sie hierbleiben. Dazu wären sie kontraktlich verpflichtet.

»Was!« fuhr Lydia sie an. »Ihr wollt Spitzbuben sein und haltet euch an einen Kontrakt? Schämt euch was! Wenn wir das Bier ausgetrunken haben, fahren wir los!«

»Det könn Se machen, wie Se wollen!« sagte der größere der beiden.

»Bloß die zehn Märker, die Sie uns versprochen haben, wer jiebt uns die?«

»Kriegen Sie! Kriegen Sie!« versicherte das Lebebaby. »Und jeder noch zehn dazu, wenn wir gut bedient werden.«

»Wozu seid ihr überhaupt engagiert? Ihr knöppt den Leuten wohl das Portemonnaie ab?« fragte Kallreuther.

»Mit so wat jeben wir uns überhaupt nich ab. Wir machen bloß schwere Sachen,« erwiderte der Untersetzte, der ein schmutzig-rotes Tuch um den Hals geschlungen hatte.

Als man gehen wollte, stellte sich eine neue Schwierigkeit heraus. Mit den ausgemalten Striemen und dem blaugeschminkten Auge wollten die beiden sich nicht unter ihresgleichen sehen lassen. Zum Glück hatte Fräulein Riche in ihrem Pompadour außer Puder und Lippenrot auch ein Döschen Vaseline bei sich. Während einer der Herren mit einem Taschenfeuerzeug ihre Gesichter beleuchtete, wischte Madeleine ihnen mit einer Serviette die künstlichen Trophäen blutiger Raufereien ab, wobei sie zur allgemeinen Heiterkeit vergeblich eine tiefe Schmarre bearbeitete, die wirklich echt war.

Lydia, ihr Schwager, Kallreuther und einer der Einbrecher setzten sich in ein Auto, die übrigen in ein anderes. Das Ziel der Fahrt war die Gollnowstraße.

Es war eins jener alten, schlecht gebauten Häuser, die, ehe noch das Ziegeldach gedeckt ist, mit dem Einsturz drohen, die dann aber rechts und links von ähnlichen Nachbarn gestützt, durch Jahrzehnte dahinsiechen, bis die Baupolizei ihnen endlich ein Ende bereitet. Der Bauschutt, mit dem man einst den Untergrund ausfüllte, hatte schon von Wanzen gewimmelt, die sich allmählich aller Stockwerke bemächtigten und ebenso konservativ blieben, wie die menschlichen Parteien, die diese Häuser bewohnten, unaufhörlich wechselten.

Am Tage und in den frühen Abendstunden war im ersten Stock des einen Hauses ein Schild mit der Aufschrift ›Zur feschen Ungarin‹ zu bemerken, und auf Zetteln, die in den Nebenstraßen massenhaft verteilt wurden, war zu lesen, daß in der ›Feschen Ungarin‹ ff. Weine und echte Biere von nur ausländischer Damenbedienung verschenkt würden. Jetzt umhüllte ein grauer Nebelmantel die sich abschilfernde Fassade. Tot und düster lag das Haus wie seine großen und kleinen Nachbarn in der menschenleeren, nur in großen Abständen von Gaslaternen erhellten Straße. Alles schien dicht verschlossen, nur aus den Ritzen zwischen den Läden, die vor den Souterrainfenstern angebracht waren, drang trüber Lichtschein.

Selbst die lebensdurstige Lydia überlief ein leichter Schauer, als sie nun alle auf der feuchtkalten Straße standen, und sie wies ihre Begleiter auf ein schmales offenes Parterrefenster, hinter dem aufgeschichtet Särge standen, indem sie meinte, das sähe nicht sehr lustig aus.

Aber der Bursche mit dem himbeerfarbenen Tuch rüttelte resolut an der Kellertür, die ein zerfledertes Pappschild trug: ›Bouillon- und Speisekeller von –‹ Der Rest war nicht zu erkennen.

»Vier Uhr. Da muß der Olle uffmachen.«

Doch die Tür öffnete sich von selbst, und die neuen Gäste stiegen in den schwach erhellten unterirdischen Raum hinab.

Wie groß auch das Aufsehen sein mochte, das die eindringende Gesellschaft von Damen in seidenen Abendmänteln, von Herren mit Zylinderhüten auf die Insassen dieser unterirdischen Höhle machen mußte, von dem männlichen Teil der Gäste ließ sich niemand das geringste merken. Kaum daß einer der am Tisch Sitzenden den Kopf ein wenig erhob. Der Wirt brummte nach einem raschen Seitenblick ein mürrisches ›Guten Morgen‹ und machte sich an dem auf der Tonbank stehenden Grammophon zu schaffen, das einen Militärmarsch herunterrasselte, als eine Art Reveille für die schläfrige Gesellschaft. Nur die wenigen weiblichen Gäste, Frauenzimmer mit riesigen Hurrafedern auf den Hüten, oder ganz hutlos, mit Umschlagtüchern und dicken herunterhängenden Zöpfen, blickten die Eintretenden mit unverhohlener Neugier an.

Trotzdem lag einen Augenblick lang eine große Spannung über beiden Parteien, bis plötzlich eins der Mädchen sich halb aufrichtete und mit schriller Stimme zu Lydia gewandt sagte:

»Kinder, die Kluft wenn ick hätte, det wär'n Jeschäft.«

»Wenn Se meine Visage nich dazu kriegten, nützte Ihnen die Kluft ooch nischt,« erwiderte Lydia ruhig.

Mit größter Unbefangenheit nahmen sie an einem der freien Tische Platz.

»So, was bestellen wir denn? Herrjeh, Madeira, das Glas zehn Pfennig,« sagte sie, auf ein Plakat weisend. »Herr Wirt, Madeira für alle. Ich bezahle ihn.«

Der Wirt, ein untersetzter Mann in einem Radfahrerkostüm von verschlissenem Velvet, kam träge näher und füllte die Gläser mit einer trübgelben Flüssigkeit.

Lydia stieß mit allen an, indem sie sagte, der Tropfen müßte mit Verstand und Andacht getrunken werden.

Zuerst suchte sie noch die frühere Lustigkeit beizubehalten, aber der düstere Anblick dieses hoffnungslos stumpfsinnigen Elends, das da trübselig kauerte oder sich prahlerisch breitmachte, beengte auch ihr den Mut. Nachdem noch einige humorvoll und überlegen sein sollende Bemerkungen ausgetauscht waren, versanken alle in düsteres Schweigen.

Die Ausstattung des Raumes entsprach der Verwahrlosung seiner Stammgäste. Den Schmuck der gebräunten Wände bildeten einige ausgestopfte, mottenzerfressene Vögel, Plakate von Bierbrauereien, Zirkussen und Varietés, deren grelle Farben aber unter Schmutzkrusten fast unkenntlich waren. Auch das, was auf den zwei Pappschildern stand, war kaum noch zu lesen. Das eine trug die charakteristische Aufschrift: ›Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant‹ Die andere nicht minder bezeichnende: ›Mensch, mache dich ehrlich, bevor du weggehst‹.

In dem zweiten, durch einen Rundbogen mit dem ersten verbundenen Raum stand ein Billard, das mehrere Gäste zum Schlafen benutzt hatten, die sich jetzt beim Spiel des Grammophons gähnend und rekelnd erhoben. Nur ein halbwüchsiger Bursche lag noch, wie von der Ermüdung gefällt, in tiefem Schlummer. Zwei andere drehten ihn an den Beinen im Kreis, zupften ihn an der Nase, schüttelten seinen Kopf – er stöhnte, machte wilde, abwehrende Bewegungen, stieß erschrockene Laute aus, man fühlte förmlich, was für qualvolle Träume seinen Schlaf beunruhigen mußten, doch ohne daß er erwachte.

