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Wenige Wochen später hätte Lydia ihren Schwur bereut, wenn sie ihn nicht schon vergessen hätte. Denn ihr Leben fing an, sie bedenklich zu langweilen. Eine Zeitlang hatte der Verkehr in den vornehmen Häusern ihr Freude gemacht. Es hatte ihr geschmeichelt, sich in einem Kreis zu bewegen, der nicht nur kraft des Theaterzettels großenteils aus Baroninnen, Gräfinnen und Exzellenzen bestand, und sie hatte sich im Ton schlichter Vornehmheit mit demselben Eifer geübt, wie den Winter vorher im Schlittschuhlaufen.

Aber bald fand sie, daß diese Damen sich immer gleich blieben und eigentlich langweilig seien. Und es ärgerte sie, daß, wenn irgendeine Exzellenz das Wort ergriff, die andern schwiegen, und daß man auch ihr hierin keine Ausnahme zugestand. Ja, man schien sie einfach als die Lise Meyneburg von früher zu betrachten und gar nicht zu wissen, daß sie auch eine berühmte Schauspielerin war.

Ein wenig Unterhaltung gewährte ihr der Verkehr mit Alexander. Als Mann kam er natürlich für sie nicht in Frage, schon weil er der Gatte ihrer Schwester war. Aber sie hatte sich vorgenommen, ihn seiner ›Philisterverkommenheit‹ zu entreißen und etwas aus ihm zu machen.

Er arbeitete mit großer Gewissenhaftigkeit an seinem Stück und schuf es beinahe zu einem neuen um. Alle Änderungen legte er ihr vor und ließ sich von ihr beraten, wobei sie sich bald in dem Arbeitszimmer seines Museums, bald in Lydias Wohnung trafen. Auf ihr Zureden entschloß er sich, freilich erst nach langen Kämpfen, zu einer Änderung des Titels. Statt ›Der Gefangene von Rom‹ hieß es jetzt ›Das leere Herz‹. Dadurch wurde die Frauenrolle von vornherein mehr in den Vordergrund gestellt.

Doch Lydia bedurfte auf die Dauer stärkerer Anreize. So ließ sie sich denn schließlich mit ihren Kollegen ein und war bald in ein Netz von Theaterintrigen verstrickt. Mit der Frau von Limburg führte sie einen leidenschaftlichen Krieg und machte sich über deren Knödelton und Schmierenposen bei den Proben auf offener Szene lustig. Diese rächte sich durch allerhand boshafte Streiche. Eine Zeitlang bekam Lydia wiederholt nachts eingeschriebene Eilbriefe mit Rezepten von Pilules orientales, Mittel gegen unreinen Teint und dergleichen. Doch regten diese Scherze, an die sie von früher gewöhnt war, sie nicht sonderlich auf. Dagegen erzeugte ein Gerücht, das, wie mehrere Kollegen ihr erzählten, über sie im Umlauf war, in ihr einen heftigen Wutanfall. Es hieß nämlich, sie hätte überhaupt nicht das Recht, sich Frau zu nennen, da sie nie verheiratet gewesen sei. Lydia erklärte auch dieses Gerücht für eine neue Bosheit der Limburg.

Eines Morgens wachte sie höchst übelgelaunt auf. Um halb zehn war die Probe angesetzt, was sie ärgerte. Sie war von konservativen Gewohnheiten, und eine Probe hatte nicht vor zehn zu beginnen.

›Ich werde Krach machen!‹ sagte sie sich. ›Mit Doktor Legfeld, dem Regisseur.‹ Sie hatte ohnehin einen Groll gegen ihn, da er Alexanders Stück gelesen und sehr schwach gefunden hatte. Es würde ihm nichts helfen, daß sie ihn eigentlich gern hatte, weil er intelligent und geschmackvoll war und Ideen hatte. Sie würde ihn doch wieder zausen. Denn das Krachmachen steckte ihr heute in den Gliedern.

Sollte sie, um gleich einen Grund zu haben, vielleicht eine Stunde zu spät kommen? Aber es trieb sie ungeduldig auf die Bühne.

Gestiefelt und gespornt, das heißt in einer kaffeebraunen Bluse, die ein steifer Leinenkragen abschloß und eine himbeerfarbene Krawatte nicht gerade zierte, in einem grauen Röckchen, das zu kurz war, um die fehlenden Knöpfe an den ziemlich ausgetretenen Schuhen zu verdecken, mit einem sonderbar männlichen Filzhut auf dem zu festen Flechten gedrehten Haar, wollte sie ihr Toilettenzimmer verlassen, als Maruschka mit der Meldung auf sie zustürzte, daß ein Herr draußen auf sie warte.

»Biste verrückt? Sag ihm, er soll zu 'ner anständigen Zeit wiederkommen.«

»Ich glaube, er will was – so was!«

Dabei machte Maruschka die Bewegung des Geldzählens.

»Dann soll er sich an die Theaterkasse wenden. Da habe ich hinterlegt. Rasch – schmeiß ihn raus!«

Doch wenn das geschehen sollte, mußte sie es selbst besorgen. Denn bereits stand der Herr vor ihr, reichte ihr mit einer tiefen Verbeugung die auf seinem abgescheuerten Zylinderhut liegende Bittschrift und sagte mit sonorer Stimme:

»Verzeihen Sie, Frau Baronin, daß ich aus eigener Machtvollkommenheit in Ihr Allerheiligstes eindringe. Aber –«

»Hören Sie mal, das ist doch etwas stark. Maruschka, das Jackett!«

Maruschka stürzte fort.

»Es ist wirklich kein Vergnügen, die Mildtätigkeit fremder Menschen in Anspruch zu nehmen. Am wenigsten für den, dem das nicht an der Wiege gesungen wurde, der auf Tage des Glanzes zurücksehen kann. Wenn ich Ihnen meinen Namen nenne, hochgeehrte Frau Baronin und begnadete Künstlerin –«

Lydia hielt den Atem an, denn aus jedem Wort des Fremden dampfte der Spiritus. Sie hatte ihr Portemonnaie hervorgeholt und ließ sich von Maruschka ein großkariertes Jackett überziehen. Ein Dreimarkstück auf den Tisch legend sagte sie:

»Bitte, dalli, ja!«

Aber der Mime wies mit einer großartigen Gebärde das Geld von sich.

»Kein Bettelalmosen! Ihre Mildtätigkeit ist nicht umsonst in der Stadt hochberühmt. Lesen Sie, Frau Baronin. Es handelt sich ja nicht um mich. Mein Kind schwebt in Lebensgefahr.«

»Was, Ihr Kind? Ein Junge oder ein Mädchen?«

»Ein Mädchen. Ein nachgeborener Engel. Sie muß operiert werden, und das Krankenhaus will sie nicht aufnehmen, ehe ich nicht fünfzig Mark hinterlege.«

»Das ist ja schrecklich!« stammelte Lydia ergriffen. »Was fehlt ihr denn?«

»Blinddarmentzündung.«

»Was? Können die schon Kinder in so zartem Alter bekommen?«

Sie holte ein Goldstück und kleines Geld aus ihrem Portemonnaie. »Hier. Mehr habe ich momentan nicht.«

»Heißen Dank! Aber schreiben Sie mir auch Ihren Namen auf die Liste. Sie stehen obenan! Wenn Sie schenken, schenken alle. Machen Sie Ihre Güte voll, hochherzige Wohltäterin.«

»Ja, ja, gern.«

Aber kaum hatte sie das Blatt entfaltet, als sie, den Namen ihrer Kollegin Limburg lesend, es mit stachligem Augenblitzen dem Bittsteller unter die Nase hielt:

»Sie wagen, den Namen dieser Person unter den meinen zu setzen? Sie beschmutzen mich und wollen meine Hilfe in Anspruch nehmen?«

»Herr des Himmels, habe ich unrecht getan –«

Mit der noch nassen Feder den Namen bis zur Unkenntlichkeit ausstreichend, zischte Lydia:

»Zu dem Frauenzimmer gehen Sie nicht! Ich will mit einer notorischen Ehrabschneiderin nicht auf einem Blatt stehen! Übrigens, wenn Sie glauben, daß sie Ihnen auch nur einen Groschen gibt, dann irren Sie sich. Sie ist ja wegen ihres schnöden Geizes berüchtigt.«

»Ich hatte keine Ahnung, Frau Baronin. –«

»Oder nein – gehen Sie doch hin! Gehen Sie hin – aber zu allerletzt. Nachdem Sie bei allen gewesen sind. Da – zu allerunterst schreiben Sie den Namen hin! Und dann erzählen Sie mir, was die Kanaille für ein Gesicht gemacht hat.«

Um aber den Schabernack noch echter zu machen, schnitt Lydia den obersten Teil des Bogens ab und ließ dann den Namen der Heldenmutter von neuem ganz zu unterst hinsetzen. Hinter ihren eigenen aber schrieb sie mit großen Ziffern: 100 Mark. Schließlich forderte sie den Mimen noch auf, gegen drei wieder bei ihr vorzusprechen, da er dann mehrere Kollegen bei ihr finden würde.

Darauf kletterte sie rasch in ihr Wägelchen mit dem Ponnygespann und war in wenigen Minuten beim Theater angelangt, allerdings mit halbstündiger Verspätung.

Es galt die erste Bühnenprobe von ›Maria Stuart‹, und man war beim Ende des zweiten Aktes, den man vorweggenommen hatte. Hinter den Kulissen stand in einem schlotterigen Gehrock Herr Knapp, der den Burleigh gab, und schälte mit einem großen Taschenmesser einen Apfel, von dem er ein Stück dem Darsteller des Paulet, Herrn Rodegast, reichte. Als Lydia dazutrat, verbeugten die beiden Alten sich, ohne daß Herr Rodegast die Hände aus den Hosentaschen nahm, und Herr Knapp bot ihr ein Stück Apfel an.

»Danke! Früher war's mal umgekehrt,« sagte Lydia, indem sie das Stück in den Mund schob. Aber sie schnitt sofort ein Gesicht. »Pfui Teufel, ist der sauer. So was hätte Eva nicht angeboten.«

»Ja, noch ist er nicht. Aber er wird. Der kriegt erst zu Weihnachten die richtige Süße.«

Dann schlug Herr Knapp seine Rockschöße von den Hosentaschen, die in ihrer Gefülltheit zwei bauschigen Säcken glichen und holte einen andern hervor.

»Der ist jetzt schon gut.«

»Geben Sie her! Erst gar nicht lange schälen!« sagte Rodegast.

»Alle selbstgezogen?« fragte Lydia.

»Selbstgezogen und selbstgepflanzt – so vor fünfunddreißig Jahren etwa. Ja, Obstbäume pflanzen lohnt sich. Was habe ich heut davon, daß ich mal der beste Carlos in Deutschland war?«

»Die Kunst trägt am Ende höchstens faule Äpfel!« bemerkte Herr Rodegast.

In diesem Augenblick trat Frau von Limburg, die Elisabeth, aus der Kulisse. Sobald sie ihre Kollegin gewahrte, warf sie höhnisch den Kopf in den Nacken und schritt, ohne zu grüßen, vorbei. »Warum sie bloß immer den Bauch so herausstreckt?« fragte Lydia so laut, daß die andere es hörte.