Die Gäste, die Stammgäste aus der Tiefe sowohl wie die Eindringlinge aus der Oberwelt, sahen interessiert diesem Spiel zu, bis eins der Mädchen mitleidig die beiden Quälgeister fortscheuchte.

»Jetzt hört uff! Versteht ihr? Gönnt dem armen Deubel doch seine Ruhe; zu fressen hat er nischt gekriegt, nu laß ihn wenigstens schlafen.«

Mit fröstelndem Schauer erinnerte Alexander sich einst empfundener Stimmungen der Verzweiflung. Wenn er früher sein Leben mit dem Lydias verglichen hatte, war es ihm wohl vorgekommen, als säße er an ein kahles Felsgestade gefesselt, während irgendwo die Wundergärten des Lebens blühten.

Das war nun Lydias Leben! Das war der Gebrauch, den sie von ihrer Freiheit machte! Das war die Welt, die sie aufsuchte, in der sie sich gefiel! Das war es, was sie schrankenlosen Lebensgenuß nennen mochte! Sie, die auf den Höhen zu wandeln berufen und geschaffen war, erniedrigte sich so. Stieg im Glanz ihrer Schönheit an diese Stätten des Elends und der Schande hinab, nicht von Barmherzigkeit getrieben, nicht um zu helfen, sondern – warum? Warum? Was trieb sie her? Was veranlaßte sie, sich so wegzuwerfen? War es nicht wie eine Rache des Schicksals, wie eine Schadenfreude der Natur, daß Lydia, nachdem sie alle Genüsse der Oberwelt erschöpft hatte, nun am Niedrigen und Ekelhaften Gefallen finden mußte.

Oh, warum war ihr, die die Natur mit so reichen Gaben wie wenig andere Menschenkinder gesegnet hatte, die eine, die notwendigste, versagt worden: die Selbstachtung, die Ehrfurcht vor dem Gottesgeschöpf, das sie darstellte?

Tiefes Mitleid ergriff ihn, wie mit einer Wahnsinnigen, die, von ihrer Geistesnacht umhüllt, sich in den Sumpf stürzt, und der es Genuß bereitet, sich im Schlamm zu wälzen.

An einem Tisch für sich unter dem von Holzläden verdeckten Fenster hatte ein junger Mann gesessen, der besser gekleidet war als die übrigen Stammgäste des Lokals. Er trug einen ins Genick geschobenen steifen Filzhut und statt des bunten Tuchs einen Kragen mit grellgelber Krawatte. Sein Jackettanzug war noch ziemlich neu und seine Wäsche einigermaßen sauber. Hin und wieder hatte er ein paar Worte einem Mädchen zugerufen, das ablehnend, aber mit furchtsamer Scheu antwortete. Die neugierigen Blicke Lydias erwiderte er mit höhnischer Herausforderung. Auf ihre Frage, wer dieser unheimliche Geselle wäre, hatte einer der Burschen an ihrem Tisch geflüstert, das wäre ein ganz gefährlicher Mensch. Er hätte sein Verhältnis durch Messerstiche beinahe an den Tod gebracht und deshalb fünf Jahre bekommen. Erst vor kurzem wäre er aus dem Zuchthaus entlassen worden.

»Seine Braut kann sich gratulieren, wenn er se erwischt. Die kommt nich lebendig davon. Aber se hat Leine jezogen. Als se wußte, daß die Zeit um war, hat se sich in de Provinz jemacht. Een janz jefährlicher Bruder.«

Der junge Mensch erhob sich jetzt – Lydia erstaunte, beim Sitzen war er ihr viel größer vorgekommen, jetzt erreichte er mit seiner schmächtigen Gestalt kaum das Mittelmaß – und rief den Wirt herbei, um zu zahlen. Aber als er hörte, daß seine Tasse Bouillon fünfundzwanzig Pfennig kosten sollte, erwiderte er mürrisch, das wäre ja ganz etwas Neues! Er hätte noch nie mehr als zwei Sechser für eine Bouillon gezahlt.

Der Wirt erklärte, das wäre früher so gewesen. Jetzt aber wäre bei den teuren Fleischpreisen auch der Preis der Bouillon gestiegen.

»Quatsch doch nich!« unterbrach ihn der Gast. »Wat hat denn deine Bouillon mit de Fleischpreise zu tun? Det is ne Bouillonkapsel mit heeßes Wasser driber. Hier haste deine fünf Sechser. Aber in deine Bude komm ick nich wieder, vastehste! Wenn ick Spülwasser saufen will, brauch ick keene fünf Sechser zahlen.«

»Für Ihnen is de Bouillon noch lange jut,« brummte der Wirt, der seinen Gast offenbar nicht kannte.

Dieser, der sich schon zum Gehen anschickte, drehte sich wieder um und sagte:

»Wat sagste? Noch lange jut? For mir noch lange jut? Det kannste deine Pennbrieder vorsetzen, die Jauche. Du weeßt ieberhaupt nich, wat 'n anständiger Jast is. Du krummer Deubel du!«

Der Wirt versetzte, er sollte das Geschimpfe lassen und sich aus dem Lokal hinausscheren. Aber der andere gab nur desto höhnischere Widerworte. Während sein Gesicht blasser und blasser wurde, schimpfte er sich immer mehr in Wut. Über alle Herrlichkeiten, die auf dem Büfett aufgestellt waren, ergoß sich sein vernichtender Spott, den die übrigen Gäste mit lautschallendem Gelächter quittierten. Als er jetzt die Umstehenden aufforderte, sich mit dem Kaviar die Stiefel zu wichsen, wenn sie nicht befürchteten, daß diese danach zu sehr stänken, ging der Wirt mit eingezogenem Kopf gegen ihn los und suchte ihn mit der Kraft seiner vierschrötigen Gestalt zur Treppe hinauszudrängen. Aber der andere versetzte ihm einen Stoß in den Magen, daß er zurücktaumelte. Da riß der Wirt eine Pfeife aus der Tasche und stieß einen grellen Pfiff aus. Und plötzlich kam aus dem hintern Gang, der zur Küche führte, eine riesige Dogge angesprungen.

»Pack an!« schrie der Wirt, auf seinen Feind deutend.

Zum Entsetzen aller sprang die Bestie hoch und legte dem Burschen ihre Pfoten auf beide Schultern. Dabei blickte sie ihn aus ihren blutunterlaufenen Augen keineswegs freundlich an, während zwischen ihren weit aufgerissenen Lefzen, aus denen keuchend die lange Zunge herausragte, zwei Reihen mächtiger Zähne zum Vorschein kamen.

Wenn der Bursche im ersten Augenblick erschrocken war, so gewann er doch im nächsten Augenblick seine Geistesgegenwart wieder. Indem er mit der einen Hand den Hund am Halsband ergriff und ihn von sich abhob, so daß der Köter auf seinen Hinterbeinen ziemlich hilflos herumtanzte, schwang er mit der andern ein offenes Messer und schrie:

»Du Lump willst mir mit deine Töle bange machen? Det Jenick dreh ick dem Vieh um. Der kriegt det Messer ins Jenick, wenn er sich muckst. Den Bauch schlitz ick ihm uff. In Stücke zerhau ick ihn. Da kannste Beefsteaks von machen. Un von de Knochen kannste Bouillon kochen. Die is wenigstens fünf Sechser wert. Vastehste?«

Die anderen Gäste murrten und verlangten vom Wirt, er solle den Hund zurückrufen. Das wäre keine Art, auf einen Menschen einen Hund loszulassen. Der Wirt folgte endlich widerwillig den immer drohender werdenden Aufforderungen.