Herr Rittersloh, der jugendliche Held, küßte Lydia die Hand.

»Grüß Gott, Meisterin. Warum so spät? Habt Ihr Euch verschlafen?«

»Grüß Gott!« sagte Lydia. »Kinder, heut mache ich Krach. Daß ihr euch das gefallen laßt. Halb zehn Probe!«

Dann betrat sie die Szene, wo nah an der Rampe vor einem von einer elektrischen Birne grell erleuchteten Tisch Doktor Legfeld saß. Der Inspizient rannte, den Kopf zwischen den hohen Schultern, mit dem Bleistift in seinem weißen Schnurrbart krauend, ein Bild fortwährender Erregung und Verärgerung, hin und her.

»Frau Meyn ist da! Soll ich umbauen lassen?«

»Mooin!« sagte Lydia gemütlich.

»Nicht umbauen lassen!« erwiderte Doktor Legfeld. »Guten Morgen!«

Er erhob sich ehrerbietig, um Lydia die Hand zu geben. Da diese sich aber zum Maschinenmeister wandte, sagte er:

»Die Probe war auf halb zehn angesagt.«

»Warum nicht auf halb vier? Da hätten wir gleich im Theater übernachten können.«

Ohne aufzublicken, blätterte Herr Legfeld wütend in seinem Regiebuch und trommelte auf den Tisch.

»Anfangen! Wird's nun endlich oder nicht?«

Theaterarbeiter auf Filzschuhen, mit einer Jockeimütze auf dem struppigen Haar oder der Glatze, wahre Nachtschattengewächse, trugen einen Schrank in die linke und eine Bank in die rechte Ecke. Aus der Höhe wurde eine Reihe Beleuchtungskörper heruntergelassen, die einiges Licht über den halbdunkeln Raum verbreiteten.

Gleich darauf betrat Frau Herbansky, deren zorniges Schelten schon hinter der Kulisse vernehmbar gewesen war, die Bühne. Doch mit dem Moment ihres Auftretens veränderte sich der Aggregatzustand ihrer Stimme und wurde gleichsam in Tränen aufgeweicht. Auf ihrem breiten Schoß schaukelte sich ein enormer Pompadour, den ein perlengestickter Amor schmückte. Sie rang die Hände, wankte hierhin und dorthin, während Rodegast, das halb zerkaute Apfelstück in eine Backe geschoben, in der Hand sein Rollenbuch haltend, seine Rolle nur markierte.

Dann trat Lydia auf, langsam, königlichen Schrittes, so daß sie trotz ihres kurzen Rockes die Illusion eines langen, nachschleppenden Gewandes hervorbrachte. Kaum hatte sie aber in den Streit der beiden eingegriffen, als sie mitten in einem Satz innehielt.

»Sie – wenn Sie glauben, ich spiele die Szene auf der Bank da, dann sind Sie schief gewickelt, Herr Regisseur. Ich brauch einen Lehnstuhl.«

Aber Doktor Legfeld wollte nichts davon wissen. Ein Lehnstuhl verdürbe den Eindruck des Gefängnishaften. Doch Lydia erwiderte, ihr Gefängnis wäre doch kein Kittchen für ordinäre Spitzbuben. Für ihn möge ein Lehnstuhl ja den Inbegriff des Luxus bedeuten, aber da wären die Gewöhnungen eben verschieden. Und sie wäre eine Königin.

»Also schaffen Sie einen Lehnstuhl heran für Frau Meyn,« knurrte der Regisseur den Inspizienten an.

Der Auftritt begann von neuem. Wo Lydia konnte, ließ sie ihren Ärger und ihre Verachtung an dem Regisseur aus, dem das Blut immer höher ins Gesicht stieg, bis sogar seine gebuckelte Glatze die Farbe einer glühenden Ofenwand annahm.

In der kurzen Pause umringten die andern Schauspieler Lydia. Der junge Rittersloh küßte ihr die Hände und versicherte der Meisterin, sie sei von einer himmlischen Frechheit gewesen. Die Kennedy behauptete, vor verhaltenem Lachen beinah Brustkrämpfe bekommen zu haben. Auch Rodegast sagte, sie habe den aufgeblasenen Kerl tüchtig gedeckelt.

»Nun paßt nur auf, Kinder, wie ich mir die Limburg vorbinde. Die soll die Gelbsucht kriegen vor Wut.«

Sie wollte sich an ihr rächen für eine telephonische Unverschämtheit des Morgens. Gar nicht direkt wollte sie sich an sie wenden, sondern stets zum Regisseur sprechen als von der Dame. »Wollen Sie bitte der Dame sagen, daß sie ihren Bauch etwas einzieht. Sie soll nämlich eine jungfräuliche Königin darstellen.« Nun, sie würde schon genügend Bosheiten finden.

Doch sobald jetzt der Regisseur das Zeichen zum Beginn des dritten Aktes gegeben, hatte die große Schauspielerin Lydia alle diese Privatabsichten der kleinlichen Frau völlig vergessen.