»Komm hierher! Sultan, her!«

Aber der Hund konnte sich nicht rühren. Wie ein Wahnsinniger, mit farblosem Gesicht, in einer Erregung, die seine Kräfte verzehnfachte, stand der Bursche und schob den feige knurrenden Köter bald hier, bald dort hin, immer wieder sein Messer schwingend und erklärend, daß er das Tier zerstückeln würde.

Die meisten Gäste waren aufgesprungen, gestikulierten und schrien durcheinander, was zu tun sei. Zwei Mädchen waren aus der Küche herbeigeeilt und erhöhten mit ihrem Kreischen noch den Lärm. Endlich erschien auch die Wirtin, eine dicke, resolute Frau, die mit den Worten: »Menschheit, seid ihr denn janz varrickt jeworden?« sich Platz machte und dem Bändiger ihres Hundes gute Worte gab. Nun zog auch der Wirt andere Saiten auf und erklärte, es wäre ja nicht so gemeint gewesen, er sollte nur den Hund nicht erwürgen. Er wollte ihm auch die fünf Sechser zurückgeben.

Darauf ließ der Bursche endlich das Tier aus seiner Umklammerung los, das röchelnd und heiser bellend davonsprang.

»Ick wer dir lehren, uff'n anständigen Menschen 'n Hund loszulassen.«

Und indem er sich protzig umsah, riß er einen Stuhl unter einem Tisch hervor, setzte ihn mit einem großen Schwung neben den Lydias und sagte: »Na, Fräulein, wie is et? Sie haben mir ja ebent sone Oogen jemacht.«

»Erlauben Sie, das ist keine Art, sich unaufgefordert an anderer Leute Tisch zu setzen,« erwiderte Alexander, indem er schützend seinen Arm auf Lydias Stuhllehne legte.

»Hand weg, oller Schmachtlappen,« schrie der Raufbold. »Wenn dir det nich paßt, kannste ins Café Bauer jehn.«

Was jetzt geschah, wirkte so plötzlich und tumultarisch, daß auch die zunächst Beteiligten erst lange nachher sich klar wurden, was eigentlich vorgegangen war.

Bleich vor Zorn war Alexander aufgesprungen und hatte den Unverschämten an der Kehle gepackt. Aber im selben Augenblick fuhr ihm auch das blitzende Messer in den Arm, doch hatte er noch die Kraft, den Burschen zu Boden zu schleudern, der wütend um sich stach, bis ihm von den Hinzuspringenden das Messer entwunden wurde.

Die Mädchen, die sich kaum erst beruhigt hatten, stießen von neuem Entsetzensschreie aus. Über den am Boden Liegenden, der vor Wut brüllte, beugte sich ein dicker Knäuel von Männern. Fräulein Riche war auf den Tisch gesprungen und kreischte mit gellender Stimme: »Polizei! Polizei! Polizei!«

Der Wirt tobte: »Die Blauen kommen! Die Blauen kommen!« und löschte das Licht aus, worauf für einen Moment verhältnismäßige Ruhe eintrat. Aber dann entstand eine regellose Flucht. Weiber und Männer drangen zur Treppe hinauf. Alexander hatte die laut weinende Lydia umschlungen. Langsam gewann er mit ihr den Ausgang und führte sie auf die andere Seite der Straße. Neugierig blickten die Chauffeure auf die nach allen Seiten auseinanderstiebenden Menschen.

Erst als einer der Burschen, der ihnen als Führer gedient hatte, Alexander aufmerksam machte, daß er blute, bemerkte dieser den roten Strom, der aus dem Ärmel seines schlaff herunterhängenden Arms herunterrann.

»Der hat Ihnen eklig eenen versetzt. Ick hab et ja jesagt, det is 'n janz jefährlicher Kerl.«

Alexander wollte Lydia ins Auto drängen, aber der Chauffeur kam vom Bock heruntergeklettert und erklärte, er könnte den Herrn, der ihm sein Auto verunreinigen würde, nicht fahren. Nun umdrängten alle Alexander und fragten, ob er seinen Arm bewegen könne. Er versuchte es mühsam und erklärte, nichts zu spüren.

Der Bursche riet, eine Sanitätswache aufzusuchen, die sich in der Nähe befände.

Unter seiner Führung begaben sich Alexander, Lydia und Kallreuther dorthin. Goldammer fuhr mit Fräulein Riche und deren Begleiter in dem einen Auto davon, während der Chauffeur des andern erklärt, vor der Sanitätswache warten zu wollen.

Lydia hatte sich gefaßt. Ein dickbäuchiger, verschlafener Arzt blickte beim Öffnen der Tür blinzelnd von seinem Stuhl auf und fragte nach dem Begehren der Eintretenden. Lydia zeigte stumm auf ihren Begleiter.

»Womit kann ich Ihnen dienen? I, der Teufel, schnell den Überzieher herunter!« sagte der Doktor, als er das herunterrinnende Blut bemerkte, das eine lange Spur auf dem Boden hinterließ.

Er und der Heilgehilfe halfen Alexander entkleiden und legten ihn auf ein Gummibett. Es mußten Adern unterbunden und mehrere Nadeln gelegt werden.

Nach einer Stunde konnten Kallreuther und Lydia den blassen Alexander ins Auto führen. Kallreuther hatte ihm seinen Pelz umgehängt, damit er durch seinen zerfetzten Mantel kein unliebsames Aufsehen beim Hotelportier erregte.

Lydia bettete ihn in seinem Zimmer. Als er endlich lag, beugte sie sich weinend über ihn und bedeckte die steif ausgestreckte Hand seines verwundeten Arms mit Küssen.

Aber er drängte sie mit seiner Rechten sanft zurück und, indem er sie voll Trauer anblickte, sagte er:

»Lydia, nicht um mich – um dich weine, du verirrte Seele.«

Gedämpft und wie aus weiter Ferne, wie eine vage Erinnerung an etwas, dem sie entrückt waren, drang der Lärm der ununterbrochen von der Nacht zum Morgen brandenden Großstadt, das Tuten eines Autos, das Klingeln von Elektrischen, in die Stille des Zimmers, auf dessen hellen Tapeten der schwache rötliche Glanz eines Lämpchens vom Nachttisch widerstrahlte. Unbeweglich hielt Lydia die kühlen Finger in ihrer warmen Hand. Von Zeit zu Zeit ruhte ihr Blick auf Alexanders Gesicht, der langsam in schmerzlichem Lächeln seine Augen aufschlug zu diesem schweren Blick voll Trauer und Mahnen, womit er die Worte gesprochen hatte: ›Verirrte Seele, du!‹

Auch in Lydia klang immer wieder dieses Wort, dem sie nachsann mit Staunen und langsamem Begreifen. Und wie sie nun in ihrer wie durch einen plötzlichen Schlag beruhigten und doch tief erregten Seele seinen Sinn zu ergründen suchte, entrollten sich alle Ereignisse des Tages von neuem und gewannen ein anderes Gesicht.

Zum ersten Male regte sich in ihr etwas wie Reue, und ein Verlangen nach Besserm bewegte sie.

Ihre Seele, die wie ein Sumpfvogel in schlammige Tiefen getaucht war, breitete ihre Flügel aus voll Sehnsucht zu einem Flug nach reinern Höhen. Noch kannte sie kein Ziel. Es war nur ein Wunsch. Aber dieser schon breitete die Ahnung von etwas Neuem und Frieden über ihr Inneres.