Mit fliegenden Schritten, in dieser leichten Trunkenheit eines Gefangenen, der nach langer Krankheit zum ersten Male wieder den freien Himmel sieht, eilte sie auf den jetzt weiten Bretterplan, in dessen Hintergrund ein herabgelassener Prospekt die übliche phantastisch-kitschige Landschaft vorstellte. Sie sprach den hüpfenden Rhythmus der Verse in leicht singendem, silberhellem Ton, während sie mit weit offenen Nüstern gierig und entzückt die Luft in die stürmisch bewegte Brust sog und mit lachendem Gesicht, auf dessen Augen wirklich ein Widerschein der Sonne zu blitzen schien, um sich schaute. Nach diesem ersten Ausbruch der Freude aber schien ihre Wirklichkeitsempfindung in Träume zu verschwimmen, ein Ausdruck visionären Schauens drang aus ihren in Hingebung aufgelösten Zügen. Plötzlich jedoch fuhr sie zusammen, rannte gegen den Souffleurkasten und schrie:

»Sind Sie verrückt, Frau Meyer, mir hier die Worte anzuschlagen, wenn ich eine Pause mache! Die Verse kann man oder man soll sich aufhängen.«

Dann eilte sie auf ihren Platz zurück und stand wieder wie entrückt da, bis sie in erschüttertem und geheimnisvoll großem Ton, zum Bewußtsein ihrer königlichen Macht erwachend, die Worte sprach:

»Dort, wo die grauen Nebelberge ragen, Fängt meines Reiches Grenze an.«

Und die folgenden Verse sprach sie mit so tiefer Naturempfindung, mit solcher Inbrunst des verirrten und nach der Heimat sich sehnenden Menschenherzens, daß deren Sinn sich weit über die Situation des Augenblicks erhob und selbst den abgestumpften Schauspielern, die mit den Händen in den Hosentaschen gegen die Versatzstücke gelehnt lauschten, in die Seele drang.

In jähem Umschwung tauchte sie dann in schwärzeste Melancholie, sobald Paulet ihr das Herannahen der Königin ankündigte.

Als nun aber Elisabeth wirklich auftrat und mit ihrer gequetschten Stimme in falscher Würde sich an Leicester wandte, stand sie, mühsam von der Kennedy zurückgehalten, mehr in Abscheu als in Grauen, am meisten aber in Verachtung da, bis sie plötzlich auffuhr und drohend, überragend vor ihre unkönigliche Nebenbuhlerin hintrat wie eine Tigerin vor eine Hauskatze.

Von Augenblick zu Augenblick spielte sie sich nun in immer wachsende Erregung hinein. Mit ein paar heftigen Rucken zerrte sie Krawatte und Kragen herunter, riß die obersten Knöpfe ihrer Bluse auf, so daß das Blut frei durch die geschwollene Schlagader pulsieren konnte. Sie war nun völlig Herrin der Szene: schob ihre Gegenspieler hierhin und dorthin und knirschte zusammenzuckend wie in körperlichen Schmerzen bei den falschen Betonungen der Limburg. Als aber die Szene zu Ende war, behauptete sie, es wäre eine Schmierenschweinerei gewesen, diese Szene müßte augenblicklich wiederholt werden.

Nun aber entsann sich Herr Legfeld seiner Autorität und bestand darauf, weiterzugehen. Mit der Faust auf seinen Tisch schlagend, versicherte Lydia, er könne das nicht verantworten.

»Wer ist hier Regisseur?« schrie Doktor Legfeld.

»Das möchte ich auch wissen?« fragte Lydia höhnisch.

»Ja, Fräulein Meyn – pardon –« unterbrach er sich, ganz fahl vor Wut – »ich wollte sagen Frau Meyn –, das heißt, man weiß ja wirklich nicht –«

»Oh,« erwiderte Lydia, »alle Welt weiß hier, daß ich ebensowenig eine verheiratete Frau bin, wie Sie ein Regisseur sind.«

Herr Kolbe, dessen Engagement mit dieser Saison ohnehin zu Ende war, lachte breitmäulig auf. Herr Rittersloh verschwand mit einem unhörbaren Satz hinter der Kulisse. Der biedere Herr Frank stieß ein erschrockenes »Nanu?!« hervor. Frau Limburg aber sagte:

»Was? Das ist ja das Allerneueste!« Und dabei hatte sie zum ersten Male einen echten Ton in der Kehle.

Einen Augenblick empfand Lydia so etwas wie eine Blutleere im Gehirn, aber sie nahm sich zusammen und sagte noch herrischer:

»Also, ich bitte nochmals, daß die Szene wiederholt wird.«

Der Regisseur wies achselzuckend auf Frau Limburg.

»Ja, wenn Fräulein Meyn darauf besteht,« erwiderte diese.

Der Auftritt begann von neuem, und Lydia spielte mit derselben Hingabe wie das erstemal.

Dann aber hockte das Bewußtsein der unglaublichen Torheit, die sie begangen hatte, wie ein grinsender Affe vor ihr. Ehe acht Tage um waren, würde die ganze Stadt wissen, was es mit ihrem Stand und der Geburt ihres Kindes für eine Bewandtnis hatte. Die Limburg vor allem würde sich die Lippen wund klatschen. Aber auch die andern, ihre besten Freunde, würden die Geschichte breittreten. Sie kannte ihre Kollegen zu gut, als daß sie auch nur einem Verschwiegenheit zugetraut hätte.

Nun, schließlich was tat's? Mochten die Leute klatschen, soviel sie wollten, ins Gesicht würde ihr keiner was zu sagen wagen. Der einzige, der nichts wissen durfte, war ihr Vater. Aber der stand ja ihren Kreisen gänzlich fern.

Mit dieser Erwägung verscheuchte sie den unangenehmen Eindruck wie eine lästige Fliege.

Lydia hatte einige ihrer Kollegen zu Tisch geladen. Die erste, die erschien, war Marie Reinhold, die es trotz ihrer dreißig und mehr Jahre nicht weiter als bis zur zweiten Naiven gebracht hatte. Ihr bläßlich gelbes Gesicht, das sich nach der Nase zu bedenklich rötete, zeigte noch immer eine gewisse kindliche Anmut. Aber ihr dünnes, wie eingeschnürtes Organ machte sie für größere Rollen unmöglich. Man müßte ihr mal mit einem Lampenputzer durch die Gurgel fahren, hatte Rodegast von ihr gesagt. Sie jedoch schob ihr Fiasko auf ihre übertriebene Ehrbarkeit und Anständigkeit.

Von Anfang an hatte sie sich an Lydia mit Hundeunterwürfigkeit angeschlossen, »da sie beide aus gutem Haus waren«. Von Lydias schlechter Laune hatte sie manchmal allerhand auszustehen, anderseits war diese Freundschaft aber auch nicht ohne Vorteile für sie hinsichtlich guten Essens und abgelegter Toiletten.

Die alte Maruschka hatte sie kaum ins Wohnzimmer geführt, in dem sich Walpurga allein befand, da Lydia noch Toilette machte, als sie das Kind zu sich rief.

Walpurga, die nach ihrer Mutter Art gewohnt war, sie zu kommandieren, verlangte, sie sollte mit ihr den Hackewalzer spielen.

Aber die Reinhold zog sie auf ihren Schoß und fragte:

»Burgelchen, wo bist du eigentlich geboren?«

»In Amerika.«

»Wo denn dort?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ach, man weiß doch, in welcher Stadt man geboren ist.«

»Was geht denn dich das an?«

»Erzähl's mir doch. Ich schenke dir auch das Glücksschweinchen, das du so gern haben wolltest. Wo bist du geboren?«

Aber Walpurga konnte sich nicht erinnern.

Die Fragerin wurde durch Herrn Koransky unterbrochen. Dieser, der typische Gummischuhintrigant, behielt seine Bösewichtermanieren auch im Privatleben bei. Lautlos, wie auf Strümpfen, den Oberkörper vorgebeugt, die langfingrigen Hände aneinander wischend, war er ins Zimmer geschlichen, hüstelte nun vernehmbar und sagte in halbem Flüsterton:

»Grüß Gott, Reinhold. Grüß Gott, Prinzeßchen.«

Indem er diesem dann die Hand aufs Haar legte und sie musterte mit einem Blick, der in der Szene zwischen Richard dem Dritten und dem kleinen Prinzen von Wales seine Wirkung tat, verzog er seinen lippenlosen Mund zu einem breiten Lächeln und murmelte:

» La recherche de la paternité est interdite. Tolle Sache! Was meinst du, Reinhold?«

»Unglaublich! Burgelchen, zeig doch mal Onkel Koransky deine neue Puppe.«

Sobald das Kind draußen war, fragte dieser:

»Hast du eine Ahnung davon gehabt?«

»O Gott, nein!« versetzte die Reinhold mit einem Deckenblick. »Sonst hätte ich doch wohl nicht so hier verkehrt. Aber wie kann sie das bloß ausquatschen?«

»Gehirnerweichung,« erwiderte Koransky.

»Na, Kinder, zieht ihr tüchtig über mich los?« fragte Lydia, die in diesem Augenblick eintrat.

»Lydia, ich schwöre dir –«

»Küß die Hand!« zischte Herr Koransky. »Wir sprechen gerade von Rodegast, dem Schmierenjockel. Was hätten wir wohl von dir zu sagen gehabt? Übrigens – man hat doch savoir vivre. Man wird doch nicht über 'ne Kollegin herfallen, bei der man gerade zum Essen eingeladen ist!«

»Wer fällt über wen her?« fragte Rittersloh, die Tür noch in der Hand haltend. »Meisterin, soll ich den Kerl, den Legfeld, mit der Reitpeitsche züchtigen?«

»Aber warum denn?« lachte Lydia. »Er hat mir doch nichts getan!«

»Da habt Ihr recht, Meisterin! Hier – das legt der arme Mortimer der göttlichen Maria zu Füßen.«

Und er überreichte ihr einen hinter dem Rücken verborgen gehaltenen Rosenstrauß.

»Oh, du bist ein lieber Kerl!«

Mit strahlendem Gesicht sog sie den Duft ein und war in diesem Augenblick der Überzeugung, daß wenn auch alle ihre Kollegen Schubiacke seien, Rittersloh allein ihr treuer und ehrlicher Freund sei. Sie hielt den Straß der andern hin:

»Riech mal, Reinhold. Oder hast du wieder Schnupfen?«

»Mama, wir können essen,« meldete Walpurga.

Gerade wollte man sich ins Speisezimmer begeben, als der Komiker, Herr Nüssen, erschien. Er gehörte gar nicht zu den geladenen Gästen, aber er besaß eine wundervolle Nase und ahnte stets, wenn es etwas Gutes bei Lydia gab. Seine Ankunft wurde mit ungenierter Heiterkeit begrüßt. Besonders Walpurga klatschte in die Hände.

»Papa Nüssen kommt schon wieder. Papa Nüssen hat gerochen, daß es Gänsebraten gibt.«

»Kinder, ich bin aus den Wolken gefallen! Ihr habt noch nicht gegessen? Ich wollte mich nur mal nach meiner kleinen Freundin erkundigen. Sieh mal, so was Schönes hab ich dir mitgebracht.«

Und dabei zog er einen Apfel aus der Tasche, den ihm Rodegast in der Probe geschenkt hatte.

»Kommen Sie, Papa Nüssen, erst gebe ich Ihnen Ihr Gichtwasser.«

»Es wäre vielleicht ganz gut.«

»Absolut nötig!«

Lydia nahm ihn mit in ihr Schlafzimmer, ließ ihn ausgiebig die Hände waschen und goß ihm dann einige Tropfen eines harmlosen Toilette-Essigs darüber.