Der Tag, die lange Nacht und auch der nächste Tag vergingen wie eine weltabgeschiedene Dämmerung. Von dem geräuschvollen Leben in dem großen Hotel merkten die beiden stillsten aller Gäste nichts.

Wäre nicht von Zeit zu Zeit ein Zimmermädchen oder ein Kellner erschienen, und hätte das nie verstummende Brausen aus der Tiefe sie nicht daran erinnert, daß sie sich mitten in Berlin befanden, sie hätten glauben können, in irgendeinem kleinen Häuschen, ganz fern von allen Menschen zu sein.

Alexander war durch den Blutverlust sehr erschöpft und lag meist schweigend mit geschlossenen oder offenen Augen da, während Lydia an seiner Seite wachte. Er hatte sie nicht bewegen können, ihr Bett aufzusuchen, kaum daß sie sich, eingehüllt in ihren weißen Kimono, für einige Stunden auf seiner Chaiselongue niederlegte. Aber so leicht war dann ihr Schlummer, daß sie sich bei der geringsten Bewegung von ihm erhob und mit fragenden Augen mehr als mit Worten nach seinem Befinden forschte.

Sie hatte ihn gebeten, die Wunde nochmals von einem Arzt untersuchen zu lassen, doch hatte er nicht gewollt, sondern erklärte am Abend des zweiten Tages, es sei nun Zeit, an die Abreise zu denken, ob sie bereit sei, morgen gegen Mittag mit ihm nach Weyringen zurückzukehren.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie schüttelte langsam das blasse Gesicht.

»Du willst mich doch nicht allein fahren lassen?« fragte er besorgt.

»Ich will dich überhaupt nicht reisen lassen. Mit einer solchen Wunde reist man nicht.«

»Das bißchen zerfetzte Haut kann ich zu Hause ebenso gut auskurieren wie hier. Ich habe ja schließlich nicht solche Eile. Nach mir bangt sich nur Anna. Und wenn ich ihr einige beruhigende Zeilen schreibe, so wird sie sich schon gedulden. Aber du wirst von Hunderten von Menschen mit Sehnsucht erwartet.«

Ihre Hände griffen ineinander, und es war, als wenn ein Schauder ihren Körper überliefe. »Ich mag nicht zurück.«

»Was? Du willst nie mehr zurück?«

»Ich kann nicht, Alex. Mir graut davor. Vor der Familie, vor dem Theater, vor dem Publikum, vor meinen Kollegen. Vor allem! Vor allem graut mir.«

»Aber was soll denn werden? Willst du allein hier bleiben?« Und während er mit seiner Rechten ihre Hand ergriff, sagte er leise: »Ich war so glücklich, dich wieder heimzubringen. Nun soll ich allein zurückkehren?«

»Nein! Nein!« Sie drückte einen Kuß auf seine Hand. »Ich will alles tun, was du mir befiehlst, Alex. Wenn du sagst, daß ich zurück soll, so folge ich. Aber nur nicht morgen. Bitte, nicht gleich morgen. Ich kann noch nicht. Und auch du – auch du bist noch viel zu schwach.«

Er drang nicht weiter in sie, sondern überließ sie den Mächten, die in der Stille ihres Innern jetzt am Werk waren.

Seltsam genug, bei aller Einbildungskraft, die Lydia befähigte, sich in fremder Leute Tun und Treiben einzuleben und die verschiedensten Charaktere zu verkörpern, gehörte sie doch eigentlich zu den Menschen, die sehen müssen, um zu fühlen. Man konnte ihr die erschütterndste Nachricht überbringen, ohne daß sie ihr Gleichgewicht verlor. Aber ein paar Tropfen Blut von einem Nadelstich brachten sie einer Ohnmacht nahe.

In ihrem Bühnenleben hatte sie genug mit Dolch und Gift und allen möglichen Mordinstrumenten zu tun gehabt. Aber was sie in dem Verbrecherkeller erlebt hatte, war nicht Theater, sondern grausige Wirklichkeit gewesen, und war mit körperhafter Gewalt, mit hundert Einzelheiten in ihr Inneres eingedrungen. Sie roch noch immer die erstickende Ausdünstung der schmutzigen Elendgestalten, den beißenden Tabakgeruch, die faden Wolken des heißen Kaffees, sie hörte von Zeit zu Zeit die gellenden Schreie, das heiße Röcheln des Hundes, sie sah die verzerrten Mienen, die frechen Gesichter der Mädchen, den stumpfsinnig rohen Ausdruck der Männer. Und dann ballte sich alles zu einem wild bewegten Knäuel zusammen, aus dem ein Arm, ein blitzendes Messer hervorragte, um jählings in vollständige Finsternis zu versinken.

Aber wie gefräßige Säure hatte sich während dieser Augenblicke des Dunkels der Gedanke in ihre Seele gegraben: ›Wenn er getötet ist – trägst du die Schuld. Dich hat er verteidigt. Du hast ihn an diesen Ort gelockt.‹ Dieser Gedanke wirkte in ihr nach, desto stärker, je mehr sie sich von der anfänglichen Erschöpfung erholte.

Am nächsten Morgen war von der Abreise nicht mehr die Rede, dagegen willigte Alexander ein, einen Arzt holen zu lassen. Er hatte die Nacht schlecht geschlafen und fühlte jetzt ein Ziehen und Puckern im Arm, das er sich nicht erklären konnte.

Von Lydia herbeitelephoniert, erschien Doktor Posener, ein etwas feister, aber nicht uneleganter Herr mit klugen, blanken Augen, die noch blanker wurden, als er erfuhr, wer Lydia sei. Er sprach sogleich über verschiedene Rollen mit ihr, in denen er sie gesehen hatte, machte liebenswürdige und gescheite Bemerkungen und warf dabei auf seinen Patienten nur von Zeit zu Zeit einen recht gleichgültigen Blick, bis er Lydia bat, ein bißchen ans Fenster zu treten, da der Anblick blutiger Verbandwatte nichts für ihre Augen sei.

Doch eine kleine Weile später bat er sie um eine Schere und sprach dann, während sein Gesicht einen trockenen, geschäftsmäßigen Ausdruck angenommen hatte, von Unreinlichkeit, Entzündung, einer Blutvergiftung, die jedoch gar nichts zu bedeuten hätte. Das beste wäre aber doch, wenn der Herr Hofrat sich gleich in seine Privatklinik begäbe. Er wollte da ein ganz kleines, harmloses Operatiönchen ausführen. In drei bis vier Tagen sei der ganze Schaden kuriert, und der Patient könne unbedenklich abreisen.

Als er ging, begleitete Lydia ihn auf den Gang und kehrte erst nach einigen Minuten zurück.

»Ich habe nur mit ihm ausgemacht, daß ich mit in die Klinik ziehe und dich statt einer Schwester pflege. Übrigens sagte er nochmals, es wäre nichts von Bedeutung.« Dabei verzog sie ihr blasses Gesicht zu einem ermutigenden Lächeln. Doch ihre Zähne schlugen aufeinander vor Aufregung.