»Eigentlich, weißte Kind, 'ne rechte Wirkung verspür ich noch nicht,« brummte der Alte, seine knotigen Finger spreizend.

»Aber ich!« versetzte Lydia, mit einem Blick auf das schwarze Waschwasser.

Ehe man sich setzte, sprach Papa Nüssen das Tischgebet. Er machte das so rührend und schön, daß Walpurga jedesmal begeistert war.

Nach allgemeiner Übereinkunft waren Fachsimpeleien und gewisse Witze bei Zehnpfennigstrafe verboten. Aber man hatte noch nicht die Suppe gegessen, da war man mitten im Gespräch über die gestrige Vorstellung. Lydia selbst machte den Anfang, indem sie behauptete, die Limburg-Orsina hätte wie ein Schwein gespielt. Der Intrigant erzählte, wie im dritten Akt sein Partner fortwährend geblubbert hätte. Die Wellen gingen höher und höher, die Katastrophe wäre unvermeidlich gewesen, wenn er nicht durch ein geschicktes Impromptu die Situation gerettet hätte. Die Reinhold erzählte, sie hätte neulich bei offener Szene Applaus gehabt.

»Da war wohl deine Waschfrau im Theater?« fragte Rittersloh.

Beleidigt begann die Reinhold nun ihre alte Litanei, indem sie sich dabei auffällig zu Lydia hinwandte.

»Wir Mädchen aus guter Familie, die sich nicht alles gefallen lassen –«

»Nun geht sie schon wieder mit ihrer Unschuld hausieren,« brummelte der Komiker.

Lydia, die das ewige ›Wir‹ verdroß, unterbrach sie.

»Du, Reinhold, da habe ich neulich 'ne gute Geschichte gehört. Ein Apfel fällt von einem Apfelbaum, unter dem schon – pardon, meine Herrschaften – ein Pferdeapfel liegt. Der sagt nun zum andern: ›Wie schön wir Äpfel doch riechen.‹«

»Nun, und da?« fragte die Reinhold mit ihrer piepsigen Stimme.

Alle lachten, und Walpurga schrie:

»Der Pferdeapfel bist du doch!«

»Willst du gleich still sein, du Naseweiß!« fuhr Lydia sie an.

»Na, nichts für ungut, Reinholdchen, es war ja bloß 'ne Geschichte. Erzähl nur weiter. Also, wir Mädchen aus guter Familie –«

Aber die Reinhold leerte stumm und hastig ihren Teller, indem sie mit Nähmaschinengeschwindigkeit ihren Unterkiefer bewegte. Erst als sie Messer und Gabel beiseite gelegt hatte, sagte sie, für solche Witze und für solchen Ton überhaupt besäße sie kein Verständnis.

Beim Nachtisch trug Maruschka das Lokalblatt herein. Lydia fragte, ob vielleicht jemand die Kritik ansehen wolle? Aber alle behaupteten, überhaupt keine Kritik zu lesen, prinzipiell nicht.

»Na, Kinder, lesen tue ich sie ja auch nicht. Ich gucke nur mal 'nein,« sagte Papa Nüssen und vertiefte sich in die Zeitung.

Nun schielte ihm auch Herr Koransky über die Schulter, um zu sehen, ob der Rezensent das Steckenbleiben seines Partners bemerkt habe.

»Natürlich! Hahaha! Über den Idioten stimmt er einen Lobeshymnus an, und mich erwähnt er mit einer Zeile.«

Jetzt lasen alle ungeniert die Kritik.

Darauf verbreitete man Rauch, trank Kaffee, der durch etwas Kognak bekömmlicher gemacht wurde, als Maruschka meldete, daß der Herr von heute morgen draußen warte.

»Aha, das ist der arme Teufel, dessen Kind operiert werden soll. Kinder, nun müßt ihr mal ordentlich bluten. Das heißt, jeder schenkt mir ein paar Groschen, und wir machen dann hübsche runde Summen daraus, um die Limburg zu ärgern.«

Und sie erzählte, welche kleine Bosheit sie für diese plante.

Während Rittersloh und Koransky jeder einen Taler opferte, und Papa Nüssen sich, wenn auch seufzend, zwei Mark abrang, reichte die Reinhold Lydia ein Fünfzigpfennigstück.

»Pfui, schämst du dich nicht? So eine Knickrigkeit! Dabei guckt euch bloß ihr Portemonnaie an! Das platzt förmlich.«

Aber obwohl die Reinhold behauptete, das wäre gar nicht ihr Geld, setzte Lydia ihr so hartnäckig zu, bis auch sie zwei Mark hergab.

Koransky, der das Geld sowie die Liste dem draußen Wartenden übergeben hatte, kehrte zurück und sagte:

»Kinder, wir waren mal wieder riesig nobel, und selbstredend am falschen Platz. Den Kerl kenne ich, der hat schon mal wegen Hochstapeleien gebrummt.«

»Blech!« sagte Lydia. »Wir schenken es ihm ja nicht wegen seiner Anständigkeit, sondern weil er nichts zu essen hat.«

»Ich denke, es gibt anständige Menschen genug, denen es schlecht geht,« sagte die Reinhold giftig. »Aber du hältst ja von der Wahrheit wohl ohnehin nicht sehr viel?«

Lydia zwinkerte nur ein bißchen mit den Augen.

»Reinholdchen, wenn du mir Impertinenzen sagen willst, müßtest du eigentlich nicht gerade meine Bluse anhaben.«

»Die kann ich ja ausziehen. Ich empfehle mich. Der Ton paßt mir schon lang nicht mehr.«

»Bist 'n anständiges Mädchen. Feine Familie! Wissen wir!« höhnte der Komiker.

Während die Reinhold hin und her rannte, um ihren Schal und ihren Pompadour zusammenzusuchen, sagte sie: »Die Bluse kann dein Mädchen heute noch abholen.«

»Schön. Ich schick die Maruschka mit 'nem Waschkorb, dann nimmt sie die andern Sachen auch gleich mit.«

»Johanna geht – aber sollen wir wetten, daß sie bald wiederkommt?« fragte Rittersloh, »'ne Flasche Sekt.«

»Für todsichere Sachen verliere ich keine Wetten,« erwiderte Lydia.

Die Schauspieler verabschiedeten sich bald, nur Rittersloh blieb zurück, unter dem Vorwand, mit Lydia einiges wegen ihres Zusammenspiels in der Stuart besprechen zu müssen.

Sobald er aber mit ihr allein war, setzte er sich ihr gegenüber und sprach zu ihr, den Kopf aufstützend und ihr unverwandt in die Augen blickend, von seiner Bewunderung für ihre Kunst, die ihn nicht mehr habe schlafen lassen, die ihm Tränen der Begeisterung und Seufzer des Neides entpreßt und ihm sein eigenes Streben als ein hoffnungsloses Unterfangen habe erscheinen lassen.

Aber während er allmählich immer näher rückte, und während seine Stimme den warmen vibrierenden Klang annahm, der ihr in gefühlvollen Szenen eigen war, bemächtigte er sich Lydias Hand und sprach nun nicht mehr von ihrem Talent allein, sondern von dem wundervollen Zauber ihrer großzügigen, freien und einsamen Menschlichkeit.

Lydia hörte zu, mit etwas müdem und vagem Ausdruck, während nur manchmal ein schmerzliches Lächeln ihre Lippen verzog. Ihre Verstimmung hatte sich durch die häßliche Szene von vorhin noch vertieft. Sie war von der Gemeinheit der Menschen wieder einmal ganz durchdrungen. Sie fühlte sich mitleids- und trostbedürftig. So ließ sie den angenehmen Strom der Worte über sich hinrieseln, ohne groß auf deren Sinn zu achten, während ihre Gedanken sich mit dem beschäftigten, was heute morgen auf der Probe geschehen war, und die möglichen Folgen erwogen. Sie erinnerte sich der Versprechen, die sie ihrem Vater und ihrer Schwester gegeben hatte. Da sie in der Zeit ihres Weyringer Aufenthalts noch keine Liebschaft begonnen hatte, glaubte sie, auf ihre Ehrbarkeit stolz sein zu dürfen. Nun wäre es doch eine grenzenlose Ungerechtigkeit vom Schicksal, wenn dieses sie noch nachträglich für alte Sünden büßen ließe.

Unterdes wurde Rittersloh immer kühner. Als er aber Miene machte, nach mehreren Handküssen seinen Arm um Lydias Taille zu legen, wehrte sie ihn ruhig ab.

»Laß das! Wir sind doch nicht in der Stuart. Heute morgen hast du mir gerade genug blaue Flecken gemacht.«

Aber es bedurfte nur dieser Zurechtweisung, um die zurückgehaltene Glut des Schauspielers zu entflammen. Er fand immer aufgeregtere Worte, und seine Gesten blieben nicht dahinter zurück. Doch Lydia begann, sich zu ärgern, denn sie war gewohnt, daß man ihren Befehlen gehorchte. Als er ihr daher versicherte, Mortimers Gefühle für Maria seien Eisberge gegen das Feuer, das ihn verzehrte, erwiderte sie, er möge sich nur eine halbe Stunde unter die kalte Dusche stellen, damit er wieder normal empfände.

Der Ausdruck des beleidigten Herzens blieb Rittersloh erspart, denn in diesem Augenblick klingelte das Telephon. Es war die Reinhold, welche de- und wehmütig um Verzeihung bat. Lydia wisse doch, daß sie öfter solche hysterischen Anfälle habe, für die sie nicht verantwortlich sei. Sie flehte sie an, ihr wenigstens das schwarze Taffetkleid noch einige Zeit zu lassen, sie brauche es für die morgige Rolle.

»Meinetwegen,« erwiderte Lydia. »Ob du mich morgen besuchen kannst? Ne, Kindchen. Ich sag's dir schon, wenn ich dich wieder haben will. Adieu. Schluß.«

»Die gehört auch unter die Dusche!« sagte sie zu dem gebrochen dasitzenden Rittersloh, der nun aber aufsprang.

»Lydia, du bist ein großer Mensch, aber du hast ein marmornes Herz.«

»Wenigstens hab ich doch eins. Viele Männer haben mir schon versichert, ich hätte überhaupt keins.«

»Deinen Hohn ertrage ich nicht. Das Beste wird sein, wenn ich gehe.«

»Gott, bleib doch. Deine Gesellschaft ist mir ganz angenehm, wenn du vernünftig sein willst.«

So versuchten sie es denn mit einer solchen Unterhaltung. Aber bald waren sie wieder auf einem heißen Boden angelangt: bei ihrem eigenen Ich. Lydia erzählte ihrem Freund, daß sie sich wahnsinnig über ihre Schwatzhaftigkeit ärgere. Daß sie nicht verheiratet gewesen sei, wußte auf dem ganzen Theater nur der Intendant. Und der hatte ihr nicht nur Verschwiegenheit zugesagt, sondern sie selbst dazu ermahnt, im Interesse des Instituts. Und nun hatte sie das Geheimnis verraten, nur um einen guten Witz machen zu können.