»Ich mache mir auch nicht die geringste Sorge,« erwiderte Alexander, den die schmerzhafte Untersuchung angegriffen hatte. »Willst du mich wirklich pflegen, du Gute?«

»Das ist doch das Wenigste, was ich tun kann.«

Als nun ihre Blicke sich begegneten, schossen Tränen in ihre Augen, und während sie an seinem Bett niederkniete und seine Rechte mit Küssen bedeckte, schluchzte sie: »Warum hat das Messer dich getroffen! Warum nicht mich? Ich hätte es tausendfach verdient!«

Er war so erschüttert, daß er nicht gleich antworten konnte. Erst nach einer Weile sagte er leichthin: »Das Schicksal geht eben manchmal recht umständlich zu Werke. Wenn ich damals mit Engelszungen auf dich eingeredet hätte, mit mir nach Weyringen zurückzukommen, in der Stimmung, in der du dich damals befandest, wärest du mir doch nicht gefolgt. Da mußte erst dieser Messerheld kommen und mir ein bißchen Blut abzapfen, ehe du Vernunft annahmst.«

»Ach, Alex, du kannst dir gar nicht denken, was ich mir für ein Entsetzen und einen Widerwillen einflöße. Wenn ich an mein vergangenes Leben zurückdenke, da ist kein Tag, der gut und rein war, den ich noch einmal leben möchte.«

»Wie ungerecht bist du gegen dich! Du, die Tausenden die reinsten und schönsten Eindrücke gegeben hat!«

»Ich habe nur den einen Wunsch, noch einmal Kind zu sein! Ein Kind wie damals, als Mama noch lebte und sich um mich kümmerte. Als ich noch nicht in die Schule ging und nichts vom Leben wußte. Dann würde ich mein Leben von Grund auf anders machen.«

»Um sein Leben zu ändern, braucht man nicht wieder Kind zu werden. Das kann man, wenn man nur den festen Willen hat, zu jeder Stunde tun.«

»Zu jeder Stunde! Zu jeder Stunde!« wiederholte Lydia und versank in tiefes Sinnen.

* * *

Wenn nicht der leichte Lysolgeruch in den Zimmern und die Papptafel an der Wand mit der Hausordnung gewesen wären, und wenn die Oberin, eine durch ihr strenges männliches Äußeres etwas furchterregende Dame, die beiden beim Eintritt in die Klinik nicht empfangen hätte, sie hätten denken können, von jetzt an eine nicht sehr gemütlich und nicht sehr neumodisch eingerichtete Berliner Gartenwohnung bezogen zu haben. Zwei hohe, dunkeltapezierte Räume mit muschelgekröntem Nußbaummobiliar, mit gebräunten Öldrucken und sinnigen Kupferstichen an den Wänden, mit Gaskronen, die für elektrisches Licht umgearbeitet waren – so sah für die nächste Zeit ihre Behausung aus.

Übrigens hatte Lydia kaum begonnen, Alexanders Koffer auszupacken, als Doktor Posener im weißen Chirurgenkittel mit aufgekrempelten Ärmeln erschien, um ihn ins Operationszimmer abzuholen.

Im Augenblick, wo Alexander sich von Lydia verabschiedete, fiel sie in eine tiefe Ohnmacht, eine Schwester mußte bei ihr bleiben und sich um sie bemühen.

Sie zeigte noch ein blasses, verstörtes Gesicht und den großäugigen Blick der Angst, als ein Krankenwärter Alexander auf einem Fahrbett zurücktransportierte. Während dieser ins Bett gelegt wurde, trat Doktor Posener auf Lydia zu, klopfte sie lächelnd auf die Wange und sagte: »Nun, gnädige Frau, wieder munter? Kommen Sie, betrachten Sie Ihren Herrn Schwager, damit Sie sehen, daß er noch ganz und heil ist.«

Lydia, die von der Schwester ihrer Bluse und ihres Korsetts entledigt worden war und dafür eine wattierte, lose Seidenjacke trug, raffte diese fester zusammen und trat ans Bett. Alexander war von der Narkose erst wieder halb zum Bewußtsein gekommen, lächelte sie vage an und schloß dann die Augen. Sein dick umwickelter Arm lag ausgestreckt über der Bettdecke.

»Gestehen Sie's nur,« sagte der Arzt, »Sie hatten mich in dem schmählichen Verdacht, daß ich dem Herrn Hofrat mindestens den Arm absägen würde. Dabei habe ich nur ein paar harmlose Schnitte gemacht. Nun ist jede Gefahr behoben. In sechs bis acht Tagen können Sie mit dem Herrn Schwager wieder Arm in Arm Unter den Linden spazierengehen.«

»Ich danke Ihnen.«

Galant führte er die ihm gereichte Hand an die Lippen, hielt sie dann noch ein wenig fest, da Lydia zu benommen war, um sie zurückzuziehen, und erwiderte: »Nicht der Rede wert! Aber nun hören Sie, liebe gnädige Frau, die Nacht wird möglicherweise ein bißchen unruhig werden. Wäre es da nicht besser, wenn statt Ihrer eine Schwester wachte? Sie sind doch dringend ruhebedürftig. Seien Sie gescheit!« Und er tätschelte sanft ihre Hand.

»Ich wache bei ihm!« sagte Lydia, wie aus tiefer Abwesenheit auffahrend. »Was denken Sie denn? Glauben Sie, ich ließe jemand anders an sein Bett? Nein!« Dabei entzog sie ihm hastig ihre Hand und strich sich über die Stirn. »Sagen Sie mir nur, was ich zu tun habe!«

»Gar nichts weiter, als daß sie ihm zu trinken geben, wenn er danach verlangt. – Sollte er möglicherweise Schmerzen haben, so brauchen Sie ja nur zu klingeln. Aber ich halte das für ausgeschlossen. – Auf Wiedersehen! – Adieu, gnädige Frau!« Wieder führte der kleine Doktor Lydias Hand an seine Lippen und sah mit blanken Augen zu ihr auf. »Also nichts zu machen? Sie wollen die Pflege partout selbst übernehmen?«

»Ja.«

»Übrigens ist mir eingefallen, gnädige Frau, ich habe Sie auch in einem Shakespeareschen Stück gesehen. Was war es doch? Sie gaben eine Hosenrolle. Entzückende grauseidene Trikots.«

»Ich weiß nicht. Aber es liegt wirklich keine Gefahr mehr vor?«

»Nicht die geringste. Sie dürfen wirklich ganz beruhigt sein. Adieu, gnädige Frau.«

Nach einiger Zeit erschien Schwester Henriette, dieselbe, welche bei Lydia während ihrer Ohnmacht geblieben war, und fragte, ob sie hier oder nebenan zum Mittagessen decken sollte. Da Alexander zu schlafen schien, bat Lydia, das Essen im andern Zimmer aufzutragen. Sie selbst begab sich leise hinüber und ließ zur Vorsicht die Tür offen.

Während die Schwester mit sanften Bewegungen ab und zu ging, fragte Lydia sie, ob sie schon einer Operation beigewohnt hätte?

»Oh, vielen!« erwiderte die Schwester. Sie sei ja eine der Operationsschwestern hier und habe seit drei Jahren fast täglich mehreren assistiert. Noch heute in der Frühe habe ein anderer Arzt an einer alten Dame eine sehr schwere Myomexstirpation ausgeführt. Es sei die Frage, ob sie durchkommen würde. Man habe ihr schon mehrmals Kampfer geben müssen.

An Größe Lydia gleich, zeigte Schwester Henriette im übrigen den Typus der Brünetten. Aber so weich und melodisch ihre Stimme war, so zart und fast kindlich rein waren die Formen ihres schmalen Gesichts: die Wangen mit den Grübchen, die großen, von langen Wimpern verhangenen Augen mit den feinen, dichten Brauen darüber, deren tiefschwarze, zarte Bogen den Glanz der perlmutterbleichen Stirn noch erhöhten. Die Schwesternhaube, die sie trug, konnte die schwere Decke des trotz seines Scheitels sich lockenden Haares nicht ganz verbergen.