»Ja, aber es war der beste Witz, den ich je gehört habe.«

»Schade, daß die besten Witze auch die teuersten sind. So muß man die einzige Jugendtorheit, die man begangen hat, büßen! Wenn ich leichtsinnig wäre, dann wär's mir ja ganz egal, was meine Familie dazu sagt. Übrigens klage ich mich selbst auch an. Ja, ja!« Sie schlug sich auf die Brust. »Es war nicht recht, und es rächt sich. Wärst du wohl eben so gewesen, wenn du das nicht gewußt hättest? Gleich hast du mich zum großen Haufen geworfen.«

»Lydia, ich schwöre dir!« beteuerte der Schauspieler.

»O Gott, wenn du wüßtest, wie fade und ekelhaft mir diese Theaterliebeleien sind! Dilettantismus und Stümperei, weiter nichts. Ich warte auf die große Liebe, die den ganzen Menschen durchdringt, die nichts Egoistisches an sich hat, sondern ganz im andern aufgeht. Eine solche Liebe überdauert das Leben. Siehst du, Max – deshalb, wenn ich je noch einmal lieben sollte, könnte es nur sein, indem ich den betreffenden Mann heirate.«

Mit aufgestütztem Kopf und durstigen Augen hatte Rittersloh zugehört. Nun griff er sich an die Stirn, machte eine Geste plötzlicher Erleuchtung und sagte:

»Lydia, meine Hand! Werde die Meine – fürs Leben!«

»Es geht nicht, Max. Ich darf keinen Schauspieler heiraten. Das wäre der Bruch mit meiner Familie.«

Rittersloh sank in seinen Stuhl zurück. Von seiner Nase bis zum Kinn kerbten sich jene tiefen Falten eines hoffnungslosen Grams, die er auf der Bühne nötigenfalls gleich mit chinesischer Tusche markierte.

»So türmt das Schicksal eine Welt von Hindernissen gegen unsere Liebe! Es heißt entsagen, was auch das arme Herz dagegen anführen mag. Oder, Lydia!« Wieder sprang er auf und bemächtigte sich ihrer Hand. »Sollen wir größer als das Schicksal sein? Gäbe das nicht unserer Leidenschaft die rechte Würze und den Höhencharakter? Zwei Einsame, denen die Welt und ihre armseligen Gebote tief unter den Füßen liegen. Lydia!«

»So laß doch!« erwiderte Lydia ärgerlich. »Ich will nicht! Du sollst mir nicht schon wieder blaue Flecken machen.«

»Lydia! Weib! Dämon!«

Das aber war der Tropfen, der ihren Zorn zum Überlaufen brachte. Mit einer energischen Bewegung befreite sie sich von ihm.

»Ich bitte mir aus! Sie vergessen wohl, daß Sie es mit einer Dame zu tun haben?«

Und sie ging stracks zu der elektrischen Klingel.

Rittersloh wurde totenblaß, raffte sich aber zu einer großen Geste zusammen. Mit der Eleganz eines Sardouschen Helden sich verbeugend, sagte er:

»Es hätte dieser Maßregel wirklich nicht bedurft, mein Fräulein. Auch ich habe meine Kinderstube durchgemacht. Leben Sie wohl!«

»Ja, Max, es tut mir leid. Aber du hast es nicht anders gewollt,« erwiderte Lydia.

Als jetzt Maruschka erschien, befahl sie dieser, das elektrische Licht im Flur anzudrehn. Schon hatte Lydia tief verstimmt sich wieder gesetzt, als Rittersloh atemlos noch einmal ins Zimmer trat, den Mantel schon an und den breitrandigen Hut tief in die Stirn gedrückt.

»Dies eine Wort noch! Ich kam hierher in der Überzeugung, daß sich heute mein Schicksal erfüllen würde. Lydia, dachte ich oder –«

Und er schlug aufgeregt gegen einen Gegenstand in der Tasche seines Ulsters.

»Max, du bist wohl ganz von Sinnen? Was hast du vor?«

»Oh, nichts, was Ihre Nachtruhe stören wird. Es könnte höchstens sein, daß man für die Stuart um einen neuen Mortimer telegraphieren müßte.«

»Max, höre mich doch einmal an!«

Während Lydia begütigend auf ihn einsprach, griff sie rasch in seine Tasche und zog einen dort verborgenen Revolver hervor. Nun entstand ein wirres Hin und Her von Rede und Gegenrede, wobei doch beide ihre Stimmen dämpften. Jetzt kam es zum Ringen, bis Lydia mit einem glücklichen Einfall das Licht ausdrehte und aus dem völlig dunkeln Zimmer schlüpfte. Nach einem Augenblick kehrte sie zurück, machte wieder hell und sagte:

»So, den kannst du dir wiederholen, wenn du vernünftig geworden bist. Max, schämst du dich gar nicht? Ein Mensch wie du, der eine solche Karriere vor sich hat!«

»Was ist das Leben ohne Liebesglanz?«

»Unsinn! Es gibt doch wahrhaftig schöne Frauen genug. Und du kannst an jedem Finger eine haben. Warum muß es gerade ich sein? Und nun höre mich mal an. Ich habe dich wirklich gern. Du bist der einzige Mensch am Theater, was sage ich, in der ganzen Stadt, für den ich etwas übrig habe. Aber ich kann deine Liebe nicht erwidern. Ich – es ist ein Geheimnis, Max. Ich habe geschworen. Aber laß uns Freunde sein.«

Er schüttelte mehrmals den Kopf.

»Du verlangst Unmögliches. Leb wohl!«

»Leb wohl, Max! – Und auf Wiedersehn!« rief sie ihm nach.

›Wie schade,‹ dachte Lydia. ›Talentvoll und hübsch und dabei ein grundanständiger Kerl!‹ Er hätte ihr wirklich etwas sein können. Gerade jetzt …

 


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