»Ist der Anblick solch einer Operation nicht furchtbar?« fragte Lydia.

»Jetzt nicht mehr,« erwiderte Schwester Henriette. »Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Anfangs freilich – ja, die erste Zeit war sehr schwer. Aber ich hatte den Beruf nun einmal ergriffen. Es war mein eigener Wille gewesen. Da hieß es eben tapfer sein.«

»Und Sie nahmen allen Mut zusammen?«

»Das tat ich. Aber leicht war es zuerst nicht. – Nein.«

»Erzählen Sie doch!«

»Ach, mir fällt nur ein Erlebnis ein. Ganz am Anfang, in dem Stift, wo ich ausgebildet wurde – ich war noch ein dummes Ding und hatte nie eine Leiche gesehen –, da schickte mich die Oberin eines Abends in den Keller, um Eis zu holen. Es waren weitläufige Kellerräume in unserm alten Stift mit schrecklich viel Gängen, und ich verirrte mich – ich fand den Ausgang nicht mehr und geriet schließlich in ein Gelaß, wo man einen alten Mann aufgebahrt hatte, der Tags vorher gestorben war. Mir fiel die Laterne vor Schreck aus der Hand, und ich war ganz allein mit dem Toten.«

»Was haben Sie da getan? Geschrien?«

»Nein. Zuerst saß ich vor Angst ganz still. Es war nicht ganz dunkel. Ein bißchen Licht fiel durch das Kellerfenster, gerade auf das Gesicht des Toten. Er war so mager und häßlich, recht zum Grauen. Aber dann dachte ich: ›So sah dein Vater vielleicht auch einmal aus.‹ Und da verging mir die Angst. Schließlich habe ich mich im Dunkeln zurückgefunden.«

»Fühlen Sie sich denn jetzt wohl in Ihrem Beruf?«

»Ich kann mir keinen schönern denken.«

»Aber sind Sie nicht sehr abgeschlossen von der Welt?«

»Ist das so schlimm? Übrigens habe ich alle zwei Wochen einen freien Tag.«

»Alle zwei Wochen einen freien Tag!« wiederholte Lydia. Da erholen Sie sich wohl recht? Gehen abends aus? Ins Theater und Konzert?«

»Ja, manchmal in ein Konzert. Denn Musik liebe ich leidenschaftlich. Es war hier ein sehr netter Herr, ein Professor an der Musikschule, der hat mir manchmal Billette geschenkt. Aber meist fahre ich nach Lichterfelde zu meiner verheirateten Schwester. Die hat zwei Kinder. Die sind mein ganzes Entzücken. Aber nun muß ich mich sputen. Adieu, gnädige Frau.«

Lydia schlich sich auf den Zehen ins andere Zimmer. Alexander schlief offenbar noch. So hatte sie Zeit zum stillen Nachdenken.

Wie ein Durstiger den frischen Trunk, mit so tiefen Zügen hatte sie die Bewegungen, den Klang der Stimme, den ganzen reinen, erquickenden Zauber dieses Mädchens in sich eingesogen. Einen Augenblick stellte sie sich Schwester Henriette in reicher Toilette auf einem Ball vor. Die Männer hätten sich um sie gerissen. Und nun lebte sie hier, die feine Blume, unter Kranken und Leidenden, verrichtete Magdarbeit und oft noch Schwereres und war glücklich. War glücklich.

Die nächsten Tage vergingen still, äußerlich ereignisleer, doch reich an innerm Erleben. Die Heilung vollzog sich nicht ganz so schnell und glatt, wie der Arzt prophezeit hatte. Besonders die Nächte waren durch Fieber und Schlaflosigkeit gestört. Aber Lydia wollte keine Hilfe annehmen. Sie wachte ganz allein an Alexanders Bett.

Doktor Posener, der jeden Tag erschien, änderte allmählich den Ton leichter Galanterie, den er bisher gegen sie angeschlagen hatte, und machte ihr das Kompliment: »Von allen Rollen, in denen ich Sie gesehen habe, gnädige Frau, machen Sie mir als Krankenschwester den tiefsten Eindruck. Ich würde Ihre Ausdauer rühmlich finden, wenn Sie eine geübte Schwester wären, so aber flößen Sie mir wirklich Bewunderung ein.«

»Wer weiß, ob es nicht die Rolle ist, für die ich am besten geschaffen bin,« erwiderte Lydia.

Die hingebende Liebe, die sie Schwester Henriette entgegenbrachte, erwiderte diese mit kindlichem Vertrauen. Es dauerte nicht lange, so führte sie Lydia in ihr Zimmer, ein dunkles, enges Gelaß, das sie noch dazu mit einer anderen Schwester teilte, und zeigte ihr ihre kleinen Besitztümer, wertlose Dinge, die aber den Erinnerungsschatz ihres Lebens ausmachten. Meist waren es Bilder: Photographien ihrer verstorbenen Eltern, ihrer Geschwister und deren Kinder. Auf dem Grund des Kästchens, das diese Harmlosigkeiten barg, lag, in eine Offizierschärpe eingewickelt, etwas, das Schwester Henriette erst auf Lydias Drängen zögernd hervorholte und zeigte. Es war das Bild eines schmucken Ulanenleutnants.

»Wer ist das?«

Das blasse und nur von zartem Rosa überhauchte Gesicht Schwester Henriettens zeigte zum ersten Male eine tiefe Glut, die jäh aufstieg und dann langsam verglomm. »Ich hatte ihn mal sehr lieb. Und er mich auch,« erwiderte sie stockend.

»Oh!« Es war Lydia, als hätte sie ein kühler Zugwind angeweht, und sie fühlte sich leicht enttäuscht.

Aber als die Schwester dann sich niedersetzte und, das Bild mit beiden Händen im Schoß haltend, die kurze, traurige Geschichte dieser Liebe erzählte, verwandelte sich ihre Ernüchterung in ein anderes Gefühl.

Henriette hatte den jungen Offizier als Pflegerin im Hause seiner Mutter kennengelernt. Die Krankheit, die ihn seit Monaten bettlägerig gemacht, war tödlich, doch er wußte es nicht.

Von Zeit zu Zeit bekam er Besuch von seiner Braut, einer schönen jungen Dame der Hofgesellschaft. Sie hatte den eleganten Vortänzer auf den Hofbällen geliebt, mit dem bleichen Todeskandidaten wußte sie schlechterdings nichts anzufangen. In der beklommenen Stille dieses Krankenzimmers versagten alle ihre glänzenden Gaben. Und ihre Besuche bedrückten den Kranken nur, statt ihn aufzuheitern.

Auch zu seiner Mutter stand der Leutnant, der die längste Zeit seiner Jugend im Kadettenkorps verbracht hatte, nicht gerade in sehr innigem Verhältnis. Eine gutherzige, aber noch mehr bigotte Dame, hatte sie vor allem das Bestreben, dem Sohn die Heilswahrheiten der Religion in möglichst reichlichem Maß zukommen zu lassen. Und Schwester Henriette hatte alle ihre Überredungskunst aufbieten müssen, um zu verhüten, daß sie den Sohn über seinen hoffnungslosen Zustand aufklärte.

So war die Pflegerin bald der einzige Mensch, in dessen Umgebung sich der Kranke wohlfühlte. Nicht nur, daß sie alle die schwierigen Handreichungen am besten verstand, ihre gleichmäßige, heitere Ruhe wußte auch seine schon erlöschende Hoffnungsflämmchen immer wieder neu zu entzünden.

Sie mußte ihm vorlesen, mit ihm Halma spielen, und in guten Stunden plauderte er ihr mit der Harmlosigkeit eines großen Jungen alle Streiche seines fröhlichen und wilden Lebens aus.

Eines Abends aber nahm er ihre Hand und sagte, er glaube nicht, daß er je wieder gesund würde, er würde wohl immer ein siecher Mensch bleiben, aber dann dürfte sie ihn nicht verlassen, sondern müßte zu ihm ziehen und immer bei ihm bleiben. Irgendwo in einer stillen Stadt wollten sie ein kleines Häuschen bewohnen, mit einem großen Garten, in dem sie ihre Blumen, die sie so liebte, pflegen, und er den Singvögeln zuhören könnte.

Während an den erkrankten Organen des noch jugendstarken Körpers der Tod ohne Unterlaß und immer hastiger sein Zerstörungswerk verrichtete, hatten die beiden immer eifriger ihre Zukunftspläne gemacht, rosige, blaugoldene Träume, wie nur Kinder und Kranke, die des Lebens unkundig oder entwöhnt sind, sie weben: von dem kleinen Häuschen voll Sonne und dem Garten voll Blumen und Vogelgesang.

Eines Abends hatte er wieder ihre Hand ergriffen und ihr gestanden: er wäre so oft verliebt gewesen und hätte auch seine Braut recht gern gehabt, aber daß Liebe dem Herzen so wohl tun könne, hätte erst sie ihn gelehrt.

Und dann in der letzten Nacht, als die Schmerzen immer schlimmer wurden und das Ende nahe bevorstand, hatte Henriette noch einmal, so hinreißend wie sie es vermochte, das Märchen von der wunderschönen Zukunft zu zweien erzählt und hatte ihm dann von dem wohltätigen schwarzen Saft, von dem er zur Linderung dann und wann einige Tropfen bekam, ein gutes reichliches Maß eingegeben, so daß er aus seinen Träumen nicht wieder erwachte.

Das war die Geschichte von Schwester Henriettens Liebe. Als sie geendet, saß Lydia lange in stillen Gedanken und fragte dann, wie alt Henriette eigentlich sei? Da stellte es sich zu ihrem Erstaunen heraus, daß die Schwester nur um wenige Jahre jünger als sie selbst war.

Während sie den Worten noch immer nachsann, fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, wie es wäre, wenn nun sie anhübe, von ihren Liebeserlebnissen zu erzählen? Nie in ihrem Leben war sie sich so traurig und elend vorgekommen wie in diesem Augenblick.

Alexander erholte sich nach und nach, konnte auch schon kürzere Spaziergänge machen. Aber den Zeitpunkt, wo er die Klinik verlassen durfte, verschob der Doktor von einem Tag zum andern. Nach wie vor saß Lydia bei ihm, an seinem Bett oder an der Chaiselongue. Auch sie las ihm vor, spielte mit ihm Halma und wurde nicht müde, ihm von Schwester Henriette zu erzählen.

Als diese ihren freien Tag hatte, machte sie ihr die Freude und besorgte ihr ein Billett zu einem Philharmoniekonzert, das gerade ein besonders verlockendes Programm hatte. Gleichzeitig bat sie sie um einen großen Gefallen. Sie hätte den innigen Wunsch, einmal die Schwesterntracht anzuziehen. Nur für wenige Stunden. Sie würde gewiß keinen Mißbrauch damit treiben.

»Wollen Sie denn wirklich auch Schwester werden?« fragte Henriette überrascht.

Statt zu antworten, erkundigte Lydia sich aufs genaueste nach den Verhältnissen des Stifts, in dem Henriette ihre Ausbildung durchgemacht hatte.

Die Schwester besaß ein fast noch neues Kleid, das Lydia zur Not paßte. Es widerstrebte ihr, dieses Gewand, in dem sie ein ihr teures und heiliges Symbol sah, von einer Fremden getragen zu sehen, noch dazu von einem Weltkind, wie Lydia es war. Da diese aber so inständig bat, und da es der Schwester erschien, als wenn sie durch Gewährung dieser Bitte einer suchenden Seele vielleicht das Finden des rechten Weges erleichterte, gab sie nach.

Lydia war glücklich. Sie wagte nicht, sich in der neuen Tracht vor Alexander zu zeigen. Aber lange Zeit betrachtete sie sich im Spiegel, und es gewährte ihr ein süßes tröstliches Glück, zu sehen, daß auch ihr Gesicht schon die zarte, perlmutterbleiche Farbe der Krankenschwester angenommen hatte.

Von dem Tage an zog sie ihre kostbaren Ringe von den Fingern, kämmte ihr Haar zu einem glatten Scheitel und trug zu dem schwarzen Rock eine schlichte, dunkle Flanellbluse.

Am nächsten Tage bat sie Doktor Posener, einer Operation beiwohnen zu dürfen.

»Um Himmels willen!« erwiderte dieser, »das ist nichts für Sie, gnädige Frau. Sie fallen mir ja sofort in Ohnmacht, ehe es überhaupt losgeht.«

Aber Lydia versicherte, sie würde tapfer sein. Sie wollte sich auch ganz bescheiden in die Nähe der Tür setzen, damit sie, wenn ihr etwas Menschliches zustieße, sofort verschwinden könnte.

Der Arzt drohte mit dem Finger: »Hören Sie, liebe gnädige Frau, dahinter verbirgt sich was! Sie sind doch hoffentlich nicht vom Trübsalsbazillus angesteckt? Machen Sie lieber mal einen ordentlichen Spaziergang.«

Sie fühle sich so frisch und wohl wie nur je. Es handle sich bei ihrem Wunsch nur um eine Nervenprobe.

»Na na! Sie wollen doch nicht etwa dem Theater untreu werden? So sehr ich Ihr Talent zur Krankenpflege auch bewundere, Sie haben denn doch größere Aufgaben.«

»Also, jetzt seien Sie nicht komisch, sondern erfüllen Sie mir den Wunsch,« erklärte Lydia, ihren früheren Ton annehmend. »Es steht Ihnen viel besser, galant zu sein.«

»Wenn Sie so sprechen, tu ich's gleich,« erwiderte der Doktor lachend.

Beim Anblick der Operation hielt sie sich tapfer und konnte ihr von Anfang bis zu Ende beiwohnen.

Es war in der Dämmerstunde, da setzte sich Lydia zu Alexander und sagte: »Alex, lach mich nicht aus und werde auch nicht böse – aber ich habe wirklich die feste Absicht, Schwester zu werden.«

Er war weniger überrascht, als sie erwartet hatte. Nach der Umwandlung, die während der ersten Tage in ihr vorgegangen war, und die sie offenbar von Grund aus verändert hatte, schien dieser Schritt ihm nur auf dem Wege ihrer neuen Entwicklung zu liegen. Aber es regte sich etwas in ihm wie Auflehnung gegen das Schicksal, welches das Gute gleich so weit trieb, daß es für ihn zu etwas Traurigem wurde. Und dieser ganz persönliche Schmerz gab seinen abmahnenden Worten besondern Nachdruck.

Doch sie erwiderte, sie hätte diesen Plan reiflich und lange überlegt. In einer einzigen schlaflosen Nacht käme man übrigens oft zu größerer Klarheit als nach Wochen fruchtlosen Grübelns. Es handle sich bei ihr nicht um eine Laune, sondern um ein inneres Müssen. Es sei ihr unmöglich, ihr altes Leben, vor dem ihr graue, wieder zu beginnen.

Er entgegnete, daß niemand dies besser begreife und darüber glücklicher sei als er. Aber nicht um eine Fortsetzung ihres frühern Lebens handle es sich, sondern darum, daß sie den Beruf, für den sie geboren sei, in dem sie Tausenden von Menschen erhabene und große Eindrücke verschafft habe, wieder aufnehme.

»Ich hasse das Theater mit allen seinen bunten Lappen und seinem Schmutz!« erwiderte sie.

Lag das nicht daran, fragte er, daß sie in einem ihm unverständlichen Mangel an Selbstachtung sich gerade den weniger guten Elementen unter den Theaterleuten angeschlossen habe? Gab es nicht genug andere Schauspielerinnen, die in ihrem bürgerlichen Leben tugendhafte und reine Frauen waren, und Schauspieler, die ihre Kunst wie einen Gottesdienst übten?

»Ach, du weißt nicht, wie's hinter den Kulissen aussieht. Es sind im Grund alle doch nur elende Komödianten.«

Da erinnerte er sie an ihr Kind. Wollte sie die kleine Walpurga verlassen und etwa zu fremden Leuten geben?

»Gerade an Burgelchen habe ich gedacht! Die Mutter in mir ist noch das Beste! Aber willst du mir einreden, ich wäre wirklich eine gute Mutter gewesen? Und es wäre ein Glück für Burgelchen, wenn's bei mir bliebe? Nein, sie ist tausendmal besser bei Anna aufgehoben. Da findet sie die Liebe, die sie braucht, und auch die richtige Erziehung. Ich bin ihr immer mit schlechtem Beispiel vorangegangen. Und wenn das jetzt auch anders würde, solange ich auf dem Theater bleibe, habe ich einfach nicht die Zeit, mich um sie zu kümmern.«

Er wußte hierauf nichts zu erwidern. Aber das Gefühl, wieder einmal vom Schicksal beraubt und betrogen zu sein, vertiefte sich noch, so sehr er auch dagegen kämpfte.

Lydia merkte, welch einen tiefen Schmerz sie ihm bereitet hatte; sie war den ganzen Abend über noch weicher und hingebender als früher, und in der demütigen Art, mit der sie zu ihm sprach und für ihn sorgte, lag etwas wie ein stilles Um-Verzeihung-Bitten.

Am nächsten Morgen bei der Untersuchung sagte Doktor Posener zu Alexander: »Hören Sie, Herr Hofrat, mit Ihnen bin ich sehr zufrieden. Sie können meinetwegen Ende der Woche nach Hause reisen. Aber Ihre Frau Schwägerin macht mir ernstlich Sorge. Sie wird doch hier nicht auf Ideen kommen? Diese Frisur, diese Flanellbluse – das war doch früher nicht.«

Alexander erzählte ihm Lydias Plan.

»Ei jeh! Ei jeh! Na, so was!« sagte der Arzt. »Dagegen muß aber schleunigst was getan werden. Die Hauptsache ist, daß Ihre Frau Schwägerin andere Eindrücke bekommt. Versuchen Sie doch mal, sie mit ins Theater zu nehmen. Da werden vielleicht die Lebensgeister wieder in ihr wach.«

Alexander ging nur zu gern auf diesen Vorschlag ein. Er ließ zwei Billete zur »Nora« holen. Die Sorma spielte.

Als aber Lydia davon hörte, wollte sie nicht mit. Er bat. Sie schlug ihm vor, Schwester Henriette mitzunehmen. Als er aber darauf erblaßte und Miene machte, die Billette zu zerreißen, ergriff sie seine Hände: »Nein, nein! Wenn dir so viel daran liegt, tue ich's. Ich will dir den Abend nicht verderben.«

Doch dann war sie geradezu verstört, und es kostete sie eine schmerzhafte Überwindung, die schwarze Flanellbluse gegen eine etwas reichere von Seide zu vertauschen.

Während Schwester Henriette ihr beim Umkleiden half, vertraute sie ihr an, daß heute morgen der Assistenzarzt ihr einen Antrag gemacht hätte.

Ohne daß sie wollte, entschlüpfte Lydia die Frage: »Sie nehmen ihn doch nicht an?«

»Doch! Ich habe schon ja gesagt.«

»Lieben Sie ihn denn?«

»Ich habe die Überzeugung, daß ich ihm etwas sein kann und daß ich es gut bei ihm haben werde,« erwiderte die Schwester sanft. »Als Frau eines Arztes kann ich das, was ich gelernt habe, ja auch weiter ausüben. Und dann freue ich mich darauf, aufs Land zu kommen. Mein Bräutigam will sich in Pommern eine Praxis gründen.«

Es ließ sich nichts dagegen einwenden. Trotzdem war Lydia tief enttäuscht. Es raubte ihr alle Sympathie für die Schwester, daß diese jetzt nicht nur eine tote Liebe, sondern auch einen lebendigen Bräutigam besaß.

Im Theater beobachtete sie ihre große Rivalin mit Raubvogelschärfe. Nur manchmal gab sie ihren Eindrücken Worte: »Hör nur diese halben Töne! Diesen Kinderblick macht ihr keiner nach.«

Als die beiden am Schluß der Vorstellung sich erhoben, gab sie ihre Erregung in dem einen Satz kund, den sie nach einem langen Atemzug gepreßt hinwarf: »Ja, mit solchen Partnern, in einer so abgestimmten Vorstellung spielen zu können –.«

Sie gingen noch in ein stilles Weinrestaurant. Nachdem sie über das Stück und über die einzelnen Schauspieler gesprochen hatten, fragte Alexander plötzlich: »Lydia, tut's dir nicht leid?«

Sie verstand ihn sofort und erwiderte schroff: »Nein.«

Er schwieg. Auch sie verstummte. Sie hatten die Gläser geleert. Der Kellner kam und fragte, ob er eine neue Flasche bringen dürfe? Alexander zog die Uhr. Sie wies auf zwölf. Er sagte: »Es ist wohl Zeit?«

»Ach, bestell nur noch eine Flasche. Der Wein tut dir gut nach dem langen Fasten.«

Als er vage lächelte, legte sie ihre Rechte auf seine aus der Schlinge hervorragende Hand und sagte mit schimmerndem Blick: »Alex, du bist traurig! Und ich weiß warum. – Du denkst an dein eigenes Stück.«

Er senkte erblassend die Augen.

»Ich will hin zur Sorma und sie fragen, ob sie sich nicht für die Rolle interessiert. Dann wäre es gemacht. – Oder, Alex, wenn das nicht geht – ich könnte – und für dich täte ich es gern – ich könnte in Weyringen die Rolle ja für die ersten Vorstellungen spielen. Später vertritt mich dann eine andere? Wie wäre das?«

Er blickte auf, nun schimmerten auch seine Augen von Tränen.

Als die neue Flasche kam, tranken sie auf sein Stück. Dann sprachen sie über Auffassung und Besetzung der Rollen. Sie redeten sich so in Eifer, daß sie die Zeit vergaßen und als die letzten das Lokal verließen.

Während sie in der Klinik vor Lydias Zimmertür standen, ergriff Alexander ihre Hand und drückte sie fest: »Lydia, ich kann's dir nicht sagen, aber du weißt, wie ich dir danke, du wundervolle, gütige, liebe – liebe Frau.«

Und er beugte sich zu ihr herunter, als wenn er sie küssen wollte. Sie lehnte den Kopf zurück, ihre schneller atmenden Lippen rundeten sich. Aber sein Mund berührte mit leisem Hauch nur ihre Stirn.

 


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